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V. Proklamierte und praktizierte Toleranz

 

 

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Gehen wir davon aus, daß die Menschenart eine hochaggressive Spezies ist, dann verwundert es nicht, wie spät und selten Toleranz, Duldsamkeit im Gesamt­verlauf der Geschichte zu bemerken sind.

Toleranz ist in einem von Natur aggressiven Wesen ein Anzeichen hoher Selbstüberwindung. Im sozialen Feld entsprechen deshalb die Merkzeichen des feindseligen oder wenigstens eigensüchtigen Verhaltens der Erwartung; sie geschehen in einem reich verflochtenen Kontakt, der von aggressiv geladenen Verhaltensformen und ihren Rückkoppelungen durchstimmt ist. 

Die relativ junge Rechtfertigung der Aggression durch eine (meist mißverstandene) Theorie, nämlich die Lehre von der Selbsterhaltung der Art, hat die Szene als solche nicht geändert; frühere Zeiten haben sich auf andere Theorien berufen, in denen die eigene Aggression und ihre Abkömmlinge (Verlangen nach Gehorsam, Botmäßigkeit, Tribut etc.) wohlgefällig, womöglich gottwohlgefällig erschienen, die der Partner, Gegner, Feinde aber als unbotmäßig, kurz unberechtigt. Das schlägt sich von den Gesängen der Dichter bis zu den Rechtssprüchen nieder. Die Ungleichheit der Menschen vor dem Gesetz hat eine vitalere und ältere Geschichte als die ihrer Gleichheit.

Eine nur wenig eindringende Untersuchung dieser naiv oder militant vorgetragenen Intoleranz führt rasch zu der Angst, die wie ein nicht abzuschüttelnder Schatten zum Triebkomplex Aggression gehört. Die Verknüpfung von aggressiver Handlung, aggressiver Haltung und Angst ist außerordentlich vielschichtig; entscheidend ist daran, daß beide sich in der Motivation aggressiven Verhaltens vertreten können. 

Triebhaftes Bedürfnis nach aggressiver Entladung und Angst vor dem gleichen Bedürfnis anderer, Gegenaggression unter Lenkung des Gewissens gegen die innere Wahrnehmung aggressiver Impulse — vielerlei derartige Aufspaltungen eines Triebkomplexes in einer differenzierten, instanzenreichen psychischen Organisation verwirren das Bild. Für unsere momentane thematische Abgrenzung genügt es, die Sequenz: aggressiver Triebimpuls — von ihm motivierte Handlung (oder Handlungsphantasie) — Vergeltungsangst (oder phantasierte, vorweggenommene Vergeltung) im Auge zu behalten.

Da die angeborenen arteigenen Mechanismen des Verhaltens nicht ausreichen, um das menschliche Gemeinschaftsleben in seinen libidinösen wie seinen aggressiven Äußerungen zu regulieren, wie das bei den sozial lebenden Tieren der Fall ist, resultiert — wenn man so sagen darf — eine tiefe Rechtsunsicherheit. Sie ist die Folge unserer arthaften Ausstattung. Wir müssen unser ganzes Repertoire des Benehmens mühsam erlernen. Da in uns etwa keine ausreichende angeborene Tötungshemmung gegen Artgenossen wirkt, ist Milde, Duldung ein riskantes Verhalten. Die Abschreckung scheint zweckmäßiger. 

Der langsame Stilwandel der politischen Beziehungen zwischen Ost und West — von der Drohgebärde zu toleranteren Formen des Zusammenlebens — bahnte sich an, als beide Seiten zu der Einsicht neigten, daß sie über annähernd gleiche Kraftpotentiale verfügen; Aggressionsneigungen werden durch die Aussicht auf ein zu großes Vergeltungsrisiko in Schach gehalten. Erst in dieser Situation beginnt so etwas wie ein wechselseitiges Interesse für die Lebenswirklichkeit der anderen Seite sich zu melden. Hinter Klischees, die unter dem Einfluß unserer eigenen eingestandenen oder unbewußt bleibenden Angst und Aggression entstanden sind, beginnen wirklichere Menschen aufzutauchen. Die ersten Anzeichen dieser Toleranz, den Gegner als ein differenziertes Wesen mit spezifischer Problematik zu sehen, sind das Ergebnis der Einsicht, ihn nicht vernichten zu können. Diese schüchtern sich anbahnende west-östliche Toleranz bleibt vielseitig bedroht; sie ist die Frucht des nuklearen Patts.

