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 III. 26. 

 

 

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Der Verwahrlosung, Gewissenlosigkeit korrespondiert die moralische Überangepaßtheit, die bigotte Gefügigkeit, die übergroße Gewissenhaftigkeit im Befolgen der Moral, die Skrupulosität; beide sind Anzeichen einer krankhaften Charakterentwicklung.

Sie wird natürlich in individuellen Erfahrungen vermittelt, prägende Einzelheiten wiederholen sich aber (zum Beispiel in Sozialisierungspraktiken) unter Umständen so regelhaft, daß wir von »Gruppendruck« sprechen können. Es ist der Kodex des moralischen Verhaltens, der dem einzelnen dieserart aufgepreßt wird. Seine abwägende Besinnung auf dieses ganze Geschehen kann später als ein Prozeß kritischer Ich-Leistungen erfolgen, sie muß es nicht.

Die konfektionierte, die kollektiv gültige Weisung erstickt in der überwiegenden Zahl die Orientierung an einem solchen persönlich gewordenen Gewissen. In der Errichtung manipulierbarer Ohnmachtsverhältnisse lag das Schwergewicht moralischer Erziehung in der Vergangenheit. Man denke an dörfliche und kleinstädtische Enge, um sofort zu sehen, daß höchstes Mißtrauen Ansätze zu selbständiger Denkleistung des Individuums begleitet, wenn daraus abweichendes Verhalten folgte.

Die Überanpassung, in welcher das Individuum eigentlich als Marionette seiner Rollenvorschriften agiert, wird von Kindesbeinen an eher prämiiert. Das »brave« Kind, der Musterknabe, der Biedermann sind »Stützen der Gesellschaft«. In dieser Rollentreue gelingt es, das Ich so dauerhaft zu domestizieren, daß es alle Konflikte zwischen eigenem Ich-Ideal und kollektivem Rollentypus verleugnet. Bleibt andererseits die libidinöse Bindung an die Gruppe schwach, lernt das Individuum die primären Triebansprache nicht zu beherrschen, so entwickelt es mehr oder weniger starke Züge einer Rücksichtslosigkeit, die sich bis zur kriminellen Asozialität steigern mag.

Der unbezweifelbar Asoziale fällt aus der Rolle, er wird zum Outsider, schließt sich damit aus der Gruppe für deren Selbstgefühl aus. Daß er auch unter den Lebensumständen der Gruppe so geworden ist, verleugnet das jeweilige Selbstbewußtsein des Biedermannes. Seine Deformation ist Ich-Symptom geworden; das heißt, sie wird bejaht und als wertvolle Charaktereigenschaft erlebt.

Einer der unleugbaren Fortschritte im moralischen Bewußtsein der Menschheit liegt darin, daß sich das ehemals drakonische Strafrecht als Vergeltungsrecht überlebt und an seine Stelle die »Rehabilitation«, die Resozialisierung tritt. Wie konservativ adaptierend dieser neue Begriff auch ausgelegt werden mag, er verrät doch, daß die Gesellschaft sich mehr für die soziale Entwicklung des Individuums interessiert und zunächst einmal für seine Verbrechen nicht mehr den Teufel oder die Erbanlage, sondern die Lebensumstände, die sie bereitet, verantwortlich zu machen beginnt.

Die Gesellschaft wirkt auf den einzelnen — auf gewiß sehr unterschiedlichen Vermittlungswegen — wie ein anonymer Apparat, der »Direktion«, bedingte Reflexe (von der Art des »stop« und »go«) setzt. Diese automatisierte Sozialanpassung hat zu allen Zeiten beim Gros der Menschen nicht tief gereicht. Im Jahre 1966 wurden in den Vereinigten Staaten drei Millionen Gewaltverbrechen und sonstige Straftaten gerichtskundig; niemand kennt die Dunkelziffer. In deutschen Kaufhäusern wurden 1966 für die stattliche Summe von 24 Millionen Mark Güter gestohlen. Moral bleibt demnach in der Sozialisierung weitgehend ein Ich-fremder Verhaltensautomatismus.

 

27. 

 

Unter politischen Verhältnissen, die sich durch Generationen gleichförmig dem Individuum einprägen, bleibt die Zahl der Anpassungsversager relativ stabil. Die gleichen Über-Ich-Merkmale, was Anschauungen, Vorurteile, gesamten Habitus betrifft, werden durch eine Erziehung vermittelt, deren Anweisung zur Internalisierung der gesellschaftlichen Spielregeln ein erprobtes Verfahren ist. 

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Die steigende Zahl der Kriminalfälle ist es aber nicht allein, welche die gelockerte Bindung an Sozialgebote anzeigt; eine nicht kleine Zahl von Verhaltensweisen, die vor ein bis zwei Generationen »unmöglich« (im Doppelsinn) gewesen wären, sind heute unverdeckter Brauch. Selbst ein Arzt, der seine Patientinnen verführt, kann sich heute unter Umständen der Billigung und Stützung durch die Öffentlichkeit erfreuen.

Wir begegnen mindestens zwei Entwicklungstendenzen, von denen klar ist, ob und wie weit sie sich beeinflussen. Zunächst ist nachweisbar, daß die Zahl der aggressiven Anpassungsstörungen (kurz: der Kriminalfälle) wächst; andererseits wirkt ein kollektiver Druck (allen triebfeindlichen Institutionen und Bräuchen trotzend) zugunsten der Erniedrigung der Verbotsschwelle für sexuelles Verhalten. Vor längerer Zeit von Todesstrafe bedrohte, vor kurzem noch sozial brandmarkende Verhaltensweisen wie Ehebruch oder vorehelicher Geschlechtsverkehr sind zu Privatangelegenheiten geworden, an denen sich die Gruppe zwar neugierig, aber kaum noch Strafen verhängend interessiert zeigt. Sei es im Sinne der dissozialen aggressiven Triebdurchbrüche oder dissozialen Organisation (des organisierten Untergrundes), sei es im Sinne der konzedierten sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten, Triebansprüche zeigen sich in ihrer ursprünglichen Äußerungsform; die alten Umwege verfallen zunächst. Aber auf den Straßen lassen sich zuweilen Zärtlichkeitsgesten sehen, die zur Zeit der Gültigkeit des Satzes »Love in public is disgusting« möglicherweise auch im Privatbereich nicht gelingen konnten.

Völlig unklar ist, welche Frustrationen im einzelnen diese massive Verstärkung der affektiven Erregung und damit die Veränderung der sozialen Verhaltensnormen herbeigeführt haben. Wobei noch zu bedenken ist, daß auch das Aburteilen der Kriminellen, vor allem der jugendlichen Kriminellen, nicht mehr mit unkompliziert gutem Gewissen erfolgt, sondern selbst in das kollektive Abwehrsystem gegen soziale Unordnung, welches doch zugleich der Erhaltung geheiligter Ungerechtigkeit dient, Unsicherheit eingedrungen ist — daß also selbst in der Justiz eine Veränderung des Bewußtseins unaufhaltsam sich vollzieht; man könnte das die Suche nach einer neuen justiziablen Moral nennen. Kontrapunktiert werden diese Umwandlungen von Einflüssen, die

