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III.17

 

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Die politische Lethargie der Massen ist die depressive Antwort auf eine Lage, in welcher ihre alltägliche Wirklichkeit deshalb zum Verzweifeln ist, weil jede persönliche Anteilnahme von der Struktur der Institutionen, der Groß­organisationen her enttäuscht werden muß. Das »Arbeitsklima« stellt einen mit den Produktions- oder Organisationsprozessen — also der Arbeit — ziemlich unverbundenen Überbau dar, einen tröstlichen Selbstbetrug, als ob es die gelingende Arbeitsleistung wäre, welche die gute Stimmung schafft. Eine dauernde Musikkulisse in vielen Betrieben soll unbewußt den Eindruck des heiter Festlichen erwecken. In sich ist aber die Montage am Fließband, die Bearbeitung von Versicherungsfällen im je herkömmlichen Sinn »Sklavenarbeit«, vielleicht notwendige Arbeit, aber keine Herausforderung an das Sensorium und die Leistungsfähigkeit des Individuums zu differenzierter Antwort.

Die große Mehrzahl der Menschen erhält demnach, trotz Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen, höchst unzureichende Hilfe im Umgang mit den neuen Chancen. Sie wird nicht darin unterwiesen, wie sie ihre Bedürfnisse sublimieren könnte. 

Das Leben ist nicht mehr so beschwerlich, daß unmittelbare orale Befriedigungen so im Vordergrund stehen müßten, wie sie es noch tun; die in den Schulen vermittelten Kenntnisse sind auch nicht mehr so beschränkt, daß nicht eine Teilnahme an der Entwicklung des Wissens, die vor 200 Jahren nur wenigen offenstand, heute für ungleich mehr Menschen zugänglich wäre; aber es fehlt die Anleitung der Neugier, der inneren Beteiligung. Das begründet die dauernde Unzufriedenheit, die den ahnungslosen Kritiker unserer Zeit erstaunt: Unzufriedenheit, »wo es den Leuten doch soviel besser geht«.

Psychologisch gesprochen geht es um die Frage, wie mehr Individuen an Sublimierungen ihren Gefallen finden könnten. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Unterweisungen — deren Schritte uns vorerst unbekannt sind — noch »Erziehung« zu nennen wären; jedenfalls »Sozialisierung« unter den Gegebenheiten unserer Zeit. Wir werden hierin nur dann erfolgreicher sein können, wenn wir den Vorgang der Sublimierung und anderer Reaktionsbildungen im Individuum besser verstehen, und zwar von seiner Kindheit an, wenn die Anlage zu diesen psychischen Prozessen geweckt und geformt wird — je nach Begabung vielleicht auch: wenn eine primär sich äußernde Anlage nach Gestaltungshilfe verlangt. Vielleicht ist die Kompliziertheit dieses Problems die wichtigste Berechtigung für die langwierigen psychoanalytischen Heilbehandlungen. Jede von ihnen trägt zur Vermehrung unserer Kenntnisse bei, die uns ohne sie nie zugänglich würden.

Es könnte so aussehen — und viele spontane Kritiker glauben das —, als habe sich auch das moralische Empfinden entdifferenziert und als erlebten wir einen Verfall der Gesittung. Partiell wird das gewiß zutreffen und möglicherweise auch korrespondierend zum Verlust an Selbstverantwortung bei der aufgezwungenen unselbständigen Arbeit des Großbetriebes. Erzwungene Abhängigkeit bringt unvermeidlich psychische Regression hervor, zunächst jedenfalls, solange das Bewußtsein unter dem Eindruck eines Systems immer lückenloserer Verwaltung steht. Was den an administrative Unfreiheit akklimatisierten Individuen einfallen wird und ob ihnen etwas einfallen wird, um individuelle Entscheidungsfreiheiten zu erkämpfen, die diese Form der Bevormundung hinter sich lassen, wissen wir nicht.

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Am Eindruck eines Sittenverfalles ist jedoch auch eine optische Tauschung beteiligt. Einer stetig wachsenden Zahl von Menschen werden Befriedigungs­möglichkeiten zugänglich, die ihnen bisher verschlossen waren. Das Angebot ist bunt und verlangt von ihnen Unterscheidungsvermögen. Aber gerade diese Urteilsselbständigkeit haben sie nie entwickelt, weil niemand in ihrer Umwelt zuvor je in ähnlicher Lage war. Die sprunghafte Vermehrung der Süchtigkeit verschiedener Art in unserer Gesellschaft (besonders mit den legalen Mitteln: Alkohol und Nikotin;1)) zeigt diese relative Schutzlosigkeit des Individuums gegen Wohlstandsformen an, in denen die Entsagung nunmehr weniger von der Not diktiert wird, als sie von der Vernunft zu leisten ist. Es geht also nicht um Sittenverfall, sondern primär um neue Kollektivanpassungen an die Fremdwelt der Großzivilisation, und dies geschieht nicht nur »vernünftig« mit Ich-Funktionen kritischer Art (Voraussicht, Selbstkontrolle, Einfühlung etc.), sondern ebenso mit jenen anderen (infantilen) Ich-Leistungen, welche wir »Abwehrmechanismen« gegen die Unlust aus Triebversagungen und Einschränkungen aus der sozialen Realität nennen: Verdrängung, Projektion etc.

Der Abwehrmechanismus der »Verschiebung des Triebzieles«2) ist im gegebenen Zusammenhang besonders wichtig. Kann man bei der »Sublimierung« von einem Funktionswechsel in Richtung komplizierterer, mit Triebaufschub verknüpfter Verhaltensweisen sprechen, so existieren dazu in den Suchtformen gegensätzliche Ersatzbefriedigungen, in denen es zwar auch zu einer Verschiebung kommt; sie geschieht aber im Dienste imperativ auftretender Triebwünsche. Das Suchtmittel soll Unlust rasch beseitigen.

Wie in allen Zeitaltern vor dem unsrigen genießen es die Menschen, mit Hilfe von Rauschmitteln sich über die Einschränkungen und Verbote ihrer eigenen Gesellschaft hinwegzusetzen, sich entschädigen zu können. Der Überfluß dieser Möglichkeiten ist das Neue an der Lage, in der sehr viel Unlust erzeugt wird.

1)  Die Suchtmittel haben offenbar eine sehr stark empfundene Bedürftigkeit zu befriedigen. Das ließ sich aus der Tatsache ablesen, daß der Terry-Report, welcher den Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs zu einer unbezweifelbaren Tatsache werden ließ, auf den steigenden Zigarettenkonsum keinen nachhaltigen Einfluß ausüben konnte. Als nächstes kündigt sich die uneindämmbare Sucht nach Halluzinationen erweckenden synthetischen Drogen  an (z. B. LSD).

2)  Vgl. Anna Freud Das Ich und die Abwehrmechanismen. München 1964.

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18. 

Moralisten pflegen jeweils dann von »Verfall der Gesittung« zu sprechen, wenn neue Befriedigungschancen in einer Gesellschaft entstehen und wahrgenommen werden; wenn etwa weniger gearbeitet werden muß, um das Leben zu fristen. Die Kritik läßt sich aber leicht irreführen, denn während der Umgestaltung sozialer Strukturen kommt immer auch ein bestimmter Typus hoch, dessen Über-Ich schwach entwickelt ist. Es sind rücksichtslose und gierige Individuen, Parvenüs, Betrüger und Selbstbetrüger. Sie sind aber mehr Indikatoren des sozialen Umbaus als solchen denn Repräsentanten der kommenden Lebensform, wie dies konservative Kritik jeweils gerne glauben machen möchte.

