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IV. 7  Verlängerung oder innere Abwehr der Pubertät  

 

 

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Freud beschrieb in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) die Pubertät als eine Phase, in der die Unterordnung aller frühinfantilen Ursprünge der sexuellen Erregung unter das Primat der Genitalzone stattfindet und in der sich der Prozeß der außerfamiliären Objektbesetzung vollzieht, das heißt, ein Knabe beginnt sich von seiner Liebe zur Mutter oder auch Schwester zu lösen und sich für ein junges Mädchen seiner weiteren Umgebung zu interessieren.

Das gehört zur normalen Entwicklung und ist notwendig. Die in dieser Periode stattfindende Triebverstärkung läßt die neubelebten sexuellen Neigungen des Kindes zu seinen Eltern um vieles gefährlicher als zur Zeit des kindlichen ödipalen Konfliktes erscheinen, weil biologisch die Erfüllung der inzestuösen Wünsche tatsächlich möglich wäre. Erst der Jugendliche muß die beim Kinde wesentlich durch seine körperliche Unreife bedingte Inzestschranke endgültig als eine moralisch geforderte Tatsache hinnehmen.

Die Inzestvermeidung ist also ein allgemeingültiger Antrieb zur außerfamiliären Objektfindung; aber Dauer und Form dieses Vorganges wie des Pubertäts­verlaufes überhaupt stehen zweifellos in Beziehung zu den Sitten und Gebräuchen der Umgebung. So haben Untersuchungen an primitiven Völkern gezeigt, daß die Pubertät die Dauer der körperlich sexuellen Reifung an und für sich nicht zu überschreiten braucht. Bei diesen Völkern und zum Teil auch in den nicht bürgerlichen Klassen unserer Gesellschaft, bei denen die außerfamiliäre Objektfindung im Sinne einer sexuellen Beziehungsaufnahme mit der Reifung der Sexualität gewissermaßen eine Selbstverständlichkeit war und den Jugendlichen mit den Rechten auch die Pflichten des Erwachsenen übertragen wurden, war und ist das, was sich in höheren Gesellschaftsschichten mit ihrer langen Berufsvorbildung als Pubertät versteht, kaum vorhanden. Hier pflegt die psychische Pubertät weit länger anzudauern, als es der körperlichen Reifungszeit entsprechen würde, deren untere Grenze man etwa auf zwei Jahre festsetzen könnte. 

Zumindest wäre von diesem Zeitpunkt an, von der körperlichen Entwicklung her gesehen, die Einnahme definitiver Sozialrollen möglich. Nach oben hin ist die Dauer der Pubertät sicherlich unbegrenzt, und nicht nur auf Grund der sich immer mehr ausdehnenden Berufsausbildung. Es gibt genügend Menschen, die das von Freud beschriebene Endstadium der außerfamiliären reifen Objektfindung zeit ihres Lebens nicht erreichen. Ein solcher Mißerfolg hat seine Ursache in der Fixierung der Libido auf die ursprünglichen Objekte, die Eltern, die dem Individuum zu lösen nicht mehr gelingt, wie wir es in extremer Weise im Falle der Waisen sahen. 

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Auch wenn wir dem Psychischen eine gewisse Zeit einräumen, bevor es sich an den neuen körperlichen Zustand gewöhnt, so überschreitet das, was wir an Pubertätserscheinungen in unserer Kultur als normal empfinden, bei weitem einen den physischen Bedürfnissen adäquaten Zeitraum.

Mit der sexuellen Entwicklung im Rahmen eines rapiden körperlichen und geistigen Wachstums ist eine solche Zunahme an physischer Energie verbunden, daß sich gelegentlich neurotische Störungen und Fixierungen, die aus der frühen Kindheit mitgeschleppt werden, von selber zu lösen vermögen. Dieser Energiezuwachs der Adoleszenz kann aber auch ein Übermaß an aggressiven Impulsen freisetzen, insbesondere wenn der Jugendliche die Lösung von den Eltern mit einer Lösung von Über-Ich-Identifikationen verbindet, das heißt, die ursprünglich an den Eltern orientierte Über-Ich- oder Gewissensbildung wird dann auf Grund ihrer Herkunft mit der Bindung an sie abgelehnt und aufgegeben. Dabei werden neben den aggressiven auch noch die bisher in diesen Identifikationen gebundenen narzißtischen Strebungen befreit, was die Heftigkeit und Selbstherrlichkeit vieler pubertärer Regungen verständlicher macht und zur Bandenbildung und Jugendkriminalität führen kann.

Je weiter der Jugendliche sich von seinen infantilen Liebesobjekten entfernen zu müssen glaubt, um so mehr verlängert sich die Phase, in der er von narzißtischen Zielen und Beschäftigungen auf Kosten von wirklich objektgerichteten in Anspruch genommen wird. Solche geistigen, eigenbrötlerischen oder auch antisozialen Interessen versetzen den Jugendlichen ökonomisch kaum in die Lage, allmählich unabhängiger zu werden. Aber die mehr »weltlichen« Interessen werden auch, wenn überhaupt, nur verborgen oder entstellt von diesen Jugendlichen verfolgt, da sie nicht zu ihren Idealen gehören; sie haben in der Tat ein »Moratorium« nötig, da sie keine Verantwortung zu übernehmen bereit sind. 

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8.  Die Wirkung des Ich-Ideals auf die Pubertätsentwicklung  

 

Dabei ist der Pubertätsnarzißmus, wie ihn Bernfeld1)  beschrieb und wie er uns auch bei produktiven Persönlichkeiten gut bekannt ist, keineswegs nur lustvoll, sondern von zahlreichen Depressionen begleitet. Einer der Gründe dafür ist die Bildung eines übertriebenen und deswegen außerordentlich empfindsamen Ich-Ideals, das bei der Lösung von den elterlichen Figuren eine beträchtliche Quantität der Libido an sich bindet. Durch die hohen und kaum zu erfüllenden Forderungen, die dieses Ich-Ideal an das eigene Ich stellt, entsteht mit den Erschütterungen im Selbstwertgefühl eine erhebliche Kränkbarkeit, die sich in den häufigen Verstimmungen des Jugendlichen ausdrückt, ohne daß ihm die Ursache zu seinen Depressionen oder Affektausbrüchen klar bewußt wird. Der Konflikt ist darin zu suchen, daß die Objektliebe, die sich von den idealisierten Elternfiguren abwendet, vom Ich-Ideal darin gestört wird, sich statt dessen auf das eigene Ich zu richten, weil dieses nicht als ideal genug empfunden wird. Das heißt, der Jugendliche kann jetzt weder seine Eltern noch sich selber lieben und wird gezwungen, Besetzungsmöglichkeiten zu suchen, die das Ich-Ideal ihm erlaubt.

Diese Form der Pubertät, in der die Lösung von den Elternbildern mehr zu narzißtischen Besetzungen als zu neuen Objektbeziehungen führt, ist gewiß nicht ohne Gefahren. Sie kann jedoch, und darin liegt ihre produktive und erweiternde Möglichkeit, den Jugendlichen in seiner Suche nach Vollkommenheit zu immer neuen Auseinandersetzungen mit Idealen, geistigen Inhalten und Zielen zwingen.

