VII.
Änderungen im Wesen politischer Autorität
Vorbemerkung
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Die folgenden Gedanken stellen einen der möglichen Interpretationsversuche des Phänomens »politische Autorität« dar, einen Versuch mit Hilfe der Psychoanalyse. Der Psychoanalytiker hat naturgemäß neben seiner eigenen Lebenserfahrung die meisten seiner Aufschlüsse über menschliches Verhalten aus der Behandlung seiner Patienten erhalten. Sie sind für ihn Stichproben, an denen er eigentümliche Verhaltenszüge seiner Zeitgenossen untersucht. An ihnen erfährt er, worunter sie leiden, welche Probleme sie gut und welche sie notdürftig lösen; wo sie sich relativ souverän und wo sie sich ohnmächtig fühlen.
Dabei ist zuzugeben, daß diese Stichproben des Analytikers (auch wenn er sich, wie der Autor, in einer ökonomisch unabhängigen Forschungsposition befindet) nicht durchaus nach Zufallsgesichtspunkten zustande kommen. Die Patienten, die eine Behandlung suchen, leiden und wollen kuriert sein. Das muß aber nicht ausschließlich so aufgefaßt werden, als offenbare sich hier nur Pathologisches.1) Die Patienten bieten vielmehr eine sensitivere Auswahl sogenannter normaler Reaktionen. So haben wir auch gelernt, einzusehen, daß es falsch ist, zwischen organischen und nicht-organischen, ergo seelisch bedingten Krankheiten zu unterscheiden — auch organische Störungen können entscheidend seelisch motiviert sein.
Ebenso wissen wir heute, daß man die Mehrheit der Kranken nicht nur als eine Gruppe auffassen darf, die zunächst durch vermehrte Anpassungsprobleme charakterisiert wäre, etwa im Sinne der »Ambivalenten« in der Typologie von Robert Presthus.2)
1) »Aus dem Studium der Neurosen, denen wir doch die wertvollsten Winke zum Verständnis des Normalen danken ...« (S. Freud, Ges. Werke XIV, 494.)
2) R. Presthus The Organizational Society. New York 1962. Deutsch: Individuum und Organisation. Frankfurt 1966.
Es kann nicht sein Bewenden dabei haben, sie als negative Auslese einzuschätzen. Die Trennung zwischen individueller Krankheit und sozialem Gefüge hat sich ebenso wie die zwischen organisch und psychogen als eine willkürliche Abgrenzung erwiesen. Denn wenn man die Symptome der Patienten zu lesen versteht, spiegeln sie die charakteristischen Entbehrungen oder Belastungen wider, die in ihrer Gesellschaft weit verbreitet sind.1) Es ist möglich, daß sie heftiger reagierten als andere Individuen; es kann aber auch sein, daß sie unter ungewöhnlich starker Belastung, aber eben unter einer typischen, zu leben gezwungen waren, worauf sie dann pathologisch reagierten. Jedenfalls hat uns unsere Erfahrung gelehrt, daß viele unter psychischem Stress Erkrankte charakteristische Entbehrungen sensitiver beantworteten als die große Zahl. Das wird für sie subjektiv ein Problem darstellen, für unsere Überlegungen bieten diese Kranken jedoch die Möglichkeit, Zusammenhänge zu verfolgen, die in solcher Subtilität durch Experimentalmethoden der Verhaltensforschung prinzipiell nicht erreichbar sind.
Außerdem steckt in der sogenannten Normalität eine Menge psychopathologischer Reaktionen, welche jedoch von der Zeitströmung sanktioniert werden. Viele solche Verhaltenszüge, die man als Psychoanalytiker während der Behandlung seiner Kranken zu beobachten Gelegenheit hat, haben keine direkte pathogene Bedeutung. Sie sind sozusagen Nebenbefunde, aber sie lassen sich in ihrer Herkunft manchmal recht gut verfolgen, besser, als es im Rahmen eines bloß ökonomischen oder moralischen Beurteilungszusammenhanges möglich wäre. Wir fanden jedenfalls bei unseren Kranken viel weniger Fälle, die man als extreme konstitutionelle Varianten (im klassischen Sprachgebrauch zum Beispiel Psychopathen) und damit kasuistische Sonderfälle bezeichnen könnte, als solche, die häufig wiederkehrende und durch die gesamtgesellschaftlichen Lebensbedingungen motivierte Konflikte boten.
1) G. Thomson hat das reziproke Verhältnis zwischen Patienten und ihrer Gesellschaft sehr deutlich formuliert. Die meisten Psychologen seien der Auffassung, daß die Fehlanpassung ein Versagen des Individuums vor den Aufgaben seiner Gesellschaft sei; das Individuum müsse an die Gesellschaft besser angepaßt werden, darin bestehe die Therapie. Würde man aber die der Psychoanalyse zugrunde liegenden Hypothesen auf die Gesellschaft als ganze anwenden, dann müßten auch die Gesetze, welche diese Gesellschaft lenken, untersucht werden, mit dem Blick darauf, wie sie an die Patienten anzupassen seien. »Der Psychoanalytiker würde dann zum Revolutionär.« (George Thomson Aeschylus and Athens. London 1941, 383.)
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Wir sollten nicht vergessen, daß die Gesellschaft immer auch den pathogenen Aspekt bietet. Sie zwingt zur Anpassung, was häufig gleichlautend ist mit: sie zwingt zur pathologischen, weil entfremdenden Verhaltensweise. Es stellt sich dabei die Frage immer wieder: Warum machen die Individuen ihre Gesellschaft so, daß sie an den von ihnen aufgebauten Einrichtungen erkranken müssen? Vielleicht ist dies eine übertrieben formulierte Frage, sie zielt auf die unsere Geschichte in Gang haltende Unruhe.
Dies soll klarstellen, daß die folgenden Überlegungen sich auf klinische Beobachtungen stützen, sie sind fallorientiert und beruhen nicht auf Experimenten. So kann man ihnen auch keine statistische Beweiskraft zubilligen; manches ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einfach durch empirische Methoden, sondern nur durch das gleiche Verfahren, eben die psychoanalytische Methode, nachprüfbar. Es scheint aber berechtigt, daß wir uns kritisch beobachtend auch für solche Verhaltensweisen interessieren, die sich nicht sofort mit differentiellen psychologischen Methoden zerlegen lassen.
Der Wunsch, geheilt zu werden, motiviert den Patienten zu Beobachtungen, denen man sich gewöhnlich nicht anbequemt, weil sie dem Selbstwertgefühl zunächst zusetzen. Die Therapie gelingt aber nur, wenn für den Patienten mehr von seinen Motivationen sichtbar wird, als er bisher über sich selbst zu erfahren in der Lage war. Auf dem Wege dieses therapeutischen Prozesses werden dann ungleich vielfältigere und verborgene Verhaltensweisen sichtbar, als der Experimentalforschung in ihrem notwendigerweise begrenzten Ansatz zugänglich werden können. Die Beobachtungen während der Behandlung bringen sehr viele spezifische und für Alters-, politische, religiöse oder Berufsgruppen charakteristische Stereotype der Einstellung und Wertung zutage; aber daneben verschwindet das Individuum nicht, das sich so ausdrückt und versteckt. Deshalb ist diese psychiatrische Befunderhebung auch für den Politologen von Informationswert.
Die Darstellungsweise muß vielfach skizzenhaft bleiben. Zuweilen schweift sie trotzdem ab. Das Ziel der Bemühung war nicht eine stromlinienförmige Darstellung, vielmehr sollten die vielschichtigen Verknüpfungen psychischer Prozesse durch die Art der Mitteilung nicht gänzlich abgedeckt und dann der Lindruck erweckt werden, als sprächen wir von relativ einfachen Bedingungszusammenhängen.
Der theoretische Bezugsrahmen ist der der psychoanalytischen Sozialpsychologie, insbesondere die klassisch gebliebene Arbeit Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse.
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1.