Die rasche Verbesserung des Lebensstandards für fast alle bei ebenso rasch wachsender ungewohnter psychischer Belastung hat die eingeübte, tradierte Lust-Unlust-Relation erschüttert und die ungelenke und oft abstoßende Neigung zu Ersatzbefriedigungen en masse erzeugt. Woran Moralisten sich seltsamerweise viel weniger stoßen, ist das subjektive Elend neuer Sklaverei, das mit dem Wohlstand eingezogen ist und das kaum Worte findet, weil es so selbstverständlich, unserer Zivilisation so immanent ist.

Unzweifelhaft besteht weitverbreitet moralische Abstumpfung oder Stumpfheit. Fraglich bleibt, ob sie in nennenswerter Weise zugenommen hat. Manches wird mit zunehmender Aufwendigkeit nur sichtbarer. Jedenfalls ist die Diskontinuität der neuentstandenen sozialen Wirklichkeit mit dem Hergebrachten tief und beunruhigend. Die überlieferten Rituale und Gewohnheitsherrschaften versehen zwar noch eine Art Notdienst, können aber nur noch wenig schöpferische Libido in sich binden. So restaurativ der Habitus in den westlichen Länder ist, es tragen sich täglich Dinge zu, denen gegenüber es keine sichere Einstellungsnorm gibt: z.B. hinsichtlich der technischen Möglichkeiten, menschliches Leben zu verlängern, künstliche Bewußtseinsbeeinflussung von Massen durch Beimengung von Drogen zum Wasser u. ä. Wird sich vielen dieser Möglichkeiten gegenüber eine stillschweigende Konvention der Nichtanwendung entwickeln, wie sie sich nach der Entwicklung von Giftgas als Kampfwaffe hergestellt hat? Das ist sehr ungewiß, denn die Vorbilder, an denen wir uns solchen Angeboten gegenüber moralisch orientieren könnten, sind noch nicht errichtet.

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19. 

  Der großen Mehrzahl der Menschen ist der grundsätzliche Konflikt mit der Gesellschaft fremd.1)  Man wird die durch Generationen gewahrte Treue zu abweichenden Glaubens- und Moralsätzen bei Minoritäten bewundern, aber sie widerspricht nicht dieser Konfliktscheu; das Individuum gehört glaubend zu einer Gruppe, auch wenn diese aus irgendeinem Grund diffamiert werden sollte. Wo sich die Dissidenten nicht zu organisieren und dadurch am Leben zu erhalten vermögen, setzt sich das in Versuchung geratene Individuum stillschweigend in den Trab des »Mitlaufens«, um der Angst des Ausgeschlossenseins, der Ächtung, zu entgehen. Demgegenüber nimmt sich die aus jüdischer Erfahrung stammende Maxime »Wenn einer dir sagt: >Töte, oder du wirst getötet!< — laß dich töten« unendlich anspruchsvoll, ja hochmütig aus. In sehr stark moralintegrierten Gruppen, die ein festumrissenes Eigenideal (unter Umständen ein Sendungsbewußtsein) besitzen, wie etwa die Juden der Diaspora oder die Albigenser oder die Ur-christen, die Ernsten Bibelforscher in den KZs, mag sich eine solche Handlungsanweisung als verbindlich für alle Mitglieder durchsetzen lassen. Die meisten Moralen können nicht erwarten, Menschen so weit zu beherrschen. Wohl aber kann ein einzelner in den Schrecknissen der Welt Einstellungen von solcher Entschiedenheit sich als seine persönliche Moral zu eigen machen.

Wir verfolgen das Thema Relativierung der Moral; folglich haben wir uns nicht vorgenommen, diese oder jene zu verfechten, sondern haben uns mit der schon erwähnten Tatsache auseinanderzusetzen, daß in unserer Zeit Menschen verschiedenster Kulturen miteinander in regen Kontakt getreten und damit unvermeidlich auch in Interessenkonflikte geraten sind. Die Hauptströmung der Geschichte hat bisher trotz aller sogenannten Völkerwanderungen und Handelsbeziehungen die Isolierung, die statische Existenz hinter Sprach- und Brauchtumsgrenzen, ungleich nachdrücklicher als die Tauschvorgänge zwischen den Kulturen gefördert. Aus dem Geschichtsunterricht erinnern wir uns noch, daß uns der Hellenismus, jene Epoche durchlässig gewordener kultureller Grenzen, als eine Epigonenzeit mit deutlich abschätziger Betonung vermittelt wurde. 

1)  Vgl. K. M. Michel Die sprachlose Intelligenz I und II. Kursbuch I und 4. Frankfurt (Suhrkamp) 1965/66.

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Die Thermopylen, das war Geschichte; Praxiteles, das war Kunst. Die feine Kultur der Toleranz erschien im Lichte eines Untergangs der Sitten. Unsere Lehrer waren für den deftigen Ethnozentrismus im allgemeinen, was unsere eigenen Sitten betraf, für den aufrechten Barbarismus, der sich vom Welschen fernhielt. Mit solcher Vereinfachung ist nicht mehr auszukommen. Wir müssen die Vielheit von Ordnungssystemen für menschliches Verhalten hinnehmen; das ist der geschichtliche Zwang, dem wir uns zu fügen haben. Die blinde Wut, mit der im Westen Chimären des Kommunismus und umgekehrt im Osten solche des Kapitalismus, Revanchismus etc. errichtet werden, verweist uns auf den mächtigen aggressiven Triebüberschuß, der vorerst (wie in den Tagen der Kreuzzüge) aus dem eigenen Kulturbereich hinauszukanalisieren, abzuleiten versucht wird, lange bevor eine standfeste Einsicht in das jeweilig Fremde versucht wird. Auch das ist ein Merkzeichen für die vorläufige Schwäche unseres Ichs gegenüber den in uns entstehenden Triebstauungen, denen es keinen produktiven Auslaß zu eröffnen vermag.

Angesichts dieser hochgefährlichen Überbelastung des Individuums mit unerfüllten — vornehmlich aggressiven — Triebneigungen leuchtet es ein, daß menschliches Gruppenleben nicht ohne Verpflichtungen von der Art einer Moral denkbar ist; auch die zu der herrschenden Moral exzentrisch lebende Gruppe (etwa eine Gangsterorganisation) hält nur dadurch zusammen, daß sie verpflichtende Verhaltensnormen annimmt und die Kraft hat, diese unter den Mitgliedern durchzusetzen. Dennoch ist — unter den Lebensbedingungen der Überflußgesellschaft, die tief zur christlichen Verzichtmoral in Widerspruch steht — allerorts der Unwille fühlbar, unnötig, leerlaufend zu leiden, Lustprämien sich abhandeln zu lassen für nichts als einen Blick auf die theologisch verwaltete Ewigkeit. Statt dessen besorgen modische Konventionen, noch kurzlebiger als Moral- und Ideologieherrschaft, oft als Unsitten verunglimpft, zuweilen richtig als solche erkannt, die Vermittlung von Markierungen der Bekanntheit. Dieses Bedürfnis, sich unter seinesgleichen sicher fühlen zu können, ist so groß, daß nicht allein religiöse, auch die vielfältigsten paganen Brauchtümer, die gar keinen Bezug zur Realität mehr haben, konserviert werden und an dem, was wir Moral nennen, mitwirken.