Wenn wir von Duldsamkeit sprechen, haben wir jedoch noch eine andere und wesentlich prekärere Situation im Sinn: die Toleranz, die der Stärkere dem Schwächeren erweist — ja, die er ihm, wie es unser Grundgesetz mit der Garantie gleicher Glaubens- und Meinungsfreiheit aller vor dem Gesetz tut, rechtlich garantiert.

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Da Proklamationen der Toleranz nur so viel wert sind, wie die Adressaten dieser Erklärung willens und fähig sind, sie zu befolgen, müssen wir untersuchen, was es mit dieser Fähigkeit, tolerant zu handeln, auf sich hat, woher sie in jedem einzelnen eingeschränkt, ganz außer Kraft gesetzt wird und wie sie gestärkt werden könnte. Denn dies wäre in der Tat unsere Überzeugung, zu der wir keine gleichrangige Alternative sehen, daß Toleranz das höhere Rechtsgut einer Gesellschaft ist als die Intoleranz, welche die Freiheit anderer zu vernichten sucht.

Sie ist freilich ein Rechtsgut, das sich wenig auf naturrechtliche Traditionen, überhaupt auf Traditionen im Rechtsdenken berufen kann. Toleranz hat die Fähigkeit unserer psychischen Organisation zur Voraussetzung: auf die Triebgrundlage des eigenen Wesens reflektieren zu können. Die Verständigung über diesen Vorgang bleibt trotzdem schwer. Wenn wir von »reflektieren« sprechen, meinen wir nicht isolierend die abstrakte, logisch überzeugende Einsicht, sondern Einsicht geknüpft an das Gefühl, genauer an ein Mitgefühl, das man gleichermaßen für sich wie für den anderen zu haben imstande ist. 

Diese Reflexion, die Gefühl so unmittelbar in Bewegung bringt, mit ihm korreliert ist wie Schmerz mit erlösender Träne, verändert die Lage, verändert die Haltung, durchbricht den geschehenden Ablauf von aggressiver Aktion und ebensolcher Reaktion, macht Denken in triebbedrängter Lebenslage möglich; diese Einheit von Triebbedürfnis — Reflexion — Mitgefühl muß überhaupt erst verläßlich in sich kommunizieren, ehe so etwas wie »neue Lösungen« in ausgefahrenen Verhaltensgeleisen denkmöglich werden.

Übrigens kann ohne diese psychische Erfahrenseinheit auch der sogenannte »freie Wille«, der im anthropologischen Konzept des Rechtsgebers eine so verhängnisvolle Rolle spielte, nie zum Zuge kommen. Was derart »frei« und von einem Willen abhängig zu sein scheint, erweist sich durch ein haltbares antiaggressives Verhaltensritual bestimmt, dessen Hemmwirkung auch in einer Lebenslage standhält, die unter starker (aggressiver) Triebspannung steht.

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Toleranz ist demnach als Leistung zu definieren, in der es einem psychischen Impulszentrum, und zwar dem einfühlenden Ich, gelingt, die triebhaft aggressive Verhaltensgrundlage eigenartig zu manövrieren. Toleranz entsteht nämlich nicht durch Unterdrückung des aggressiven Triebanteiles, sondern durch Energieentzug. Das aggressive Bedürfnis kann von einem Objekt losgeknüpft werden, dem gegenüber es bisher wie selbstverständlich »auslösbar« war. Das ist die eigentliche, die triebdynamisch gesicherte Voraussetzung, unter der ein verhaßter Mensch für eine Gruppe anderer nicht mehr als Reizobjekt fungieren muß; sondern unter dieser Voraussetzung wird Duldsamkeit zwischen dem Starken und dem Gehaßten, Fremden, Schwachen erst möglich — nicht aus Laune, sondern im Prinzip.

