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VIII.

Konsequenzen — bei offenem Ausgang der Konflikte

 

 

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So verschieden, wie es auf den ersten Blick erscheint, sind Politologie und Psychoanalyse vielleicht doch nicht. Die Frage, ob ein soziales Phänomen, ein Rollenstereotyp, eine soziale Kommunikation »gesund« oder »krank«, normal oder pathologisch ist, geht nicht nur den Arzt an, auch der Diagnostiker politischer Systeme — vielleicht ließe sich Politologie als solche Diagnostik definieren — ist mit ihr beschäftigt. 

Für den Analytiker muß die Ausgangsbasis die am Individuum beobachtete Pathologie bleiben, auch wenn er den Versuch macht, über die Gesellschaft, in der er lebt, etwas auszusagen. Er bildet sich sein Urteil vornehmlich an einzelnen Kranken. Begegnet er bestimmten Charakterstrukturen und Verhaltensweisen gehäuft — gleichgültig, ob sie nun Entdifferenzierungen darstellen oder Ausdruck einer guten Widerstandsfähigkeit sind gegen Einflüsse, welche das Individuum von sich selbst entfremden —, so hat er darin eine Brücke zur Gesellschaftslehre. Er kann auf diese Weise die Entwicklungstendenzen einer Gesellschaft beobachten; soweit er seine Äußerungen an seiner Forschungsmethode orientiert, kann er also nicht die Gesellschaft als den »Körper« und die diese Gesellschaft leitende Elite als das »Hirn« betrachten.

Vielmehr muß er sich die Frage vorlegen, warum eine einzelne Person einer möglichst genau erfaßten Charakterstruktur in einem gegebenen Augenblick, in einer gegebenen Gesellschaft zu führender Position aufsteigt oder sie verliert. Oder: Warum findet sich in einer großen Gruppe von Mitgliedern eine nicht zu durchbrechende Apathie gegenüber allen Fragen der Politik? — und ähnliche Fragen mehr.

So muß auch die Autorität, welche die Formen des Zusammenlebens in den verschiedenen Struktur­bereichen einer Gesellschaft mitformt, zunächst von ihrem Grundmuster her betrachtet werden. Als wichtigste haben die ersten Erfahrungen zu gelten, die der schwache, hilfsbedürftige Mensch in seiner Kindheit mit jenen Autoritäten macht, die ihn beschützen müssen und dabei Macht über ihn ausüben.1) 

Im Verhältnis zwischen Autorität und Beherrschten begegnen sich jedoch nicht nur Machtverhältnisse, sondern auch Stadien der Bewußtseinsentwicklung. Um beim Beispiel der Kindheit zu bleiben: Hier sollte die größere Einsicht das Verhalten der Eltern dem Kind gegenüber bestimmen. In zahlreichen Situationen muß das Kind lernen, sein Verhalten den Forderungen der Erwachsenen anzupassen. Sie helfen ihm, seine Schwäche auszugleichen. Zunächst ist das Erlebnis des Kindes den Eltern gegenüber das einer unbedingten, unbefragbaren Autorität. Was die Lebenspraktiken betrifft, spielen die Erwachsenen die Rolle eines (eben der Realität besser gewachsenen) Hilfs-Ich.

Für den Sozialpsychologen besteht nun Anlaß zu untersuchen, ob und wieweit eine Gesellschaft wünscht, in bestimmter Hinsicht solche Autoritätsformen auch für andere soziale Bezüge lebenslang beizubehalten. Das kann sie nur, wenn sie die Bewußtseinsentwicklung durch ihre Machtmittel unterdrückt, so daß die Infantilform der Abhängigkeit erhalten bleibt.

Die Bewußtseinsentwicklung in Richtung der Ich-Autonomie,2) von der wir annehmen, daß sie von der Art eines biologischen Evolutionsschrittes ist, läßt sich unter anderem auch als Anzeichen der Ich-Stärke definieren. Der »Ich-Apparat« (Hartmann) ist so widerstandsfähig, daß dem Bewußtsein vermittelte Nachrichten von wahrnehmbaren Widersprüchen an Autoritätspersonen nicht zensiert, sondern in ihrer vollen Bedeutung ertragen werden können. Politischen Autoritäten gegenüber ist die unmündige Reaktion die Regel: Anhänger trachten Fehler, Schwächen, Irrtümer nicht wahrzuhaben; sie machen vom Abwehrmechanismus der Verleugnung Gebrauch. 