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aus der veränderten objektiven Umwelt, von der Aufsaugung der Mehrheit der Population in Großunternehmungen aller Arten herrühren. Hier ist das Klima gar nicht so sozial und menschenfreundlich, wie die Promotoren es aufzuputzen sich bemühen. Das Angebot — der Arbeitsplatz — ist meist monoton, läßt selbst in den gehobenen Positionen wenig spontane Eigenbeteiligung zu; ihm zu genügen fordert einen deformierenden Anpassungsvorgang, im Prinzip nicht um vieles besser als das Beugen unter das Joch einer schweren Körperarbeit, bei der einem das Denken verging. Der Affektbetrag, der den Arbeitsvorgang begleitet, ohne ihn berühren zu dürfen, vergrößert sich gefährlich; der Klatsch schwillt an, wird hinterhältiger, opfersüchtiger. (Man lese unter diesem Aspekt die Massenpresse und beachte die kaschierenden Devisen: »Seid nett zueinander!«) Eine kleine Zunahme der Intensität des Bedürfnisses, durch Ausspionieren der Schwächen des anderen (und was als solche Blöße zählt) sich zu befriedigen, kann das Leben des Betroffenen schon beträchtlich vergällen. Die Abhängigkeit, in die man geraten ist — ziemlich gleichförmig in West und Ost —, erzeugt psychischen Rückschritt, Regression in Richtung primitiver Denk- und Gefühlsformen. Keinem soll es besser gehen dürfen in diesen Horden von infantilisierten Lohn- und Gehaltsempfängern. Die faktisch gültige Moral heißt: Laß die Hände von allem, was dich nichts angeht, und fast alles geht dich nichts an. Konsumiere, wie dir signalisiert wird; die Statusqualität ist markiert, sie gehört zur ungeschriebenen Dienstanweisung. Hier politisiert sich das Leben in einer höchst anonymen und anonymisierenden Weise. Genauer betrachtet: Es entpolitisiert sich. Mit der Angestelltenmoral ist nicht zu spaßen, sie ist zu befolgen, um »dazu zu gehören«. Es liegt demnach eine Verschiebung des repressiven Druckes vor. Man kann ziemlich sicher annehmen, daß auf der mittleren Einkommenshöhe das Leben nicht weniger zensiert verläuft als einst in dörflicher, kleinstädtischer Enge.

Unsere Gesellschaft ist, wie alle vor ihr, von Unterschieden bestimmt. Die stärkste Gliederung geht von den Gehaltsunterschieden aus, denen Konsumgruppen entsprechen. Die überindividuellen Konflikte, in die wir geraten, bilden sich entsprechend nicht mehr in einem (dynamisch empfundenen) Klassen-, sondern

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in einem (gleichsam wieder ahistorisch sich verstehenden) Kasten-bewußtsein ab, das sich in den Statussymbolen der Konsumsphäre zu erkennen gibt.

Den indischen Kastenbegriff hier einzuführen ist durchaus zweckmäßig. Er verweist darauf, daß diese Lohn- und Gehaltsempfänger nebeneinanderher leben, ohne im politischen Sinn aufeinander zu wirken. Der Aufstieg von einer Kaste zur nächsten ist zwar nicht ganz unmöglich, die Ausbildungswege ritualisieren aber mehr und mehr die Zugehörigkeit; und ebenso homogenisieren sich Moral wie Unmoral dieser Gesellschaft. Altes, vorindustrielles Prestige löst sich auf; nicht mehr der Typus einer Tätigkeit verleiht Ansehen, sondern das verfügbare Einkommen. Alte Standesvorstellungen täuschen vor, sie wären noch wirksam; in Wahrheit laufen sie leer. Die Besitzerin eines Friseursalons, die sich mit einer Ärztin unterhält und feststellt, daß sie mindestens ebensoviel verdient, bezieht daraus ihr Statusbewußtsein; wer einen Beruf ausüben will, der ihm Spaß macht, und dabei ökonomische Opfer bringt, »ist selbst schuld daran«. Das Ethos des preußischen Beamten, der stolz auf den Dienst ist, den er dem Staat seines Königs leistet, und dafür die ärmliche Bezahlung hinnimmt, ist ein vergangenes Moralschema. Es mag in der Mangelwirtschaft eines armen Staates eine Sublimierungsleistung dargestellt haben; die steigende Produktionsrate konnte es spielend außer Kraft setzen und ein selbstbewußtes Fordern nach angemessener Bezahlung an seine Stelle treten lassen.

Die Beispiele zeigen, wie die Verankerungen einer Moral im jeweiligen Charakter, im Reaktions- und überhaupt Verhaltenshabitus einer Gruppe oder ganzen Sozietät auf sehr verschlungenen Wegen zustande kommen. Warum entwickelt Preußen den korrekten Beamten (als neuen Archetyp geradezu), während andere ähnlich arme Gesellschaften mit einer fast rituell geregelten Korruption auch nicht schlechter gefahren sind als Preußens Bürger vor den Schaltern ihrer Beamten?

Handelte es sich um die Kultur Assyriens, der die Darstellung der sozialen Größenunterschiede und der Gleichförmigkeit des dienenden Menschen mit so hoher symbolischer Deutlichkeit gelungen ist, handelte es sich um Kontinente und Subkontinente, die nie eine »Aufklärung« erfahren, nie die kritische Vernunft als analy-

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tisches Werkzeug für die Regulierung ihrer sozialen Zustände entdeckt haben, so wäre die Entwicklung so homogener Wertmaßstäbe, wie sie jetzt mit Hilfe der Werbetechniken erreichbar werden, nicht verwunderlich. Dem hochentwickelten Freiheits- und Individualitätsideal des westlichen Europa, als einer sublimierten Auflehnung gegen das Verhaftetbleiben in frühinfantilem Gehorsam (und das ist das psychische Äquivalent des Werbeerfolges), widersprechen diese neuen Konformismen von Grund auf. Es läßt sich aber einwenden, diese künstlichen Einstimmungen, Appetitanregungen, diese Versprechungen, mit dem Kauf eines Artikels, der Übernahme eines Jargons und ähnlichem sei ein Ideal zu erreichen, hätten nur an der Peripherie mit Moral zu tun. Diese Angleichungsvorgänge wären alltäglich-harmloser Natur. Sind sie das? Denn die Überzeugung, beim Überfall auf Holland oder die Tschechoslowakei oder heute beim Krieg gegen Nordvietnam handle es sich jeweils um eine gerechte Sache, wird mit genau dem gleichen Instrumentarium aufbereitet wie der »Glaube« an die Qualitäten einer neuen synthetischen Faser oder eines Waschmittels. In jedem Fall wird die Erzeugung eines einheitlichen Verhaltens angestrebt. Es scheint besser, den Begriff »Moral« in diesem erweiterten Sinn anzuwenden; man vermeidet auf diese Weise, zwischen ethisch neutralem und positiv oder negativ wertigem Verhalten zu gewandt zu unterscheiden.

 

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Der Augenblick ist günstig, jetzt auf ein häufig vorgetragenes Argument einzugehen: Psychologisches Verständnis löse die Unbedingtheit der moralischen Ansprüche auf, sie schwäche also die Kultur. Derart vereinfacht ist die Aussage gewiß irrig, denn man kann mit Recht sagen, daß Verständnis einer guten Sache nur nützlich sein kann. Dem Einwand liegt die Auffassung zugrunde, daß kritische Urteile nie so sicher seien wie die in Fleisch und Blut übergegangenen Sittengebote. Und das trifft zu. Wenn es jedoch abgewehrten Triebansprüchen gelingt, sich in rationaler Einkleidung der Strafpotenz, die in jeder Moral gegeben ist, zu bemächtigen, dann kommt es zur Perversion der Moral. Darunter ist zu verstehen, daß aggressive Triebbefriedigungen als Ersatzbefriedigung für moralisch tabuierte libidinöse einspringen. Die tragische Folge unserer Trieborganisation besteht darin, daß der umgekehrte

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Weg — Tabuierung aggressiver Akte und dadurch folgende Verstärkung libidinöser Besetzungen — nicht oder nur höchst unvollkommen vorgezeichnet ist. Zweitausend Jahre Liebesverkündigung der chirstlichen Lehre haben an dieser Tatsache kaum etwas zu ändern vermocht, daß enttäuschte Liebesbefriedigung sich mit Haßbefriedigung weitgehend aufwiegen, verhinderter Destruktionswunsch sich nicht ebenso leicht in Liebesakten befriedigen läßt. Freuds Konzept vom Todestrieb ist schon durch diese einzige Beobachtung gerechtfertigt. Es scheint, daß viele unserer Moralen unbewußt starke Aktionsschemata dieses Todestriebes und nicht der Liebe sind. Als Beispiel melden sich die durch Jahrhunderte andauernden Hexenverfolgungen als eine der Begleiterscheinungen extremer Repression sexueller Freude. Aber die Abfolge solcher Entschädigungsbemühungen ist wohl so alt wie die seßhaft gewordene Menschheit und reicht bis in die Brutalität unserer Gegenwart.

