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IV.

Identifikationsschicksale in der Pubertät

 

 

  1  Protest und Verwirrung  

225-262

Die Adoleszenz ist die natürliche Zeitspanne des Protestes. Zum Protest gehört ein greifbares, ein angreifbares Ziel. Der Jugendliche, der mit seinen Identifikationen, seinen Introjekten, das heißt mit verinnerlichten und zum größten Teil unbewußt weiterwirkenden Zügen von Vorbildfiguren, und mit seinen Idealen sich auseinandersetzen muß, blickt jetzt über die heimische Welt der Familie und Schule hinaus auf die Gesellschaft in ihren größeren Zusammenhängen. Er sieht, was in ihr geschieht und welche Zustände herrschen — Zustände, die von Traditionen, das heißt von wirksam gebliebenen Identifikationen, geschaffen wurden.

Dieses Bild ist in der Gegenwart verwirrend und unklar. Zunehmende Industrialisierung und Urbanisierung haben in den vergangenen Jahrzehnten die Veränderungen vieler sozialer Strukturen erzwungen. Durch diesen fortschreitenden Wandel ist ein Charakteristikum statischer Sozietäten, sind die kontinuierlichen Identifikationsmöglichkeiten innerhalb eines unangefochtenen Wertsystems in vielen Lebenslagen verlorengegangen. 

Entsprechend vielfältig sind die Reaktionen: Resignation; moralische Analgesie; leerlaufende moralische Proklamation; ein regressives Einmünden in die Anerkennung von Autoritäten der Vergangenheit, die, obwohl sie aus ihren vorindustriellen Konzeptionen nicht zu lösen sind, mit heutigen Daseinsformen verbunden werden; Einschwenkungen in ziemlich rasch sich wandelnde, aber das Individuum machtvoll ergreifende Richtungen und Moden; in ihnen spielen sich Reaktionsbildungen auf Verhaltensweisen ab, die vorangehende Zustände der Gesellschaft charakterisieren. 

All das sind Belastungen, denen der einzelne schon immer ausgeliefert war, das Besondere sind die Mischungen und wechselseitigen Abschwächungen beziehungsweise Verstärkungen dieser Einflüsse in raschem Wechsel.

Auf diese Verhältnisse trifft der Jugendliche, dessen inneres Gleichgewicht von heftigen Erschütterungen aus den biologischen Reifungsvorgängen gestört wird. Die Markierungen, die ihm unsere deutsche Gesellschaft anbietet, sind jedenfalls unsicherer, von geringerer allgemeiner Gültigkeit, von höherer Widersprüchlichkeit, als dies bei weniger in Fluß geratenen Gesellschaften der Fall ist. 

Die Wirrnis solcher innerer und äußerer Erfahrungen spiegelt sich im Erleben des Jugendlichen in einer widersprüchlichen Reihe von Verhaltensbruchs­tücken; an die Stelle eines Charakters mit durchschnittlicher Voraussagbarkeit des Verhaltens, wie dies für die bürgerliche Epoche eher bezeichnend war, sind oft beziehungslos nebeneinanderstehende und mitunter höchst widersprüchliche Sequenzen der Einstellung und des Handelns eines einzelnen getreten. Im Phänotypus gehen sie oft spurlos ineinander über und wecken den Eindruck einer »Momentpersönlichkeit«1

Paradoxerweise hat sich jedoch die Vorhersagbarkeit des Verhaltens großer Gruppen erhöht. Dieser Widerspruch löst sich aber auf, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß die Momentpersönlichkeiten dem Einfluß von Meinungen, Einstellungen, Vorlieben, die ihnen die Massenmedien nahebringen, besonders schutzlos preisgegeben sind. Je dichter das Netz dieser Instrumente der Massenlenkung geknüpft ist, desto höher ist die Genauigkeit, mit der das Verhalten derer gesteuert werden kann, die auf diese Massenmedien angewiesen sind oder sich an sie gewöhnt haben.

Diese Inkonsequenz individuellen Verhaltens, die bisher nur als charakteristisch für die Adoleszenz-Periode galt, trifft der Jugendliche heute also auch im Lager der Erwachsenen an, an denen er sich trotz der Auflehnung orientieren möchte und muß. Die Persönlichkeitskrisen der Erwachsenen, von denen der Jugendliche aus der Geschichte erfährt — etwa Glaubens- oder Loyalitätskrisen der Persönlichkeit —, scheinen sich heute weniger als Krisen einer kontinuierlichen Entwicklung abzuspielen, sondern vielmehr als momentane Anpassungsleistungen ohne Niederschlag, ohne Einfluß auf eine stabile Identitätsfindung.