So interessant es ist, Regungen der Toleranz im Spiel weltweiter Politik zu verfolgen — wir müssen uns zwingen, Toleranzschicksalen im Interessenkampf des Alltags auf der Spur zu bleiben. Denn hier wird ohne Zweifel eingeübt, was dann bei der Regelung der Interessen immer größerer Gruppen als politischer Stil in Erscheinung tritt. Wir behalten dabei die politische Verantwortung, die jedermann trägt, die sich nicht nach oben delegieren läßt, im Auge.

Auf das Unabgeschlossene, historisch Begrenzte der sozialen Verhaltensweisen menschlicher Gesellschaften einschließlich ihrer Rechtsnormen und Ideale haben wir schon hingewiesen. Alle Regulative, alle Gesetze sind gesetzt, nicht angeboren. Recht kann übertreten und geändert werden. Diese in unserer Natur begründete Rechtsunsicherheit können auch die jeweilig gültigen Rechtsnormen und die vielfältigen ungeschriebenen Verhaltensnormen der Gruppen nicht ganz beruhigen. Je sicherer es der Erziehung gelingt, ein konstantes konformes Verhalten der Gruppenglieder zu erreichen, desto konfliktfreier verläuft das soziale Zusammenleben. Der Preis bleibt gleichwohl hoch, denn Freiheit und Konformismus sind schwer zu versöhnen.

Die bisherige Geschichte verlief in relativ in sich geschlossenen größeren und kleineren Gruppen, die ihre Identität — vom Verhaltensstil bis zu den religiösen Bekenntnissen — nach innen, in der Tendenz der Abschließung, formten. Erst in neuester Zeit bilden sich Verhaltensformen von allgemeiner Verbindlichkeit heraus, die etwa in der Deklaration der Menschenrechte ihren ersten Kodex gefunden haben, die aber auch an so weltlichen Phänomenen wie global sich ausbreitendem Konsumverhalten abzulesen sind.

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So groß die Mannigfaltigkeit der Gruppenstile, denen wir in Geschichte und Gegenwart begegnen, auch ist, alle haben die gleiche Aufgabe zu bewältigen: ein in seinen Verhaltensäußerungen nicht artspezifisch festgelegtes Wesen zu sozialisieren. Das heißt, sie müssen das Triebverlangen, die vitalen Antriebskräfte des Individuums, in »Ordnung« bringen, und zwar in die spezifische Ordnung der jeweiligen mitmenschlichen Umwelt. Das verlangt Triebverzicht, Einbuße an Befriedigung vital vorgezeichneter Bedürfnisse. Das Kollektiv, das dem schutzbedürftigen Einzelwesen das Leben erst ermöglicht, wird so auch zu seinem Feind. Es ist eine späte Norm, die Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln — denn von Natur werden sie durchaus ungleich geboren. So siegte lange das Sonderinteresse des Stärkeren und schlug sich im Gesetz nieder. Die Ungleichheit vor dem Gesetz — sagten wir — ist die ältere Regel, und von ihr wird das Ausmaß der Triebversagungen in ihren Abstufungen diktiert.

Doch an dieser Stelle schiebt sich langsam eine Einsicht vor: Wo Menschen Grundrechte, Grundfreiheiten der Entscheidung vorenthalten werden, muß Intoleranz am Werke sein. Das Argument, das die Ungleichheit vor dem Gesetz als den maßstabgenauen Reflex der natürlichen Ungleichheit hinstellen will, verliert seine Überzeugungskraft. Wir beginnen klar zu sehen: Intoleranz fußt auf der Verteidigung von Vorrechten, die Lust versprechen — von den primitiven Formen aggressiver Triebbefriedigung bis hin zur Gewißheit, von Gott auserwählt zu sein. Eine These wäre demnach: Intolerantes Verhalten wurzelt in der Aussicht auf ein Mehr an Triebbefriedigung und auf einer Minderung der Angst durch höheres Prestige in der Gesellschaft als ganzer. Ist ein solches Sozialsystem verbriefter Ungleichheit einmal traditionell gesichert, so hat das einen weitreichenden Einfluß nicht nur auf die Privilegierten, sondern ebenso, spiegelbildlich, auf die Unterprivilegierten einer solchen Gesellschaft. Vor unseren Augen spielt sich das Ringen zwischen Toleranz und Intoleranz im Kampf um die Aufhebung der Rassentrennung in den amerikanischen Südstaaten ab. 