Ein anderer schon angedeuteter Verlauf der Pubertät, in dem die Ideale der Latenzzeit beibehalten werden, ist in seinem Mangel an Autoritäts- und sonstigen Konflikten für die Eltern wesentlich leichter zu ertragen und macht nach außen hin den stabileren und daher gesünderen Eindruck. Wenn wir uns aber daran erinnern, daß das Interesse an Inhalten und Formen der Kultur im späteren Leben nur dann eine wesentliche Rolle spielt, wenn es in der Pubertät seinen Ursprung fand, werden wir diesen zweiten Typus des an kindliche, konservative Ideale fixierten Jugendlichen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten als wesentlich begrenzter ansehen müssen.

1)   L. c.

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Die Beziehung zu den Eltern bleibt kindlich. Mit einer weitgehenden Unterdrückung der mit der Pubertät anwachsenden genitalen Wünsche vermeidet dieser Jugendliche die Inzestgefahr und schafft damit die innere Notwendigkeit, sich von den Eltern innerlich und äußerlich zu lösen, aus der Welt. Ihre Lebensweisen, aber auch ihre Ideale und Ansichten bleiben die seinen. Es muß eine innere Notwendigkeit bestehen, sich von den Bindungen an die Eltern zu lösen, damit kulturellen Inhalten und Formen über die bisherigen Grenzen hinaus ein intensives Interesse zugewandt werden kann. Ohne die Bildung eines entsprechenden Ich-Ideals würde die Auflösung der ursprünglichen libidinösen Bindungen die Gefahr bergen, nur Verwirrung, Asozialität, unzureichende Stabilisierung etc. hervorzurufen und nicht die typische Produktivität, das gesteigerte geistige Interesse der oben beschriebenen dramatischer verlaufenden Pubertätsform.

Die Pubertät ist aber nicht nur durch ein Zurücktreten bisher wirksamer Vorbilder ausgezeichnet; zum charakteristischen Reifungsschritt dieser Zeit gehören die vielfältigen Anläufe, bis sich über neue Identifikationen neue Orientierungen gewinnen lassen, an denen sich Ideale im allgemeinen und das Ich-Ideal im besonderen formen können. Die Pubertät, wie sie heute verläuft, dürfte sich seit Bernfelds Beschreibung nicht verkürzt haben — eher ist das Gegenteil der Fall —, auch die pubertätsspezifischen Formen des Narzißmus weisen kaum ein geringeres Ausmaß auf. Von der jeweilig charakteristischen Ausbildung des Ich-Ideals hängt ab, ob eine produktive Verwertung der narzißtischen Besetzung des Ichs möglich wird, das heißt, ob ein Ich-Ideal zu übermäßiger Kränkbarkeit, Selbstbefangenheit, überhöhtem Interesse am eigenen Wert, zu Wertlosigkeitsgefühlen und Aktivitätshemmung führen oder als Ansporn dienen und dem Ich des Jugendlichen so viel Spielraum lassen wird, daß er sich zu verschiedenartigen Leistungen und Interessen gedrängt sieht, um das Gefühl des eigenen Wertes einigermaßen im Gleichgewicht halten zu können.

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Ideale werden durch Identifikationen geformt und fordern wiederum neue Identifikationen heraus. Die Identifikation mit den Eltern erleichtert es uns, auf ihren unmittelbaren Besitz zu verzichten. Ihre Idealisierung spielt in der Kindheit eine große Rolle und hilft auf der Höhe der ödipalen Konfliktsituation nicht nur, die Identifikation zu erleichtern, sondern ist auch als Abwehr einer aus diesen Situationen sich ergebenden narzißtischen Kränkung anzusehen. Gleichzeitig dient diese Elternidealisierung den Bedürfnissen des hilflosen und verletzlichen Kindes nach allmächtigen und schützenden Eltern und der Abwehr gegen Aggressionen aus Enttäuschungen.

Um zu wiederholen: Für den Heranwachsenden bringt die Reifung der Ich-Leistungen um die Zeit der Vorpubertät und Pubertät auch eine realere Einschätzung der Eltern mit sich. Das ist nicht nur ein befreiender, sondern durchaus auch ein schmerzlicher Vorgang, da er den Jugendlichen mit der Auflösung der elterlichen Idealbilder einen unmittelbar identifikatorisch erworbenen narzißtischen Besitz verlieren läßt. Dieser Verlust drängt ihn, sich durch neue Identifikationen neuen narzißtischen Wert zu erwerben.

 

9. Die Art der Gefühlsbeziehung zu den Eltern als Grundlage des eigenen Wertgefühls

 

Es hängt nun vieles davon ab, ob neben dem Besitz idealisierter Elternfiguren eine Eltern-Kind-Beziehung bestand, die soweit aufrichtig und unmittelbar war, daß das reifende Ich des Jugendlichen seine kritischen Fähigkeiten auf seine Vorstellungen von den Eltern ausdehnen darf, ohne diese damit allzusehr zu kränken. Wenn auf diese Weise verhindert wird, daß sich Kind und Eltern unüberwindlich entfremden, müssen auch die bisherigen idealisierten Vorstellungen des Kindes nicht in tiefsten Enttäuschungen zusammenbrechen, wodurch sein eigener Wert, der sich ja weitgehend auf Identifikationen mit den Eltern stützt, eine zu große narzißtische Kränkung erfahren muß.

Die Wertbeständigkeit der Identifikationen mit den Eltern hängt jedoch nicht nur davon ab, ob die Eltern einer realeren Einschätzung standhalten können, sondern in hohem Maß auch von der Qualität der Gefühlsbindung zwischen Eltern und Kindern. Je gleichgültiger, unaufrichtiger oder ambivalenter die Eltern ihren Kindern gegenüberstehen, um so zerbrechlicher oder neurotischer pflegen die Identifikationen mit ihnen zu sein.

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Auch der Zeitfaktor spielt eine Rolle. Das Bild der idealisierten Eltern und die Identifikation mit diesem Bild können zu früh verlorengehen, zu einer Zeit, in der das Ich in seiner Entwicklung nicht genügend gefestigt ist, um diese Enttäuschung ohne traumatisierende narzißtische Einbuße ertragen zu können. Dies kann neben manchen anderen Faktoren die Ausbildung eines gesunden und ausgeglichenen Narzißmus erheblich stören und eine lebenslange Labilität des Selbstwertgefühls verursachen.

Als Abwehr gegen solche Kränkungen, gegen solch unerträgliche Ambivalenz, oder als Folge eines kindlich bleibenden Ichs werden in manchen Verläufen die idealisierten Beziehungen zu den Eltern ungebrochen weitergeführt; gegen den Abbau des Ideals »Eltern« wird ein Verleugnungsmechanismus eingesetzt, von dem aus es zu immer weiteren Realitätsverleugnungen kommen kann, die sich auf die Beziehungen zu anderen Menschen ausdehnen und mit einer gestörten Beziehung zur eigenen Gefühlswelt verbinden. Ein solches Abwehrverhalten fixiert natürlich den Jugendlichen an die Eltern oder an ihre unerreichbaren idealisierten Imagines, und er wird nicht aufhören können, bei ihnen das Ideal zu suchen. Ein junger Mensch also, der nicht ertragen lernte, seine Eltern einigermaßen realitätsgerecht zu beurteilen, wird auch anderen Bereichen der Außenwelt gegenüber blind sein oder sie verzerrt sehen. Ähnlich geht es ihm mit seinen Gefühlen: Sie dürfen nur seinen eigenen Idealisierungen gemäß wahrgenommen werden; er darf die Eltern zum Beispiel nur lieben und verehren, seine Haßgefühle muß er mit Hilfe von Verteuflungen woanders loszuwerden suchen.