1)  Vgl. A. Mitscherlich Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. München (Piper) 1963, 2-1967, 280.

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Widersprüchliche Verhaltensweisen liegen nahe beieinander; so die hohe Empfindlichkeit einerseits gegen jede Art autoritärer Bevormundung und ein geradezu begieriges Aufnehmen von befehlshaften Losungen, von bevormundenden Angeboten andererseits. Aber man sollte sich vor herabsetzenden Generalisierungen hüten. Man muß sich darin bescheiden, von Tendenzen zu sprechen, denen der einzelne in unserer Zeit ausgesetzt ist und die oft in Widerspruch zu den Werttraditionen unserer Kultur stehen. So haben sich Enklaven der Vaterautorität alten Stils erhalten, an denen festgehalten wird, obwohl sie ein echtes Wertsystem für den einzelnen nicht zu bedeuten scheinen. 

Die im Gesetz verankerten moralischen und sittlichen Forderungen steuern das faktische Verhalten kaum noch. Diese väterliche Autorität kann sich zum Beispiel mit ihrem repressiven Anspruch in sexueller Hinsicht den Befriedigungswünschen der Menschen unserer Zeit nicht mehr erfolgreich entgegensetzen. Ihr Gebot wird nicht heimlich, sondern offen verletzt. Aber zugleich scheinen an der Fülle von Statusvorurteilen, die dieser Vater vermittelt, weder er selbst noch seine Kinder zu zweifeln. Hier bleibt er Autorität. Der Grad der Orientierung an Prinzipien im sozialen Verhalten hat also abgenommen (entsprechend der Dynamik, mit der sich die technisierte Umwelt verändert). Der Konsensus stellt sich durch das Zurschaustellen unmittelbar zeigbarer Macht her. Die Vereinfachung solcher Ideologie ist an die Stelle eines strengen, kollektiv gefestigten und kontrollierten Über-Ichs getreten.

Man kann also alles nebeneinander finden: einmal die starr und beharrend vorgetragene unaufgeklärt absolutistische Vaterautorität. Wo sie auf selbstverständliche Anerkennung stößt, wirkt sie, wie sich immer deutlicher erweist, neurotisierend auf das Verhalten der Abhängigen. Von Prinzipien getragene Anpassung an eine solche Unterwerfungshaltung kann offensichtlich in einem sozialen Raum, in welchem sich diese Haltung als überrepressiv und veraltet ausnimmt, nur noch geleistet werden um den Preis eines pathologisch sich auswirkenden Aufgebots an Abwehrformationen gegen die Gefühlsambivalenz, die sie erweckt.

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Daneben findet sich ein Treibenlassen, emotionelle Teilnahmslosigkeit der Eltern am provozierenden, herausfordernden eigenwilligen Verhalten der Kinder, das oft genug einer tieferen Interesselosigkeit der Eltern entspricht. Ein Symptom dieser Einstellung ist es, wenn Eltern ihre Kinder mit Geld abspeisen und auf den Konsummarkt verweisen. Diese Attitüde eines resignierten oder narzißtischen Rückzuges der Eltern — sie kann auch beides zugleich sein — aus unhaltbar gewordenen Autoritätspositionen ist bereits selbst eine Tradition geworden, denn sie beruht zumeist auf Kindheitserfahrungen der Menschen, die jetzt als Eltern Halt gewähren sollen. So stuft sich die Verhaltensskala auf der Elternseite von überlebter und starrer Autoritätsforderung zu ermüdetem oder gleichgültigem Autoritätsverzicht. Auf der Seite von Kind und Jugendlichem schwankt das Verhalten von überempfindlicher Protesthaltung gegen Autorität bis zu bohrender Suche nach ihr; letzteres, wie gesagt, Haltungen, die bei den Eltern selber auch anzutreffen sind.

 

   2  Eltern als Vorbild   

 

In diesem Zusammenhang muß umrissen werden, was wir als eine gelingende Orientierungsleistung der Eltern gegenüber den Jugendlichen ansehen. Als wichtigstes sollten Eltern fähig sein, die Identitätsverwirrung des Heranwachsenden, seine Lösungsversuche, die sich mit Anklammerungswünschen vermischen, mitdenkend und mitfühlend zu verstehen; sie sollten ihre eigene Lebenserfahrung nicht als fragloses Vorbild, das zu jeder Zeit und bei jedem Menschen gültig ist, hinstellen, sondern sie als erlittene und einigermaßen verstandene Vorerfahrung vermitteln. Das Schwergewicht dieser Weitergabe von Erfahrungen würde in der bewußten Einsicht liegen, daß es sehr schwer ist, von sich selbst ein erinnerungsgetreues Bild zu gewinnen. Das Vorbildliche verdichtet sich dann in der Empfindsamkeit gegen Selbstidealisierung und gegen Affektdurchbrüche, die nicht einem plausiblen, sondern einem darunterliegenden unbewußt bleibenden Motiv entspringen. Dazu kommt eine Empfindsamkeit für die Beweggründe, die uns zur Bejahung von oder zum Widerstand gegen Wertvorstellungen, Sitten, Ideologien bewegen.