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Demgegenüber sind die Versuche selten und unorganisiert, mit denen einzelgängerisch getrachtet wird, durch neue Selbstbegrenzungen ein neues Selbst­gefühl aufzubauen. In der Langeweile puren Triebverschleißes meldet sich die Erfahrung, daß Verzichten die Verfügungsgewalt über sich selbst vergrößern, mitmenschliche Beziehungen vertiefen und damit auch glücklich machen kann. Wer »nein« sagen, sich einer Lust enthalten kann, bleibt vielleicht wach für eine stärkere, zum Beispiel für die Gratifikation, die ihm durch die Achtung anderer oder auch seines eigenen Gewissens zufällt. Wer sich Lust allzu leicht gönnt, wird möglicherweise für jenen Genuß unempfindlich, der freier, reifer, heiterer macht. Er gerät unter ein Pendant des moralischen Zwangs, er wird vom Suchtzwang beherrscht.

 

20.  Die Überschichtung rückläufiger und vorauslaufender, progressiver, unabgeschlossener Moralität war kurz zu berühren, um die Fülle dessen, was wirklich vorkommt, im Bewußtsein zu halten. Die umfassende Arbeitshypothese, die wir zum Thema vorbringen, scheint ziemlich gesichert: keine Gesellschaft ohne Moral. Ernstlich ist dieser Behauptung keine Ausnahme entgegenzusetzen, jedenfalls nicht in Kulturen mit einer der unseren vergleichbaren Leistungsdifferenzierung. Offenbar wird aber immer um die Prämie gerungen, die uns Moralen abfordern im Tausch gegen den Schutz, den sie verleihen: dazuzugehören, keinFremder, kein »Unmoralischer« zu sein. Um das Ausmaß der Restriktion geht es nicht nur in der Praxis, auch in der kritischen Besinnung.

Da ist der Untersuchende gezwungen, den in Punkt 10 begonnenen Definitionsversuch fortzusetzen und sich nach einer weiteren Minimaldefinition umzusehen, die aber doch die Essenz des Moralischen enthält, und zwar gleichgültig, auf welche spezielle Moral wir treffen werden. Was darf nicht gedacht, geplant, getan werden, wenn der Anspruch der Moralität erhoben wird? Es scheint, daß zwischen den Kulturen große Unterschiede hinsichtlich des Ausmaßes der Beherrschung bestehen, der sich libidinöse und aggressive Neigungen beugen müssen. Wenn Bändigung und Ritualisierung der Triebäußerungen die Aufgabe der Moral ist — und darin erfüllt sie funktionell die korrespondierende Aufgabe zu den angeborenen sozialen Instinktleistungen in der Tierwelt —,

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dann läßt sich definieren: Um moralisch zu sein, muß ich so zu handeln trachten, daß ich mit meinem Streben nach Lust, nach Gewinn — beides im konkreten wie im weiteren Sinne — dem anderen nicht schade; und bei dieser Einstellung habe ich auch dann zu bleiben, wenn ich durch diese Maxime mit dem eigenen Drang, den eigenen Zielen in Konflikt gerate, mich also zu Verzichten bequemen muß. Auch Angst soll mich nicht den anderen vergessen lassen.

Nun kann ich so viel ungerechtfertigtem, rücksichtslosem Egoismus beim Partner begegnen (und ich selbst könnte nicht frei davon sein), daß es notwendig ist, zu präzisieren, um nicht unversehens in Philantropie zu verfallen, statt Moralkritik zu betreiben. Denn die Frage taucht sofort auf: Wann schädige ich eigentlich? Darüber könnten sehr verschiedene Auffassungen entstehen, sobald der Interessenkonflikt entbrennt. Der expansive Egoist fühlt sich benachteiligt, wann immer seinen Absichten von den Interessen anderer Schranken gesetzt werden. Wie ihm deutlich machen, daß auch andere berechtigte Ansprüche verteidigen? Wer unterscheidet das gewichtige, überlegene Argument vom Scheinargument, mit dem »Rationalisierung«, also eine nur vorgetäuschte Logik, die in Wahrheit Interessenlogik ist, betrieben wird?

Unsere Minimaldefinition verhilft also nicht zu einem Katalog von Ratschlägen bei den wiederkehrenden sozialen Grundkonflikten. Sie stellt eine einzige Forderung, die zu erfüllen ist, ehe etwas geschieht: Versuche, den anderen soweit wie möglich zu verstehen, deine Empfindsamkeit für seine Gefühle zu steigern; vermeide damit vermeidbare Schädigung im Sinne der Kränkung und Demütigung. Bemühe dich um dieses Fremdverständnis besonders dann, wenn du dich ganz im Recht wähnst und wenn der andere schwächer ist als du selbst.

Einfühlung wird als Gegenkraft gegen die Einfärbung der Realität durch Affekte benötigt. Die moralische Auflage konzentriert sich auf die eine verpflichtende Anweisung, keine Anstrengung zu scheuen, sich in die Position des anderen zu versetzen, mit so viel Schärfe einer teilnehmenden Beobachtung, als wir verfügbar haben, und dann in unsere eigene Position mit diesen Erfahrungen zurückzukehren, bevor wir handeln«.

1)  Die hier gestellten Forderungen sind alt. Der Aufruf zur Selbstkontrolle, den die Philosophen immer wieder erließen, an sich schon schwer genug, wurde durch keine Methode für die Prozedur der kritischen Selbstwahrnehmung unterstützt. Bald stand die moralische Selbsterniedrigung, bald die verkappte Selbstapologie im Vordergrund. Freuds psychoanalytische Behandlungstechnik hat den gleichsam archimedischen Punkt vorbereitet, von dem aus es mit der Hilfe des »wohlwollend neutralen« und teilnehmend beobachtenden Analytikers leichter ist, die blinden Flecken in der Selbstwahrnehmung aufzufinden und sie allmählich zu verkleinern.

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Jede Zeit muß ihre Moral einüben und entdeckt dabei, daß sie eine »doppelte Moral« besitzt. Beide, die Forderungen der ersteren und die Gefahr der Fallstricke der letzteren, halten das Individuum in Atem. Nicht immer ist es leicht, Rücksichtnahme und selbstgerechte Heuchelei auseinanderzuhalten. Denn das Argument, welches der Scheinheilige vorbringt, kann fadenscheinig genug sein, wenn es aber die unbefriedigte Triebspannung bei vielen anderen anspricht und Genuß verheißt, wirkt es doch überzeugend. Gegen diese wortlos verabredeten Verschwörungen im Schatten der Moral ist oft für lange Zeit wenig auszurichten, vor allem, wenn der Triebgenuß dabei in Gefahr geraten sollte. Es mag viele Argumente gegen die Existenz von Hexen gegeben haben (und sie mögen auch vorgebracht worden sein), das hat nicht den Tod einer Unzahl angeblicher Hexen im Mittelalter verhindert; denn hier konnte sich eine von Verbotsängsten und äußeren Katastrophen — wie Epidemien und Hungersnöten — bedrängte Bevölkerung beim zuschauenden Teilnehmen an hochnotpeinlichen Verhören und öffentlichen Hinrichtungen eine kollektive Befriedigung ihrer in die Hexen projizierten sexuellen und destruktiven Phantasien verschaffen. Für die repressive Struktur dieser Gesellschaft war Folter und qualvolle Tötung der Opfer ein unersetzlicher Preis ihrer Moralität.