Auch in diesem Zusammenhang sind Anna Freuds Erfahrungen mit verwaisten Kindern wertvoll. Wir lernten daraus, daß nicht nur ein realitätsgerechtes Sehen der Eltern eine Erweiterung und Reifung kindlicher Idealisierungen und Identifikationen mit sich bringt, sondern daß Identifikationen überhaupt nur mit Hilfe starker emotioneller Bindungen an tatsächlich vorhandene, reale Objekte so tragfähig werden, daß es in der Pubertät zu der notwendigen teilweisen Lösung und Neuorientierung kommt.

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Es gibt also viele unterschiedliche Störungsmöglichkeiten, je nach der Art der Elternbeziehung und der damit verbundenen narzißtischen Kränkungen. So liegt auch eine Gefahr in der von Bernfeld beschriebenen Form der verlängerten männlichen Pubertät darin, daß die aus der ödipalen Konfliktsituation und ihren Identifikationen stammenden narzißtischen Kränkungen jetzt eine weitere Vertiefung erfahren und zur Entwicklung jenes überhöhten Ich-Ideals führen, das nunmehr ein Leben lang vor allem die Forderung nach Aufwertung des gekränkten Ichs stellt. Wieweit sich der produktive Pubertäts-Narzißmus, nachdem er zur Lösung von den ursprünglichen Objekten und zu neuen Identifikationen und Idealen geführt hat, so weit abzubauen vermag, daß neue Objekte in der menschlichen Umwelt besetzt werden können, das wird von Art und Tiefe der narzißtischen Kränkung abhängen, die den Pubertätsverlauf bestimmte. Zur Erhaltung eines gesunden Narzißmus, eines gesunden Gefühls von Selbstwert, ist unerläßlich, daß von Seiten der Eltern bei allen aggressiven Ausfällen des Jugendlichen und trotz seines libidinösen Rückzugs ein grundsätzliches Verstehen erhalten bleibt. Die emotionale Kind-Eltern-Bindung kann in dieser Zeit so gestört werden, daß ein dauernder Rückzug auf das eigene Selbst die Konsequenz ist; die erneute Kränkung des sekundären Narzißmus führt leicht dazu, daß das Ideal-Ich weit über die Pubertät hinaus primär zur Aufwertung des eigenen Ichs drängt.

Eine Störung jenes Aspektes der Selbstsicherheit, der aus der frühen emotionalen Mutter-Kind-Beziehung stammt, kann zu einer dauernden symbiotischen Sehnsucht nach dem ursprünglichen Einssein mit der Mutter führen und alle Objektbeziehungen diesem Bedürfnis unterwerfen.

Eine vorübergehende Identifizierung mit dem jeweiligen Objekt eher als eine Beziehung zu ihm ist auch die für die Pubertät charakteristische Verliebtheit. Anna Freud1) sagt dazu: »Diese stürmischen und wenig haltbaren Liebesbindungen der Pubertät sind gar keine Objektbeziehungen im erwachsenen Sinn des Wortes. Es sind Identifizierungen der primitivsten Art, wie wir sie etwa in der ersten Entwicklung des Kleinkindes vor Beginn aller Objektliebe kennenlernen. Die Treulosigkeit der Pubertät andererseits wäre dann gar kein Liebes- oder Überzeugungswechsel innerhalb des Individuums, sondern ein durch den Wechsel der Identifizierung bedingter Persönlichkeitsverlust.«

1)  A. Freud Das Ich und die Abwehrmechanismen. München 1964.

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Die Bindung des Jugendlichen an neue Ideale ist, um es zu wiederholen, auch deswegen notwendig, weil sie ihm erlaubt, sich von den in der Pubertät regressiv neu besetzten inzestuösen Objekten zu entfernen, ihre Entlibidinisierung erleichtert; zudem versetzt sie den Jugendlichen in die Lage, den mit den eben geschilderten primitiven Identifizierungen verknüpften Gefahren des Persönlichkeitsverlustes zu entgehen, indem der Aufbau neuer, progressiver Identifikationen erleichtert wird. Allerdings können die Ideale sich so weit von jeder äußeren Verwirklichungsmöglichkeit entfernen und auch auf keine innere stoßen — etwa eine Begabung des Jugendlichen —, daß das Ich sich nur durch Rückzug, Verleugnung und Allmachtsphantasien vor unerträglicher Entwertung retten kann.

Einer solchen Gefahr sieht sich derjenige Typus des Jugendlichen nicht ausgesetzt, der es vermeidet, die Objektbindungen der Latenzzeit zu lockern, und der die Wertvorstellungen der Eltern fraglos übernimmt. Dies ist ein nicht seltener, gleichsam zeitloser, von den revolutionären Strebungen seiner Altersgenossen relativ wenig berührter Typus, den es immer gab und immer geben wird.

So hat zum Beispiel das patriarchalisch-bürgerliche Identitätsmodell des Erwachsenen die Einschränkung irritierender Triebwünsche, wie sie von dem gehorsamen und lerneifrigen Kind der Latenzperiode erwartet werden konnte, auch vom Adoleszenten verlangt. Vollzog er die Unterwerfung, so konnte das nur durch Abwehr seiner aggressiven Strebungen auf der analen Ebene gelingen, worin er sich insbesondere in der Latenzzeit geübt hatte. Es brauchte auch deshalb nicht zu einem wirklichen Bruch im Verhalten während der neuerlichen Anpassung an die gesellschaftlichen Forderungen zu kommen, weil die väterliche Autorität in dieser Gesellschaft — und mit ihr mußte sich der Jugendliche im weiteren Verlauf notwendigerweise identifizieren — selbst durchaus das war, was man in der Fachsprache «anal geprägt« nennt.

Dieses von der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung längst überholte patriarchalisch-anale Idealbild, das pünktlichen Gehorsam forderte, wurde dann in der Hitler-Diktatur als traurigabsurde Karikatur seiner selbst wiederbelebt. In der NS-Diktatur herrschte die anale Zwangsordnung — nicht nur in den sadistischen Zerstörungsakten, die sonst nur in den Phantasien von Neurotikern sich finden, die auf der analen Stufe fixiert sind — sie beherrschte vielmehr das ganze System.

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Nun hat aber weder die Auflösung der patriarchalisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnung noch der Zusammenbruch des Hitlerschen Zwangssystems das Verschwinden des jugendlichen Typus mit sich gebracht, der an die Latenzzeit gebunden bleibt. Seine Entstehung ist umfassender konditioniert. Doch scheint sich auch an diesem Typus vieles geändert zu haben und noch zu ändern durch die veränderte Einstellung zum ödipalen Konflikt, der viel offener zum Ausdruck kommen darf und deswegen weniger strikt durch Identifikationen mit den elterlichen Verboten abgewehrt zu werden braucht. Das spiegelt sich auch in der veränderten Einstellung zur Onanie, der nur noch in den seltensten Fällen jene krankmachende oder sündig-verruchte Wirkung zugeschrieben wird, wie es im vergangenen Jahrhundert gang und gäbe war.