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Aus der verwirrenden Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft ist zu folgern, daß Erziehung, die dieser Lage gerecht werden will, sowohl Hilfe bieten muß zur Anpassung an die gegebenen Verhältnisse wie auch Hilfe, sich selbständig zu machen von solchen Anpassungsforderungen, in denen die Gefahr des Identitätsverlustes besteht.

Zusammenfassend kann man sagen: Die Entwicklung der Zivilisation im allgemeinen wie auch die Erfahrungen unserer jüngsten deutschen Geschichte unterminieren ein in der frühen Kindheit notwendiges gültiges Vatervorbild — das Bild einer positiv zu bewertenden sicheren Autorität. Der Jugendliche gelangt aus seiner Neigung, die väterliche wie die anderen Autoritäten kritischer zu betrachten, zu sehr konträren Beobachtungen. Jedoch sucht auch er — wenngleich mit anderen Zieleinstellungen — für seine Aufgaben Vorbilder. Es kann also nicht davon die Rede sein, die Entwicklung unserer Gesellschaft habe diese Vorerfahrungen — Tradition als Vermittlung verschiedenster Art — für den Jugendlichen überflüssig gemacht. 

Am Anfang seines Lebens ist der Mensch gewiß nicht zur vollen Übernahme des Risikos in seinen Entscheidungen fähig. Wird ihm hier nicht seinem Alter entsprechende Hilfe zuteil, so fehlt ihm eine entscheidende mitmenschliche Erfahrung, und wir können erwarten, daß darauf Reaktionsbildungen erfolgen werden. Das Regredieren zum Wunsch nach einem besonders starken, gottähnlichen Vater als Inbegriff politischer Erwartungen bietet sich als Beispiel eines solchen kompensatorischen Ausgleichs für erlittene Entbehrung, für gestörte Identifikationsmöglichkeiten, an. Ohne solche regressiven psychischen Mechanismen könnten sich in unserer Zeit nicht immer neue Diktaturen etablieren. Aber auch im Wunsch nach Vermeidung jedes Lebensrisikos, nach Versicherungen großen Stils, zeigt sich diese Fixierung an kindliche Führungs- und Schutzbedürfnisse. Die Kirchen erfüllen ein ähnliches Verlangen, wenn sie sich bereit erklären, die Verantwortung für ihre unmündigen, elternbedürftigen Kinder zu übernehmen — eine Verantwortungsbereitschaft, die in einer oft kuriosen Mischung von Unglauben und magischer Erwartung von den Angehörigen dieser Kirchen angenommen wird.

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  3  Wandlung der Rollen  

 

Aber beim Versuch, zu einer begrifflich abgrenzbaren Ordnung zu kommen, stoßen wir auf weitere Verwirrungen. Die sozialen Grundrollen von Mann und Frau gleichen sich mit der Ausbreitung von Technisierung und Bürokratisierung einander mehr und mehr an. Die Rollenstereotype fransen sich von ihrer Peripherie her immer weiter gegen zentrale soziale Funktionen hin auf. Erleben wir ihn wirklich als väterlich, den Pensionen, Renten und Schutz gewährenden Staat — oder vielleicht nur darum, weil vorerst die Sprache (»Vater Staat«) uns ein solches Erleben nahelegt? Knüpfen die Funktionen, die eigentlich gesucht werden, nicht unmittelbar an Erlebnisse mit der Mutter an? Sollen Staat und Kirche nicht eigentlich solche kindlichen Erwartungen befriedigen, die man der Mutter gegenüber hegt? Man ist wohl berechtigt, in all den sozialen und religiösen Institutionen, die Bedürfnissen und Phantasien dieser Art gerecht werden sollen, mehr und mehr nicht nur die wegweisenden, ge- oder verbietenden Eigenschaften des Vaters, sondern im Grunde die der fürsorgenden, nährenden Mutter auftauchen zu sehen.

Durch die Verringerung überzeugender väterlicher Autorität innerhalb der Familie hat das Kind eine viel größere Möglichkeit als früher, seine ödipalen Konflikte offen auszutragen. Dieser Prozeß bringt nicht nur größere Freiheit, sondern er kann auch größere Richtungslosigkeit zur Folge haben, da das Objekt, Vater oder Mutter, gegen das sich der offene Protest richtet, weniger Aggressionen an sich zu binden vermag.