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»Zu den Folgen der absoluten Segregation«, schreibt F. G. Friedmann1) in einem Essay über Schwarz-weißes Amerika,

»gehörte seitens der Weißen die Fiktion, daß es sich dabei um Gewohnheitsrecht oder althergebrachte Sitten handelt, und für den Neger die Notwendigkeit absoluter Anpassung ... sich jederzeit so zu verhalten, wie es der Weiße erwartete. Und das bedeutete nicht nur, die eigene Individualität zu verbergen, sondern sie in eine Maske zu stecken, die sich der Weiße aus stereotypen Vorstellungen und Mythen, die zur Beruhigung seines Gewissens dienen, für den Neger geschaffen hatte.« 

Allezeit hat es zu den zugkräftigsten Argumenten der intoleranten Verteidiger sozialer Vorrechte gehört, auf die »Normunwürde«, auf die »Minder­wertigkeit« des Unterdrückten hinzuweisen; jetzt entlarvt sich die Deformation der Schwächeren als das Produkt der Unterdrückung und nicht, wie vorgetäuscht, als ein Merkmal der Natur.

Verschweigen wir an dieser Stelle nicht, daß auch die oft grausame, achtlos grausame Vorherrschaft der Eltern über ihre Kinder unsere These stützt, daß hier der Stärkere seine Intoleranz dem Schwächeren gegenüber genießt. Quod licet Jovi, non licet bovi, heißt es da — was Jupiter geziemt, geziemt nicht dem Ochsen; es geht aber gar nicht um Ochsen oder Götter, sondern um Menschen, schwächere freilich und stärkere.

Die Motive zu intolerantem Verhalten lassen sich also in der Richtung der aggressiven Triebnatur aufspüren; von hier bezieht dieses Verhalten seine Kraft. Umgekehrt: Der Rückhalt, den die Toleranz findet, liegt im kritischen Einsichtsvermögen. Dieses Feld zu beschreiben ist ungleich schwerer. Denn wir dürfen uns nicht dem gerne gehegten Glauben überlassen, kritische Bewußtheit sei etwas ziemlich Freischwebendes, abgehoben von den übrigen seelischen und leiblichen Vorgängen. Soweit sich unser kritisches Vermögen jedenfalls auf Selbsterkenntnis erstreckt, bleibt es eine Fähigkeit, die von Affekten eng umklammert ist und von diesen nicht wenig Bedrängnis zu erleiden hat. 

Auch der Intolerante denkt — meint kritisch, beweiskräftig zu denken, wenn er etwa auf den Jahrhunderte gettoisierten Juden verweist und von diesem Bild eines mißhandelten und unterdrückten Volkes seine rassische Überlegenheit herleitet. Aber es fehlt seinem einstufenden Blick jene Reflexion, von der wir oben sprachen und die fragen kann, warum mich dieser Mensch abstößt — um von da aus zum Mitgefühl, zur Einfühlung fortzuschreiten. 

1)  Merkur, 189, November 1963.

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Unser Bewußtsein, speziell unser Bewußtsein von uns selbst, wird oft uneingestanden zum Handlanger jener Triebbedürfnisse erniedrigt, die es längst überwunden zu haben sich einredet. In der Aufklärung ging der Glaube an die Vernunft zuweilen ein Bündnis mit der absolutistischen Unfehlbarkeitsidee ein. So erließ 1781 der Habsburger Joseph II. ein Toleranzpatent für die in seiner Monarchie lebenden Protestanten; die volle Gleichberechtigung erhielten sie freilich erst achtzig Jahre später, 1861. Immerhin, Bürgerrechte und die Erlaubnis, eigene Gottesdienste abzuhalten, wurden ihnen gewährt — jedoch nur mit der Einschränkung, daß ihre Bethäuser keine Kirchtürme und Glocken besitzen und daß sie ihre Eingänge nicht in einer Hauptstraße haben durften. Es ist uns diese Auflage kaum noch verständlich. (Nebenbei: Ist es uns noch verständlich, daß man Bürger unseres und anderer Länder zwang, einen Judenstern zu tragen?) Wem fällt so etwas ein — und warum gerade das? Auch der aufgeklärte Fürst, dessen Prestige unerschüttert ist, kann sich bei aller edlen Absicht nicht überwinden, der ihm fremden Religion den Zugang von der Hauptstraße zu gestatten. Der Fremde, Ketzerische ist wenigstens ein Stück weit abseitszuhalten.