So positiv diese Entwicklung ist, so mag doch der fehlende Identifikationszwang in Verbindung mit kontaktschwachen Elternbeziehungen dazu führen, daß der an die Latenzzeit fixierte Typus des Jugendlichen zwar nicht weniger abhängig als der ihm vergleichbare Typus früherer Generationen, auch nicht weniger eingeschränkt in seinen Interessen ist, aber sich doch den Wertvorstellungen seiner Umgebung gegenüber weniger verpflichtet fühlt. Das heißt, seine Über-Ich-Funktionen sind unreifer, oder das, was man sein Gewissen nennt, ist unverbindlicher geblieben. Er bleibt an die Eltern fixiert, mag sie auf kindliche Weise weiter idealisieren, fühlt sich aber zunehmend weniger verpflichtet, ihre Verbote, Wertvorstellungen und Verantwortungen zu übernehmen, ohne daß er deswegen für andere Ideale glaubt kämpfen zu müssen. Die Autorität an sich ist ganz allgemein kein Ideal mehr. Sie ist weitgehend ersetzt durch rasch wechselnde Sieger in Sportkämpfen oder die Matadore des Schaugeschäftes. Deswegen können die Eltern von ihren Kindern auch nur mit verringertem Nachdruck Gehorsam fordern, und es wird immer sinnloser, fraglos zu erwarten, daß die Kinder in der Familie eine hierarchische Ordnung erkennen.

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Eltern und Kind bilden vielmehr häufig eine Gemeinschaft von zwar Gleichberechtigten, aber weniger gleich Verpflichteten. Beide haben Versorgungswünsche. Die Kinder richten diese auf die Eltern, die Eltern vor allem auf den Staat, der natürlich den Bedürfnissen derer, die ihn bilden, angepaßt wird; Staat wird als Versorgungsstaat imaginiert. Die Eltern weisen viele Konsumwünsche ihrer Kinder nicht ab, aus dem schlechten Gewissen, ihnen nicht so viel Zeit und Interesse entgegengebracht zu haben, wie sie hätten erwarten dürfen. Dadurch wird eine Fixierung beider aneinander forciert und prolongiert, und es kommt nicht zu dem die Persönlichkeit erweiternden Ablösungsvorgang, wie ihn Freud für die Ablösungsarbeit in der Trauer so eingehend geschildert hat. Eine Erweiterung der Persönlichkeit im späteren Leben kann allerdings nur dann stattfinden, wenn sich in einer Beziehung die Persönlichkeiten der Partner so weit voneinander unterscheiden, daß die mit einer äußeren Loslösung einhergehende Verinnerlichung dieser Objektbeziehung zu neuen, die Persönlichkeit bereichernden Identifikationen führt.

Wenn heute viel von einer verzögerten geistigen Reifung des Jugendlichen gesprochen wird, hat man vor allem den Typus des Heranwachsenden vor Augen, der, da er die Ideale seiner Väter nicht übernehmen konnte und auch sonst keine ihm verbindlich erscheinenden vorfand, wenig Halt in Identifizierungen gefunden hat und nicht weiß, wem oder welcher Sache gegenüber er überhaupt Verantwortung empfinden soll. Da er sich keine dauerhaften eigenen Wertvorstellungen aufbauen konnte, befindet er sich in einem Zustand innerer Verwirrung, wodurch sein Urteilsvermögen getrübt und ein realitätsgerechtes Handeln erschwert werden. Diese Identifikationsnöte mögen im Ansatz zu jeder Zeit bestanden haben. Sie haben sich aber in der heutigen Zeit quantitativ verstärkt. Sie lassen sich sowohl an der achtlosen Ablehnung oder Verachtung wie auch am Gegenteil, an der angstvollen Abwehr gegen die Tendenzen zur Auflösung bisher bestehender Ideale, ablesen.

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10.  Der Einfluß des Dritten Reiches  

 

Da wir es offenbar mit Idealen sehr verschiedener Herkunft zu tun haben, vor allem in Hinblick auf ihre unbewußte Motivation, lohnt es, einige der noch anerkannten Wertvorstellungen hervorzuheben. Aber bestehen denn überhaupt noch solche unerschütterlichen Ideale? Konnten die bürgerlichen, »anal« determinierten Ideale die Zerstörung durch das NS-System und das Verhalten der Individuen in ihm überleben? Der zwischen 1933 und 1945 erfolgte offizielle Bruch einer mit den anderen Völkern der westlichen Kultur gemeinsamen Wertidentität kann nicht einfach verleugnet werden, indem heute auf Ideale der Vornazizeit zurückgegriffen wird.

Es ist gewiß eine Untersuchung wert, wie sich die verschiedenen Wertvorstellungen der Kriegs- und Nachkriegszeit auf die Identifikationen der Jugendlichen auswirkten, welche Spuren im Charakter sie hinterließen. Das wird die Einstellungen betreffen, die mit politischen oder geistigen Vorbildern zu tun haben.

In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes wurde das Kind frühzeitig aus seiner familiären Identifikation herausgerissen. Werte und Wertvorstellungen des Vaters und der Familie, die nicht mit der neuen Ideologie übereinstimmten, wurden entwertet und verfolgt. Überall verlangen Diktaturen das »Abschwören«, was die Erniedrigung der alten Autorität bezweckt. Der Einbruch eines solchen neuen Wertdiktates bedeutet für die Kontinuität der Identifikationen des Kindes und Jugendlichen mit dem Vatervorbild einen Schock. Der ödipale Konflikt besteht, wie wir schon oben darstellten, darin, daß das Kind den gegengeschlechtlichen Elternteil liebt und den gleichgeschlechtlichen als Rivalen empfindet. Etwa zu Beginn der Schulzeit findet dieser Konflikt mit dem Beginn der Latenzzeit seine vorläufige Beendigung. Nun beginnt das Kind, sich mehr mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, den es ja auch liebt und nicht nur haßt, zu identifizieren. Es erkennt dessen Fähigkeiten, Wertvorstellungen, Gebote und Verbote an, übernimmt in einer Art Vorbereitung auf die definitive Sozialrolle seine Verhaltensweisen und setzt ihn als Vorbild ein.

In Zeiten und unter Einflüssen, die diesen Vorgang stören — im extremen Fall also unter einer totalitären Diktatur —, wird das durch die Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil entstehende Gleichgewicht gestört. Gegen die Verletzlichkeit dieser Identifikation mit dem von der Ideologie abgewerteten Vater setzt das totalitäre System die Fiktion vom allmächtigen und unfehlbaren »Führer«, mit dem als Vater oder großem Bruder sich zu identifizieren der Jugend durch verschiedene Techniken leichtgemacht wird.

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Nun können Neid und vor allem Eifersucht, die immer im Verlauf des ödipalen Konflikts geweckt werden, Zuneigung und Identifikation um so leichter beeinträchtigen, je mehr in der Beziehung zu den Eltern die Rivalitätsaggressionen die Gefühle der Zuneigung überwiegen. Mit dem schlafwandlerischen Geschick des Demagogen machte sich Hitler diese ihm weitgehend unbewußt bleibende Konstellation zunutze, als er sein »Image« als das eines unverheirateten Mannes etablierte, der ausschließlich für sein Volk, das heißt für seine Kinder oder seine Brüder und Schwestern lebte. Eifersucht im Verhältnis zum Vorbild und Ideal des »Führers« wurde dadurch vermieden; jeder einzelne sollte empfinden: Er ist »mein Führer«. Die nach Befriedigung strebenden sexuellen Hingabebedürfnisse passiver Art wurden in mannigfacher Weise gefördert und mit Hilfe der Organisationen, Symbole und Aktionen der Massenverehrung befriedigt, die Wertproblematik durch Identifikation mit einem von der Gesellschaft akzeptierten Helden gelöst.