So beobachtet man etwa, daß Jugendliche vielfach sich über die Abneigung ihrer Väter gegen tiefer gehende Gespräche und Auseinandersetzungen mit ihnen beklagen. Das wird meist dem Zeitmangel unserer gehetzten technischen Welt zugeschrieben, und das mag auch teilweise zutreffen. Aber der Gedanke liegt nahe, daß die Väter diesen väterlichen Gesprächen aus dem Wege gehen, weil sich in ihnen ein starker Wunsch regt, im Kind, im Sohn, einen Freund zu haben, der ihnen, den Vätern, in ihrer eigenen Richtungslosigkeit Hilfe bietet. So daß nicht nur die Jugendlichen in ihren überschießenden, nebeneinander bestehenden Bedürfnissen nach Freiheit und Führung das Gefühl entwickeln, die Eltern zeigten nicht genügend Aufmerksamkeit für sie; die Eltern, mit ihren eigenen Anpassungsproblemen und ihrer eigenen Richtungssuche zu sehr beschäftigt, können nur wenig von dem Interesse für das Innenleben ihrer Kinder aufbringen, das diese von ihnen erwarten.

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Gustav Bally hat in Anlehnung an Adolf Portmann betont, daß der Mensch des Menschen bedarf, um Mensch zu werden — ein Satz, der sich in diesem Zusammenhang spezifischer formulieren läßt: Der Sohn bedarf des Vaters, um Vater zu werden. In einer Zeit erhöhter Identifikationsnot bedarf der Vater jedoch selbst der Unterstützung. Nicht zuletzt die Psychologie unter dem Einfluß der Psychoanalyse hat den »Vater« in seiner Autoritätsrolle in Frage gestellt, andererseits sind es auch die rapiden technologischen Entwicklungen, die er nicht zu überschauen vermag. Das macht ihn unsicher und legt ihm in Intimbeziehungen die Regression nahe, zum Beispiel den Wunsch, daß der Sohn, wo er selbst »nicht mehr weiterkommt«, ihm Stütze sein soll, was von diesem her gesehen dem väterlichen Rollen- und Pflichtenschema zutiefst widerspricht. Väter und Söhne scheinen gleichermaßen auf der Suche nach einem »Vater« — einem Übervater —, dem sie aber ambivalent gesonnen sind und den sie so leicht als Ideal nicht anerkennen wollen.

Der Widerspruch dieses Bedürfnisses zu allen progressiv-technischen Tendenzen, die nach den Sternen greifen, ist offensichtlich so stark, daß er den Reifungsfortschritt der Identitätsfindung auf der Ebene zweier Generationen beeinträchtigt. Der Widerspruch zwischen jenem Ich-Anteil, der gigantischer Konstruktionen fähig ist, und dem tief regressiven, unbewußten Schutzverlangen ist nicht nur ein Problem mit dem Vater; gesucht wird auch der »animalischere« mütterliche Schutz.

Da die Pubertät im Leben jedes Menschen normalerweise die Zeit der Lösung von seinen kindlichen Bindungen und der Übernahme neuer sozialer Rollen, der beginnenden Profilierung einer eigenen Identität darstellt, müssen sich in dieser Phase Komplikationen besonders dort einstellen und verschärfen, wo bisher leitende gesellschaftliche Ideale nicht mehr standhalten. Eine solche substantielle und einigermaßen glaubwürdige Position der Sittlichkeit einer Gesellschaft ist aber sowohl als Halt wie als Provokation zum Finden neuer, gemäßerer Lebensform unerläßlich. Da die Entwicklung eines abgegrenzten Selbst — der Erwerb einer eigenen Identität und ihr zugehöriger Wertvorstellungen — in jeder Kultur zu den schwersten Aufgaben der Reifungsperiode gehört, bedarf der junge Mensch in den Werten seiner Gesellschaft eines festen Bodens, sei es, um sich darauf einzurichten, sei es, um sich abstoßen zu können.

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  4  Identifikation — Identität  

 

Ein kurzer Überblick über die Identitäts- und Identifikationsproblematik mag an dieser Stelle hilfreich sein. Die Identifikation mit den Eltern, besonders dem Vater, erfährt in der Pubertät eine besondere Belastung, weil mit dem weiter reichenden Blick, den er sich langsam erwirbt, der Jugendliche die faktische Rolle, die der Vater in der Gesellschaft spielt, zu verstehen beginnt. Die Enttäuschung am Vater als dem Ideal, das man in ihm zu sehen gewohnt war, zeichnet sich schon um das zehnte bis elfte Lebensjahr, wenn nicht früher, ab und ist, wegen der bestehenden Identifikation mit ihm, immer mit einem schmerzlichen Gefühl eigener Entwertung verbunden. Durch die erweiterten Möglichkeiten, den Vater mit anderen zu vergleichen, wird auch das eigene Wertgefühl vor neue Probleme gestellt: Wie verhalten sich die Identifikationen, Ideale und Wertvorstellungen, die man aus der eigenen Familie mitgebracht hat, zu denen der Gesellschaft? Wie bestehen sie bei den neu gewonnenen Vergleichsmöglichkeiten?