1)  Die souveränste Darstellung gibt Rene Spitz Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. Stuttgart (Klett) 1967. 
2)  Vgl. über die Entwicklung des Ichs aus der »undifferenzierten Phase« zur Autonomie, der Ich-Funktionen: Heinz Hartmann, Zur Psychoanalytischen Theorie des Ich. Psyche, XVIII, Stuttgart 1964, 321 ff., Sonderheft.

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Gegner nehmen just diese Seiten wahr und schließen daraus, daß es nichts Besseres an diesen Personen zu entdecken gäbe. Sie zensieren die guten Seiten. Ein Großteil der alltäglichen Reflexionen über »die da oben« geschieht aus dieser Unfähigkeit des Bewußtseins, Widersprüche bei Vorbildern zu ertragen. Dem ist nur durch die Ermunterung in der Erziehung beizukommen, an sich selbst Widersprüche zu sehen. Erst durch den Umgang mit den eigenen Widersprüchlichkeiten entwickelt sich die Einsicht, daß Ich-Spaltungen mit der Folge der Vielgesichtigkeit einer Person keine Schicksalsauflage definitiver Art, sondern eine Herausforderung zur Integration des Ichs auf einer umfassenderen Ebene des Bewußtseins sind.

Unausweichlich finden wir in der ersten Phase der Kindheit also eine totale Identifikation mit den Eltern-Autoritäten, die dazu dient, die eigene Ohnmächtigkeit zu überbrücken. Durch Identifikation fühlt sich das Kind in den sein Selbstgefühl berührenden Lebenslagen so mächtig wie die Eltern, ein Zustand, der bis weit in die Latenzperiode, also über das erste Lebensjahrzehnt hinaus, aufrechterhalten wird. Erst mit zunehmender Reifung — eben seiner kritischen Urteilsentwicklung — kann es die Eltern als Menschen ihrer eigenen Bestimmung (als »Objekte«) erleben; also ihre Schwächen und Stärken sehen, ohne von der Furcht überwältigt zu werden, mit solcher Kritik die Eltern vollkommen zu entwerten.

In dieser Hinsicht korrespondiert, wie wir deutlich beobachten können, die Bewußtseinsentwicklung des Kindes mit dem Selbstbewußtsein der Autoritäten. Nur dort, wo Eltern in der Lage sind, ihre eigenen Schwächen sich einzugestehen, werden sie es ertragen können, daß ihre Kinder ihnen offen zeigen, daß auch sie nicht blind sind. Genau dies war aber das klassische Merkmal institutionalisierter absoluter Autorität und insbesondere absoluter politischer Autorität: Man hatte blind zu sein für die Schwäche seines Herrn, auch wenn sie in die Augen stach; denn Autorität vergewisserte sich ihrer selbst durch Unbefragbarkeit. Sie konnte sich, soweit sie Autorität war, nur als unfehlbar, als vollkommen empfinden. Die Rollenhörigkeit auf beiden Seiten, auf der des Gläubigen, des Untertanen und der des kirchlichen oder irdischen Fürsten, war kaum von einem einzelnen kritisch reflektierenden Ich zu durchbrechen.

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»Reife« im Feld der Politik heißt also, daß ambivalente Gefühle gegenüber der Autorität als etwas Normales verstanden werden und daß Autorität es ertragen lernt, sich von einer mehr oder minder großen Zahl der Mitglieder der Gesellschaft mehr oder minder vollkommen abgelehnt zu wissen. Darin drückt sich die Überwindung der infantilen Einstellung zu den Vorbildern aus. Und natürlich auch die Überwindung der zum Scheitern verurteilten Identifikation mit einem unfehlbaren Ideal.

Auf die lange Frist menschlicher Geschichte hin gesehen vollzieht sich eine Einstellungsänderung. Zwar entstehen immer noch Diktaturen in nicht geringer Zahl, aber verglichen mit der Herrschaftsdauer autokratischer Herrschaftsordnung in der Vergangenheit sind sie ungleich kurzlebiger geworden. Es gibt immer weniger Bereiche, in denen Autorität sich über eine Phase emphatischer Erregung oder nackten Terrors hinaus der kritischen Befragung entziehen kann. Wir nehmen am Wandel von der absoluten zur befragten Autorität teil.