Die Hartnäckigkeit, mit der Vernunft von Zwängen beeinflußt wird, die nicht von ihr vorgeschrieben sind, mischt sich selbst dort noch ein, wo Freiheit proklamiert wird. Wie die Impulse der Aufklärung nicht wegen der Machtvollkommenheit unbeschränkter Herrscher in vielen Ansätzen verlorengingen, sondern weil sie auf kein adäquates kritisches Bewußtsein, auf keine Toleranzfähigkeit bei den Zeitgenossen trafen, so ergeht es auch uns zweihundert Jahre später. Wir haben eine von der Verfassung garantierte weitgehende Trennung von Kirche und Staat; und trotzdem hat sich in der Praxis der Ämterbesetzung ein konfessionelles Proporzdenken eingebürgert, das stracks der Idee unserer Verfassung zuwiderläuft. Nicht der beste verfügbare Mann an den verantwortlichen Platz, sondern den ersten Anspruch hat die Glaubensgenossenschaft. Kirche und Parteien sind stärker als der Geist der Verfassungsväter.

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Und doch hat Toleranz keinen anderen Helfer als die Gabe zur Einsicht und zur Einfühlung, die von Einsicht gelenkt ist. Die praktizierte Toleranz ist also gerade nicht unvernünftige Duldung, sondern die Vereinigung von Scharfsinn und Großmut. Großmut, weil die Vielgestaltigkeit menschlicher Ordnungen nicht verleugnet, sondern erlebt und anerkannt wird; Scharfsinn, weil erst der Blick über das hinaus, was wir unsere Ideale nennen, uns neue Erkenntnis über uns selbst erlaubt. Von Toleranz kann gar nicht ohne die Einsicht gesprochen werden, daß es zu meiner eigenen Überzeugung auch gültige gleichwertige Alternativen gibt. Je mehr mich meine Überzeugung auf Intoleranz verpflichtet, desto ungleichgewichtiger wird mein Weltbild; je höher ich mich rangiere, desto tiefer fallen die anderen.

Doch wir nähern uns einem Dilemma, einem großen Argument der Feinde der Toleranz. »Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurteilen — Ideale geringerer Wesen, als er ist.« So heißt es bei Nietzsche,1) und er fährt in dieser Notiz aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft fort: »Somit ist Toleranz, historischer Sinn, sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben.« Hier, sagt der Gläubige, sagt der Nationalist, hier ist es ausgesprochen: Toleranz zersetzt unsere Ideale, unsere heiligsten Güter!

So ist es, antwortet der Verfechter der Toleranz und fragt weiter: Aber gibt es das, Heiligtümer, die aus der Erniedrigung der anderen ihren Rang erhalten? Soll es solche Ideale weiter geben? Wenn also Toleranz — und dies wäre eine andere These —, wie Nietzsche sagt, einen »Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal« einschließt, so kann dieses Mißtrauen doch nur der Ausdruck des Scharfsinnes sein, der mich einer Ungleichgewichtigkeit, einer ungerechtfertigten Abwertung des fremden und einer Überschätzung des eigenen Wesens ansichtig werden läßt. Mein Ideal hatte mir ein statisches System vorgetäuscht, in dem ich und meinesgleichen gesichert die höchste Stelle einnehmen. Das gerät in Zweifel — nicht gerät in Zweifel, daß ich meinen Idealen mit Liebe anhängen darf, sondern daß ich sie hegen könnte, weil sie mich privilegieren. Das und nichts sonst ist zweifelhaft. Mit einem, man darf sagen, atemberaubenden Mut begreift der große Psychologe das Problem in seinem Kern. Das Ideal setzt die Denkhemmung als Schutz privilegierter Befriedigungen, mögen diese Sondergenüsse real, mögen sie fiktiv sein. 