Was Identität ist, meinen wir aus der Selbsterfahrung zu wissen, sie ist aber ein schwer zu definierender seelischer Komplex.1)  Einerseits wird sie durch Identifikationen, beginnend mit den primären Beziehungspersonen wie Vater und Mutter, gebildet, denen dann Lehrer, Freunde folgen bis dahin, daß man sich mit größeren Gruppen sozialer und weltanschaulicher Natur in eins setzt. Psychologen und Psychoanalytiker haben dies die soziale Definition der Identität genannt und sie mit dem Begriff der »Rolle«

1)  N. Tabachnidc Three Psycho-Analytic Views of Identity. Int. J. Psycho-Analysis 46 (1965), 4.

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in Zusammenhang gebracht. Trotz dieser vielfältigen, auch wieder aufgegebenen Bindungen und Rollenfunktionen ist für die Identitätsbildung die Erfahrung der inneren Kontinuität und das Gefühl, einer Selbstverwirklichung zuzustreben, die sich den von außen kommenden Erwartungen gegenüber Unabhängigkeit zu bewahren vermag, von großer Bedeutung.

Auf einem primitiven Niveau des Erlebens, aber auch des Erklärens wird die Selbstverwirklichung mit Triebbefriedigung gleichgesetzt. In der psychoanalytischen Strukturlehre kann der soziale Aspekt der Identität in eine enge Beziehung zum Bereich der Ich-Ideal- und der Über-Ich-Bildung gebracht werden, während die Selbstverwirklichung in ihrer Verbindung mit Wunsch- und Triebbefriedigung im Es-Bereich verwurzelt ist. Sigmund Freud sieht diese beiden Anteile der Persönlichkeit, das Es und das Über-Ich, oft miteinander in Konflikt, da der Drang nach Triebbefriedigung und die Forderungen der sozialen Umwelt als auch des Gewissens leicht in einen Gegensatz zueinander geraten. Das Ich wird als vermittelnde, die Realität überschauende Instanz eingeschaltet. Erik H. Erikson, der eine mögliche Entsprechung von Triebwünschen und den Forderungen und Bedürfnissen der sozialen Umwelt entdeckt, wendet sich deswegen gegen die Vorstellung, daß zwischen diesen beiden Bereichen ein Konflikt nicht zu vermeiden sei. 

Alice Balint, die in Mutterliebe und Liebe zur Mutter1) eindrucksvoll beschreibt, daß die sozialen Bedürfnisse der Mutter — zu stillen, zu helfen, zu versorgen — den Triebbedürfnissen des Kindes entsprechen, bekräftigt damit die Einstellung Eriksons, der in der geglückten Gegenseitigkeit einer solchen Bedürfnisbefriedigung das entstehen sieht, was er »basic trust« genannt hat, das »Urvertrauen«, und was wahrscheinlich im späteren Leben zur Identitätsbildung Wesentliches beiträgt.2) Auch in den der Säuglingszeit folgenden kindlichen Entwicklungsstufen gibt es zahlreiche Gebiete, auf denen sich die kindlichen Bedürfnisse mit den andersartigen, aber entsprechenden der Eltern gegenseitig zu befriedigen vermögen. Die sexuellen Wünsche der Erwachsenen etwa entsprechen neben den Bedürfnissen der jeweilig Beteiligten auch denjenigen der menschlichen Gesellschaft, deren Bestehen schließlich auf der Befriedigung solcher Triebwünsche mitberuht.

1)  A. Balint Mutterliebe und Liebe zur Mutter. Psyche, 16 (1962/63), 481.
2)  E. H. Erikson Identität und Lebenszyklus. Reihe Theorie 2. Frankfurt (Suhrkamp) 1966.

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Es gibt jedoch eine Form der Identitätsfindung, die in ihrem sozialen Aspekt eine Gegenidentifikation gegen Haltung und Weltanschauung der Umgebung darstellt. In ihr wird offenbar ein Autoritätskonflikt verewigt, der in Verbindung mit besonderer Begabung und starken Ich-Kräften die selbstverwirklichende Seite der Identität begünstigen und zu neuen Dimensionen führen kann. In dem Buch von Erik H. Erikson Der junge Mann Luther 1) wird dieser Vorgang ausführlich und bewegend beschrieben. Freilich verläuft er keineswegs immer so produktiv wie bei Luther.