Die Entwicklung des kritischen Bewußtseins hat natürlich viel breitere Auswirkungen als nur dieses Messen individueller Kritik mit den Glaubens- und Gebotsnormen seiner Gesellschaft. Da es aber immer noch weite Bereiche der Erde gibt, in denen Aufklärung noch am Anfang steht oder die wieder zu infantiler Unterordnung unter überhöhte Führerfiguren gezwungen werden, läßt sich das Ausmaß, in dem Kritik als Denkvorgang (statt als Ausrottungsvorgang der Gegner) möglich ist, als Index des gewachsenen kritischen Bewußtseins verwenden. Aus ihm ist ein neues Ideal hervorgegangen: das Wissensideal, dem wir die sprunghafte Vermehrung unseres Wissens über die Natur und die progrediente praktische Auswertung dieses Wissens verdanken. Unter der Herrschaft des Wissensideals hat sich die menschliche Welt, das heißt also die Einstellung des Menschen zur Natur und dadurch mittelbar auch die Struktur der Gesellschaft, rapide geändert.

An zwei Folgen der sprunghaften Wissensvermehrung und an der industrialisierten Anwendung dieses Naturwissens lassen sich Veränderungen, die sonst in ihrer Auswirkung auf menschliches Verhalten so schwer zu beurteilen sind, relativ gut beobachten:

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1. Die Technisierung der Produktion (im weitesten Sinne des Wortes) hat immer mehr zu »spurloser Arbeit« geführt; das heißt einer Arbeit, die im Bedienen von Apparaturen oder Organisations­instrumenten besteht und jedenfalls dem Individuum nicht die Möglichkeit gibt, sich sichtbar mit Hilfe des von ihm hervorgebrachten Produktes auszudrücken und in diesem Produkt wieder­zuerkennen.

2. Der andere, fast jedermann erreichende Effekt der Technisierung besteht darin, daß es ihr gelungen ist, dort, wo sie sich ausbreiten konnte, einen relativen Überfluß und einen hohen Grad der Sicherung gegen Not herzustellen — jedenfalls gemessen an den Mangelwirtschaften der Vergangenheit. So ist es in unseren westlichen Gesellschaften gelungen, Hunger in der großen Breite der Bevölkerung zu beseitigen und darüber hinaus eine Reihe von oralen Befriedigungen Selbstverständlichkeit werden zu lassen, die bis dahin Luxus waren. Während noch vor zwei Generationen nur an Festtagen Fleisch auf den Tisch kam oder Süßigkeiten verteilt wurden, sind dies Alltäglichkeiten geworden. Gleiches gilt vom Schutz des Arbeitsplatzes, der Altersversorgung, des Gesundheitsdienstes und ähnlichen Diensten der Allgemeinheit für ihre Individuen.

 

Hinsichtlich des Triebpaares Aggression und Libido ergeben sich daraus grundsätzliche Änderungen, denen sich politische Autorität anpassen und die sie mitgestalten muß. Wir nennen beispielhaft vier Konsequenzen:

Konsequenz 1: Bezeichnen wir die relative Überernährtheit und orale Verwöhntheit des Bürgers der Industrie­gesellschaft als die normale Ausgangslage, so imponiert das zunächst als großer Fortschritt. Die rasche Befriedigung von Triebbedürfnissen hat aber einen unerwarteten Nebeneffekt. Wir entdecken, daß Verzichtleistungen eine entscheidende, vielleicht unersetzliche Rolle beim Aufbau unserer Persönlichkeit spielen. Der Lernvorgang als solcher ist an Frustrationen als motivierende Erfahrungen geknüpft. Zu diesem Lernprozeß gehört auch, daß wir in der Kindheit lernen, Verzichte zu akzeptieren. Das bedeutet, daß wir den Widerwillen gegen die verbietenden Erwachsenen ihnen zuliebe überwinden. Das hilft uns, die Ambivalenz der Gefühle von früh an zu überbrücken, wie dies für die Entwicklung eines Charakters mit der Fähigkeit zur Integration so notwendig ist.

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Von der Seite der Erwachsenen her ist die Lage ebenso schwierig, denn sie müssen in der Lage sein, zu entscheiden, welche Verbote »notwendig«, das heißt für eine entwicklungsfähige Sozialanpassung unerläßlich sind. Die uns gegebene soziale Realität verlangt von uns eine zunehmende Kontrolle primärer Triebwünsche. Es bleibt eine offene Frage, ob dies durch eine »ständige Zunahme der Verdrängung«1) allein oder durch frühe Stützung des Ichs erreichbar ist. Die Libido-Entwicklung kann sicher nur durch Gewährung von »Liebesbeweisen«, also durch Gratifikationen, in gute Bahnen gebracht werden. Aber Gewährung allein ist offenbar noch kein Liebesbeweis, wie das Scheitern der »permissive education« gezeigt hat.