Ein starkes neues Mittel gegen die Scheinmoral ist die psychologische Untersuchung der Motive — auch und gerade der verborgenen Motive — einer Einstellung. Das Verständnis der Motive eines Individuums bringt uns schrittweise an die unbekannte Welt des anderen heran. Diese Fremdwelt haben die Moralen bisher mehr verdeckt als enthüllt, weil es ihnen auf die Typisierung in fremd — bekannt, gut — böse etc. ankam. Inzwischen hat uns Freud zu erkennen gelehrt, wie leicht in diese Stereotype die Projektion eigener, verleugneter Charaktermerkmale eingeht. Wir unterliegen dann einer Wahrnehmungstäuschung, durch welche Moral aufgehoben wird. Denn anstelle einer Fremd-Begegnung nehme ich am anderen das Fremde in mir wahr. Ich mache aus ihm, meinen Bedürfnissen folgend, ein Ideal oder einen Ausbund meiner Fehler. Die Entdeckung des Projektionsmechanismus im Sozialverhalten hat neue Kriterien für die Bestimmung moralischen Verhaltens nötig gemacht.

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21. 

  Wir unterscheiden also zwischen der Prämisse, die moralischen Entscheidungen voranzugehen hat, und den faktischen Konventionen. Die Prämisse fordert die Reflexion über den Partner und über die eigenen Absichten, das Handeln soll durch solche Reflexion gesteuert werden. Moral als faktische Konvention dagegen stellt ein System von Verhaltensanweisungen dar. In unserer Gegenwart breitet sich das Verlangen nach nationaler Selbständigkeit mit dem nach technischen Produktionsmitteln aus, welche allein in der Weltöffentlichkeit Ansehen verleihen. Dabei treffen — wie wir eingangs betonten — Menschen aufeinander, die sich nach ihrer Herkunft gänzlich fremd sind. Das verstärkt die Notwendigkeit für eine Verbesserung und Verfeinerung der Wahrnehmung, da jetzt Menschengruppen ins Blickfeld kommen, die bisher zur Erleichterung der Einhaltung der Moral in der eigenen Gruppe fremd, unverstanden bleiben mußten und dadurch in jedem Fall als nicht so wertvoll wie man selbst gelten durften. Sie waren deshalb das scheinbar ganz natürlich vorgegebene Objekt der Ausbeutung und kollektiver Verachtung. Überwindung von kollektiven Vorurteilen ist also (neben der Einübung in die Verhaltensmuster der eigenen Gruppe) die zweite Hauptaufgabe moralischer Erziehung geworden. Beide Aufgaben, und das ist das gänzlich Neue, stehen zueinander in einem dialektischen Verhältnis. Derartiges hat sich noch keine Moral zuvor gefallen lassen müssen.

Vielleicht taucht erst in diesem historischen Augenblick auf merkliche Weise der Anspruch auf, das Individuum müsse für eine lebenslange ständig erneute Anpassung an das System der moralischen Werte bereit sein. Das Erlernen einer Moral ist nicht mit der Errichtung erster innerer Vorbilder (am Ende der ödipalen

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Entwicklungsphase) beendet, also mit fünf bis sechs Jahren — wie uns die psychoanalytische Beobachtung zu erkennen gelehrt hat —, auch nicht mit dem geglückten Übergang von einer »heteronomen« zu einer »autonomen« Moral, das heißt von einer Moral, die man bei den Erwachsenen vorfindet, zu einer, der man sich selbst verpflichtet, die die eigene Person repräsentiert, wie J. Piaget dies beschrieben hat. Diese Entwicklungstheorien halten ohne Zweifel wichtige Grundbedingungen für die Verknüpfung von Moral und Charakter fest. Die Eigenart unserer Situation besteht jedoch im Auftauchen von eigentlich unlösbaren moralischen Problemen. Sie werden dadurch unlösbar, weil ein allgemeiner moralischer Grundsatz mit den Pflichten aus der unmittelbaren Situation, in der das Individuum steckt, in Widerspruch gerät. Am eindringlichsten sind die Pflichtenkollisionen geworden, welche aus Krieg und Terror herrühren. In vielen Lebenslagen gibt es keine allgemeinverbindliche Anweisung. Nicht selten entwickelt das couragierte Individuum mit seiner abweichenden Entscheidung erst eine Bewußtseinslage, aus der für ein Kollektiv die Ahnung neuer Gewissensverpflichtungen entsteht. Die Attentäter des 20. Juli brachten über das Attentat auf ihren obersten Kriegsherrn hinaus einer Gruppe — dem deutschen Offizierskorps — zum Bewußtsein, daß die Gehorsamspflicht des Soldaten durch die Widerstandspflicht aufgehoben werden kann — aber das nicht in abstracto, sondern unter Einsatz des Lebens.

Solche Ereignisse sind nicht so leicht durch die traditionelle Moral aus dem Weg zu schaffen. Was die theoretische Analyse betrifft, so zeigt sich die Brauchbarkeit unserer Definition. Das Attentat ist gerechtfertigt durch den Terror. Dieser verletzt die moralische Verpflichtung, dem anderen nicht willkürlich zu schaden, und er gibt dabei gerade seiner Brutalität eine ideologische Rechtfertigung. Sie liest sich als seine Moral. Wie soll sich etwa das Individuum der verwalteten Gesellschaft in einem Krieg verhalten, an dem es nicht schuld zu sein und zu dem es nicht Schuld beizutragen begehrt? Wieweit muß es sich exponieren im Widerstand, und wieweit schädigt es, vielleicht subjektiv ehrlichen Widerstand leistend, eine gute Sache seines Kollektivs, die es nicht als solche erkennt?

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Die bedrückende Widersprüchlichkeit moralischer Pflichten — von den Triebansprüchen, die im Spiele sind, war noch nicht die Rede — macht deutlich, daß die Verschiebung der Verantwortung nach oben, wie in der Vergangenheit, immer weniger entschuldet. Zugleich werden die Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden sollen, für den durchschnittlich in der Großgesellschaft plazierten einzelnen undurchdringlich; was naturgemäß die Neigung, sich zu »privatisieren«, die Neigung zur Apathie (das heißt zum Rückzug der Objektbesetzungen, des Interesses) oder zur Delegation der Verantwortung fördert.