Im allgemeinen besteht der folgende Ausspruch Anna Freuds2) zu Recht: »Die negative Bindung läßt keinen Raum für unabhängiges Handeln oder wachsende Selbständigkeit, und die zwanghafte Auflehnung gegen die Eltern ist in ihren Auswirkungen nicht weniger einschränkend, als zwanghafter Gehorsam sein könnte.« Die insbesondere von Heinz Hartmann3) beigetragenen Erkenntnisse zur Ich-Psychologie sehen die beiden Seiten der Identität — sich mit seiner Umwelt und mit sich selber identisch zu fühlen — nicht nur als das Ergebnis einer konfliktreichen Beziehung zwischen Über-Ich und Es; Ausmaß und Qualität der sich in diesen Kämpfen entfaltenden organisierenden Ich-Funktionen haben einen entscheidenden Einfluß auf ihren Ausgang. Für Hartmann sind also nicht nur die äußeren Einflüsse der Umwelt für die Entwicklung der Identität von Bedeutung, sondern auch die dem Ich innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten, zwischen außen und innen sowohl zu vermitteln, als auch zu unterscheiden, um eigene innere Wertvorstellungen sowohl aufzubauen, als sie auch einer Beeinflussung und Kritik von außen zugänglich zu halten.

 

1)  E. H. Erikson Der junge Mann Luther. München (Szczesny) 1964.
2)  A. Freud Probleme der Pubertät. Psyche, 14 (1960/61), 1.
3)  H. Hartmann Bemerkungen zur psychoanalytischen Theorie des Ichs. Psyche, 18 (1964/65), 6.

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5. Wiederholung und Auflösung bisheriger Verhaltensweisen in der Pubertät

Vergleichen wir den Verlauf der Pubertät heute etwa mit dem der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, dann ist augenfällig, wie dieser Umbauprozeß zunehmend mehr Zeit beansprucht. S. Bernfeld1)  sprach bereits 1923 von »verlängerter Pubertät«. Die physische Reifung in der Pubertät bringt, wie es Ernst Jones2) etwa zur gleichen Zeit darstellte, eine Wiederholung und Reintensivierung des ödipalen Konfliktes mit sich, der seinen Höhepunkt zwischen dem dritten und sechsten Jahr erreicht. Sein klassischer Inhalt ist, daß das Kind den Elternteil des anderen Geschlechts liebt, während es den des gleichen Geschlechts als Rivalen erlebt und ihm gegenüber bewußt oder unbewußt Todeswünsche hegt. Da das kleine Kind trotz aller Rivalitätsgefühle aber beide Eltern liebt und braucht, entsteht ein Konflikt zwischen Liebe und Haß, zwischen Weg- oder gar Totwünschen und unbedingtem Behaltenwollen. Dieser Konflikt kann die verschiedenartigsten Lösungsversuche aktivieren. 

Nehmen wir den Knaben als Beispiel: Er kann die mit soviel gefährlichen Wünschen verbundene Liebe zur Mutter durch eine Identifizierung mit ihr abwehren; er liebt dann gemeinsam mit der Mutter oder gar quasi als Frau den ursprünglichen Rivalen, den Vater. Oder er identifiziert sich mit dem Vater, mit seiner männlichen Stärke, aber auch seinen Verboten, und gibt sich mit einem Teilbesitz der Mutter zufrieden. Das sind zwei häufig vorkommende Lösungsformen des Ödipuskomplexes, von denen das Vorherrschen der zweiten die normale Entwicklung fördert. Ungestörte, das heißt auch dem Geschlecht des Kindes entsprechende Identifikationsprozesse stehen in enger Verbindung mit der Lern- und Anpassungsfähigkeit — Fähigkeiten, die für den gesunden Verlauf der auf die ödipale Phase folgenden Latenzzeit von großer Bedeutung sind. In dieser Zeit, die sich etwa über das sechste bis zwölfte Lebensjahr erstreckt, ist also der ödipale Konflikt vorübergehend zugunsten von Identifikationen mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil zurückgetreten, das heißt, der kleine Junge benimmt sich wie sein Vater.

 

1)  S. Bernfeld Über eine typische Form der männlichen Pubertät. Imago, IX (1923), Int. Psychoanal. Verlag, Wien.
2)  E. Jones Some Problems of Adolescence. Papers an Psycho-Analysis. London (Bailliere, Tindall & Co.) 1922.