Die Definition der politischen Autorität, die wir zugrunde legen, zielt auf die Realität der Macht: Autorität hat, wer in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen und dann andere zu veranlassen, nach ihnen zu handeln. Diese Autorität stellt hinsichtlich des sozialen Verhaltens ein Rangverhältnis her. Damit haben wir eine ethologische Begriffsauslegung getroffen. Sie reicht, so ist zu hoffen, für die Absicht der Untersuchung aus.
Als nächstes ist zu klären, ob politische Autorität mit einem selbständigen Ausdrucksmuster im gesellschaftlichen Raum vertreten ist und inwieweit sie sich die Darstellungsweise anderer Autoritäten zunutze macht. Es werden einige gegenwärtig zu beobachtende Beispiele in ihrer Anlehnung an geläufige Formen des Ausdrucks von Herrschaft genannt. Dabei ist noch einzufügen, daß zwischen zeitgenössisch ausgeübten und zeitgemäßen politischen Autoritätsformen zu unterscheiden ist. Zeitgenössisches kann auch ein (gewollter) Anachronismus sein. Was wirklich in der Linie der Zwänge liegt, welche die objektiven Gegebenheiten im sozialen Feld ausüben, wird uns nur allmählich erkennbar. Ein Blick auf Charles de Gaulle, wie er mit ausgebreiteten Armen die Akklamation der Menge provoziert und erwidert, belehrt uns, daß er politische Autorität, in die Nähe der religiösen gerückt, zelebrieren will. Bleibt hier »Gloire« mit Rationalität im Bunde, so ruhte und ruhen Hitlers, Nassers und vergleichbarer »Führer« Wirkung auf der Regression zur Dämonologie, das heißt zu den von Rationalität sich abkehrenden Allmachtsphantasien. Gemeinsam ist ihnen, daß sie sich im Sinne Max Webers als politische Priester, als charismatische Führer ihrer Nationen verstehen.
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Für den Psychologen ist es interessant zu beobachten, wie ein solcher Autoritätsappell zustande kommen kann. Der Priester-Politiker steht öffentlich zu seinen Größenphantasien und projiziert sie ins Kosmische: Er weiß, daß Gott mit ihm ist. Dies ist die älteste Rechtfertigung politischer Autorität. In allen Formen des Gottesgnadentums, zum Beispiel im Anspruch des Augustus, seine Herrschaft auf eine »höhere Legitimität«,1) auf den »consensus universorum«, begründet zu sehen, ist sie unbefangen formuliert.
Dieser Anspruch der politischen Autoritäten, auf magische Weise ausgezeichnet zu sein, setzt aber eine Gesellschaft voraus, die sich solcher Führung zu unterwerfen bereit ist. Der Größenphantasie des charismatischen Führers entspricht demnach eine Größenphantasie, in der kollektive Wünsche konvergieren. Diese Phantasie kann lustvoll-infantil sein und ein unreflektiertes Lebensgefühl ausdrücken; sie kann aber ebenso eine Reaktionsbildung auf starke Selbstunsicherheit und Schuldgefühle sein. Die Selbstunsicherheit im Falle der französischen Gesellschaft rührt unseres Erachtens von der Niederlage 1940 her. Sie wurde nicht durch eigene Kraft wettgemacht. Die Schuldgefühle mögen sich davon ableiten, daß auf die Niederlage von Dienbienphu der Algerienkrieg folgte. In ihm trugen sich Grausamkeiten zu, die nicht wenige Franzosen an eigene Erlebnisse unter Hitler erinnerten und die mit den humanitären Zielen der Französischen Revolution in unversöhnlichem Widerspruch standen. Ob die damit geweckten Schuldgefühle zur erneuten Wahl de Gaulles führten, ist Spekulation. Fest steht, daß er im Verlauf des unter wechselseitigen Schreckenstaten sich hinziehenden Krieges in Algier erneut zur Macht kam, womit auch eine auf der Linie der Brüderherrschaft liegende Zielvorstellung der Republik zunächst aufgegeben wurde. Denn die Parteienherrschaft hatte sich nicht in der Lage gezeigt, den Konflikt zu lösen und den Krieg zu beenden. Es gelingt den rivalisierenden Führern nicht, eine Konvergenz der Interessen herzustellen; die Anerkennung der Realität würde für sie die Bloßstellung ihrer Schwäche bedeuten.
1) Eleonore Sterling Der unvollkommene Staat. Frankfurt 1965, 284.
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Die Einstimmung auf Unterordnung unter den charismatischen Führer als großen Vater, als ein Selbstwert steigerndes Ich-Ideal kommt einer paradoxen Lösung gleich. Er vollzieht die bisher gescheute Realitätsanpassung; zugleich zieht er aber das öffentliche Interesse von der Niederlage ab. Man verliert die Wirklichkeit und mit ihr die Niederlage aus den Augen; sie wird derealisiert (wie unsere Nazivergangenheit). Dafür bekommt man Charles de Gaulle, ein Identifikationsobjekt, das dem einzelnen im nationalen Kollektiv erlaubt, seinen Selbstwert gesteigert zu erleben.
Diese paradoxe Lösung, die Niederlage durch Identifikation mit einem Führer, der neue Größe verspricht, aufzuwiegen, kehrt in der Geschichte immer wieder. Das Regressive, die Vermeidung der vollen Realitätseinsicht, ist das Merkmal dieser Situationen; es wird dann auch politisch regressiv bei magischen Autoritäten Sicherheit gesucht. Der Vorgang als solcher sagt noch nichts über den endgültigen Ausgang. Es kann sich — wie beim Schlaf — um eine »Regression im Dienste des Ichs« handeln, um einen Akt des Selbstschutzes während einer langsamen, kollektiv sich vollziehenden Bewußtseinserweiterung, und es kann sein, daß eine dem Wahn ähnliche kollektive Realitätsverkennung habituell und zur offiziellen Meinung wird. Die aufgegebene Brüderherrschaft hatte gerade die Korrektur solcher in Institutionen und Privilegien gerinnenden Realitätsauslegung zum Ausgangspunkt gehabt.
Als zweites gibt es ,eine bürgerliche Repräsentanz politischer Autorität; sie beruht auf einem Gefühl der Stärke aus Konformität mit der herrschenden Klasse. Ein Exemplum dafür bot in der Bundesrepublik Deutschland die Zeit der Bundeskanzlerschaft Ludwig Erhards, der sich ebenfalls gerne im Stile des Wundertäters der Öffentlichkeit empfahl. Er wollte den wiedergewonnenen Wohlstand inkarnieren. Sah man ihn im Fernsehen eine politische Erklärung abgeben, so fehlten selten einige Blattpflanzen im Hintergrund oder Familienfotos auf einem Sims — Stilelemente, die überaus charakteristisch für das bürgerliche Wohnmilieu sind. Ob unbeabsichtigt, ob ingeniöse Regie, der Redner sprach offensichtlich aus der Wohnstube in die Wohnstuben seiner Zuschauer mit der Autorität eines Familienvaters. Hier borgt also die politische Autorität beeindruckende Kraft von den Stereotypen des bürgerlichen Paternismus.
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Die eigentlich »moderne« politische Autorität ist mit der Bürokratie gewachsen. Sie wurde als »moderne« zuerst in der Gestalt des »Apparatschik« erkennbar. Im nachrevolutionären Rußland bekam die Bürokratie eine neue Aufgabe; sie organisierte nicht den Machtbereich traditioneller politischer Kräfte (wie etwa die preußische Bürokratie der Feudalmacht des Landes diente); vielmehr stellt sie selbst einen Teil der neuen Ideologie dar. Das schiere Überleben des ideologischen Konzeptes, zum Beispiel des bolschewistischen in Rußland, hing vom Funktionieren dieser neu errichteten Bürokratie und ihrer autoritären Aufsichtsorgane, die aber aus ihrer eigenen Mitte erwuchsen, ab.