Die Euthanasie-Morde, die Freigabe des Mordes an Millionen »Rassenfremder« oder »Ideologie-Fremder« durch die Moral der Nazigesellschaft oder zuvor des Bolschewismus, die »Säuberungen« in der Stalin-Ära, das wurde alles moralisch verantwortet. Wir sind Zeugen, wie zäh die Weißen der amerikanischen Südstaaten an der Rassendiskriminierung festhalten. Das Vorurteil der Superiorität der Weißen ist dort keineswegs so dramatisch zusammengebrochen wie die Herrenrassen-Idee der Nazis; sie überlebt vielmehr an vielen Orten und hat sich in den Zielen der »Black Muslims« und in vielen afrikanischen Staaten oder unter den Chinesen ins Gegenteil, in die Verkündung der Auserwähltheit der ehemals Diskriminierten verkehrt. Auf das Ausleben ungehemmter Aggression unter ideologischem Schutz — sei es durch die weiße, sei es durch farbige Rassen — kann nur wieder »Vergeltungsdenken«, also ein aggressiver Erregungszustand folgen. Die Organisation eines passiven Widerstandes unter Gandhi bleibt die große Ausnahme. Sie ist vielleicht nur auf dem Hintergrund einer fatalistischen Kultur denkbar.

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Das tiefreichende Verständnis der Motivationen perfider Quälereien des Alltags wie der großen Schreckenszeiten kann uns etwas von jenen Prozessen erhellen, die sich ausbreiten, wenn Menschen, in der subjektiven Selbstgewißheit, eine starke, gottgegebene Moral zu besitzen, ausgesonderte Gruppen von Minoritäten oder rivalisierende Fremdgruppen zu quälen, schließlich auszumorden beginnen. Daß Moral diese falsche Sicherheit zu verleihen vermag, die vor Mord nicht zurückschreckt, muß der besonders im Bewußtsein festhalten, der sich um ihre Erweichung durch Psychologie, durch aufklärende Vernunft Sorgen macht.

Alles verstehen — wenn wir dazu nur imstande wären! — heißt in der Beobachtung menschlichen Verhaltens ganz gewiß nicht, alles verzeihen. Einiges besser verstehen zu können schafft aber Voraussetzungen für die Verinnerlichung einer Moral, die nicht so leicht und möglicherweise ungewollt und unbewußt der Zerstörung menschlichen Glückes Vorschub leistet. Bei alledem ist es eine entscheidende Crux, daß die verbotssüchtigen Moralisten wie auch die moralfeindlichen Sozial-Utopisten — etwa im Stile Henry Millers — sich nicht um eine prägnante Kenntnis biologischer und psychologischer Gesetzlichkeiten bemühen, die unser Leben bestimmen. Solche Gesetze lassen sich zwar im Wunschdenken ausschalten, nicht aber in der Wirklichkeit.

 

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Triebe gehen leicht Fusionen ein; sie unterstützen sich dabei, um das gemeinsame Ziel — Entspannung, lustvolle Beruhigung — zu erreichen. Ohne Zuschuß aggressiver Triebenergie bleiben die meisten libidinösen Befriedigungen unerreichbar. Aggression ohne Fusion mit Libido zerstört das Objekt, ohne sich darum zu kümmern. Die moralische Ordnung beabsichtigt den Ausgleich zwischen göttlichen Ansprüchen und den Wünschen des »Fleisches«. Versteht man die ersteren als die Anforderungen, die wir unserem Ideal zubilligen, so gerät die materielle Wirklichkeit, die wir faktisch darstellen, leicht ins Hintertreffen. Denn das Ideal hat die seltsame Neigung, sich unverzeihlich dem gegenüber zu benehmen, der es erzeugt hat. Die Lust aus Liebe wie aus Zerstörung erweckt dann Schuldgefühl. Wobei die Lust aus der Zerstörung die eigentlich verbotene ist. Aber die Liebeslust darf nur im Dienst des Ideals empfunden werden (wie jede mönchische Ordnung zeigt); ein Rückfall auf die natürlichen Triebobjekte ist dann ein Akt der Zerstörung der idealen Liebesbindung und weckt die Eifersucht des vorgestellten Gottes und dann das Schuldgefühl des Sünders. 

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Dieses Schuldgefühl repräsentiert den stetigen Anspruch des (göttlichen) Ideals (jedenfalls des christlichen) und muß verleugnet werden, um nicht alle Hoffnung auf straffreie und irdische Freude zu zerstören. Damit ist seine Wirkung aber noch nicht zu Ende. Als unbewußt weiterwirkendes Schuldgefühl weckt es den Haß auf das unerbittliche Ideal, den unerbittlichen Gott in seinen Metamorphosen. Dieser Haß gegen ein so hehres Objekt darf noch weniger als alles andere bewußt werden. Aber durch Verschiebung in der Richtung geringeren Widerstandes wird er auf die irdischen Gegner abgelenkt. Sie wurden von der Moral her als jene Schuldigen präpariert, die all die Verstöße sich zuschulden kommen lassen, die man selbst so erfolgreich durch Entfernung aus dem Bewußtsein abgewehrt hat. Damit schließt sich der Kreis unbewußter Wirkungen der überstrengen Moral. Daß sie immer wieder so erbarmungslos ausfällt und dann solch ungezügelter Vernichtung Vorschub leistet, ist vielleicht das stärkste Argument für die Existenz eines Todestriebes. Dabei ist das Wort »Trieb« für den Tatbestand, der bezeichnet werden soll, womöglich unpräzis. Es soll darüber informieren, daß die Intensität menschlicher Triebansprüche und ihrer Abbildung im Seelischen (bewußt wie unbewußt) größer ist als die moralische Kraft — also die Ich-Leistungen. Deren relative Machtlosigkeit verurteilt sie deshalb jedoch nicht zur Bedeutungslosigkeit. Vielmehr verknüpfen sich moralische Einwendungen ohne Mühe mit »Selbsterhaltungstrieben«, den »Ich-Trieben« der ersten Triebtheorie Freuds. Das Ideal (der Gott) bedroht das Menschenkind bei der Suche nach Befriedigung seiner Bedürfnisse an Leib und Seele; diese ewige Verdammnis und die sofortige Strafe des Gewissens sind Über-Ich-Instrumente von elementarer Wirksamkeit. Das alles wirkt trotz der moralischen Ideologie, dem Leben zu dienen, auch in Richtung von Zerstörung und Tod. Die Permanenz, mit der sich Leben in diesen Teufelszirkel verstrickt, ist es, die den Namen »Trieb« anzuwenden erlaubt.

In der Geschichte unserer Kultur befand sich das Individuum unter diesem zweifachen Druck, dem es nicht entfliehen konnte: weder den Triebforderungen noch den Gewissensforderungen. Das galt jedenfalls so lange, als Moralen dieser Struktur kollektive Gültigkeit besaßen.

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Wenn sich seit einigen Generationen ein doppelter Rückzug sowohl aus der Idealprojektion wie aus den Gewissenspositionen zuträgt, so könnte das — trotz Phänomenen, die als Desorganisation gedeutet werden müssen — ein Heilungsvorgang sein, gerichtet gegen eine jahrtausendelange Hypermoralität und entsprechend erzwungene Umwandlung von aggressiver Triebenergie in Destruktivität, Grausamkeit.1)  Es wäre kein stichhaltiger Einwand, auf die unbeständige Tugendhaftigkeit der Menschheit in unserer Zivilisation hinzuweisen, so daß kein Anlaß wäre, von Hypermoralität zu sprechen; es kommt auf die permanente Bedrohung mit Höllenstrafen und deren psychische Repräsentation, nämlich Todesangst, an. Darin lag die Strafpotenz unserer christlichen Moral. An diese Bedrohung durch Verdammnis glaubte jedermann, der zu dieser Kultur zählte, und auf diesem Weg kam es dann zur Verstärkung und zum Ausagieren des Todestriebes; am besten sichtbar in »Kreuzzügen« und vergleichbaren Unternehmungen, in denen die Angst um das eigene Seelenheil (wegen der unentrinnbaren Triebforderungen in unserem Inneren) auf einen als bedrohlich aufgebauten Feind externalisiert wird. Dessen Vernichtung verspricht eine Linderung der Schuldangst zu bringen.