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Die Mobilisierung der in der Latenzzeit gebildeten und relativ gefestigten, aber beschränkten und etwas rigiden Persönlichkeitsstruktur ist in der nun folgenden Adoleszenz notwendig, damit es zur weiteren Reifung des Ichs, insbesondere im Hinblick auf seine bisher an die Familie gebundene Orientierung, kommen kann. Mit der Auflösung der Persönlichkeitsstrukturen in der Pubertät geht eine Neubelebung der bisher durchlaufenen lebensgeschichtlichen Phasen einher. Die Reintensivierung des Ödipuskomplexes, der jetzt auf einen genital entwickelten und in seinen Ich-Funktionen gereiften Menschen trifft, wurde schon mehrfach erwähnt. Die Art, wie das kleine Kind seine Probleme zu lösen versuchte, wird weitgehend wiederholt, wenn auch auf entsprechend gereiftem Entwicklungsniveau.

Wichtig für den Pubertätsverlauf ist deswegen auch, ob das Kind, bevor es in die Latenzzeit eintrat, das erreicht hatte, was in der Psychoanalyse als die »phallische« Phase bezeichnet wird; eine Phase, die beide Geschlechter gleichermaßen durchlaufen, da das Mädchen die Existenz seiner Vagina erst in der Pubertät wirklich erlebt.

Diese Phase fällt in die gleiche Zeit, in der auch der Ödipuskomplex seine zentrale Bedeutung gewinnt. Der positive Umgang mit dieser Problematik, verbunden mit einem physiologischen Aktivitätszuwachs, erhöht die Selbständigkeit und Selbstbehauptung des Kindes. Gemessen an der eigentlichen ödipalen Periode sind die Ich-Funktionen in der Latenzzeit gereift. Dem entspricht eine erweiterte und reifere Identifikationsbereitschaft. Rivalität besser ertragen und Frustrationen besser tolerieren zu können sind weitere Indikationen für eine diesem Alter entsprechende Entwicklung. Die Fähigkeit des Kindes, infantile Wunschbefriedigungen schrittweise aufgeben zu können, ohne dabei die neu von ihm geforderte spezifische Aktivität zu verlieren, verdient als positiver Indikator eine besondere Beachtung.

Außer diesen progressiven Anpassungsformen und dem Zurücktreten ödipaler Konflikte finden wir in der Latenzzeit ein spezifisches Zurückgreifen auf präödipale Verhaltensweisen, insbesondere solche der analen Phase, die durch ihre rigiden Abwehrmechanismen gekennzeichnet ist. Die anale Phase mit ihrer Reinlichkeitsdressur, ihrem Trotzverhalten, ihren Wutausbrüchen liegt zeitlich vor der ödipalen Phase, also etwa zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr.

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6.  Die Beziehung des Pubertätsverlaufs zum Autoritätswandel  

 

Neben Bernfeld und Jones schildern zahlreiche Autoren, unter ihnen Anna Freud, J. Lampl de Groot, L. Spiegel, die Problematik der Pubertät und ihre Bedeutung für das Leben der Erwachsenen. Erikson fordert von der Mitwelt, den Jugendlichen eine turbulente Zeit zuzugestehen, ihnen ein »Moratorium« zu gewähren, das heißt, der selbstverwirklichenden Seite der Identitätsfindung eine Chance einzuräumen, bevor die sozialen Anpassungs­forderungen eindämmend auf sie wirken.

Für die Reifung der Persönlichkeit bleibt es unumgänglich, daß jetzt die kindlichen Orientierungen und die Befriedigungsformen der Latenzzeit weitgehend umgestaltet werden. Bemerkenswerterweise verlangt ein Teil unserer Jugendlichen jedoch gar nicht nach einem »Moratorium«, sondern paßt sich ganz unrevolutionär der bestehenden Sozialordnung an. 

Wenn Erikson sagt, daß »die Identitätsbildung beginnt, wenn die (ungefragt übernommenen) Identifikationen mit den Personen aus der Vergangenheit enden«,1) dann scheint sich dieser Prozeß gegenwärtig zunehmend länger auszudehnen, und oft wird diese Schwelle nie überschritten; was einen Widerspruch zu der oben bemerkten Entwertung der Vaterautorität zu bedeuten scheint. Der Widerspruch klärt sich, wenn wir uns den Unterschied zwischen bewußt und unbewußt klarmachen. Neben dem bewußten Aufgeben alter, offensichtlich zerstörter Ideale wird unbewußt an alten Identifikationen festgehalten. Was unbewußt bleibt, kann sich nicht verändern, nicht reifen, das Unbewußte ist zeitlos. Mit dieser Fixierung verbinden sich Regressionen zu Allmachtsphantasien und eine kleinkindliche Muttersehnsucht.

1)  Erikson Identität und Lebenszyklus, 1. c.