1)  F. Nietzsche Unschuld des Werdens, Band II. Stuttgart (Kröner) o. J., 181.

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Mein Ideal läßt die Alternative nicht zu, erlaubt nicht die duldende Hinnahme des Fremdartigen, schon gar nicht des Schwächeren oder Kranken als eines Gleichwertigen; denn alles Fremde bedroht diese Art von Selbstideal. Eine seiner Funktionen tritt deutlich hervor: Es ist gegen die Lebensansprüche fremden Menschseins errichtet, und es usurpiert die Macht, Zweifel zu ersticken — Zweifel an der Gerechtigkeit, die ich übe, Zweifel, die aus der Geschichte auf mich zukämen, wenn es mich nicht schützte. Homosexualität zum Beispiel hat vor dem Ideal, das sich der deutsche Gesetzgeber vom Menschen macht, keinen tolerablen Raum; sie ist widerwärtig, schändlich, schädlich, verbrecherisch. Und so zeigt ihm sein Ideal die Maske des Homosexuellen. Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, daß Kulturen und Nationen, die ihn dulden, nicht untergegangen sind wie Sodom und Gomorrha. Unser französischer Nachbar ist hier seit langem toleranter. Die ihm angedichtete Decadence ist unversehens durch Kinderreichtum widerlegt worden. Der Entwurf zu unserem neuen Strafgesetzbuch lehrt uns, daß wir die Alternative nicht zu tolerieren gedenken; es bleibt bei dem, was wir »Gerechtigkeit«, unsere Gerechtigkeit nennen.

Das aus dem Gruppengeist und seiner Tradition übermittelte Eigen-Ideal ist etwas, woran ich mich halte; es leitet mich und hilft mit, Angst zu vermeiden, solange ich zu ihm stehe. Es gibt mir Selbstgefühl. Aber daneben haben wir auch »historischen Sinn«; die objektive Alternative, daß es mehrere Formen des Glücksstrebens und der Rechtgläubigkeit gibt — und noch viel mehr gab —, geistert uns durch den Sinn. Es gibt jedoch noch eine zweite Ebene der Entscheidung: Innere Alternativen bedrängen uns. Mehrere Vorbilder haben ihre Erinnerungsspur in uns hinterlassen, mehrere innere Stimmen wollen zugleich gehört werden. Wir stehen immer wieder im Konflikt mit uns selbst; widersprüchliche Verhaltensmuster liegen für die gleiche Situation bereit. Nur selten ist eine Sache klar, ein Konflikt eindeutig vorgeschlichtet. Mein Vordermann verliert sein Portemonnaie, ich gebe es zurück. Der Stimmentausch: behalten — zurückgeben pflegt kurz zu sein. Und wenn die falsche Stimme siegt, haben wir wenig Grund, der Sache nach tolerant zu sein. Ehrlichkeit ist ein Ideal, zu dem es keine überzeugende Alternative gibt. 

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Aber auch die Ehrlichkeit haben wir mühsam gelernt, als Kinder haben wir alle gestohlen, vielleicht noch hier und da sogar als Jugendliche, und zahlreiche Erwachsene nehmen es immerhin nicht sehr genau mit dieser Tugend. Trotzdem entsteht kein Toleranzproblem, weil die Respektierung des Eigentums der anderen einer gemeinsamen Überzeugung aller entspricht. Hier hat Einfühlung in das Recht jedes Individuums auf Besitz einen von Konflikten relativ freien Überzeugungsraum geschaffen. Aber er ist doch nur sehr begrenzt, wie die großen sozialen Revolutionen seit der französischen von 1789 zeigen. Denn auch Besitzfreiheit läßt sich mißbrauchen wie jede andere Freiheit. Dennoch bleiben wir bei diesem unbezweifelten Recht zur persönlichen Habe. Es beruht auf der Einfühlung, die im anderen ein Wesen ähnlicher Bedürfnisse sieht, die ich von ihm bei mir auch geachtet zu sehen wünsche.