Die mit dem Führerkult verbundenen Gruppenbildungen wie HJ, BDM etc. entsprachen einem genuinen Bedürfnis der Adoleszenten nach gegenseitiger Identifikation per Gruppe der Gleichaltrigen. Solche wechselseitigen Identifikationen verstärken die Sicherheit der Jugendlichen in der Ablehnung, mindestens Auseinandersetzung mit ihren bisherigen Vorbildern. In der damaligen Zeit pflegte dies zudem mit dem blinden Einverständnis der Eltern einherzugehen. Von einem Massenidol wie Hitler, das die Wertwelt der Eltern weitgehend in den Schatten drängte, um neue Werte zu diktieren, gingen starke Anregungen zu solcher Gruppenidentifikation aus. Die Möglichkeit solcher Beeinflussung junger Menschen wurde im Dritten Reich sehr geschickt manipuliert. Mit der Idealisierung der Person Hitlers wurde zugleich die nationalsozialistische Wertwelt stabilisiert: Wer den Führer verehrt, ist gut. Wer gut ist, kann in der Gruppe, in der alle im gleichen Sinne gut sind, auch verehrt werden.

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Solche übertriebenen, gegenseitigen Idealisierungen können niemals ohne eine Feinderfindung auskommen, weil die innerhalb der Gruppe nicht zugelassenen negativen Gefühle nach außen abgelenkt werden müssen. Auch die fanatische Führerliebe bleibt dem Gesetz der Ambivalenz der Gefühlsbeziehungen unterworfen. Je ekstatischer die Verehrung, desto infernalischer der Haß auf Feinde dieses Führers, die aber in der Phantasie der Anhänger geboren werden. Einige Einzelschicksale Jugendlicher können vielleicht diese Identifikationsnöte mit mehr Anschaulichkeit zeigen.

 

11.  Pubertätsschicksale  

 

Beim Versuch, diese Schicksale während und nach der Nazizeit darzustellen, wird jedoch klar, daß nicht nur der frühzeitige Einbruch einer militanten Ideologie in die Wertwelt dieser Jugendlichen ihre Entwicklung beeinflußt hat, sondern daß auch die Art, wie dieser Einfluß sich auswirkte, eng verflochten war mit den jeweiligen frühen Elternidentifikationen. Die auf so komplizierte Weise ineinander verwobenen Bestandteile dürfen nur behutsam voneinander isoliert werden, auf die Gefahr hin, daß die Darstellung dieses Aspektes der Pubertät das nämliche Moment der Verwirrung behält, das diese Lebensepoche auszeichnet.

Erstes Beispiel: 

Fritz, geboren 1922, Pfarrerssohn, Vater national und wenn auch kein überzeugter Nazi, so doch den Idealen dieser Zeit gegenüber nicht unempfindlich: Er vermochte Goethe, Freiheitskriege und Dolchstoßlegende mit Tausendjährigem Reich und Ostfeldzug ohne Schwierigkeiten zu verschmelzen zum Ideal des die Welt zur Genesung bringenden deutschen Wesens. Eine Mischung von Vateridentifikation und aus Rivalität mit dem Vater stammendem geistigem Vatermord machte es Fritz leicht, sich mit den national-idealistischen selbstverherrlichenden Zügen der Nazis zu identifizieren. Da ihm seine Vaterambivalenz dennoch Schuldgefühle machte und da Haß und Sadismus mit seinen christlichen Identifikationen unvereinbar waren, gelang es ihm nicht, seine Aggressionen ungehemmt zu projizieren: Der menschenvernichtende Antisemitismus der Nazis hielt ihn schließlich von einer Totalidentifikation mit ihnen ab und ermöglichte eine wachsende kritische Distanz ihren Idealen gegenüber. 

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Er behielt aber frühe nationale Identifikationen, ihre Stabilität rührte von der gegenseitigen Idealisierung und Identifikation seiner durch Kriegserlebnisse vereinten Altersgruppe her. Nach einer gewissen Erschütterung durch die Enthüllung der Kriegsverbrechen und Massenmorde verhalf ihm diese außerfamiliäre Gruppenidentifikation, seinen Selbstwert mit Hilfe alter nationaler Wertbegriffe wieder aufzubauen, mochten sie auch noch so abgegriffen und überlebt erscheinen.

Fritz gehört zum Heer jener, die ihre Selbstachtung nur mit Hilfe von Selbstidealisierung erhalten können, einer Selbstidealisierung, die ihre Grundlage in regressiven kindlichen Traditionen hat. Eine zur menschlichen Reifung gehörende Trauer und das Durchstehen des Schmerzes im Abschiednehmen von überlebten oder als wertlos erkannten Idealen und der immer infantilen Selbstidealisierung gelang ihm nicht.

Zweites Beispiel:

Peter, Jahrgang 1927, ist durch die in der Blüte seines ödipalen Konfliktes erfolgte Geburt eines Bruders so beeindruckt und gekränkt worden, daß er sich vom Vater wie von der Mutter innerlich zurückzog und erhebliche Aggressionen entwickelte, die sich in einem wenn auch nur in Andeutungen erkennbaren kriminellen Lebensstil äußerten. Nie wieder wollte er in einem Rivalitätskonflikt der Unterlegene sein — diesen Anschein erweckt er bis zum heutigen Tage. Damit verband sich aber nicht nur eine Abwendung von Vaterfiguren — die er, wenn irgend möglich, vor sich und anderen ironisierte —, sondern auch die Abwendung von den Frauen, im Sinne einer Kontaktstörung seelischer Natur.

Trotz aggressiv geladener Rivalitätsauseinandersetzung erlebte er viele Eigenschaften des Vaters als nachahmenswert, dessen überlegene Verhaltensweise und dessen Angstfreiheit für Peter zu eigenen Idealvorstellungen wurden. Der Vater zeigte wenig Neigung, die Ideale der Nazizeit anzuerkennen — ähnlich abwehrend zeigte sich der Sohn, der es zudem nicht ertragen konnte, daß die Kameraden in der Hitlerjugend sich in der Hierarchie dieser Verbindung ihm gegenüber als überlegen aufführten. Eine Identifikation mit den Naziidealen, soweit sie seine eigene Überlegenheit angriffen, war ihm zuwider. Wieweit das System als Ganzes, solange es siegreich war, nicht doch einen erheblichen Eindruck auf ihn gemacht hat, bleibt dahingestellt: Erfolg als solchen schätzte er hoch. Seine politische Einstellung war sehr ambivalent — einerseits gehörte er gerne zur erfolgreichen Partei, andererseits war es ihm nicht möglich, seine ironische Verachtung ihr gegenüber zu unterdrücken.

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Die bleibende positive Identifikationslinie mit dem Vater ließ ihn das Kriegsende ohne allzu große persönliche Werteinbuße überstehen; da er schon vorher den Naziidealen gegenüber eine ablehnende Haltung eingenommen hatte, entwickelte er nur begrenzte Schuld- und Schamgefühle. Eine völlige Entwertung aller bisherigen Ideale blieb ihm erspart und damit auch die Anstrengung, zu einer eindeutigen Neuorientierung zu gelangen. Er brauchte sich auch nicht in ein entmutigtes Desinteressement oder einen begrenzten Restaurationsversuch, wie Fritz ihn unternahm, zurückzuziehen. Wie in der Nazizeit, in seiner Pubertät also, entwickelte er nach Kriegsende eine ambivalent-konservative Anpassungsbereitschaft, die er zunehmend ironisierte und zugunsten progressiver Tendenzen aufgab.