Faktisch wurde dadurch das Mittel Bürokratie zum Zweck (nämlich zur ernsthaften Konkurrenz der in der Ideologie formulierten Ideale). Das brachte den Figuren in den politischen Schlüsselpositionen der Administration den entscheidenden Machtzuwachs, den sie trotz aller Rückschläge vermehren konnten. Die führenden Repräsentanten der Ideologie sind zugleich die führenden Bürokraten. Die Grenzen zwischen Politik und Administration verwischen sich vielfach.
Inzwischen ist es eine Allerweltserscheinung geworden, daß der Bürokratie fortwährend neue Machtpositionen zuwachsen, wo sich die Industriezivilisation ausbreitet. »In immer stärkerem Maße setzte die Organisation die Arbeitsbedingungen des einzelnen fest«1) — und von da aus die gesamten Lebensbedingungen: »Schlaf schneller, Genosse!«
Dem Signalement dieser zeitgenössischen politischen Autorität dienen die täglichen Bilder der Politiker in den Massenmedien. Der häufigste Typus, der hier auftaucht, sind nicht mehr dekorierte Monarchen oder in Revolutionen aufgestiegene Autokraten in betont schlichter Uniform, sondern unauffällig in Zivil gekleidete Männer ohne hervorstechende Merkmale. Diese Unauffälligkeit, besser: dieser adrette Konformismus in Kleidung und Haltung repräsentiert die unanschauliche Macht eines sich wechselseitig egalisierenden Spezialistentums, das aber in den politischen bürokratischen Institutionen unter Kontrolle bleibt. Aber einer Kontrolle, die so tut, als unterläge sie ihrerseits zum Beispiel demokratischen Aufsichtsorganen, während sie in der Praxis sich immer unzugänglichere Positionen ausbaut, so daß das Koátelv, das Herrschen, im Wort Bürokratie, Technokratie nachdrückliche Betonung erfährt, fern von der Spur Ironie, die sich vor Jahrzehnten damit verband.
1) R. Presthus, ib., 32.
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Trotz dieser unleugbaren Tatsache, daß hier eine neue Kastengesellschaft im Werden ist, läßt sich auch ein gegenläufiger Trend beobachten. In diesen politischen Technikern erkennen sich die Massen der Techniker unserer Gesellschaft wieder. Das sind die Anzeichen einer neuartigen Brüdergesellschaft, für die es nirgendwo in der Geschichte Vorbilder der politischen Autorität gibt. Die Spezialisten bilden, wo immer sie sich treffen, am sinnfälligsten auf den Kongressen (und das scheint deren nicht unwichtigste Funktion), eine Brüdergesellschaft, in der um »peer«-Autorität, um Autorität unter Gleichaltrigen gerungen wird. An den alten ideologischen und nationalen Gegensätzen sind sie nur mühsam zu engagieren. Manche Spezialisten wie Physiker, Biologen oder Soziologen, die mit gefährlichen Energiemengen oder weitreichenden Techniken operieren (etwa der künstlichen Gen-Veränderung oder der Beeinflussung der Massenmedien), sehen sich nach universalgültigen humanitären Grundregeln um, die ihnen die traditionellen Mächte gerade nicht bieten.
Frondeure wie Klaus Fuchs, welche die durch Forschung erworbene Macht der politischen Autorität unterstellen, sind seltener als »Professoren«, welche auf ihre Wissensmacht gestützt die politischen Autoritäten zur Ordnung rufen. Zweifellos setzt sich in den Großgesellschaften die Tendenz durch, positivistisches Spezialistentum als die wahre Grundlage der politischen Autorität zu verstehen. In der Praxis kooperieren hier Ausschüsse der Legislative und der Exekutive bestens — ob immer zum Besten des Allgemeinwohls, ist zweifelhaft.
Denn die Sachlichkeit spezialistischer Entscheidungen ist häufig ihrerseits ein Mythos. Zwar werden die Machtpositionen der konservativen Mächte (zu denen auch der westliche Sozialismus gehört) durch die verstärkte Arbeitsteiligkeit und die rasche Wissensvermehrung, die spezialistisch verwaltet wird, unterminiert. Das gestattet auch nicht, weiterhin Autoritätspositionen nach paternitärem Vorbild aufzubauen. Aber viele der sogenannten sachbedingten Entscheidungen entsprechen nur einer Pseudosachlichkeit.
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In Wirklichkeit verfallen Spezialisten, wo ihre eigenen Affekte konflikthaft ins Spiel geraten, ebenso leicht wie jedermann sonst dem Mechanismus unbewußt verlaufenden »Rationalisierens«. Damit ist gemeint, daß unter dem Deckmantel rationaler Motivierung Triebbedürfnissen der Weg geebnet werden soll. Man denke an die Statusprivilegien, die sich der Autorität zugesellen. So abgehoben von seiner Person erlebt der Spezialist seine Macht nicht, daß er sie nicht auch mit Scheinargumenten zu stützen versuchte, wo es um seine eigenen emotionell bedeutsamen Interessen geht. Für denjenigen, der nicht mit der Sache durchaus vertraut ist, sind diese rationalisierenden Begründungen jedoch schwer zu erkennen.
Es ist aber noch eine weitverbreitete Autoritätsform zu bedenken, die gleichzeitig herkömmlich und modern ist: die des Militärs. In Weltgegenden, in denen sich der Übergang von tradierten politischen Autoritäten und Herrschaftscliquen zu industriebestimmten Machtverhältnissen vollzieht, fehlt das gewachsene Spezialistenkorps, die funktionierende Bürokratie, und auf der anderen Seite in der Masse der Verwalteten das eingespielte typische Gehorsamsverhalten und Gehorsamsbewußtsein der in der technischen Zivilisation Aufgewachsenen. Statt dessen erhalten sich in die Phase neuer staatlicher Selbständigkeit hinein vielerorts die von Korruption unablösbaren Demonstrationen feudaler Machtausübung, die oft an eine Mangelwirtschaft geknüpft sind.
Wir beobachten, daß in den Entwicklungsländern die außer Kurs geratenden Autoritätsformen nicht, wie erhofft, durch aufgeklärte, an den Standards der Red-Brick-Universitäten geschulte Repräsentanten der politischen Autorität ersetzt werden; es schiebt sich vielmehr, wie die wachsende Zahl von Militär-Junten zeigt, eine offenbar zeitlose, das heißt jederzeit wieder belebbare Autoritätsform an die Macht: die der Militärs, welche die Macht in der unmittelbar physischen Form verkörpern. Das Militär wird dort zur einzigen Form überlokaler politischer Autorität. Die Exekutive fällt nach dem Gesetz der Rangkämpfe in der Herde in diesen Gesellschaften dem jeweils Stärksten zu; er wird dadurch zur politisch wirksamen Autorität. Die Frage ist dann noch offen, woran sich die »Starken« in diesen Ländern jeweils orientieren.
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Handelt es sich zum Beispiel bei den jetzt im Rahmen der Weltpolitik beobachtbaren Autoritätskämpfen um Regressionen und nicht um Fortsetzung von beispielsweise Häuptlingsherrschaften mit neuen technischen Destruktionsmöglichkeiten? Diese Autoritätsform des jeweils »Stärksten« ist jedenfalls ein Typus, der sich von den bereits geschilderten Beispielen (Frankreich, Deutschland) unterscheidet und generell auch von der in normale staatliche Zusammenhänge eingeordneten militärischen Autorität.
Ohne Zweifel trugen sich aber auch in unserer Zeitgeschichte schwerwiegende Regressionen auf Autoritätsformen brutaler Machtausübung zu. Dafür ist die Nazidiktatur unter Hitler sinnbildlich geworden. Psychologisch kann man hier am Einzelfall wie an größeren Gruppen beobachten, daß Einbrüche in die tradierten Lebensformen — etwa die große Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre als unerwartete Begleiterscheinung der Industrialisierung — ein hohes Maß von Angst mobilisierten. Es sind vor allem die aus weitgehend unbewußt bleibenden Destruktionsphantasien und den daraus erwachsenden, ebenfalls nur vage erfahrenen, aber drängenden Schuldgefühlen, Verfolgungs- und Beschädigungsängsten herrührenden Impulse, welche gesellschaftliche Zerfallsprozesse in Gang bringen.