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Die notwendige Auseinandersetzung mit den Werteinstellungen der Umwelt geschieht um so zögernder, je schwerer es den Jugendlichen wird, sich von den Eltern zu lösen. Mit der Zerstörung des väterlichen Vorbildes, die vollständiger als nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland kaum vorgestellt werden kann, hat sich durch die dadurch entstehenden Identifikationsnöte die Unselbständigkeit der Jugendlichen noch verlängert. Diese unrevolutionären Jugendlichen brauchen deswegen nicht zu den »Braven« zu gehören, die an der anpassungsfreudigen Latenzzeit fixiert und im Einklang mit Idealen und Forderungen ihrer Eltern leben, weil sie eine überstarke Abwehr gegen ihr diesen Einklang störendes Triebleben aufgerichtet haben. Sie protestieren nicht, sind aber auch nicht »brav«, vielmehr erinnern sie uns an die von Anna Freud beschriebenen Waisenkinder, bei denen die normale Mutterbindung schon früh durch deren Verlust unterbrochen wurde, ohne daß dafür ein Ersatz gefunden wurde. Bei diesen Kindern traten nach einem verhältnismäßig normalen Entwicklungsverlauf in der Kindheit schwere Störungen in der Pubertät auf. Die jungen Mädchen, von denen Anna Freud berichtete, konnten den Weg zu außerfamiliären Objekten in der Pubertät nicht finden; sie konnten die unbewußte Bindung an die nicht vorhandene, aber gesuchte Mutter nicht aufgeben, »als wäre der innere Besitz und die Besetzung einer Mutter-Imago die unerläßliche Vorbedingung für den normalen, zum sexuellen Partner führenden Ablösungsprozeß«.1)

So scheint es dem jungen Menschen zu Beginn unseres Jahrhunderts, als ein starkes autoritäres Vorbild zu entsprechend starken Identifikationen aufrief, leichter gewesen zu sein, seine Identität, sei es zustimmend, sei es rebellierend, zu finden. Nicht nur durch Hitler und seine Zeit wurden bisherige Ideale und Identifikationsmöglichkeiten erheblich gestört, es kam hinzu, daß die Vorstellungen der Eltern von ihren elterlichen Aufgaben unsicher und in dauernder Veränderung begriffen sind. Wie wir oben betonten, erscheinen sie in bezug auf das Generationsproblem kaum weniger verwirrt als ihre Söhne und Töchter; nicht nur verwischen sich die Unterschiede zwischen den Generationen, auch die zwischen den Geschlechtsrollen werden immer geringer. Tatsächlich sind Eltern wie Kinder auf der Suche nach einer Beziehungsform, die ihnen wechselseitig aus durchdachten und verpflichtenden Wertvorstellungen Identifikationsmöglichkeiten und Ansätze zur Identitätsfindung bietet. Denn gegenwärtig gilt eben, daß nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihre Eltern sich in einem Unsicherheitszustand befinden, in dem Auflehnung mit einem Bedürfnis nach idealisierten omnipotenten Elternfiguren sich mischt.

Dieser Einbruch von Unsicherheit in eine Gesellschaft, die bisher eher durch eine repressive Vaterautorität beherrscht wurde, mag es Hitler erleichtert haben, an die Macht zu kommen: Er zerstörte alte Ideale, befreite von der Anstrengung, negative Gefühle gegen die alten Autoritäten verdrängen zu müssen, und versprach anstelle dieser Mühen, im Sinne eines omnipotenten, scheinbar neuen, aber in Wirklichkeit tief regressiven Ideals fortan für jedermann zu denken und zu entscheiden.

Wenn die in der Pubertät normalen Anstrengungen, das Über-Ich und das Ich-Ideal neu zu formen, durch eine umfassende Störung bestehender Idealformen, wie sie bereits der Erste Weltkrieg bewirkt hatte, zusätzlich erschwert und verwirrt werden, können gewiß katastrophale Folgen entstehen; deswegen scheint es der Mühe wert, die Entwicklung der Identifikationsnöte genauer zu betrachten, die mit einer jeweiligen Gesellschaft und deren Idealen in einem engen Zusammenhang stehen.

In diesem Zusammenhang wird der Begriff des Ich-Ideals häufig erwähnt werden, das in enger Beziehung zum Über-Ich steht, jedoch mehr auf eine Erfüllung der verinnerlichten Werte und Wünsche der Eltern zustrebt als ihrer moralischen Forderungen. Nicht den Werten des Ich-Ideals entsprechend zu leben erzeugt Scham und Angst vor Ablehnung und Verlassenwerden; den Forderungen des Über-Ichs nicht nachzukommen erweckt Schuldgefühle und Angst vor Strafe.

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1)  A. Freud, 1. c.

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