Wie zu erwarten, waren diejenigen in ihrem Wertgefühl besser daran, die einen Vater hatten, der sich mit der Naziideologie nicht einverstanden erklärte, und die deswegen nach dem Zusammenbruch Deutschlands auf ihre frühe Identifikation mit diesem Vater zurückfallen konnten. Hier fehlt in der Umgebung der tiefgehende Identifikations- und Identitätsbruch, wie ihn etwa auch der opportunistische »Mitläufer«-Vater dem Kind vermitteln mußte.

Die beiden Beispiele zeigen gewisse typische Erlebnisaspekte. Bei dem zuletzt skizzierten Patienten hatte die Rivalität mit dem Vater in einer unbewußten Identifikation mit den starken Nazis eine gefährliche Wendung bekommen. Mit Hilfe sadistischer Verhaltensweisen seine Konkurrenten zu besiegen war ihm, weil die Nazis Taktiken solcher Art propagierten, erlaubt gewesen. Das nur halb verdrängte Wissen um die sadistischen Bedürfnisse in ihm selber ließ ihn ein tiefes unbewußtes Schuldgefühl entwickeln, das in ständigem Konflikt mit seinen Triebbedürfnissen lag.

Drittes Beispiel:

Der Sadismus spielte auch bei Hans, der 1929 geboren wurde, eine große Rolle. Er war einziges Kind, wurde von der Mutter verwöhnt und mädchenhaft erzogen. Mutter »hätte eigentlich etwas Besseres verdient« als den Vater, der von Hans als schwach und unbestimmt empfunden wurde. Die Identifikation mit ihm bot dementsprechend wenig Anreiz, zumal Hans in einer Zeit aufwuchs, in der harte Männlichkeit als Ideal galt. 

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Er selber konnte sich wegen seiner Schüchternheit in der Schule diesem Ideal nicht anpassen und verachtete sich deswegen. Schuld daran, so schien ihm, war sein Vater, der zwar schwach war, aber doch den Naziidealen huldigte. Wegen dieser Schwäche konnte er trotz seiner geheimen Wut dem Vater gegenüber nicht aggressiv werden, da er fürchtete, ihn damit zu tief zu kränken. Heimlich aber verfolgte er Erniedrigungen Schwacher mit Triumph. Trotz Neid- und Haßgefühlen starken Männern gegenüber zeigt Hans nach außen eine unterwürfige Haltung. Ressentiments, Rachegefühle beherrschten ihn und verbanden sich mit einem Allgemeinempfinden der Minderwertigkeit und der Leistungsunfähigkeit. Außer der in der frühen Kindheit erfolgten Identifikation mit der Mutter hinderten ihn seine starke Ambivalenz und das Gefühl der Aussichtslosigkeit, irgendeine eindeutige Identifikation mit weiteren Figuren wie Lehrern, Freunden etc. einzugehen. Der geheime Wunsch, Schwache so zu erniedrigen, wie er sich selbst oft erniedrigt fühlte, blieb die Triebfeder vieler seiner Handlungen. Eine seine Liebesfähigkeit und seine Selbstachtung störende Identifikation mit den sadistischen Verhaltensweisen der Nazis wurde durch diese familiäre Konstellation gefördert. Nie ausgelebte und erprobte Rivalität mit den zu ihr gehörenden Affekten ließ eine unterdrückte Rivalitätsaggression zu einer Dauergestimmtheit werden. Andersgeartete libidinöse Beziehungen konnten daneben kaum Raum gewinnen.

Es ergab sich also folgende Konstellation: Der schwache Vater gab keinen Anreiz zur Identifikation; inzestuöse Liebe zur bewunderten Mutter wurde frühzeitig durch Identifikation mit ihr abgewehrt und ersetzt. Diese feminine Identifikation führte wiederum dazu, daß Hans in der Hitlerjugend Ablehnung erfuhr, mit deren Idealen sich zu identifizieren ihm dadurch erschwert wurde; es blieben ihm die Schadenfreude und die sadistischen Bedürfnisse. Er genoß es, wenn andere Schwache mißhandelt oder wie er erniedrigt wurden, da er sich im Grunde mit seinen Verfolgern identifizierte. Der Zusammenbruch des Dritten Reiches bedeutete dementsprechend für ihn eine erneute Werteinbuße. Unausgetragene Rivalität und fehlendes Wertgefühl ließen ihn abwechselnd depressiv und aggressiv reagieren; die alte Unsicherheit und Ängstlichkeit ließen ihn der neu sich etablierenden Gesellschaft einerseits unterwürfig gegenübertreten, andererseits erlaubte ihm seine erhebliche Intelligenz dadurch eine Realisierung seiner Identifikationen mit dem sadistischen Verfolger, daß er sich gelegentlich durch scharfe, ja beißende Kritik einen Ausgleich schuf.

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Viertes Beispiel: 

Wir haben bisher Identifikationsschwierigkeiten männlicher Adoleszenter beschrieben. Auf welche Weise verwirrten sich die Identifikationen und Werteinstellungen junger Mädchen? Sophie, 1926 geboren, kann einiges davon zeigen. Sie ist in einer mittleren Stadt Süddeutschlands als Tochter eines kleinen Fabrikbesitzers aufgewachsen. Sie war die älteste von drei Geschwistern, ein recht intelligentes, zum Idealisieren neigendes Mädchen, das seine Aggressionen eher durch passive Resistenz und verträumten Rückzug als durch offene Rebellion und bewußte Wut ausdrückte. Ihre Liebe galt insbesondere dem Vater, den sie idealisierte und umwarb. Die dem Außenstehenden offenkundigen Rivalitätsgefühle in der Beziehung zur Mutter waren ihr selbst nicht bewußt. Was sie bewußt empfand, war eher ein Abwerten und eine Verachtung für die kindliche Art der Mutter und deren Anlehnung an den Vater, die Sophie als übertrieben empfand, da sie eine eigenständige Beziehung zu ihr, der Tochter, nicht aufkommen ließ. 

Ihre bewußten Wertvorstellungen holte sie sich wesentlich von der ruhigen, besonnenen und liebevollen Art des Vaters. Als der Vater, ein offenbar gutartiger und zuverlässiger, wenn auch schwacher und autoritätsgläubiger Mensch, sich mit der Nazipartei identifizierte und in ihrer Organisation einen kleineren Führungsposten einnahm, war die Patientin in der Pubertät und übernahm ganz selbstverständlich die mit dem allgemein anerkannten Wertschema in Übereinstimmung stehende Orientierung ihres Vaters. Erst Bekanntschaft und Vergleich mit anderen auch von ihr idealisierten Männern, deren politische Einstellungen mit dem damaligen Regime nicht übereinstimmten, ließen sie am Vater und seinen Wertbegriffen zweifeln. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches erlebte sie erschüttert — und weil so verspätet, besonders empfindlich — die Schwächen ihres Vaters. Diese Erfahrung wurde bestimmend für ihre weitere Einstellung zu Männern, zu Idealen, zu ihrem Selbstwertgefühl. 