In den Extremfällen der Deroutierung bleibt dann von Politik kaum mehr als das Faustrecht. Der Usurpator, der aus vielen zeitgeschichtlichen Beispielen weiß, wie unsicher seine Macht begründet ist, versucht, Angst durch militärische Machtkonzentration abzuwehren. Die Beherrschten ihrerseits erwarten vom Usurpator Schutz im Sinne eines omnipotenten Vaters, und sie sind dafür bereit, ihm jene Grausamkeit als Herrschaftsmittel zuzugestehen, die ihren eigenen verdrängten Destruktionsphantasien in etwa entspricht. So wird die Rollenautorität allein durch die augenblicklich zur Demonstration verfügbare Macht gesichert. Da keine stabilen Identifikationen mit den Inhabern der Macht bestehen, können in den permanent sich wiederholenden Krisen Autoritäten ins Nichts stürzen. Es ist »ungeregelte Zwangsmacht«,1) die ausgeübt wird.
1) Robin M. Williams Jr. American Society. New York 1951. Deutsch: Die amerikanische Gesellschaft. Stuttgart 1953, 208.
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Die Angst der Unsicherheit bewirkt, daß sich bei allen Mitgliedern einer so instabil gewordenen Gruppe ein Circulus vitiosus zwischen der abgewehrten Erfahrung der Ohnmacht und im Bewußtsein vorherrschenden überwertigen Allmachtsphantasien entwickelt. Die Rechtsunsicherheit der Gewaltherrschaft schürt Destruktionsphantasien, die wiederum Verfolgungs- und Schuldängste provozieren. So wird schließlich das alltägliche Verhalten mehr von unrealistischen Phantasien (von »primärprozeßhaftem« Denken) als von der Orientierung an der Realität bestimmt.
Ohne Zweifel spielen darüber hinaus in den militärischen Autoritätsdemonstrationen (unbewußt wirksame) homosexuelle Impulse zur Schaustellung eine bedeutende Rolle; man kann sie auch, von der Angstseite her betrachtet, in den stark paranoiden Einschlägen in jedem Terrorismus am Werke sehen. Wir können aber auf dieses libidinöse Triebschicksal im vorliegenden Zusammenhang nicht näher eingehen.
Derartige autoritative Verhaltensmuster vermögen sich aber nur dort am Leben zu erhalten oder neu zu bilden, wo die Grenzen eines selbstkritischen Wissens bzw. eines kritischen Selbstwissens eng geblieben sind und eben die moderne Forderung nach zunehmender Selbstkritik noch nicht eingedrungen ist. Das gilt selbstverständlich für alle »zurückgebliebenen«, hinterwäldlerischen Bereiche, also nicht nur für von uns weit entfernte sogenannte Entwicklungsländer.
Es bleibt anzufügen, daß nicht nur Sachwissen, sondern auch das Wissen über sich selbst - also psychologisches Wissen - zu einer Autorität verleihenden Macht geworden ist. Wie jede Macht, läßt sich auch diese mißbrauchen. In Umkehrung seiner ursprünglichen Tendenz kann Wissen über sich selbst statt zur kritischen Prüfung zur »Rationalisierung«, das heißt zur Scheinbegründung eigener Affekte und Triebbedürfnisse verwandt werden, also zur Selbsttäuschung.
An dieser Stelle sei an die These angeknüpft, daß der Spezialist die eigentlich moderne Form der politischen Autorität darstellt. Es war einmal die explosive Vermehrung unseres Wissens, die den Spezialisten unersetzlich werden ließ. Zum anderen hat aber die Tatsache, daß Wissen zu einem Ideal unserer Kultur wurde, ihrerseits dessen Vermehrung so gefördert. Hier konzentriert sich das Interesse der Epoche. Die theologischen »Summen« des Thomas von Aquin sind durch den Nachweis von Molekülketten als Wissensbeweise ersetzt.
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Es hat sich jedoch ein neues Hindernis, vielmehr ein permanent wirksames, mit neuer Vehemenz bemerkbar gemacht. Unser emotioneller Widerstand gegen die Anwendung psychologischen Wissens, als Instrument der Vermehrung des Wissens über uns selbst, hat nicht merklich abgenommen. Deshalb hat sich psychologisches Wissen aus kritischer Selbsterfahrung wesentlich langsamer entwickelt als das Fachwissen sonst. Interessant ist in dieser Hinsicht Rußland, in dem es geradezu zu einer Spaltung im Wissensideal gekommen ist. Fachwissen über alle denkbaren Objekte wird hoch geachtet und geschätzt, während psychologisches Wissen sich nicht aus den vorgegebenen ideologischen Prämissen lösen darf.
So zögert man, diesen in Großorganisationen aufgewachsenen Spezialisten für das Machtspiel in politischen Institutionen einfach als Fortsetzung in die Reihe der politischen Autoritätstypen zu setzen, die uns aus der Geschichte bekannt sind. Das mochte noch für den Bürokraten des feudalen Nationalstaates hingehen, der sich mit dem Landesfürsten identifizierte. Der Typus des »Apparatschik«, des »Managers« ist eine Novität. Er kann sich als Person nur mit sich selbst identifizieren, denn er hat als Orientierungsschema das analytisch vermehrbare Wissen, nicht mehr die Weisungen unbefragbarer Autoritätsfiguren. Im Tabu, das verbot, sie kritisch ansehen zu dürfen, gipfelte deren Macht. Solche Väter, gegen die zu revoltieren die Aufklärung begonnen hatte, gibt es nicht mehr über dem Politspezialisten unserer Zeit. Der Funktionär ist, wie sein Name sagt, eine Funktion der Institution; die Institution ist ein Wirkungsgeflecht der Funktionäre. Da gibt es kein »Meta« - keine Metapolitik glaubhafter Art - außerhalb. Dies ist vielleicht, im historischen Zusammenhang betrachtet, das Kerngeschehen im Wandel politischer Autorität. Wir verfolgen zu unserer eigenen Lebenszeit ein fortwährendes Schwingen zwischen progressiven (nämlich durch die Entwicklung der objektiven Gegebenheiten der Industriezivilisation erzwungenen) Entwicklungen und regressiven Stimmungen. Von Napoleon bis Hitler und Stalin hat es sich gezeigt, wie schwer es der Menschheit fällt, ohne Väter zu leben; das bedeutet nicht: ohne Väter, die in der Zeit unserer Kindheit uns beschützen, sondern ohne solche, die unsere gesamten Lebensgeschäfte für uns ordnen sollen und das »Meta« dazu. Es mag das alles entbehrt werden, trotzdem war es ein Ausdruck menschlicher
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Potenz, die analytische Natur- und Geschichtsforschung in Gang zu bringen. Sie hat Phantasien über die Welt zerstört. Jetzt findet der politische Spezialist wie jeder andere keine wegweisenden Väter mehr vor, sondern nur noch ziemlich abstrakt gewordene Phantasien - etwa die (unfehlbare) »Partei«, das »christliche Abendland« -, er gehört zur verwalteten Gesellschaft. Seine Macht läßt sich deshalb auch nur schlecht anschaulich machen. Man hat ihm gegenüber keine ehrfurchtsvollen oder tragisch haßerfüllten Gefühle. Stattdessen ist es ein Heer von »grauen Eminenzen«, von »geheimen Verschwörern« (Vance Packard), das erhebliche Macht ausübt, die aber nur beschränkte Autorität verleiht. Wer sich auf analytisch gewonnenes Wissen als Machtgrundlage stützt, kann nicht Autorität im voraufklärerischen Sinn ausüben wollen. Dieses Vetorecht der Vernunft, das wir uns so hart erzwungen haben, ist der neu gewachsene Besitz unserer Zeit. Freilich ist er so unsicher und bedroht wie kaum sonst einer.