Alle Erfahrungen belehren uns, daß wir die Moralgebote unserer Gesellschaft in ihren Grundzügen gegen große innere, eben gegen die Widerstände unserer Triebnatur während unserer Kindheit erlernen und dabei schwere Krisen in unserem Verhältnis zu unserer unmittelbaren Mitwelt durchleben. Der wichtigste dieser Schritte von der triebbestimmten Selbstbezogenheit, dem primären Narzißmus, zur sozialen Einordnung geschieht in der Drei-Personen-Situation Kind-Mutter-Vater. Die Konfliktspannung dieses Geschehens (der Ödipuskomplex) lockert sich dadurch, daß wir unsere Objektliebe (z. B. die des Sohnes zur Mutter, die er zu heiraten wünscht) erhalten, indem wir uns mit dem auf seine Weise auch geliebten Vater identifizieren — uns seine Verbote, aber auch seine Stärke, seine Fähigkeiten dadurch zu eigen machen. Obgleich diese Identifikation zur Lösung des ödipalen Konfliktes, zur Ich- und Über-Ich-Bildung Wesentliches beiträgt, verhilft sie uns nicht unbedingt zu einer größeren Einfühlungsfähigkeit. Je totaler die Identifikation ist, um so größer pflegen ihre unbewußten Anteile zu sein. Das verhindert die Einfühlungsfähigkeit eher, da wirkliche Einfühlung gerade ein bewußtes Wissen um die Andersartigkeit, Eigenzentriertheit des geliebten Objektes voraussetzt.

Die Art der Lösung oder Ungelöstheit der ödipalen Konfliktsituation ist das Ausgangsschicksal des Individuums als Sozialwesens. Wir müssen uns ein sehr breites Spektrum möglicher Anpassungs- und Widerstandsformen denken. Immer steht dabei dieses Individuum auch im Kampf um Anerkennung seines Privatum, seines Selbstseins. Vom Extrem einer konstitutionellen Triebschwäche oder einer rücksichtslosen erzieherischen Überwältigung abgesehen, die ein »selbstloses«, in seiner Selbstbehauptung tief gestörtes Individuum hervorbringen, stellt wohl das Geschehen

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während der ödipalen Phase die Weichen, aber es sind nicht die letzten. 

Auch in den späteren Krisensituationen seines Lebens vermag sich das Individuum moralisch zu entwickeln in neuen Identifikationsstufen; wie überhaupt die verschiedenen Altersphasen auch biologische Forderungen an eine der Lebensepoche entsprechende moralische Anpassung stellen. Die Konflikte dieser späteren Moralisierung des menschlichen Verhaltens sind nicht kleiner geworden, seit die Rollenmuster für Triebbewältigung an Allgemeinverbindlichkeit eingebüßt haben.

Die bleibende Einengung der Entwicklung durch eine zu frühe, zu heftige, nicht einfühlende moralische Indoktrinierung — in welcher keine Freiheit für »Trotz« oder für das Besetzen einer dialektischen, kritischen Gegenposition offenbleibt — kann zu einer allzu innigen Verbindung von Über-Ich und Ich1) führen. Das Über-Ich läßt von nun an dem Ich zu wenig Spielraum; dies führt zur Hemmung der kritischen Ich-Funktionen, nicht zuletzt zur Beschränkung kritischer Selbstbeobachtung. Das Ich kann sich dann nicht anders als mit den Augen des »Großen Bruders«, eines weniger liebevollen als unerbittlichen oder rächenden Gottvaters, sehen. Der Gedanke an eine Alternative zur Vorschrift ist schon strafwürdige Verfehlung.

1)  Zum Beispiel kann man darauf verweisen, daß es seit je das Bestreben der katholischen Kirche war, durch einen möglichst frühzeitigen Einfluß auf die Erziehung des Individuums gerade diesen Effekt zu erreichen. Der Pragmatiker wird die Bewunderung nicht unterdrücken können, daß mit diesem Mittel durch die Jahrhunderte der Machtapparat der Kirche instand zu halten war. WerUn der Erhaltung dieses Apparates nicht den letzten Sinn der Geschichte sieht, wird trotz Bewunderung diese Form der Domestizierung uneingeschränkt ablehnen. Aber die hier angenommene Situation ist einfacher, als es der komplexen Wirklichkeit entspricht. Schon Freud (Neue Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Werke XV, 68 und 73) hat zum Beispiel darauf hingewiesen, daß eine milde und freiheitliche Erziehung das Kind nicht immer daran hindert, ein strenges und intolerantes Über-Ich zu entwickeln. Die Analyse solcher Fälle ergab, daß das Kind sich nicht mit dem bewußten Verhalten der Eltern, sondern mit den den Eltern selbst unbewußten Anteilen ihrer moralischen Einstellungen identifizierte.

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22.  

Die im Über-Ich verinnerlichte Moralität der Gesellschaft ist es also, die zunächst über die moralgerechte Steuerung des individuellen Verhaltens wacht. Minoritäten, die inmitten einer fremden Kultur vor allem ihre Sprache, ihre Ehrvorstellungen, ihre Familientraditionen festhalten, belegen die Festigkeit dieses dem individuellen Ich in der Entwicklung zunächst überlegenen Impulszentrums. Freuds Bezeichnung »Über-Ich« ist deshalb korrekt; sie verweist auf ein intrapsychisches »Strukturverhältnis« und »personifiziert nicht einfach eine Abstraktion wie die des Gewissens«.1) 

An Immigrationsschicksalen mit ihrer Aufgabe der Anpassung an eine kulturbestimmte Lebensform läßt sich aber auch beobachten, wie die Struktur eines traditionellen Über-Ichs aufgebrochen wird und wie dies Angst erweckt. Im neuen Milieu kann es entweder zu einer stürmischen Verleugnung der alten und zur Übernahme der neuen Gruppenidentität kommen; oder aber meist älteren Menschen gelingt es nicht, die erwartete kulturelle Anpassung zu leisten, sie behalten ihre mitgebrachten Identifikationen und Wertorientierungen bei, bleiben dadurch »seltsam«, Fremde, randständig. Im letzteren Fall schützt das Individuum seine Identität also mit einer »innengeleiteten« Orientierung im Sinne David Riesmans, im ersteren Fall verhält es sich »außengeleitet«. Es kann aber auch der Kompromiß zustande kommen, daß der Neuling die Fertigkeit entwickelt, auf zwei Schauplätzen zu leben, in der Familie oder in der ethnischen Gruppe mit der alten, auf dem Arbeitsplatz mit der neuen Moral und ihren Idealen.

Wenn wir die Vielzahl dieser unterschiedlich schnell und unterschiedlich tief verlaufenden Anpassungsvorgänge und überhaupt die Nöte der sozialen Umorientierung an neue soziale Werte und Rollen im Auge behalten, gelingt es uns besser, die Phänomene eines raschen Identifikationswechsels (der »Außenleitung«), rascher Veränderungen im Über-Ich als Anzeichen wenig haltbar gewordener Objektbeziehungen, zu verstehen. Es bleibt dabei die Frage, ob der geringe innere Abstand zwischen Ich und Über-Ich, die starke Abhängigkeit des Ichs vom Über-Ich, eine ungünstige Voraussetzung zur produktiven, das heißt die Reifung fördernden Anpassung an sehr neuartige Umweltbedingungen, wie die der technischen Industriezivilisation, ist. 

1)  S. Freud Neue Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Ges. Werke XV, 71.