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Es blieb die Neigung zum Idealisieren mit dem sicher voraussagbaren Verlauf, daß die so idealisierten Beziehungspersonen eines Tages sie enttäuschten, ihre Schwäche offenbarten, worauf sie in qualvolle Ambivalenz und Unentschiedenheit verfiel: Soll ich ihm trauen, soll ich einen anderen suchen, soll ich bleiben, einerseits verzeihen, andererseits äußere Sicherheit vorziehen? Die grundlegende Bereitschaft zur Begeisterung, in der schon die Enttäuschung im Keim bereitlag und die immer wieder zu »Strohfeuern« führte, unter denen Sophie selber litt, stellte sich automatisch auch neu aufgenommenen Idealvorstellungen, sachlichen Arbeitsgebieten, politischen Einstellungen gegenüber ein. Eine Haltung, die sie trotz Interesse und Begabung von einem tiefer gehenden, Enttäuschungen ertragenden und kontinuierlichen Engagement mit geistigen oder auch politischen Bereichen abhielt.

 

12.  Pubertät und politisches Verhalten  

 

Vielleicht sind es ähnliche aus der Kindheit stammende, in der Pubertät wieder oder auch neu erlebte tiefe und typische Kränkungen der in Identifikationen aufgebauten Wertwelt, die heute dazu beitragen, die Jugend von politischem Engagement abzuhalten, wie es die Untersuchung über »Student und Politik« von Jürgen Habermas1) und anderen so deutlich machte. Eines freilich, wofür unser erstes Beispiel typisch war, darf nicht übersehen werden: Sosehr die Nazis es einerseits ermöglichten, mit dem Vater zu rivalisieren, indem er entwertet und seine Schwäche frühzeitig offenbar gemacht wurde, sosehr ermöglichten sie andererseits den Jugendlichen das Erlebnis eines übersteigerten nationalistischen Wertgefühls. Es könnte sein, daß die Energie dieses Nationalgefühles das Kriegsende noch um einige Jahre zu überdauern vermochte, das Selbstwertgefühl eine Zeitlang aufrechterhielt und zum Beispiel auf die »Europa-Idee« verschoben wurde. Hier bot sich ein unkompromittiertes und tatsächlich progressives Ideal an, mit dessen Verwirklichung Wiedergutmachungshoffnungen verknüpft werden konnten. 

1)  J. Habermas Student und Politik. Neuwied (Luchterhand) 1961.

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Erst als die Erkenntnis der tiefen nationalen Kompromittierung nicht mehr abzuweisen war und zudem die politische Integration Europas verschleppt wurde, schwand die neue Identifikationsbereitschaft, die Lernlust, die geistige Aufgeschlossenheit, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit viel häufiger anzutreffen war als in den darauffolgenden Jahren, und es stellte sich jener psychosoziale »Immobilismus« her, den wir zu Anfang1) beschrieben haben.

Aus vielen Gesprächen mit jener Altersgruppe, die Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre in der Pubertät war, ging hervor, welche Bedeutung dem Lebensalter zuzumessen ist, in dem der nationale und der allgemeine Wertzusammenbruch erkannt und erlebt wurde. Die Gruppe, die noch Wertgefühle aus gemeinsamen Kriegserlebnissen herleiten konnte, auch wenn sie dem Regime nicht begeistert zugestimmt hatte, behielt nicht selten gewisse nationale Identifikationsmöglichkeiten. Diejenigen aber, die am Ende des Krieges vierzehn- bis siebzehnjährig waren, kannten eine solche aus der gegenseitigen Erlebnisidentifikation geborene Wertorientierung nicht mehr und standen den über sie hereinbrechenden Enthüllungen der in der Nazizeit verübten Verbrechen fassungslos gegenüber. Ein auf nationalen Idealen begründbares Wertgefühl ist für die geistig Aufgeschlossenen, Intelligenten und Sensibleren dieser Generation kaum mehr möglich.

Die während der Hitlerzeit geborene Generation, welche während der Kriegsjahre und eventuell noch länger vaterlos aufwuchs, weil der Vater in Kriegsgefangenschaft geraten war, erlebte einen viel tiefer reichenden Zusammenbruch der Werte. Sie war von früh an zur Identifikation mit einem als ideal und unbesiegbar angesehenen Führer angehalten worden, und auch der abwesende Vater erhielt zunächst den Glanz des siegreichen Helden. Und dann ging dieser Führer unter, die Väter kehrten als Besiegte zurück. Eine anziehende, real faßbare Identifikationsmöglichkeit konnten diese Jugendlichen und älteren Kinder zunächst nirgends finden. Soweit sie sich noch nicht in der identifikationsempfindlichen Pubertätsphase befanden, reagierten sie oft mit einer generellen Gleichgültigkeit Idealen gegenüber. Diese Unempfindlichkeit und die Neigung, unbequeme Fakten, für I deren Zustandekommen man keine Verantwortung zu übernehmen bereit war, zu verleugnen (da ja die Identifizierung mit dem Vater als Vorbild so tief gestört war) — diese Apathie in geistig-politischen Fragen also hat sich in der späteren Charakterstruktur dieser Generation erhalten. Sie zeigt sich dann ausschließlich an materiellen Werten interessiert.

1)  Vgl. S. 9, 17 ff 

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Eine Wendung kam erst mit Beginn des Kalten Krieges anfangs der fünfziger Jahre. Die Auseinandersetzung zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten zwang die letzteren dazu, der Bundesrepublik neue, ihr Wertgefühl restituierende Funktionen und Projektionsmöglichkeiten zuzugestehen. Durch ein Aufwerten konservativer bürgerlicher Ideale aus der Vornazizeit wurde ein zerbrechliches Wertgefühl aufgebaut, das fortwährend durch das Wiederauftauchen der durch Affektentzug entwirklichten Nazivergangenheit gefährdet bleibt.

Von 1945 bis Anfang der fünfziger Jahre gab es keine Autorität — für das an Autorität in allen Dingen der Öffentlichkeit so gewohnte Deutschland eine frappante Situation. »Wenn die Söhne sich auflehnen, sind die Väter gemeint, die Welt, die sie repräsentieren, also eine zumindest äußerlich noch intakte Welt. Nach 1945 aber fanden die jungen Männer in Deutschland nur Trümmer vor. Was die Väter geschaffen hatten, war so ungeheuerlich, daß es jeder Anprangerung spottete.«1)

Es gab also niemanden, den man bekämpfen, gegen den man protestieren konnte. Erst als es den konservativen Kräften gelang, den Kalten Krieg zu ihrer neuerlichen Etablierung zu nützen, entstanden wieder Autoritätspositionen, mit denen junge Menschen in Konflikt geraten konnten. Diese Chance wurde freilich bisher nur von einer relativ kleinen Gruppe politisch und geistig Interessierter genutzt (wie die Studentenunruhen in Berlin 1967 zeigten), während die Masse der Jugendlichen nur ein sehr distanziertes Verhältnis zur Politik gewinnen konnte, wenig um eigenes Urteil zu ringen und sich oberflächlich mit den wichtigsten Werten und Tabus der westlichen Zivilisation zu identifizieren scheint. Auch ausgesprochene Gegenidentifikationen, eine betonte Nicht-Anpassung, wie sie extrem die »Gammler« zeigen, können nur einen kleinen Teil der Jugendlichen zu neuen gegenseitigen Identifikationen bewegen.

1)  K. M. Midiel Die sprachlose Intelligenz 1 und 11. Kursbuch 1 und 4. Frankfurt (Suhrkamp) 1965/66.