Hier ist jedoch bei allen psychologischen Betrachtungen der Politik eine Unterscheidung unerläßlich. Wir sprechen der Kürze halber von ihr, als handle es sich um eine Alternative. Tatsächlich wird nicht der Typologie eines Gegensatzpaares das Wort geredet, sondern es werden zwei Reaktionsformen als Extreme hervorgehoben. Und zwar handelt es sich darum, wie der Spezialist sein Wissen in der eigenen inneren Ökonomie, im Hinblick auf seine Triebbedürfnisse und die Ansprüche seines kritischen Ichs, verwertet. Da ist einmal der (politische) Spezialist denkbar, der um der Erkenntnis willen sein Wissen vermehrt. Sein Genuß ist damit ein ans Ich geknüpfter, sublimer; er kann mit anderen Worten Wissenserwerb mit Libido besetzen. Hierin besteht ein Hauptantrieb seiner Einstellung. Unter Umständen wird diese relative Freiheit der Verfügbarkeit über Wissen (das nicht von vornherein zweckgebunden erworben wird) eine rasche und flexible Behandlung von Problemen erlauben.
Am anderen Ende der Verhaltensskala ist ein Politiker zu denken, der um des Machterwerbes und -besitzes willen Wissen erwirbt. Seine Befriedigung ist unmittelbar an die Triebsphäre geknüpft geblieben. Libidinisiert ist der Besitz der Macht, die Macht ist es, die geliebt wird.
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Dieser Gegensatz ist alt. Die erfahrenen Pragmatiker warnten vor allem vor der »Ankränkelung« durch des Gedankens Blässe und mochten recht haben, solange Rivalitäten noch in Anlehnung an Territorialkämpfe ausgetragen wurden. In diesem Sinn ist Nationalpolitik ausdrücklich Territorialpolitik gewesen und geblieben. Die Aufgaben des politischen Führers, dessen Politik auf ein universales Kraftfeld zurückwirkt, verlangen nach Hamlets Zögern.
Wir lenken aber vor allem deshalb die Aufmerksamkeit auf diese konträren Möglichkeiten, mit Macht umzugehen, weil wir der Auffassung sind, daß wir es hier mit einer unabhängigen Variablen zu tun haben, die immer auf Politik Einfluß nehmen wird. Die beiden idealtypisch gegeneinandergestellten Politiker sind Persönlichkeiten, die sich zur Politik hingezogen fühlen, sie aus sehr verschiedenen Motiven betreiben. Aber sie sind nicht selbst Produkte von Politik, sondern weiterer Bedingungszusammenhänge. Mitgebrachte Begabungen und soziale Einflüsse begünstigen einmal mehr die Befriedigungen des »Es«, der Triebbedürfnisse, das andere Mal mehr die Befriedigung der Ich-Leistungen.
Unsere Meinung geht dahin, daß der Komplexität der Machtzusammenhänge nur Teams gewachsen sind. In ihnen werden sich die verschiedenen Einstellungen zur Macht besser ausgleichen als in Herrschaftsformen, in denen Macht nur als Attribut von großen »Führern« mit weltanschaulichem Totalanspruch konzipiert werden kann und darf. Von solcher Art war noch die Autorität Stalins; die seiner Nachfolger ist verglichen mit ihm schon gebrochen. Der Impuls der primär an der Macht interessierten Politiker ist nur dort für einen demokratischen Staat keine absolut tödliche Gefahr, wo die Polit-Spezialisten nicht ideologisch unifiziert sind, das heißt, wo ein funktionstüchtiges Mehrparteiensystem existiert.
Man kann also zusammenfassen, daß auch der politische Spezialist nicht selbständige Prototypen hervorgebracht hat. Seine Art, mit Macht umzugehen, lehnt sich an die gegenwärtig unbestrittenste Autoritätsform an; er weist sich als Spezialist unter anderen aus. In seinem Verhalten wird er - wie wir sogleich erläutern werden - von einem elitär erlebten Konformismus geleitet. Er ist nicht, wie der charismatische oder der militärische Führer, darauf bedacht, durch hervorstechende Merkmale zu imponieren. Die Polit-Spezialisten bemühen sich im Gegenteil, harmlos und nicht martialisch auszusehen. Das letztere würde sie exponieren und ihnen dazu die Feindschaft ihrer Rivalen einbringen. Ihnen gegenüber sind sie aber nicht in so weit überlegenen Ausgangspositionen, wie paternitäre Hierarchien sie anboten.
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2.
Mit der mächtigen Ausdehnung der staatlichen Obliegenheiten und dem Anwachsen der Verwaltungsapparaturen geht also die politische Macht immer mehr in die Hände von Spezialisten über. Diese müssen, da dem einzelnen persönliche Informationen kaum mehr möglich sind, zu einem Vertrauen erweckenden Image »aufgebaut« werden. Das geschieht mit den gleichen Methoden der Werbestrategie, die auch sonst Bedürfnisse lenken. Mit Hilfe von psychologischem Wissen (zum Beispiel, wie man Vertrauenswürdigkeit suggeriert) wird also das Image einer politischen Autorität aufgebaut. Dieses Bild unterscheidet sich nicht selten von der Wirklichkeit ebenso wie die freundliche Ruhe eines Badestrandes auf einem Werbeplakat von der Masseninvasion, die dort längst stattgefunden hat.
Hier herrscht also zweckgelenkte Information vor. Das ist aber in sich ein grober Verstoß gegen das Ideal der Spezialisten, nämlich gegen die Integrität der Information. Während sonst Sachverhalte möglichst nachprüfbar kommuniziert werden müssen, um ernst genommen zu werden, einigt man sich im politischen Bereich auf die Propagierung von Wunschbildern, in denen gewöhnlich Wahrheit und Phantasie nicht klar voneinander zu scheiden sind. Die politische Werbung spricht in einem immer komplexeren Milieu affektive Regungen und nicht kritisches Vermögen an. Das wird kurzfristig seine Erfolge zeitigen, gibt uns aber doch den Hinweis, wie wenig sachbezogen offenbar die politischen Entscheidungen in der Masse erlebt werden. Ein Problem des Gewissens im Streben nach Macht besteht darin, daß ein Erfolgszwang herrscht, wenn überhaupt etwas von den Plänen und Versprechungen verwirklicht werden soll; also werden leicht eingängige Parolen geprägt, die aber nicht die Konsequenzen ignorieren dürfen. Die Kunst des Politikers ist es, in den unvermeidlichen Täuschungsmanövern nicht der Selbsttäuschung zu erliegen.
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Ein kurzfristiger Erfolg könnte durch langwirkende Schäden in Frage gestellt sein; und die egoistische Auslegung des Erfolgszwanges legt allemal eine Rationalisierung nahe, die es trotzdem möglich macht, gegen die Vernunft zu handeln. Eine der wirksamsten Rationalisierungen dieser Art ist die Auslegung, angesichts der Konkurrenten stelle man selbst noch das kleinere Übel dar. Die Demokratie mit ihrer Verkuppelung von Macht und Wahlerfolg ist dieser Gefahr permanent ausgesetzt.
Das »Image« des Politikers ist in sich eine Regression auf die voraufklärerische fraglose Autorität, der man mit Idealisierung und nicht mit kritischem Denken begegnete. Es wird also mit allem spezialistischen psychologischen Wissen eine Regression gefördert, um Macht zu erlangen. Nur differenziertes psychologisches Wissen, über das er meist nicht verfügt, könnte den einzelnen Bürger vor den gezielten Beeinflussungsversuchen und Täuschungsmanövern schützen. Die Nachprüfung zweckhaft gefärbter Information ist ihm in den meisten Fällen unmöglich; nicht einmal die Erkenntnis, daß er zweckhaft beeinflußt wird. So wird der Konsument von Informationen herausgefordert, entweder unkritisch zu vertrauen oder prinzipiell zu mißtrauen. Aber auch der um Information Bemühte wird das Gefühl nicht los, Zwecktäuschungen hilflos aufzusitzen. Das motiviert sicher zu einem nicht kleinen Teil die wachsende Apathie für die Vorgänge im politischen Bereich.