Aber trifft unsere Ableitung zu, daß wir Eigenterritorium und Eigenart der Mitmenschen aus Einsicht respektieren und tolerieren, so geschieht dies doch nur im besten Fall, auf der Endstufe der sozialen Anpassung, die mir Einfühlung erlaubt. Meist sieht die Motivation zu sozial konformem Verhalten ganz anders aus: Die Einsicht reicht nur bis zur Strafe, die auf Verbotenem ruht. Die Abschreckung wirkt, von Einfühlung ist keine Spur. Das ist die infantile Stufe des Lernens sozialer Regeln. Von vielen Menschen wird sie nie überschritten. In der Vorstellung eines belohnenden und strafenden Gottes bildet sich diese Bewußtseinsstufe institutionalisiert ab. Weshalb immer noch Gelegenheit, d. h. die ; Chance, ohne Sanktionen davonzukommen, Diebe in Mengen macht. Der Egoismus ist nur in Situationen, die ihm Gefahr bringen, gezügelt; die Forderung des Triebwunsches (z. B. mich auf Kosten des anderen zu bereichern) wirkt am Ich vorbei auf das Verhalten ein. Er beugt sich nur der stärkeren, strafenden Hand. Die Moral ist keine innere, keine dem Ich eigene Funktion, sondern ein Zwangsjackett.

Fügen wir — um den Kontrast zu vertiefen — noch eines zur Charakterisierung praktizierter Intoleranz an: Jeder Wesensanteil der Person, der nur unter äußerem Druck angepaßt, sozial konform sich verhält, muß zugleich Ressentiments stabilisieren. Da sich solches Ressentiment nur gegen Strafdruck von außen und Gewissensdruck von innen Befriedigung verschaffen kann, sucht es sich an Gruppenfremden zu stillen. 

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Sie sind nicht gleichermaßen moralisch geschützt; und wenn das eigene Gruppendenken noch ein wenig nachhilft, sie von ihrem Wesen entfremdet sehen zu können, wenn sie hinter der Maske kollektiver Vorurteile verschwinden, dann hat es ihnen gegenüber der auf Sättigung drängende unterdrückte aggressive Triebwunsch ungemein leichter. Es winkt ihm die Aussicht, daß er ohne nennenswerte Gewissenskonflikte zum Zuge kommt; und das sind doch die Augenblicke in der Geschichte, in denen Intoleranz in großem Stile sich ereignet. So war die Lage in Deutschland bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Die ressentimentgeladene, entwürdigende Verfremdung der verschiedenen zu Beuteobjekten ausersehenen Gruppen war vollendet. Die Welt wimmelte von dekadenten Franzosen, perfiden, auf ihren Profit bedachten Engländern, plutokratischen Amerikanern, russisch-jüdisch-polnischen Untermenschen.

Jetzt konnte die Tat, von Skrupeln unbelastet, folgen. Wobei zu beachten ist, daß diesem Vorgang der zweckvollen Entstellung von Fremdgruppen die überwiegende Zahl der Mitglieder der nationalen Eigengruppe erlag. Es geht nicht um Anklage, sondern um Einsicht; diese nämlich, daß hohe Fachbildung, langes Studium etwa, nicht davor schützten, den Erlebnisverzerrungen bis hin zur wahnhaften Wirklichkeitsentstellung zu verfallen. Das Entscheidende bleibt für jede Einzelperson, wie Ich-fremd, wie unzugänglich für kritische Selbstbeobachtung während der Sozialanpassung die eigenen unterdrückten Triebanteile geblieben sind. Unbemerkt von Selbsteinsicht wirken sie kräftig an unserem Verhalten mit. Die untereinander kreishaft verbundene Trias Triebbedürfnis — Reflexion — Einfühlung, Mitgefühl kommt nicht zustande.