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Wir hatten jedenfalls in Deutschland Gelegenheit, zu beobachten, wie ungezählte Individuen bei relativ unveränderter familiärer Gruppenmoral sich rasch wechselnden Werten der nationalen Gruppenmoral anzupassen verstehen, wobei freilich gerade die Unterlegenheit der Ich-Funktionen gegenüber den Über-Ich-Ansprüchen dazu prädestinierte. Auf den Wogen nationaler Omnipotenzphantasien überließ man sich einer höchst zweifelhaft begründeten Moral der »Stärke«, das heißt der Gewissenlosigkeit, und war nach dem Zusammenbruch dieser Ideologie nicht in der Lage, zur Selbstkritik zu schreiten; vielmehr trennte man sich ohne sichtbare Trauer von der bisher emphatisch hochgehaltenen »Herrenmoral«, um die nächst opportune anzunehmen. Der Persönlichkeitswandel nach dem Kapitulationsjahr 1933 und die Anstrengungen der Verleugnung nach der totalen Niederlage 1945 haben sozialpsychologische Fragen aufgeworfen, die wir zwar teilweise zu beantworten vermögen, die aber doch in vieler Hinsicht unsere analytische Kapazität überschreiten. 

Diese jähe Umorientierung und dieses Mundtotmachen des Gewissens1) bei Menschen so verschiedener sozialer Lokalisation wie zum Beispiel Arbeitern der Industriezonen und vornehmlich religiös gruppenorientierter Agrarbevölkerung bedürfte noch sehr viel exakterer Kenntnis der jeweiligen Sozialisierungsprozeduren, der jeweiligen Rollenkombinationen (der Statusrollen Talcott Parsons und ihrer Verknüpfung und Abfolge, wie von Robert K. Merton beschrieben).

1)  Auf den Unterschied von Gewissen und Über-Ich kann nicht näher eingegangen werden. Die wesentliche Differenz: Die Wirksamkeit des Gewissens ist bewußter Natur; aus ihm ist die Ambivalenz getilgt, es wiederholt auf positive Weise die Gebote, die es gelernt hat. Das Über-Ich enthält: alles, was im Wahrnehmungs- und Lernprozeß als Identifikation, als Introjektion von Autoritäten ins Innere des jungen Menschen eingewandert ist. Dabei geraten viele unterschwellig wahrgenommene Züge mit in den Verinnerlichungsvorgang, die strenggenommen nicht »vorbildlich«, aber doch Merkmale des Vorbildes sind. All das bleibt unreflektiert, wird unbewußte, dem Ich vorgeordnete, übergeordnete Weisungsmacht. Es bedarf energischer Anstrengungen im Ich, um die Vorherrschaft des Über-Ichs zu bemerken und zu korrigieren.

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Als Beispiel eines aktuellen Relativierungsvorganges der Moral ist unsere Rückbesinnung auf europäisch-demokratische Sittlichkeit 1945, nach totalem Machtverlust, nicht ungeeignet. Die Einstellungsänderung ist als zunächst opportunistische Unterwerfungsgeste verständlich. Neben der Einschränkung der Realitätskritik des Ichs durch das Über-Ich (einschließlich der Selbstkritik) ist es noch ein zweites Ergebnis einschüchternder Erziehungsprozeduren, welches hier ins Gewicht fällt. Durch eine Erziehung, die früh in der Kindheit und Jugend auf Unterjochung des Ichs, auf Ausschaltung seiner kritischen Fähigkeiten, erpicht ist, wird die Ambivalenz aller Gefühlsbeziehungen sehr gesteigert. 

Aber die negative Seite dieser Doppelgefühle von Bewunderung (für die Macht) und Neid (auf sie), von Liebe und Verachtung etc. darf das Kind nicht zeigen, jedenfalls nicht unchiffriert, sicher nicht dem Inhaber der überlegenen Rolle gegenüber. (Es versucht vielleicht, etwas vom Haß auf den beneideten Vater in der Aufsässigkeit dem Lehrer gegenüber unterzubringen.) Demagogie stellt mit Freund-Feind-Polarisierungen übermäßige Gefühlsambivalenzen in den Dienst einer »gerechten großen Sache«. Die Entmischung der Ambivalenz geschieht durch Bahnung der Projektion ihres negativen (bisher unterdrückten und dadurch unsublimierten) Anteils auf den Fremden oder Andersdenkenden. Hier spielt sich also ein fortwährendes Überfremdetwerden mit Moral ab, zunächst durch den inneren Usurpator, dann durch den militärischen Sieger.

 

23.  

Der Sadismus, der einen so starken Anteil an autoritären Äußerungen hat, wird bei uns wie anderswo als Lustquelle selten unumwunden zugegeben; er tritt als »Strenge« auf, und diese ist moralisch hoch stehend.1) Wir idealisieren also unsere Sadismen; das macht sie besonders unzugänglich für (Selbst-) Korrektur. Die in den banalen Alltagssituationen hervorbrechende Aggressivität ist ein »acting out«, ein Ausagieren einer inneren Triebspannung, die dadurch entsteht, daß unser archaisches, unpersönliches und hartes Über-Ich unser Ich unterdrückt und zu einer permanenten Gehorsamshaltung zwingt, gleichgültig, ob es sich um wahrhaft wichtige oder um irgendwelche ganz nebensächlichen Entscheidungen handelt. Das Über-Ich ist wie ein strenger Gott, der unablässige Aufmerksamkeit fordert. 

1)  Vgl. Klaus Hörn Dressur oder Erziehung. Schlagrituale und ihre gesellschaftliche Funktion. Frankfurt (edition suhrkamp) 1967.

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Ihm entlaufen wir nach dem Prinzip der Radfahrer-Reaktion, wo immer uns ein Mitmensch in die Quere kommt und sich ins »Unrecht« setzt. Der kleinste Verstoß in der Verkehrsordnung oder in ähnlichen Situationen findet sofort die unfreundliche und seltener die freundliche Erledigung, was auf die dauernde Enttäuschung unseres Ichs über die nie zu befriedigenden Über-Ich-Ansprüche schließen läßt. Das Kind ist unser bevorzugtester »Untertan«. Es wurde gezwungen, die Überwältigung seiner eigenen Würde als »Gerechtigkeit« zu erleben; womit ein sado-masochistisches Verhältnis, häufig zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern, gestiftet war. Viel anderwärts nicht zu befriedigende Libido geht auf diese Weise die Fusion mit Aggression ein.

In der bewußten Moralität bleibt solcher Mitvollzug infantil perverser Lustbefriedigung unbemerkt. Man quält und wird gequält, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre. Es handelt sich also um eine Unterströmung von Triebverlangen, welches seinem Ziel, der Entspannung, zustrebt, das durch Moralisieren rational akzeptabel wird. Als Perversion, die im Bewußtsein tabuiert, ein »unmöglicher Gedanke« ist, kehrt sich der Sadismus nicht viel daran, welchen Geschlechts das Objekt ist, dessen er zu seiner Befriedigung bedarf. Es geht eben um eine prägenitale und nicht um eine genitale Befriedigung der Libido. Das aggressive Ausagieren in Sadismen wird aber noch dadurch gefördert, daß die Moralität unserer Gesellschaft wenig unverblümte Neigung zum gleichgeschlechtlichen Partner erkennen zu geben erlaubt; vorherrschende Heterosexualität, erlernte Ekelempfindungen und vorgefundene Gesetzesschranken stehen davor. Nur heterosexuelle Beziehungen sind akzeptabel. Auch sublime Formen der gleichgeschlechtlichen Neigung, besonders unter Männern, stehen im Verruf des »Weibischen«; nur über die verbindende Lust an der Zote ist etwas homoerotische Befriedigung (die ganz unbewußt bleibt) möglich. Ein ärmlicher Ausgleich.