Die Informationschancen sind also zu ungleich verteilt. Der politische Pragmatiker ist gegenüber allen anderen aber noch einmal in der Vorhand, denn er hat die Manipulation der Dienstgeschäfte der Partei- oder Verwaltungsbürokratien zum Gegenstand seines »skill« gemacht. Er ist in der Technik, Macht zu manipulieren, geübt. Aber man tut gut daran, nicht mehr vorauszusetzen als dieses, daß seine spezialistische Ausbildung ihn auch nur befähigt, die Welt auf typisch beschränkte Weise und unter Zuhilfenahme spezifischer Vorurteile zu sehen. Es gehört jedoch gleichzeitig zumStil spezialistischer Sachlichkeit, dem politischen System immanente Ideale zwar taktisch zu verwenden, sich mit ihnen jedoch nicht tiefgehend zu identifizieren. Dafür hat die Figur des Leiters der Staatskanzlei Dr. Hans Globke und seines Vorgesetzten Dr. Konrad Adenauer ein dauerhaftes Beispiel gegeben. Durch Globke und seinesgleichen wäre die nationalsozialistische Herrschaft nie zu Fall gekommen.
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Es wäre für Globke also bei der Identifikationslinie mit den Rassengesetzen seiner damaligen Vorgesetzten geblieben; Globke wäre als einer der Repräsentanten dieser nationalsozialistischen Politik gestorben, wie er als Beauftragter der katholischen Zentrumspartei weitergedient hätte, wäre die Weimarer Republik nicht kollabiert. Unmittelbar nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches paßte er sich abermals den Gegebenheiten an; und diese Mimikry wird auch, dank seiner Verwaltungserfahrung, ohne Zögern von den politischen Nachfolgern akzeptiert. War es einmal eine sehr ins Detail gehende Kommentierung der nazistischen Absichten, ihre jüdischen Mitbürger zu erniedrigen, so ist es später eine ebenso mühelose Rückorientierung an christlichem Komment, die von Globke vollzogen und von Dr. Adenauer honoriert wird.
Um es in einer Form zu sagen, die viel harten Egoismus als Naivität hingehen läßt: Der machtorientierte Polit-Spezialist ist Positivist; er neigt zur unkritischen Überschätzung dessen, was gerade als beste Lösung eines Problems angeboten wird. Zwar kalkuliert er ein, daß das Wissen und politische Verhältnisse sich rasch verändern und dann zur Revision des soeben Verfügten zwingen könnten. Dann ist damit aber nicht seine Desavouierung verbunden, vielmehr überholt sich ein Wissen objektiv; desavouiert werden die Verlierer. Nur aus Dummheit, nicht wegen entschiedener Identifizierung mit den Auffassungen, die man politisch vertritt, kann es passieren, daß man nicht immer wieder dabei ist. Die Auflösung der Identität, derTalleyrandismus, ist das Pendant zum politischen Manager-tum und seiner Verwaltungsroutine. Das bedeutet also, um es zu wiederholen, daß der Politiker nicht mehr daraus sein Image gewinnt, daß er sich mit den Inhalten seiner Politik auf Gedeih und Verderb identifiziert, sondern in jeder Lage möglichst effektvoll seine Person zu retten versteht. Wenn also etwa ein Verteidigungsminister sichtlich falsche Entscheidungen trifft (zum Beispiel einen Flugzeugtyp anschafft, der einer größeren Zahl von Piloten das Leben kostet), dann wird er dadurch nicht zum Rücktritt gezwungen, sondern kann die Verantwortung auf »technische Mängel« angeblich unvermeidlicher Art projizieren. Zwischen den jetzt ins Spiel kommenden Technikern wird die Verantwortung bis zur Unauffindbarkeit verzettelt.
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Das bedeutet einen gewaltigen Wandel in der Auffassung, die sowohl die Öffentlichkeit vom Politiker wie auch dieser von sich selbst hat. Er inkarniert nicht mehr die Verantwortung, welche die Öffentlichkeit auf ihn delegiert hat, sondern er besorgt einen Ausschnitt ihrer Geschäfte mit wenig Eigenverantwortung. Was ihn vielmehr zum gesuchten Partner werden läßt, ist sein Erfahrungsschatz in der Technik des Machterwerbs und der Manipulierung der Macht zwischen Legislative und Exekutive. Daher das Phänomen des Lobbyisten, der dem Fachmann den Zugang zu den politischen Gremien verschaffen soll, deren Mitgliedern die fach-spezialistische Einzelkenntnis fehlt. Hier spielen sich Kommunikationsprozesse zwischen Spezialisten ab, die ihre faktischen Rangpositionen fortwährend abtasten. Für manche Experten, zum Beispiel für Atomphysiker, kann es dazu freilich noch zu einer Gewissensfrage ersten Ranges werden, Wege zu finden, auf denen sie sich Einfluß auf die politische Maschinerie verschaffen können. Sie überschauen die Tragweite neuer technischer Entwicklungen und können sich unmittelbar davon überzeugen, daß der Wissenspositivismus ihres Faches nicht ausreicht, um die Auswirkungen ihrer Entdeckungen auf die Gesellschaft und die affektiven Spannungsverhältnisse zwischen organisierten Großgruppen zu meistern.
Denn die jüngste Geschichte hat gezeigt, daß gerade dort, wo Probleme des Selbstverständnisses mit Fachproblemen einer Einzelwissenschaft in einem nicht auflösbaren Zusammenhang stehen, sich erbitterte Kämpfe zwischen den Spezialisten abspielen können. Maßgeblich ist dabei die Persönlichkeitsstruktur und die Differenz zwischen den Persönlichkeitsstrukturen. Sachfragen spielen da eine zweitrangige Rolle und bekommen ihre Färbung von den taktischen Schachzügen. Es kommt etwa sehr darauf an, wer ein Atomphysiker oder ein »opinion leader« in den Massenmedien als Persönlichkeit ist. Sollte er etwa jemand sein, der das jeweilige Autoritätsschema seiner Gruppe oder Klasse relativ unkritisch akzeptiert, so können wir von ihm erwarten, er werde ganz allgemein konservativ reagieren, zum Beispiel den Gewerkschaften feindlich gegenüberstehen; aller Voraussicht nach wird er den Krieg als Mittel der Politik gutheißen.1) Denn Einstellungen (attitudes) sind keine isolierten psychologischen Vorgänge. Sie beeinflussen sich wechselseitig, bilden sogenannte Einstellungsbündel (clusters).
1) R. Stegner Attitudes towards Authority. J. Soc. Pathol., 40, 210.
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Mit diesen Andeutungen greifen wir die oben schon betonte Unterscheidung zwischen echter Rationalität des Wissens und Pseudorationalität, durch welche affektive Positionen begründet werden sollen, nochmals auf. Es gibt »auch in bürokratischen Organisationen sowohl Konflikte um die Zielsetzung wie um den besten Weg der Zielverwirklichung, und nicht zuletzt Konflikte zwischen den persönlichen Wünschen und Pflichten der Mitglieder«.1)
Diese Tatsache wird aber gerade vom Image der »aufgebauten« politischen Autorität ferngehalten. Hier dürfen keine ambivalenten Gefühle erweckt werden; was negativ ist, muß werbestrategisch auf den feindlichen Konkurrenten abgelenkt werden. Es kann demnach keine Rede davon sein, daß der Spezialist der modernen arbeitsteiligen Einrichtungen per se ein sachlicherer Verwalter staatlicher Machtmittel sei als irgendein früherer Politiker. Er wirkt vielleicht besser abgeschirmt gegen Beobachtungsmöglichkeiten von außen. Auch die auf der bewußten Ebene aus der Wissenschaft abgeleiteten Ideale werden unbewußt durch die jeweiligen Identifikationen, welche die Politiker aus ihrer persönlichen Geschichte mitbringen, notwendigerweise mitgeprägt. Daher auch der Vorschlag von James Conant, wissenschaftliche Beratergremien mit Wissenschaftlern verschiedener politischer Richtung zu besetzen. Denn es kann die größte Bedeutung erlangen, wenn zum Beispiel die aggressiv-autoritäre Charakterstruktur eines hochangesehenen Atomphysikers sich zufällig mit einem Außenminister des gleichen Persönlichkeitstyps verbündet. Hier wird unter Umständen über Krieg und Frieden entschieden. Die Art und Weise, wie Personen in Schlüsselpositionen ihre Welt erleben - etwa paranoid oder ausgeprägt ethnozentrisch -, gibt in den Mammutorganisationen kaum weniger den Ausschlag als bei einem absoluten Monarchen, etwa bei Ludwig XIV.