Das Geschehen verläuft auf der Ebene ritualisierter Unmündigkeit: hier Triebbedürfnis — dort bedürfnisbefriedigendes und sozial erlaubtes Objekt, das die Befriedigung garantiert. Der die Reflexion einschließende Vorgang verlangt notwendig dialektisches Denken. Anders der Kurzschluß zur Intoleranz; er ist eine äußere oder innere Befehlsanweisung (oder beides). Offenbar hatte die Erziehungspraxis, die wir üben, auf allen Ebenen diese Selbstentfremdung durch ein Leben in permanentem Befehlsgehorsam bewirkt. Die Klischeemaskierung der Feinde paßt zu dieser Selbstentfremdung wie der Schlüssel zum Schloß.

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In Lagen wie dieser ist der Gegenpol zum toleranten Verhalten bezogen. Die Position der Intoleranz ist durch das massenhafte Unisono befestigt. Diese Analyse verhilft uns aber, so deprimierend sie stimmt, doch zu Einsichten: Je mehr uns unversöhnliche Unterdrückung und Entwürdigung in unserer eigenen Lebensgeschichte widerfahren sind, desto haßvollere Neigungen müssen uns bis tief in die unbewußten Teile unseres Charakters beherrschen — kurz, je mehr Erziehung durch lieblose, einsichtslose Repression, desto weniger Neigung und Fähigkeit zur Toleranz. Je weniger Toleranzerfahrung, desto weniger Wissen um die Wirklichkeit, desto mehr Wirklichkeitsvermeidung auch durch Idealisierung, nicht nur durch Verketzerung, und konsequenterweise desto weniger Bedenken, den anderen, der nicht nur ein Fremder bleibt, der zum Kaum-noch-Menschen sich erniedrigt sieht, intolerant und ohne Einhalt des Gewissens zu malträtieren.

Ein Teufelskreis der Bedingungen, die der Entwicklung des kritischen Menschenverstandes noch deshalb so nachdrücklich entgegenwirken können, weil eben die sogenannten »Ideale« mit im Spiele sind. Es verlangt schon Wahrheitsmut, wie Nietzsche ihn bewies, den Zusammenhang von Toleranz und Zweifel an den Idealen zu sehen und dies auszusprechen. Denn wer an den Idealen mäkelt, wer das Eigenstereotyp angreift, rückt selbsttätig in die Rolle des Feindes; Ketzer zu sein, Feind, ist das Gefährlichste in intoleranten Zeiten.

Toleranz gehört also noch lange nicht zu jener selbstverständlichen Sozialanpassung, die es den meisten von uns nicht allzu schwer macht, einen einsamen Passanten nicht zu überfallen, um ihm die Barschaft zu rauben. Wir vergessen bei diesen Selbstverständlichkeiten leicht, daß solch zivilisiertes Verhalten eine Leistung darstellt, daß wir, wie Freud einmal sagt, von einer langen Reihe von Mördern abstammen. Tolerant zu sein, wo meine Überzeugung, meine »Ideale« herausgefordert werden, ist eine Leistung geblieben, dazu noch eine, die des Widerspruchs, womöglich eines wütend intoleranten, gewiß sein kann. »Wo kämen wir da hin?« heißt es dann. Und doch scheint sich die politische Verantwortung eines jeden dort zu verdichten, wo es um die Probe auf dieses Exempel geht. Wo kommen wir mit weniger Intoleranz, mit mehr Toleranz hin? Dabei muß freilich zunächst mit Scharfsinn geklärt werden, wo überall wir intolerant sein können, ohne dessen bewußt zu sein.

Es war der ehrenwerte, aber zu optimistische Irrtum der großen Aufklärer, Toleranz ließe sich allein aus einem Beweis der Vernunft herleiten, proklamieren und praktizieren. Toleranz hat ältere Feinde; nicht nur in der Intoleranz der anderen, sondern ebenso im ungeschlichteten Haß wegen der Verzichte, die wir selbst nicht verzeihen können und die wir in starre Selbstgewißheit verwandeln. Weil wir über diese Schwelle so schwer hinwegkommen, geht es so langsam voran mit der Toleranz in der Welt. 

Immerhin, großmütige Geister haben sie proklamiert. 

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Proklamierte und praktizierte Toleranz