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Was aber in der Pubertät an geistigen und intellektuellen Interessen im Ansatz nicht erworben wird, pflegt sich später — wie bereits angedeutet — nicht mehr zu entwickeln. Identifikationsmöglichkeit mit einer idealen Person oder Sache auf der einen, der Konflikt mit einer Autorität auf der anderen Seite scheinen für die Entwicklung und Erhaltung der geistigen Interessen des Jugendlichen eine unersetzbare Funktion auszuüben. Nicht selten wird der Autoritätskonflikt verewigt. Das geschieht vor allem in Zeiten, deren Wertsysteme nur Macht, aber keine Überzeugungskraft besitzen und in denen keine neuen Orientierungsmöglichkeiten sich abzeichnen. Von der gleichzeitigen Verewigung einer Fixierung an ein archaisches nährendes Mutterbild haben wir oben schon gesprochen.

Versuchen wir zusammenzufassen: Schon in der Kriegszeit war es nur wenigen Jugendlichen möglich, sich mit einem Vater zu identifizieren. Selbst wenn er gegenwärtig war, war der Vater meistens im Vergleich zu den Naziführern und den Führern der Hitlerjugend ein schwacher Vertreter des bestehenden Wertsystems. Neben dem Führerideal, in dem eine real unbekannte, nur in der Entfernung erlebbare Person angebetet wurde, fand eine gegenseitige Idealisierung in der Gruppe statt. Der bedingungslose Identifikationszwang während der Hitlerzeit zerbrach mit der Niederlage ganz abrupt; und da im totalitären System des Nationalsozialismus der Identifikationszwang nicht ein Problem der Jugendlichen allein, sondern der ganzen Nation gewesen war und sie sich ihm unterworfen hatte, herrschte 1945 ein Wert-Vakuum; daß es eine Revolution oder doch eine Selbstreinigung anstelle der von außen auferlegten Entnazifizierung nicht gegeben hat, ist zugleich ein Symptom dieses Vakuums und seine Folge. 

Es leuchtet ein, daß es in dieser Situation keine Figuren gab, die dem Jugendlichen als Anreiz für eine Idealbildung hätten dienen können. Wohlstand, Kalter Krieg und Regierung durch Männer, die auf die Ideale zurückgriffen, die etwa vor dem Ersten Weltkrieg Gültigkeit hatten, prägten also die Atmosphäre in der Bundesrepublik. Autoritätskonflikte gab es dadurch für die an Problemen interessierten Jugendlichen erneut, allerdings ohne entsprechende wertkritische Gegner, die ihnen zugleich Anreiz und Anregung zu einer Idealbildung gegeben hätten, aus der heraus sich ein Gespräch und neue Wertsysteme hätten entwickeln können.

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Dieser Mangel an wertkritischen Gegnern, unter dem die Jugend so leidet, mag sich über weite Bereiche der sich im Wandel befindlichen westlichen Welt ausdehnen, er steht in unserem Lande aber darüber hinaus in engem Zusammenhang mit unserer jüngsten Geschichte; denn kein anderes entsprechend industrialisiertes Land gebärdet sich auch nur entfernt so konservativ wie gerade die Bundesrepublik. Unter der Oberfläche der scheinbar so gefestigten »Konservativen« entdecken wir jedoch ein Heer von verwirrten Eltern, Lehrern, Politikern etc., die mit ihrer Hilflosigkeit auf diese Weise fertig zu werden versuchen. Es ist verständlich, daß dann dem intelligenten Jugendlichen, zu dessen Entwicklung eine in ihrer einseitigen Rücksichtslosigkeit gewiß oft schwer erträgliche wertkritische Haltung gehört, ängstlich, abwehrend und verurteilend begegnet wird. Das führt zum Dauerkonflikt mit den Intellektuellen überhaupt.

So hat sich im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre eine intellektuelle Minderheit gebildet, die wegen ihres intellektuellen, das heißt den herrschenden Verhältnissen gegenüber kritischen Verhaltens von der weniger kritischen Umwelt als Gruppe empfunden und bezeichnet wird. Da diese Minderheit einer weit größeren konservativen oder reaktionären Gruppe gegenübersteht, welche für Idealbildung hält, was doch nur problemabwehrendes Festhalten an veralteten, oft genug verschwommenen oder sentimentalen Vorstellungen ist, entwickelt sich bei der Minderheit eine Neigung zu permanenten Autoritätskonflikten und gegenseitiger Identifizierung. Diese beiden Gruppen haben geistig kaum einen Einfluß aufeinander. Sie bilden nur jede gegen die andere eine Art affektiver Reibungsfläche, sie lehnen sich gegenseitig ab. Diese Situation sehen wir als Folge einer verhärteten ungelösten Pubertätsproblematik an, einer Problematik, die dadurch entstanden ist, daß die die Autorität vertretende Generation in ihren Wertgefühlen zu tief erschüttert war, um zu einer wertkritischen Auseinandersetzung wirklich fähig zu sein.

Die durch Freud vermittelte Einsicht, daß Moral und Werteinstellungen ohne Kenntnis ihrer unbewußten Inhalte und Motive keine zureichende Beurteilung erfahren können, bleibt der Mehrheit unbekannt oder wird ängstlich verleugnet, um das geschwächte Wertgefühl vor weiteren Erschütterungen zu bewahren. Daß aber das Ende des Zweiten Weltkrieges den Verlust bisher hoch bewerteter Ideale bedeutete, ist offensichtlich.

Für einen großen Teil der Jugendlichen war die Lösung von derart ihres moralischen Wertes beraubten Eltern eine schwierige psychische Leistung, da die Verinnerlichung dieser Eltern, die Identifikation mit ihnen, die das Ergebnis solch schmerzlichen Abschiedes von diesen Figuren der Kindheit zu sein pflegt, keine Stärkung seiner Selbstachtung brachte. Wir meinen deswegen, heute am häufigsten den Typus eines Jugendlichen zu sehen, der das, was wir eine Identifikationsscheu nennen möchten, zeigt.

Er ist insofern ein Gegentypus zum Jugendlichen mit der verlängerten Pubertät und dem verewigten Autoritätskonflikt, als er dessen leidenschaftliche Suche nach neuen Identifikationsmöglichkeiten in keiner Weise teilt. Sein Selbstwertgefühl scheint so labil zu sein, daß er überhaupt vor neuen Einstellungen zurückschreckt, aus dem Empfinden heraus, neue Erkenntnisse könnten ihm nur neue Erniedrigungen bringen. Er neigt zur Regression, er zeigt ein Bedürfnis nach früher sozialer und materieller Sicherung. Er löst sich im Grunde von den Eltern, auch wenn er sie wenig achtet, nicht. Diese Fixierung erschwert und verzögert die Möglichkeit einer lebendigen Beziehungsaufnahme zu Menschen und Dingen der außerfamiliären Welt.

Dem von Bernfeld beschriebenen Typus des Jugendlichen war eine innere Entwicklung durch persönlichkeitsbereichernde Umwege möglich, durch ein intensives Interesse zu Dingen geistig-politischer Natur und durch das, was man als Sachliebe und Problembewußtsein bezeichnet. Viele der Jugendlichen heute versuchen die Lösung von den Eltern und die Wiederherstellung ihres gestörten Selbstwertgefühls nicht sosehr in der Suche nach geistigen Idealen; ihre Objektbindungen sind mehr anklammernder Natur, und ihre identifikatorischen Bedürfnisse verraten die Tendenz zur Herstellung einer primitiven symbiotischen Einheit. Wenn dieser Jugendliche Ideale sucht, fehlt ihm das Unterscheidungsvermögen. Es wird dann, wie es kürzlich Joachim Fest über eine neu gebildete Jugendgruppe »Singout« formulierte, »mit den Idealen der Verstand über Bord geworfen«.

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