Das ganze Feld ist derart tabuiert, daß gerade für den körperlichen Anteil der gleichgeschlechtlichen Libido1) wenig Realisierungen und wenig Anweisungen zur Sublimierung bleiben. Es paßt nicht ins Idealbild dieser paternistischen Freude an der Gewalt, daß es keine Kulturaufgabe sein könnte, ins Bild des Mannes auch weichere, weiblichere Züge zu integrieren. Damit unterblieb die innerseelische Dialektik zwischen männlichen und weiblichen Identifikationen.

1)  Wir gehen dabei von der Hypothese der bisexuellen Geschlechtsanlage aus, für die sich immer neue Beweise finden. Die definitive Sexualrolle ist weitgehend sozial geprägt.

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Eine kulturspezifisch deutsche Variante seit den Gründerjahren war die Abweichung aller Einsprüche mütterlicher Güte. Die Frau wird im Denkstereotyp des deutschen Mannes seither prinzipiell nicht ernst genommen. Bis wenigstens in die Mitte des vorigen Jahrhunderts war jedoch ein hochidealisierter, schwärmerisch entkörperlichter Freundesbund unter Jünglingen eine häufige Erscheinung. Das war ein anderes, vorindustrielles Deutschland, in dem für die Entwicklung sublimer Feinheiten in gleichgeschlechtlichen Beziehungen noch akzeptierte Rollenmuster bestanden. 

Später, unter dem Vorbild der Kadettenerziehung, sank diese Anstrengung, gleichgeschlechtliche Neigungen zu kultivieren, in rüdere Formen der Kameraderie ab. Das Rangverhältnis dominierte alles andere. Selbst nach dem Untergang zweier Großmachtkonstruktionen finden sich im männlichen Idealtypus unserer Gesellschaft kaum entspanntere, einfühlungsbereitere Züge. Nach wie vor bestimmt ein sadistisch eingefärbter Ton, ein »herrisches« Wesen, den Umgangsstil in Abhängigkeitsverhältnissen. Wo Mangel an Arbeitskräften zu vorsichtiger Haltung zwingt, wird das als Notstand und nur zögernd als Chance empfunden, den sozial Schwächeren trotz dieser Schwäche für voll zu nehmen. 

Weder das wilhelminische noch das hitlertreue deutsche Bürgertum verstanden sich darauf, ihre Moral der Härte (die unbegriffenerweise nicht der Stärke entsprach, sondern der Unfähigkeit, despotischen Vatervorbildern zu begegnen) relativ zu sehen. Der Mangel an Selbstironie zeichnete die Lage aus und tut es noch. Lust, die nicht Befehls- oder Gehorsamslust war, schien Defätismus. Die Distanz der Ironie war etwas, was das gruppenspezifisch deutsche Über-Ich unserem Ich nur in Ausnahmefällen ließ (wohl ein Grund, weshalb die Intelligenz in der Weimarer Republik nie aus dem Geruch, »zersetzend« zu sein, herauskam; ein Odium, das bei uns allezeit rasch erworben war und ist und zur Rigidität unserer Moral entscheidend beitrug).

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24. 

 Das Elend der menschlichen Moralen (und wohl auch der Grund für ihre geringe Stabilität) ist die Leichtigkeit, mit der sie sich mißbrauchen lassen. Die angeborenen auslösenden Mechanismen, durch welche das tierische Sozialverhalten reguliert wird, besitzen eine hohe Selektivität; sie sind unmißverständlich, denn sie sprechen nur auf »ganz bestimmte, charakteristische Reiz-Kombinationen« 1) an, die wie ein »Schlüssel« die arterhaltenden Handlungen in Gang setzen. Im Prinzip sind die überlieferten Moralen auf eben dieser möglichst starren Verknüpfung von »Befehl« und »Antwort« errichtet. Die Situation, zum Beispiel ein Examen, wird mit bestimmten Ansprüchen dressathaft verknüpft; es kann etwa als ehrenrührig gelten, mit Täuschungen zu arbeiten. Solange eine Konfliktsituation zwischen gesellschaftlicher Spielregel und Egoismus, der die Regel nicht beachten will, so einfach geartet ist, mögen die Entscheidungen problemlos fallen. Schon ein so vielschichtiges Geschehen wie eine Ehekrise aber macht deutlich, wieviel Mißverstehen, wieviel Moralismus im Dienste eigenen mitmenschlichen Versagens aufgeboten werden kann, so daß schließlich niemand mehr auf den Boden der Tatsachen findet. Ein Knäuel von Verletztheit, Einfühlungslosigkeit, Eigensinn und Eigennutzen, konformistischer Enge, geheimer Quälsucht aus Enttäuschtheit und vieles andere ist dann nicht mehr mit einfachen moralischen Geboten zu entwirren. Der Unterschied zum angeborenen Auslösemechanismus liegt demnach in der mangelhaften Selektivität, mit der moralisches Verhalten ausgelöst oder — ebensowichtig — nicht ausgelöst wird.

Viel zuviel und viel zuwenig kann unter das Regulationsprinzip der Moral geraten. Diese Unsicherheit kommt auch darin zum Ausdruck, daß keiner Moral eine verläßliche Tötungshemmung gegen Artgenossen gelungen ist. Die Einsicht fällt uns nicht leicht, daß es nicht nur die Schwäche oder Bosheit der Bösen ist, die Moral mißachtet, sondern daß wir alle mit viel mehr List, als wir uns vergegenwärtigen können, Moral mißbrauchen. So daß man formulieren kann — und wir in einem Atemzug damit auch unser eigenes Verhalten befragen sollten —: Wenn dir einer mit Moral kommt (oder wenn du dich selbst auf Moral berufst), vergiß nicht, dich zu fragen, ob und inwiefern er dich übervorteilen will (beziehungsweise ob du mit ihm ein Gleiches vorhast).

 

1)  K. Lorenz Über tierisches und menschliches Verhalten, Bd. II. München (Piper) 1965, 137.

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Es ist unentschieden, ob es eine primäre Destruktivität (einen genuinen »Todestrieb«) gibt oder ob die natürliche Aggressionslust sich nur unter dem Erlebnis der Ohnmacht, der Erniedrigung des Selbstwertes, in die Lust am Zufügen von Schmerz verwandelt. Sicher ist, daß es bisher keiner der »Hochkulturen« gelang, auf die Dauer ihre Mitglieder so weit zu Sublimierungen zu veranlassen, daß dadurch jene Energien aufgesogen worden wären, die sich bisher in Haß- und Zerstörungsausbrüchen entluden. Diese letzteren repräsentieren anstelle der Ich-Leistung »Sublimierung« die kollektive Regression zur Anerkennung der Herrschaft von Primärprozessen.