 

30.  

Der Gedanke, Moral sei relativierbar, weckt Unbehagen, weil viele Menschen wegen dieser soeben dargestellten latenten, durch unsere Moral vermittelten Todesdrohung offenbar über Alternativen zu ihrem moralischen Verhalten nicht nachdenken können; unmittelbar aufsteigende Angst hindert sie daran. Beispielhaft kommt das in den Schwierigkeiten der Verständigung zwischen den Generationen über ihre Maximen und ihre Tabus zutage, wenn die Gesellschaft einen raschen Wechsel ihrer Orientierungsschemata überhaupt und dabei auch ihrer moralischen Normen erlebt. Die Kommunikationsstörungen etwa zwischen Generationsgruppen werden in ihrer ganzen Bedeutung angstvoll geleugnet, und nur an grob demonstrativen Auswüchsen wird »Sittenverfall« bei einigen festgestellt. Man bemüht sich, durch Verschärfung von Verboten und Strafen den Krankheitsherd ein-

1)  Das ist wohl der zutreffende Kern der sogenannten »Frustrationstheorie«, nach welcher destruktive Aggression sich aus nicht zu verwindenden, nicht verzeihbaren Enttäuschungen entwickelt. (Vgl. Dollard, Doob, Miller, Mowrer, Sears Frustration and Aggression. Yale University Press, New Haven 1939.)

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zudämmen (in totalitären Staaten erwartungsgemäß am drastischsten). Die Unterwanderung der vom gesamtgesellschaftlichen Zustand nicht mehr abgerufenen tradierten moralischen Verhaltensstereotype geht trotzdem unaufhaltsam weiter. Das Faktische siegt, aber der Preis ist subjektiv eine schwere Desorientierung vieler Mitglieder der Gesellschaft. Der Preis müßte nicht so hart sein, wenn Einsicht in Chancen und Gefahren der neuen Lage nicht durch angstvolles Anklammern an die erlernten Dressate behindert würde. Aber das ist die Konsequenz der Dressatmoralen, mit denen das kritische Ich bisher unterdrückt wurde.

Ist Relativierung der Moral demnach der Weg zur Hölle, oder ist sie ein Segen? Das ist nichts weniger als eine unsinnige Alternative. Der Unsinn besteht darin, daß man den historischen Prozeß so darstellt, als ließe er die Möglichkeit der Rückkehr in einen Zustand vor der Relativierung offen. Die Popularität pompös die Arme reckender, die Fäuste ballender greiser Politiker und auch mancher jüngeren Konservativen mag darauf beruhen, daß die Unsicherheit, wohin die Entwicklung treibt, mächtig die rückwärtsgewandten Phantasien der Menschen anstachelt: zurück zur nationalen, ständischen oder Klassen-Isolation, zur Glorie der eigenen Moral als der einzigen, wahren.

Die realitätsgerechtere Frage würde etwa lauten: Welche Anstrengungen müssen wir vollbringen, um die Determinanten für die tatsächlich erfolgte Relativierung der Moralen zu analysieren, um zu verstehen, wie das alles sich zugetragen hat und aus welchen Quellen die Unruhe unserer Zeit stammt, in der keine der alten Moralen mehr ihre alte Gültigkeit behalten kann? Wie muß in einer auf Verantwortung und gegenseitiges Vertrauen bauenden Gesellschaft erzogen werden, damit soziale Verhaltensweisen wie Zuverlässigkeit und Vertrauen gedeihen können — und nicht das Gegenteil? Die Hoffnung, es möge gelingen, in unseren Massengesellschaften Aufzuchtpraktiken zu finden und durchzusetzen, die eine leidenschaftliche, vom Ich mitgesteuerte Hingabe fördern, wo doch eine überwiegende Zahl von Entscheidungen sowie Verantwortung, Schuld und Erfolg immer mehr an anonyme Organisationen und nicht mehr an Individuen geknüpft sind — diese Hoffnung mag trügerisch sein; trotzdem ist sie als Utopie unersetzlich. Denn es ist noch keine bessere Gegenkraft zur Anonymisierung unseres Lebens in Massen entdeckt worden als die denkende Anteilnahme.

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31.   Jene reibungslose Anonymität, die sich die Bürokratie erträumt, ist dann hergestellt, wenn Individuen ohne Störung des Leistungszusammenhanges austauschbar werden; dies galt zum Beispiel in hohem Maße für die Degradierung des Menschen in der Fabrikarbeit der ersten Industrialisierungswelle und ist heute bei gemilderter ökonomischer Härte weiter verbreitet als je zuvor. Anonymität ist aber auch dann hergestellt, wenn man in den Individuen deren Wertgefüge kurzfristig ändern kann. Das Schlagwort dieser Humantechnik heißt »Manipulation«, und zwar Gefühlsmanipulation, als deren Auswirkung sich der einzelne dann oft sogar wahnhafte Begründungen gefallen läßt. Umgekehrt gilt also: Je leidenschaftlicher dieser einzelne durch denkende Anteilnahme beteiligt ist, desto weniger ist er emotionell, durch Ansprechen seiner primärprozeßhaften Phantasien, manipulierbar.

Wenn die Arbeitsanforderungen vom einzelnen nicht modifiziert werden können — wie in allen mechanisierten Arbeitsgängen —, kann sich das Individuum nicht in seiner Leistung darstellen. Es arbeitet überwiegend quantitativ und hat keine Möglichkeit, sich produktiv zu identifizieren. Das drängt es in Resignation, die weitgehend als vorbewußte Stimmung erlebt wird. Diese Unlust macht für Losungen um so zugänglicher, die eine rasche Beseitigung der Unlust versprechen; noch besser, wenn das auch durch Gewaltanwendung geschehen darf, weil dann der aufgestauten Aggression Befriedigung winkt.

Die Steuerung des Individuums von außen wie seine Selbststeuerung geht also auf eine Verkürzung der Unlustphasen hinaus. Moralische Einwendungen kommen da viel weniger vor als etwa das Streben, durch modische Übereinstimmungen die Isolierung zu vermeiden und an den verfügbaren Lustmöglichkeiten teilzuhaben. Freiheit bleibt in unverbindlichen ästhetischen Empfindungen erhalten, etwa in der Freiheit, zwischen zwanzig Farbnuancen eines Autotyps wählen zu können.

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Der psychologisch wichtige Gedanke in diesen Überlegungen ist, daß in einer sich selbst planenden Industriegesellschaft das Individuum mit ziemlich vielen Konsum- und Bequemlichkeitsgütern versorgt werden kann. Deren Herstellung erfordert den wachsenden Apparat; und umgekehrt: Der wachsende Apparat fordert die Weckung von Bedürfnissen. Das Individuum wird nur als potentieller Konsument — z. B. auch als Soldat (Konsument von Kriegswerkzeug) — »eingeplant«. Das ist eine neue Form von Antiindividualismus, der den älteren ablöst, in dem das Individuum sich als Repräsentant einer ständischen Ordnung zu erleben hatte. Die Präformierung der sozialen Wahrnehmung wirkte damals von den oberen zu den niederen Ständen. Jetzt wird das Individuum nach Merkmalen, die seinen Konsumanspruch verraten, aufgefaßt und eingeordnet. Die Aufwendungen für den Erwerb des Prestige verleihenden Besitzes, für die Statussymbole, sind sehr belastend. Das Individuum muß hoch greifen, denn wir leben in einer Gesellschaft, in welcher der »Aufstieg« als eine moralische Verpflichtung verlangt wird (übrigens auch in den sozialistischen Gesellschaften, in denen die Leistungskonkurrenz eher noch erbarmungsloser ist). Die Eigenart der Arbeitsleistung, die zur Fundierung des Status nötig ist, trägt aber wenig zum Reifungsweg der Person bei; sie entfremdet das Individuum sich selbst wie Lohnarbeit seit jeher.