1) Renate Mayntz im Nachwort zu Presthus. Ib., 301 f.
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Mit diesen Bemerkungen haben wir aber keineswegs die wichtigsten Merkmale des (politischen) Spezialisten beschrieben. Wir müssen beispielsweise zugeben, daß auch eine sehr konträre Feststellung manches an den Verhältnissen hochindustrialisierter und hochbürokratisierter Staaten trifft. Die Behauptung nämlich, daß Spezialisierung mit einer Beschränkung der Macht zur Entscheidung verbunden ist. Spezialisten, das deuteten wir an, identifizieren sich mit Vorbildern, engen sich aber auch eifersüchtig gegenseitig ein. Es ist dies das Phänomen der Brüderrivalität.
Unter den alten, vorindustriellen Lebensbedingungen waren sich Brüder nur solange einig, als sie einen gemeinsamen Vater über sich hatten, der sie unterjochte. Von den Diadochenkämpfen bis zu den einander ablösenden Rivalitätskämpfen unter Militärs, die sich das Amt des Präsidenten südamerikanischer oder afrikanischer Staaten streitig machen, hat sich offenbar an dieser Gesetzlichkeit des Verhaltens nichts geändert.
Und doch stellt sich die Frage, ob es in einer Gesellschaft, die nicht länger Motive dafür besitzt, an der Vorstellung einer überlegenen Vaterautorität festzuhalten - weil kein Vater, kein charismatischer Führer soviel mehr wissen kann, soviel potenter sein kann als eine gut eingespielte Gruppe von Spezialisten -, ob in einer solchen Gesellschaft nicht ein neuer Modus vivendi, ein neues Autoritätsmuster, aus geschichtlichem Zwang heraus entwickelt werden muß. Die Verantwortlichkeit wird dabei auf eine Gruppe verteilt, und auch auf Seiten der Staatsbürger knüpfen sich die Erwartungen an eine derartige Führungsgruppe. Es wird in diesem Zusammenhang von Interesse sein, die Motivationen für die Ablösung vom Persönlichkeitskult in Rußland kennenzulernen. Auch werden wir uns der außerordentlichen Bereitschaft eines aufgeklärten Präsidenten, wie Kennedy es war, zur Kooperation mit Ratgebern erinnern. Gerade dieser Zug an ihm wurde in der Öffentlichkeit sehr begrüßt. Die Autoritätsform dessen, der bereit ist, sein Wissen mit Hilfe von Spezialisten zu mehren und damit seine Macht auch mit ihnen zu teilen, ist offenbar eine, die in der westlichen Welt mit ihrem Wissenschaftsideal anerkannt ist. Hier kommt es zu einer positiv erlebten communis opinio.
Psychoanalytisch läßt sich die Lage an der Entwicklung der »Objektbeziehung« darstellen. Die Frage wird immer sein: Rangieren in einer Arbeitsgruppe die Machtbedürfnisse der einzelnen Mitglieder vor den Erkenntnisbedürfnissen? Das wird sich nie sauber trennen lassen, aber man kann doch die jeweilige Tendenz erkennen.
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Rangieren die Machtbefriedigungen an erster Stelle, so haben wir es mit narzißtisch strukturierten Persönlichkeiten zu tun, die ihre intellektuellen Leistungen der Befriedigung ihres oft unersättlichen Bedürfnisses nach Anerkennung unterordnen müssen. Diese Charakterbildung stellt eine in ihren Entwicklungsschritten einigermaßen bekannte Erscheinung dar, in welcher eine vorwiegende Fixierung der libidinösen Strebungen an die eigene Person stattgefunden hat. Im Gegensatz dazu kann eine Person, deren Libido nicht so heftig an das eigene Selbst fixiert ist, unbehelligter Interesse und Einfühlung für ihre Umwelt aufbringen. Die Kernfrage geht dahin, ob die Struktur der Gesellschaft der narzißtischen oder der zur Erkenntnis, zur Anerkennung von Fremdem außerhalb des eigenen Selbst befähigten Persönlichkeit Unterstützung zuteil werden läßt.Es ist kaum zu bezweifeln, daß die narzißtischen Befriedigungen stärker als die »altruistischen« im System unserer Zivilisation angeregt werden. Dies sieht wie ein generalisierendes Urteil aus und bedürfte der genaueren Begründung; da diese hier nicht gegeben werden kann, darf die Stellungnahme nur mit dem beispielhaften Hinweis auf die Rolle des Plakates in der politischen Werbung (die Allgegenwart der Führerbilder in Diktaturen) als These genannt werden. Es könnte sein, daß es zu den Aufgaben der Bewußtseinsbildung gehört, die Brüderrivalität aus unproduktiver, narzißtischer Fixierung zu lösen und ein befreiendes Spielelement, nämlich die Idealbildung des einfühlenden (statt des narzißtisch ausbeutenden) Wissens, zu entwickeln und zu stärken. Das wäre eine revolutionäre Wendung im Sinne der oben zitierten Bemerkung von George Thomson1. Wissen als Macht kann erst sekundäres Ziel sein. Ein derart von narzißtischen Bedürfnissen befreiteres gemeinsames Wissensideal kann die Brüderrivalität der Spezialisten mildern; weil ein solches Ideal darüber hinaus zu einer Stärkung der kritischen Ich-Funktionen führt, mindert es wiederum die Neigung zur aggressivdefensiven Selbstüberhöhung.
Dem entfernteren Beobachter der Ära Kennedys mag es deshalb scheinen, als habe sich hier durch die betonte Hochschätzung der Berater etwas in der Feinstruktur der politischen Autorität geändert.
1) Siehe S. 299.
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Das Selbstbewußtsein eines team-orientierten politischen Führers scheint gegen narzißtische Selbstüberhöhung etwas besser gesichert: Mit seiner Wahl etwa zum Präsidenten wird er nicht so stark in seinen kritischen Urteilsfähigkeiten behindert, weil die Auszeichnung nicht primär als Triebbefriedigung verarbeitet wird. Machtvollkommenheit in der Realität bleibt sich dieser Realität bewußt und zwingt das kritische Ich nicht, sich den Triebwünschen zu beugen, die jetzt wesentlich verbesserte Aussichten auf Befriedigung haben. Mit anderen Worten: Der Aufstieg in der Hierarchie der Machtpositionen schwächt nicht mittelbar die Realitätskontrolle - zum Beispiel die Einsicht in die Abhängigkeit vom Team - und fördert auch nicht eine unkontrollierte Fusion von Triebwünschen mit einem archaischen Ich-Ideal der Allmacht.
Dieser Versuch der Beschreibung eines Strukturwandels ist, wie leicht erkenntlich, in sich eine idealisierte" Charakterisierung des Teamführers; in der Wirklichkeit wird viel vom Omnipotenz-ideal und vom Neid im Kreis der Berater erhalten bleiben. Die Bemerkung ist also tendenziell zu verstehen; kleine Verschiebungen des Ideals, von den narzißtischen Befriedigungsformen weg auf die objekt-bewußten Verpflichtungen hin, verändern dabei viel an den Entscheidungen des Alltags. Es gehört zu den politischen Auswirkungen des Spezialistentums, daß es durch das Angebot exakteren Wissens zu einer bewußtseinsnäheren und kritischeren Idealbildung beiträgt. Entsprechend wird diese am Stab der Berater orientierte Autoritätsfigur es auch nicht befriedigt zulassen, von seiner Umgebung in vorstrukturierte Erwartungshaltungen des omnipotenten Führers hineinmanövriert zu werden, was in der Tat eine erhebliche kritische Ich-Stärke zur Voraussetzung hat.