Wenn wir die Relativierung der Moral im positiven Sinn als eine unvermeidliche Aufgabe wirklich verantwortlichen sozialen Daseins ansehen, dann bietet sich der Kritik ein besonders auffälliger Zug an. Vertreter der Moralität haben immer wieder und besonders fanatisch Aggression und Destruktion als sozial positive Leistung interpretiert. Foltern, Sieden und Verbrennen wurden ohne weiteres gebilligt, wenn einer der Sittenlosigkeit, des Umgangs mit dem Teufel — oder was immer die Unzucht signalisiert haben mag — verdächtig war. Es konnte also auf der Welt unter diesen beobachtenden Augen der Sittenhüter seit je ungleich brutaler als unverhohlen erotisch zugehen. In die Sprache der psychologischen Wissenschaft übersetzt: Aggressive Triebbefriedigung ist moralisch bis heute zulässiger geblieben als die zärtlich-sexuelle.

Das hat eine Folge, die von der Moral der Gewaltlosigkeit, also vom Kern der christlichen Moral her betrachtet besonders beklagenswert ist. Die Unterdrückung der erotischen Komponente im Verlangen der Menschen verhilft automatisch der Aggressivität zum Übergewicht.

»Triebe« kommen rein nicht vor; sie sind begriffliche Abstraktionen zur Verständigung über die Grundrichtungen, in denen menschliches Verhalten sich entfaltet. Die Wirklichkeit kennt nur »Legierungen« des Triebgeschehens. Dabei bestimmt der überwiegende Triebanteil das Ziel, nämlich aggressive oder libidinöse Befriedigung.

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Im Fall eines Überwiegens liebevoller Besetzung eines Objektes werden wir unsere Aggression im Dienste der freundlichen Gesinnung, des Zärtlichen mildern können; wir suchen uns das Objekt unserer Lust zu erhalten. Diese Bändigung aggressiver Tendenzen wird nicht gelingen, wenn der Aggression das höhere soziale Prestige eingeräumt ist. Dann vollzieht sich die eigentliche Perversion der Libido: Sie gerät in den Strom aggressiver Zielsetzung und verleiht ihr den Charakter des Lustvollen. In der Tierquälerei des libidinös enttäuschten Kindes, wird deutlich, daß die mit Lust aufgeladene destruktive Handlung den Ersatz für eine entgangene Liebesbefriedigung darstellt.

Nicht nur, daß diese infantile Enttäuschung den Triebcharakter des Individuums definitiv beeinflussen kann, auch später bleibt diese Ersatzbildung aus chronischer Frustration heraus bei vielen Menschen ein nicht schwer provozierbares Verhaltensmuster; denn auch der brutale Exzeß, etwa die im Dienst der Moral verwendete Folter, enthält eine pervertierte libidinöse Befriedigung. Auffallend ist, daß stets ein Bedürfnis besteht, die Perversion umzubenennen und moralisch zu rechtfertigen.

Die Verdammung der sexuellen Lust in langen Perioden der christlichen Geschichte zwang das Individuum zur Unterdrückung der Sexualität und zur ersatzweisen Triebbefriedigung in Akten der Destruktion. Daß dieser Tausch der Triebbefriedigungen möglich ist, muß als ein Apriori hingenommen werden. Weil aber gar kein Kult der Sexualität im Religiösen geduldet wurde, liefen die moralischen Anforderungen auf eine Überanstrengung in den Triebverzichten hinaus. Obgleich auch Gewaltlosigkeit gefordert wurde, geschah die Behandlung von Verstößen gegen dieses Gebot — vor allem auf kollektiver Ebene und durch die herrschenden Schichten der Gesellschaft — mit mehr Nachsicht als bei Verletzung sexueller Tabus; doch war die führende Schicht auch hier entschieden privilegiert.

Den Zeugnissen der großartigen Verinnerlichung der Gefühle, der hingebenden Selbstlc sigkeit, der Abtötung des Leibes stehen die Akte der brutalen Zerstörung dieses so tief entwerteten Leibes gegenüber. Die auf Freuds Einsichten in das unbewußte Triebgeschehen aufbauende Anthropologie hat uns zur Erkenntnis gezwungen, daß sie einander bedingen. 

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Extremer Sexualverneinung im Selbstbildnis wird nach den Erkenntnissen der Psychologie kaum eine spurlose Desexualisierung zur Folge haben; vielmehr muß damit gerechnet werden, daß sie im Kollektiv zu einer Rollenverteilung führt, in welcher bestimmten Gruppen die Sexualisierung der Grausamkeit oder das Ausleben der Sexualität an sozial niedrigeren, entwerteten Partnern zugestanden wird, und die tonangebenden Schichten der Gesellschaft dies, sich miteinander identifizierend, gutheißen.

 

25.  

Die Besonderheit des Mißbrauchs von Moral liegt also darin, daß es für das Individuum in der Zange der öffentlichen Meinung nicht leicht ist, seine berechtigten Forderungen von ihrer Korruption zu unterscheiden. Die Zahl der larvierten und offenkundigen Übertretungen ist sehr groß, die Diskussion dadurch erschwert, daß wir es meisterlich verstehen, vor unserem Gewissen uns zu rechtfertigen, wenn es nichts zu rechtfertigen gibt.

Unsere Grundthese, Moral solle uns darin hindern, dem anderen zu schaden, ist zunächst eine negativ formulierte Aussage. Jemandem nicht zu schaden hat aber nur dann einen Sinn und einen merkbaren Aufforderungscharakter, wenn ich am anderen »interessiert« bin, das heißt, wenn ich ihn in all seiner Fremdheit (aber auch dann, wenn er meinen Erwartungen wie in der Verliebtheit und Liebe entgegenkommt) in dieser seiner Andersartigkeit respektieren kann, wenn ich ihn mit meiner Libido zu besetzen, als mir wertvolle Erweiterung meines Selbstseins zu erleben vermag.

Konsequenterweise entdeckt man, daß höhere Formen der Moral der Polizeiaufsicht und dem Bürgergehorsam immer unähnlicher werden. Die Wahrheit über die Motive eines Tuns enthüllt sich erst zögernd im Zwiegespräch, das wir aus Interesse aneinander führen; das Selbstgespräch ist nicht verläßlich. Das ergibt immerhin einen neuen Aspekt des moralischen Anspruchs: Das Befolgen eines Auftrages (»Du sollst ...«) entscheidet nicht allein; das Selbstverständnis meiner Motive, warum ich folge oder nicht, ist nicht weniger wichtig. Überhaupt bin ich in Konfliktlagen dieser Art wenigstens auf einen Mitmenschen angewiesen, der mit mir an der Erkenntnis meiner (und seiner eigenen) Motive interessiert ist. Mit der »Beichte« allein ist es ausdrücklich nicht getan. 

Vielmehr ist vorausgesetzt, daß »Sympathie« sich auch als gemeinsame Erkenntnislust auswirkt und ein Bedürfnis nach Motiverhellung und überhaupt nach Erweiterung des Bewußtseins weckt. Dabei darf dann nicht von vornherein gemäß moralischem Kodex feststehen, wie mein Verhalten zu verurteilen oder zu prämiieren ist. Erst ein langsames, einsichtiges Eindringen in die Vielschichtigkeit meiner Motive schafft die Voraussetzungen zur genuinen Moralität, dämmt den Mißbrauch der Moral ein oder ihre Verachtung.

199-200

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