 

32.  Die traditionsgelenkten Gesellschaften hielten das Individuum mit der Androhung göttlicher Strafen bei der geltenden Moral. Wir beobachten das Entstehen des ersten ganz verweltlichten Sittenzwanges. Dessen Möglichkeiten, den »Sünder« ausfindig zu machen, überschreiten bei weitem alles, was die Phantasie den alten Göttern zutrauen mochte. Die stetig wachsende Programmierung aller Lebensbereiche, die Bürokratisierung der sozialen Kommunikationen zwingen das Individuum in eine Lebenslage, in der es fortwährenden Kontrollen unterworfen werden kann, wie dies früheren Zeiten nur vielleicht von Galeerensklaven oder von Milizen bekannt war. Ist der einzelne Mensch aber zu solcher Ohnmacht verurteilt, dann verliert die Demokratie ihre Grundlage: den wenn nicht entscheidungsfreien, so doch entscheidungswilligen Bürger. Der Rivalität, dem Wettkampf zwischen Individuen, die sich zur Mitentscheidung aufgerufen fühlen dürfen, bereiten autoritäre Anweisungen ein Ende, wobei es interessant ist, festzustellen, daß die paternitären, ja terroristischen Zwänge zum guten Teil von der Wirtschaft übernommen werden. 

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Die Dauerdusche mit Musik und Angeboten, welche der Warenhausangestellte über sich ergehen lassen muß, präpariert ihn auf politische Indoktrination mit gleichen Mitteln. Meinungsbildung aus kritischer Einsicht wird erstickt, insbesondere durch Informationsverweigerung. Es bleibt nur die Unterwerfung oder das Ausscheiden aus der Gruppe. Die Moral der kritischen Voraussicht muß abdanken, kaum hat sie sich zu regen begonnen. Gehorsam den Oberen gegenüber löst sie erneut ab. Es bleibt dabei: Das Individuum hat anonymen Befehlen oder Verführungen ohne kritische Ich-Beteiligung zu gehorchen. Das war und ist Massenschicksal.

Ist das Individuum erst einmal in solcher Ordnung aufgewachsen, läßt sich an der Art, wie es seinen psychischen Haushalt organisiert hat, nur mehr wenig ändern. Der große Schritt, den zu tun denkbar wäre, bestünde im Ersinnen und Erfühlen eines Erziehungsverhaltens, durch das der einzelne von Kindesbeinen an lernt, nicht nur herrschende Moral in seinem Verhalten zu befolgen, gesellschaftlichen Stil zu reproduzieren, sondern — wo es dringlich ist und mitmenschlich gefordert wird — zu einer Anti-moral sich zu bequemen und ihr anzuhängen. Was wache, kritische Vernunft voraussetzt.

Antimoral soll heißen: ein begründetes Gegenverhalten zu den Handlungsanweisungen, die in ideologischen Kampfsituationen erteilt werden. Von Widerstandsrecht sprechen die Juristen. Eine Maxime der Erziehung könnte es sein, zu lehren, wie man solche Antimoral entwickelt, wie man sie gegen Verleumdungen zu prüfen lernt, überhaupt erkennt, daß es sich hier nicht bloß um neurotischen Negativismus, sondern um eine Entscheidungsanweisung mit zutreffender Voraussicht handelt. Wenn eine solche abweichende Wertorientierung von fremden Gruppen entwickelt wird, können sie dadurch zu Feinden werden. Ein Musterbeispiel: die Abschaffung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln in Rußland nach der Oktoberrevolution 1917. Wer die gleiche Forderung in der eigenen Sozietät erhebt, wird zum innenpolitischen Feind. Diese Gruppierungen vollziehen sich beinahe automatisch über jeden Ansatz zu kritischer Reflexion bei der Masse der einzelnen hinweg. Ein weiteres Musterbeispiel: der Kampf des deutschen Bürgertums gegen die Sozialdemokraten während der Kaiserzeit.

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Die damals entstandenen Vorurteile haben in vielen Teilen der Bundesrepublik noch heute kaum erschütterte Gültigkeit behalten, hüben wie drüben. Wenn sich der Kampf abschwächt, dann nicht, weil die sozialistische Moral in der Sozialdemokratie unserer Tage noch für verbindlich gehalten würde oder weil die deutsche Unternehmerschaft etwa Einsichten dieser sozialistischen Moral sich zu eigen gemacht hätte, sondern weil die Szene in toto sich geändert hat. Finanz- und investitionsstarke Interessenverbände (zu denen die Gewerkschaften gehören) kämpfen um Marktanteile und -vorteile; nicht mehr gekämpft wird um eine Änderung der Wertstruktur unserer Gesellschaft. Der letzte Abglanz eines idealistischen Engagements, auch eschatologischer Hoffnungen, ist erloschen. Das schafft neue Bedingungen für die Libido-Verteilung im sozialen Umfeld, neue Vorbildstrukturen entwickeln sich. (Sie erinnern an ziemlich bekannten archaischen Dämonenkult, zelebriert etwa in der Stalin-, Hitler-, Sukarno-, Nkrumah-, Mao-Verehrung usw., aber auch in der Art und Weise, in der Parteien sich demokratisch empfindender Staaten starke Züge eines Parteiführers als Obervaters annehmen, dem gegenüber die Einflußkraft der Unterführer zurücktritt.)

Da wir bisher gewohnt waren, Moral mit Idealismus irgendwelcher Art im Bunde zu sehen, könnte die pragmatische Verhaltensweise des Durchschnitts­bürgers der Angestelltenkultur, der sich am absehbaren und zur Lebzeit auch kassierbaren Nutzen orientiert, viel an Einfachheit gewinnen. Die Anlässe zu einer doppelten Moral verringern sich. Wer das beklagen möchte, diese Simplizität, darf auch erwarten, daß das hohe Maß frustrierter Libido, das wir in den neuen Lebensverhältnissen anwachsen sehen, die Phantasie anregen wird. Die Bindungen, die soziales Durchschnittsverhalten heute einzuhalten sich genötigt sieht, sind in einem positivistisch strukturierten Bewußtsein entstanden. Dieses Abschütteln der Vergangenheit, die tatsächlich in kaum einer Arbeits- und Vorstellungsform weiterdauert, ist infolge der Explosion unseres Faktenwissens ein unvermeidlicher Ballastabwurf. Daraus kann nicht geschlossen werden, diese Welt erweise sich auf die Dauer für Gestalten unzugänglich, die verfeinerter Wahrnehmung emotioneller Vorgänge fähig sind. Mit ziemlicher Sicherheit ist zu schließen, daß die Moral der Zukunft — wie es auch bei den Moralen der Geschichte in allen umfänglicheren Gesellschaften der Fall war — auf mehreren Ebenen sich realisieren wird. Das provozierend Anspruchsvolle wird sich zunächst nur als Antimoral verstehen können und verstanden, genauer: mißverstanden werden.

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33. 

 Die in Krisenzeiten sich verschärfenden Kontraste zwischen herkömmlicher Moral, Moralindifferenz und den Ansätzen zu einer Antimoral machen erneut deutlich, daß die Orientierung nach einer bestehenden oder einer in ihrem Schutz noch begrenzten neuen Moral jeweils dem Erwerb und der Aufrechterhaltung des Identitätsbewußtseins dient. Die Konstanz moralischer Leitsätze hilft die Erinnerung an das eigene Verhalten stärken. Aber es kann im Mißbrauch der Moral für Zwecke der Herrschaft dahin kommen, daß sich das folgsame Individuum im Doppelspiel von moralischer Fassade und Korruption in Zweifel und Konflikte gestürzt sieht. Moral verwandelt sich dann leicht in Geheul mit den Wölfen, während die Einwendungen von kritischem Ich und Über-Ich zum Schweigen gebracht werden müssen. In der Mitläuferhaltung entfremdet sich das Individuum von sich selbst; was nichts anderes heißen kann, als daß es sich intensiv der Verleugnung von wahrnehmbarer und auch wahrgenommener Wirklichkeit bedient und dafür pauschale Vorurteile oder trügerische Auslegungen vorbringt. Der ökonomische Vorzug dieses Verhaltens, das moralisch formuliert (wenn es nur bewußt vor sich ginge und nicht weitgehend unbewußt) als Lüge zu bezeichnen wäre, liegt im Anspruch auf einen Gewinnanteil aus der Zugehörigkeit zur herrschenden Clique.