Hier mag noch die Bemerkung angefügt werden, daß unsere Darstellung mehr die gefahrvollen Entwicklungstendenzen aufgreift - sie sind aufdringlich - als die gelingenden positiven Lösungsversuche des Autoritätsproblems. Natürlich geht es dem durchschnittlichen Politiker nicht nur um die Befriedigung von Machtbedürfnissen. Er verfolgt ohne Zweifel auch sachbezogene Ideale, die nicht von seinem Narzißmus bestimmt sind, mögen sie zuweilen auch noch so verschroben sein. Wenn es nicht zum Idealbild seiner Persönlichkeit gehört, für andere Verantwortung zu tragen, wird er kaum Politiker werden.
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Verantwortung zu haben heißt doch gewöhnlich, Menschen, die von einem abhängig sind, zu stützen, zu schätzen oder Vorstellungen verwirklichen zu wollen, die im Augenblick und für das zukünftige Wohl der Gruppe wichtig erscheinen. Dieser Wunsch, dem Schwächeren zu helfen, geht auf positive Identifikationen mit den Eltern zurück und bleibt in jedem Fall ein wichtiger Antrieb des Politikers. Zuweilen freilich geraten diese altruistischen Ideale über der Notwendigkeit, sich im Machtkampf behaupten zu müssen, in Vergessenheit.1)
Der Übergang von Autoritätsmodellen, die nach einer abgestuften Hierarchie von Vätern konstruiert waren, zu einer Vielzahl spezialistischer Eigenbereiche, die einander ebenbürtig sind, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Den älteren Autoritätstypen ist ein relativ geschlossenes und statuarisches traditionsreiches Weltbild zuzuordnen, während spezialistische Autorität mit rascher Wissensentwicklung, mit einer unabgeschlossenen Dynamik einander überholender Erfindungen verknüpft ist.
Wir betonen also, daß auch der Rang politischer Autorität heute an der Fähigkeit gemessen wird, spezialistisches Einzelwissen und spezialistisches Machtstreben integrieren zu können. Typischerweise hat es in alten gelehrten Institutionen, wie Akademien und Universitäten, schon Ansätze zur Herrschaft des primus inter pares gegeben. Die Fortentwicklung dieses Schemas unter den Begabtesten der Spezialisten wird zwar gefördert; denn ihr kritisches Bewußtsein für die Komplexität der Lage wächst. Einübung im kollektiven Ausüben der Macht wird aber gleichzeitig behindert, weil die Konzentration der Machtmittel zu eindrucksvollen Ballungen, das heißt zu faktisch sehr einflußreichen Positionen führt, um die »hart« gekämpft wird; das heißt, moralische, also aus der Einfühlung in den Gegenspieler entwickelte Bedenken gelten wenig.
1) Die Frauen scheinen in unseren Überlegungen gar keine Rolle zu spielen. Vielleicht spielen sie in der Tat keine strukturierende Rolle, obgleich doch der Hinweis auf die positiven Elternfunktionen, auf das Beschützen, unzweifelhaft gerade auch das mütterliche Vorbild einschließt. In Deutschland z. B. hat die Frau wenig institutionalisierte politische Autorität, ist aber dennoch von unmittelbarer politischer Wichtigkeit: Die Frauen stellen die Mehrzahl der Wähler, und es hängt von ihrer Entscheidung ab, welches Konzept zum Zuge kommt.
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Für die Amoralität in diesen untergründigen politischen Fehden, welche der sonst proklamierten Humanität spotten, in denen nahezu alles erlaubt ist und die einen Auslaß für nicht sozialisierte Triebanteile bilden, gibt es eine stillschweigende Anerkennung aller Beteiligten. Hier, wo nach der Art der Geheimdienste gekämpft wird, meinen nicht wenige das Herz der Politik schlagen zu hören. Eine sorgfältige soziologische und psychologische Untersuchung über den Umfang und die Grenzen, in denen man ein von wenig moralischen Geboten behindertes Austragen politischer Gegensätze billigt, wäre sehr lohnend. Sie würde die Fortdauer der archaischen Ich-Ideale bei Menschen klarer erkenntlich machen, die in der sozialen Realität um öffentliche Geltung ringen. Der alte, »vorspezialisierte« Typus des Politikers, der sich vernehmlich wie unausgesprochen auf unbefragbare, »charismatische« Autorität beruft, ist zunächst noch der vorherrschende, besonders in den ihrer Sozialstruktur nach so anfälligen Entwicklungsländern.
Andererseits ist einzuräumen, daß ein Politiker, der zur Lösung der entscheidenden Probleme unserer Gegenwart beitragen will, dafür keine vorgängigen Handlungsanweisungen vorfindet. Es besteht noch kein im allgemeinen Bewußtsein akzeptiertes Rollenschema der »Bruderautorität«, wie es viele für die Vaterautorität gab. Vielleicht war es insbesondere deshalb eine politische Katastrophe, daß Kennedy ermordet wurde, weil er zum ersten Mal den modernen, auf Teamarbeit sich stützenden politischen Führer einer Weltmacht verkörperte. Sowenig er beabsichtigte, ein charismatischer Führer zu sein, sosehr überzeugte er, weil er die neuen Aufgaben des Politikers verstanden hatte und damit das öffentliche Bewußtsein veränderte, nämlich für einen neuen Idealtypus empfänglich machte. (Es ist aber interessant genug, daß posthum von der Familie und Umgebung der Versuch gemacht wird, doch noch einen charismatischen Führer aus Kennedy zu machen.)
Angekündigt hat sich das Problem des Strukturwandels politischer Autorität schon nach dem Ersten Weltkrieg. Damals sprach Robert Michels vom »ehernen Gesetz der Oligarchisierung« [R. Michels Zur Soziologie des modernen Parteienwesens in der Demokratie. Leipzig 1925.] - er hatte dabei die deutschen Parteien im Auge.
Diese Tendenz zur Herrschaft weniger hat sich inzwischen an vielen Stellen als die Nachfolgeform monarchischer Autorität und des Persönlichkeitskultes bemerkbar gemacht. Es spricht viel dafür, daß in Zukunft Oligarchien die Arbeitsform der in relativer Verborgenheit arbeitenden politischen Spezialisten sein werden.
Vielleicht stellt diese publikumsscheue Art der politischen Arbeit auch einen Selbstschutz gegen den Neid dar. Es wird unausbleiblich für diese Gremien das Problem der Geschwisterrivalität zum beherrschenden emotionellen Problem werden, wie es in den hierarchisch gegliederten Gesellschaften die Fragen der Beziehung zur Vaterautorität waren. Auf den starken Vaterführer brauchte man nicht neidisch zu sein, denn man identifizierte sich mit ihm.
Das Erlebnis des Neides wurde also entweder abgewehrt oder im Coup d'etat ausgelebt. Im Falle des geglückten »Vatermordes« rief sich sofort eine neue Vaterautorität aus. Außerdem kommt noch ein ausgesprochen elitäres Element als Motivation der verborgenen Arbeitsweise hinzu. Die Spezialisten erleben sich als »Kaste«, sie ringen um Anerkennung untereinander, brauchen dafür wenig Akklamation von außen; ihr Wissen um die eigene (eben schwer greifbare) Macht genügt ihnen. Die damit verknüpften narzißtischen Verzichte (welche die auf Demonstration der Macht oft erpichte Vaterautorität nicht leisten mußte) sind eine spezifische Anpassungsforderung an die neue Lage.
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1) D. Riesman Freud und die Psychoanalyse. Frankfurt 1963, 54.