Das Gefühl des Unbehagens — woran man sein Verhalten nun auch mißt — geht immer vom realitätsprüfenden Ich aus. Es ist entweder mit der vorgezeichneten moralischen Lösung — etwa keine Mischehe einzugehen — nicht befriedigt oder mit dem eigenen Verhalten: eine Mischehe eingegangen zu sein. Die Identität ist also trotz Moral stets gefährdet durch Überanpassung, welche das Ich unter einem kollektiven Über-Ich erstickt, oder durch Triebimpulse, die das Ich nicht aufhalten kann und deren belastende Konsequenzen es im nachhinein »rationalisiert«, mit Scheinbegründungen entschuldigt; und schließlich können sich radikale Veränderungen in der Gesellschaft vollziehen, etwa der Übergang zu

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neuen Produktionstechniken, die das Individuum seines Status berauben oder ihm unversehens Statuszuwachs bringen. In jedem Fall wird um ein neues Arrangement zwischen Über-Ich und Ich und dann nochmals um eines zwischen Über-Ich, Ich und Es gerungen. Ein Identitätssprung nach vorwärts kann nur dort gelingen, wo die Ich-Entwicklung vom Anfang des Lebens an gefördert wurde und wo das Individuum über bedeutende autonome Ich-Funktionen verfügt. Der Zuwachs an Realitätseinsicht und Einsicht in die triebabhängigen eigenen Motivationen sind es, die diesen Identitätssprung nach vorwärts möglich machen. Beides ist auch für die Folgen unerläßlich. Denn wer sein Verhalten an anderen Werten als denen seiner Gruppe orientiert, also Antimoral vollzieht, wird unter Umständen nicht besser als ein Krimineller behandelt. Er kann ganz und gar zum »Fremden«, zum Outcast werden.

Aus der Hoffnung auf bessere Zukunftslösungen kann kaum ein moralischer Anspruch auf eine Haltung abgeleitet werden, die wieder das Risiko an Leib und Leben einschließt. Man kann nicht fordern, sich für die Antimoral aufzuopfern, für die »bessere« Moral einer »besseren« Zukunft. Den Revolutionären und Fanatikern muß dies als unmoralische Schwäche erscheinen. Möglicherweise zuweilen mit Recht, besonders dort, wo es nicht gelingt, bestehende Herrschaftsverhältnisse von großer Ungerechtigkeit anders als mit dem Einsatz des eigenen Lebens abzuändern. Wo immer Töten zum Programm wird, möchte der Moralist wie im Kriegslied des Matthias Claudius sagen: »... 's ist leider Krieg — und ich begehre nicht schuld daran zu sein!«

Im Hinblick auf die deutsche Besetzung Frankreichs 1940 und die Schimpflichkeit der Kollaboration erörtert Merleau-Ponty 1) die Grenzen des moralischen Widerstandes: »Wollen wir damit sagen, daß man den deutschen Besatzungstruppen eine heroische Ablehnung hätte entgegensetzen müssen, wenn auch ohne jede Hoffnung? Ein >niemals< aus reiner Moralität? Eine solche Ablehnung und die Entscheidung, nicht nur das Leben zu riskieren, sondern auch lieber zu sterben, als unter der Herrschaft des Auslands oder

1)  Maurice Merleau-Ponty Humanismus und Terror 1. Frankfurt (edition suhrkamp) 1966, 82.

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des Faschismus zu leben, ist ebenso wie der Selbstmord ein acte gratuit in letzter Konsequenz, jenseits des Daseins. Durch mich und für mich möglich, insofern ich zu meinen Werten transzendiere, verliert diese Haltung ihren Sinn, sobald sie von außen aufgezwungen und von einer Regierung beschlossen wird. Es ist eine individuelle Haltung, keine politische Position.«

Wir können also moralische Wunder vollbringen; aber es ist unmoralisch, solche Wunderleistungen zu fordern unter Berufung auf irgendeine Moral, denn die Chance, den anderen dabei zu schädigen, ist untragbar groß.

 

34. 

 

Im Überblick hat sich uns also gezeigt, daß Entwicklung und Nutzung der Naturwissenschaften Verhältnisse schufen, in denen die Relativierung aller bestehenden Moralen zu einem unabwendbaren Vorgang wurde. Keine Gruppe, keine Kulturtradition kann sich weiterhin im Bewußtsein ihrer Mitglieder absolut setzen. Das soll nicht heißen, daß der Angehörige einer Kulturgruppe nicht für sich selbst die unbedingte Gültigkeit der ihm übermittelten Moralvorschriften anzuerkennen und zu befolgen berechtigt wäre; dazu ist er berechtigt. Aber er kann sie nicht als die einzig gültigen für alle Menschen ansehen, sosehr wir alle insgeheim dazu neigen, doch davon überzeugt zu sein, nur unser eigener englischer, französischer, chinesischer »way of life« repräsentiere eine lebenswerte Lösung. Die Wurzeln dieser Überzeugung sind tief, denn die Wertnormen, denen wir gehorchen, sind in unserer jeweiligen Sozialform an die Stelle der erbgenetisch verankerten sozialen Verhaltensweisen getreten. Die starke Angst vor Anarchie taucht immer dann auf, wenn die fixierten Werte einer Gruppenordnung relativiert werden. Und doch können wir an den auf die Dauer immer wieder scheiternden Versuchen auch von Riesenreichen, sich ideologisch nach innen zu orientieren und gegen Nachrichten, die eine Relativierung ihrer Lehren mit sich bringen könnten, abzuschirmen, beobachten, wie unvermeidbar im Gegenteil die Durchdringung der Orientierungsschemata geworden ist. Mit Hilfe uneindämmbarer Nachrichtentechnik verbreiten sich Sportleidenschaft, Kleidungsgewohnheiten, Tanzstile usw. und ein zu ihnen gehörendes Lebensgefühl, um nicht zu sagen ein Hunger, dieser Dinge teilhaftig zu werden. 

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Diese derart »importierten« Verhaltensweisen, Vorlieben etc. wirken wie Fragmente einer Lebensform, die sich nach ihren eigenen Gesetzen ergänzen will. Vorerst ist das von Westen nach Osten gerichtete osmotische Gefälle stärker; doch zeigen sich auch schon deutliche Anzeichen einer steigenden Attraktivität östlicher Denkbemühungen und Haltungen für im Westen lebende Menschen. Es ist anzunehmen, daß sich mit der gleichmäßigeren Verteilung und Verstärkung der Industrialisierung die angst- und ressentimentbestimmten Einstellungen mildern werden. Unbekannt bleibt das Maß von Destruktivität, welches die Lebensformen der industrialisierten Massenzivilisation, die Bedrohung durch rapides weiteres Ansteigen der Bevölkerung hervorbringen werden. Der Vorgang des sozialen und moralischen Umbaus verschont niemanden. Alle Teile der Menschheit müssen ihre Rollen neu zu definieren lernen in einem Geschichtsprozeß, der erstmals von einem universalen Bewußtsein getragen wird, mag der historisch gewachsene Hintergrund von Fall zu Fall noch verschieden sein.

 

35.  Dieser Umbau spiegelt sich aber auch in kleinen Veränderungen unserer Umwelt, welche aber doch, weil sie Dinge betreffen, die einmal wegen ihres Gefühlsgehaltes wichtig waren, als dramatisch oder zumindest unbehaglich empfunden werden. Um ein recht banales Beispiel zu wählen: die Sparsamkeit. Noch vor dreißig Jahren brachte man einen Anzug zum Schneider, um ihn, wenn er abgetragen wirkte, wenden zu lassen. Strümpfe und Wäsche wurden geflickt und gestopft. Das Bewahren, Schonen und Achten waren nicht nur von der relativen Armut vorgeschrieben; auch der Vermögende verhielt sich so. Die gesamte Gesellschaft war sich einig, daß Sparen ein ethischer Akt war, und Verhaltensweisen, die wir noch lange nicht als verschwenderisch bezeichnen würden, wurden bereits als herausfordernd unmoralisch empfunden. Dann kam die Entwertung des Ersparten durch Inflation und Krieg. Die mechanisierten Produktionsformen verbilligten und vermehrten Roh- und Industrieprodukte relativ zum Wert der Arbeitskraft. Mit dem Wachsen der Investitionen verwandelte sich die Kultur des Sparens in eine der Expansion, in der vieles, was unter beschränkten Produktionsverhältnissen für ethisch erklärt wurde, seine ökonomische Motivation verlor.

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Auch das in seiner Analität leicht zu karikierende Sparen hat den Sublimierungsaspekt des sorgfältigen Umgehens, Bewahrens, Schützens. Wenn die Gegenstände als Konsumartikel weniger langdauernde Besetzung erfahren, verschwindet eine anale Sublimierungsform, die nicht nur finanziell, sondern auch, was die ererbten Güter betraf, zum Traditionsreichtum beitrug. Hier muß also der einzelne nach neuen Wegen und Objekten der Sublimierung suchen, um einen psychischen Differenzierungsgrad zu behalten, der unter den alten Bedingungen schon einmal erreicht war. Wie immer sollten wir nicht das psychologische Gegenstück vergessen. Die reiche Besetzung von Dingen mit libidinöser und aggressiver Triebenergie — also das Streben nach Besitz im weitesten Sinn des Wortes — hat die entsprechenden Konflikte mit heraufbeschworen, die zu den hartnäckigsten und bösartigsten der Geschichte gehören. Die Angestelltenkultur der durchschnittlich angepaßten Einkommen, eines zunehmend kurzlebigeren Dingbesitzes könnte hier eine Lockerung der Sitten, einen Abbau analer Besitzbürgerlichkeit (als oberstes Kulturvorbild) zum Gefolge haben. Das Verschwinden von Verbissenheit in den Besitz, also ältester, auch oral-aggressiver Erregung (Verbissenheit!), könnte in der Welt dazu beitragen, etwas mehr Heiterkeit aufkommen zu lassen. Wobei Heiterkeit hier eine angstfreiere Einstellung zum Objektverlust erkennen ließe.

Wie kann der Vater, der selbst gerade noch zur Sparsamkeit erzogen wurde, seinen eigenen Kindern Normen der Begrenzung, des achtsamen Bewahrens (einer Vorstufe der Einfühlung) vermitteln in einer Umwelt, in der alles in Aufwendigkeit geraten ist und dies allein Handel und Wandel in Schwung zu halten verspricht? Wo liegt die moralische Grenze zwischen gewünschtem und verderblichem Aufwand? Die Kongestionierung in der Zeitplanung, die oft zum vorzeitigen Tod des »aufwendigen Verbrauchers« führt, zeigt, daß die Verbrauchskultur über keinen zauberischen Reichtum verfügt, sondern erhöhte Arbeitsleistung verlangt. Was wird nun wem geopfert: die Zeit, die man für den Erwerb und die Benutzung aufwendiger Güter braucht, der Zeit, die man für mehr introspektive, pflegende Aufgaben benötigen würde? Wer bestimmt, was hier moralisch ist, und wer installiert ein Gewissen, das diese Moral in Aktion überträgt?

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Mancher technische Fortschritt trifft die überlieferten Moralgebote zentral und setzt sie außer Kurs. Die Last, zu einer Ordnung zu finden, fällt dann fast ausschließlich dem einzelnen zu, der darauf alles andere als gut vorbereitet ist. Seine Gesellschaft ist desorientiert, wo sie ihn bisher besonders autoritär geführt hat. Dieser Mangel an Führung provoziert Angst und regressive Schutzbedürfnisse neben dem Suchen nach neuartigen Identifikationsmöglichkeiten, das immer langwierig und reich an Irrtümern zu sein pflegt.

Dieser Kampf zwischen regressiven und progressiven Tendenzen ist gut beobachtbar, seit Endokrinologie und Biochemie in den Ovulationshemmern eine überaus wirksame Form der Konzeptionsverhütung geschaffen haben. Bei dem permanenten Kampf der sexuellen Triebkräfte gegen die kulturellen Beschränkungen gelingt es auch in ihrem Ich wohlorganisierten Individuen nicht, gleichförmig erfolgreich Triebansprüche zu kontrollieren. Ein gut Teil der wirksamen Einschränkung geht auf die Gefahr zurück, die der Triebbefriedigung von außen droht. Ein Teil dieser Gefahren ist jetzt aber beseitigt. Nicht nur ist der Schutz gegen Geschlechtskrankheiten sehr gewachsen, auch die Konzeptionsverhütung ist kein ernstliches Problem mehr. Die Angst vor den nicht zu verleugnenden Folgen intimer Beziehungen war bisher aber die stärkste Hilfe zur Einhaltung der Sexualmoral. Hieraus zog sie ihre wirksamsten Argumente und Verbotsimpulse. Die Möglichkeit, eine unerwünschte Schwangerschaft einfach, mit Sicherheit und, soweit wir sehen, ohne biologischen Schaden verhindern zu können, macht es notwendig, die überlieferte Sexualmoral von Grund auf zu durchdenken. Einerseits wird die sichere Konzeptionsverhütung unzählige Frauen vor Leid, vor moralischer Ächtung, bewahren und verhindern, daß Kinder das Schicksal erleiden müssen, ungewünscht geboren zu sein. Zudem haben wir — alle partikulären Moralprobleme überragend — jetzt Wege offen, um die schrankenlose Vermehrung der Menschheit einzudämmen. Wie wird aber unser moralisches Bewußtsein mit dieser Chance gefahrloser sexueller Beziehungen fertig werden? Es könnte dies zu einer Vertiefung vieler sexueller Beziehungen zu Liebesbeziehungen größerer emotioneller Breite führen, da voreheliche oder eheliche Schwangerschaftsangst die Beziehung nicht mehr überschattet.

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Wir können nicht voraussagen, ob die freiere sexuelle Sättigung in der Adoleszenz und den frühen Jahren der Reifezeit eine spätere Partnertreue fördern und damit günstige Voraussetzungen für eine beruhigende Kindheit der folgenden Generation schaffen wird; manches spricht für eine Entwicklung in diesem Sinn. Der oft ängstlich beschworenen Verflachung in purer Promiskuität steht das biologisch fundierte Bedürfnis nach konstanten Objektbeziehungen entgegen, denn sie sind eine Voraussetzung für die Entwicklung der Identität.1)  Nur eines scheint ziemlich sicher: Mehr Fehlformen der Entwicklung, mehr seelisches und körperliches Elend als die alte Sexualmoral kann eine von Angst befreitere neue kaum bewirken. Freilich wäre es unrealistisch, zu glauben, daß das bloße Entfernen von Repressionen schon Genuß und Reifung garantiert.

Angesichts dieser einfachen technischen Möglichkeit, die Fruchtbarkeit zu kontrollieren, ist es aussichtslos, alte asketische Ideale unberührt weiterzupflegen. Unzweifelhaft müssen sich aber neue Ordnungsformen des Verkehrs der Geschlechter erst entwickeln, Regeln, die so überzeugend sind, daß das Individuum sich angesprochen fühlt, sie in sein Ich-Ideal aufzunehmen. Diese Einwilligung in moralische Einschränkungen und Gebote ist kein willkürlich herbeizuführender Akt. Die langsamere Einwilligung läßt sich geradezu als ein Kriterium für die Verschiedenheit zwischen Mode und Moral verwenden.

Damit berühren wir noch einmal die Frage, wie eigentlich die Entstehung moralischen Verhaltens unter so veränderten Voraussetzungen zu denken sei. Es geht um die Aufnahme übereinstimmender Züge in das Ich-Ideal von Menschen, die sich aus der Überlieferung ihrer jeweiligen Lokalkulturen bisher einander weitgehend fremd waren. Vielleicht war die Brandmarkung des Völkermordes durch die Vereinten Nationen ein beispielhafter Schritt auf diesem Weg — ein noch lange gefährdeter Fortschritt, der sich zunächst mehr im Denken, im Akzeptieren neuer Lösungsmöglichkeiten in Krisensituationen niederschlägt als im realpoli-

1)  Zu den theoretischen Implikationen des Begriffs »Identität« vgl. Norman Tabachnick Three Psycho-Analytic Views of ldentity. Int. J. Psycho-Analysis, 46 (1965), 467.

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tischen Geschehen. Und doch hat man, trotz der barbarischen Methoden der Kriegführung durch Nationen, denen die Welt große Beiträge zur Humanisierung der Sitten dankt, den Eindruck, daß sich nicht nur im Bewußtsein der »Eliten«, sondern bei nahezu jedermann Veränderungen vollzogen haben, die den Krieg nicht mehr als unvermeidliches, gar gottwohlgefälliges Ereignis erscheinen lassen. Das bedeutet nicht nur eine Ausbreitung von Schuldgefühl, wo er trotzdem geschieht, sondern einen wachsenden Unwillen auf seifen des Ichs, für dieses Verhalten entschuldende Abwehrmechanismen in Gang zu setzen. Mag sein, daß in China heute noch die gleiche Begeisterung herrschen könnte, bräche der Dritte Weltkrieg aus, wie in Europa 1914 zu Beginn des Ersten. Bei uns käme sie nicht mehr auf, und dies steht im Zusammenhang mit historischen Erfahrungen, die stärkere Spuren hinterlassen haben, als aggressive Impulse sie auszulöschen vermöchten. Anders formuliert: Die Anpassung an die letzten Stufen der technischen Entwicklung beginnt sich bei uns im Über-Ich bemerkbar zu machen, das zum Beispiel in China noch auf archaische Weise den Todestrieb verstärkt. Möglicherweise ist das ein Fortschritt der psychischen Evolution, der nicht mehr spurlos verloren werden kann.

 

(III.) 36   

Wir haben mit vereinfachten Modellen und Beispielen gearbeitet. Der entscheidende Punkt, den es zu illustrieren galt, war die unerprobte Lage, in der wir uns moralisch zu entscheiden haben. Eine Bevölkerungszunahme in nie vorher erreichtem Maße, technische Entwicklungen bisher unbekannter Art können nicht mit den tradierten kollektiven Handlungsanweisungen beantwortet werden. Ein herkömmliches Moralgebot stellt eine Handlungsanweisung dar, die sich an Präzedenzfällen ausrichtet. Es geht aber um das Unvorhergesehene. Für die offenen Apparate der Kybernetik, für die »Antibabypille« und tausend und ein anderes Ding gibt es keinen Präzedenzfall. 

Die einzige Chance, sich auch in solchen Überraschungssituationen einigermaßen erfolgreich zu orientieren, kann nur in der Schärfung der kritischen Vernunft liegen, bei jener Fähigkeit also, die in der Tradition durch rasch sich einstellende moralische Urteilsschablonen von der Mitarbeit bei Entscheidungen ausgeschaltet werden sollte. 

222/223


Das bedeutet nichts weniger als einen Umsturz in der Erziehung. Es ist nötig, ein möglichst hohes Maß von Selbständigkeit von früh an zu schulen, um Vorurteilen, die im moralischen Gewand auftreten, begegnen zu können. Selbständigkeit kann das Individuum nur erreichen, wenn es sich in den Anfangsversuchen, in denen es seine Initiative übt, vom Mitgefühl, von der Teilnahme seiner Nächsten sicher getragen weiß. Fehlt dieses Band, dann entsteht nicht Selbständigkeit, sondern der Mensch fällt unvermeidlich auf die Anreize zur Konformität zurück, ohne es zu lernen, sein Verhalten tiefer zu begreifen; psychologisch: ohne ausreichend kritische Selbstwahrnehmung zu entwickeln. 

In dieser Selbstentfremdung ist er gegenwärtig dem stärksten Druck ausgesetzt, eine Haltung einzunehmen, in der er die Übernahme von Verantwortung scheut, aber in seiner Einstellung zu den Hilfsleistungen seiner Gesellschaft anspruchsvoll ist. Er entwickelt also ein regressives Verhalten in der Befriedigungsform seiner Libido, in einer Umwelt, die das auf dem Konsumsektor fördert, zugleich aber so kompliziert geworden ist, daß nur, wenn Sublimierung, Triebaufschub in hohem Maß geübt werden, jener Grad von Einsicht erreichbar wird, der eine erfolgreiche Steuerung dieser Umwelt verspricht.

Wir können zwischen automatischen Fertigungsstraßen, in Großsiedlungen von standardisierter Tiefkühlkost lebend, auch kulturell ferngespeist, keine Agrarmoral, keine Aristokratenmoral und auch nicht die des Bürgertums leben, ohne in ein wahnhaftes Mißverständnis unserer Umwelt zu geraten. Die überlieferten Moralen geben uns nur noch Teillösungen auf den Weg mit. Es sind keineswegs die entscheidenden Stücke, die wir hier vorgeordnet finden. Suchen wir in unserer Lage nach einem Mittel, das uns zwingt, unser Handeln moralisch, das heißt mitmenschenfreundlich zu lenken, so kann das nur eine unentwegte Bemühung um einfühlendes Denken sein; weder sentimentale Einsfühlung mit dem anderen noch idealistische Weltverbesserungsideen stehen uns an, auch Verharren in den frühen unbewußten Identifikationen ist uns nicht erlaubt, gefordert ist einfühlendes Denken: eine Bereitschaft also, sich sowohl in den anderen einzufühlen, wie die »Lage« (seine Lage, meine Lage — unsere Beziehung) kritisch zu reflektieren.

Solch bescheiden klingender Empfehlung, die so schwer zu verwirklichen ist, weil sie viel Überwindung in Konflikten mit unserer Selbstliebe verlangt — solch schlichter Empfehlung ist nicht ohne weiteres zuzutrauen, daß sie die Moral retten könnte. Einfühlung verlangt jedoch gleichzeitig Distanzierung von sich selbst und Aufmerksamkeit für den anderen. Diese Eigenschaften laufen auf eine Verstärkung der Ich-Funktionen hinaus, die uns ermöglichen soll, in den sich wiederholenden Konflikten mit unserer Triebnatur einerseits, andererseits unter dem Einfluß der Zwänge unserer Zivilisation vorausschauende Lösungen zu finden. 

Die Selbstüberwindung, die Lage von beiden Seiten sehen zu können, gibt uns die unersetzliche Atempause des Denkens vor drang- und angstabhängigen Entscheidungen. Wenn in dieser Atempause unter Einfühlung zwischen Alternativen abwägend vorausgedacht wird, dann spielt sich hier ein Elementarvorgang jener Moral ab, die wir suchen.

Auf die weltpolitischen Situationen angewandt, gilt ebenso das Postulat des geduldigen einfühlenden Verständnisses — auch meiner Gegner. Erst wenn ich im politischen Konflikt die Situation auch vom anderen her sehen, ihn als dialektischen Partner begreifen kann, habe ich die Chance eines volleren Verständnisses der Geschichte, an der ich mitwirke. Was für die alte Moral wie eine Gefahr sich ausnehmen mußte — Fremdverständnis, soweit als möglich befreit von Vorurteilen —, wird jetzt die Voraussetzung einer Moral, die auf Einfühlung beruht. 

In diesem Sinn wird Relativierung zum integralen Bestandteil der Moral — einer Moral, die mündigere Menschen verlangt, als sie unter den bisherigen Moralen im allgemeinen gedeihen konnten. »Mündiger« läßt sich psychologisch dahingehend bestimmen, daß es den Individuen gelingt, über Identifikationen und Introjektionen (das heißt Verinnerlichungen von Vorbildzügen) hinaus sich zu Identitäten zu entwickeln, denen eigene moralische Entscheidungen ebenso wie das Einhalten der Moral ihrer Gesellschaft möglich sind, je nachdem, was Einfühlung und kritische Vernunft verlangen.

Wer wagt indessen, zu entscheiden, ob die Gesellschaft im wachsenden Überfluß sich das Ziel setzen wird, ihre Identität im kritischen Urteil ihrer Mitglieder zu suchen?

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