Der Erwachsene ist objektiv in schwieriger Lage. Wie die notwendigen Frustrationen mit den notwendigen Gewährungen ins Gleichgewicht bringen? Das Beispiel der oralen »Verwöhnung« als sozialer Selbstverständlichkeit macht das klar. Um die Problematik allegorisch einzukleiden: Der Eisschrank ist stets voll. Welches ist die auch unbewußt wirksame Regel, hier Verzichte zu fordern? Dafür fehlt zunächst die glaubhafte Begründung, eine Begründung, die ihre Autorität trotz allem liebenswert bleiben läßt. Wo »Butterberge« nicht abgetragen, Gemüse und Zuckerernten vernichtet werden, hält es schwer, Zurückhaltung als Erziehungsmaxime zu vertreten. Das gleiche gilt auch für Vermittlung sexueller Verhaltensnormen in einer diesbezüglichen Überflußgesellschaft.

Die Überflußgesellschaft hat demnach tief in die Objektbeziehungen der Menschen untereinander eingewirkt, und zwar im Sinne der »Entfremdung«. Triebbefriedigung wird nicht mehr ausdrücklich an Personen, die etwas bedeuten, geknüpft empfunden, sondern — jedenfalls auf der oralen Ebene und in vielen Fällen auch auf der genital-sexuellen — als »Selbstverständlichkeit«, als eine Art Inventar der Welt, die einem auf paradiesische Weise entgegenkommt.

1)  S. Freud, 1. c.

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Konsequenz 2: Wenn ein Verzicht also nicht mehr fraglos gefordert werden kann, weil er durch die Natur der Sache (nämlich durch Umsicht in Dingen der gefährdeten Ernährung oder zur Erhaltung einer in der Gesellschaft unbezweifelten Sittlichkeit) gerechtfertigt ist, wenn also kein zwingendes äußeres Motiv vorhanden ist, muß er neu begründet werden. Autorität war aber bisher immer an Vorausschau geknüpft, die es erlauben sollte, im Grundzustand des Mangels einen Spielraum der Erleichterung zu bekommen. In dieser Hinsicht ist die Aufgabe der Autorität auf den Kopf gestellt. Sie müßte sich anheischig machen können, durch ihr Gewicht den Überfluß durch frei gewählte Entsagungen zu meistern; sie müßte Anweisungen zur Unterscheidung sinnvoller Befriedigungen von unsinnigen geben können — eine Lösung, die, wie jedermann weiß, noch nicht gefunden ist.

 

Konsequenz 3: Entsprechendes gilt für den Effekt der spurlosen Arbeit. Die Massen können ihr nicht entfliehen. Sie hat dem Selbstwertgefühl des Individuums entscheidend zugesetzt. Es begegnet sich selbst nicht mehr in den Produkten seiner Arbeit, was ein erhebliches Ausmaß an Frustration mit sich bringt. Die Gemütslage der spurlos Arbeitenden wird aggressiv-depressiv gespannt. Die Neigung zu blinden Ausbrüchen destruktiver Aggression wächst. Das verweist darauf, daß die Integration triebhafter Aktivität in sozial akzeptierte Leistungen infolge der Lebensbedingungen der betroffenen Gesellschaften nicht gelungen ist. Steigendes Einkommen entschädigt nicht für den Zwang zu spurloser Arbeit. Die allenthalben aufspringende Destruktivität muß mit der Ausbreitung der Technisierung zu tun haben, mit der Veränderung menschlicher Leistung im Produktionsprozeß und dem Verfall des Prestiges, den langsam erlernte Fertigkeiten verliehen. Hinzu kommt die Verzweiflung über die Unverbesserlichkeit dieses zerstörerischen Zuges in der menschlichen Natur. Wir alle stehen doch unter dem Einfluß der tiefen Enttäuschung, daß die unermeßlichen Leiden des Zweiten Weltkrieges, die unbeschreibliche Mordwut, die ihn begleitete, nicht nur keinen kathartischen Effekt hatten, sondern daß es eher zu einer vielfachen Metastasierung des Kriegsübels gekommen ist.

 

Trotz solchen Übermaßes an Indizien für die Unfähigkeit, die in Gang gesetzten Eingriffe in den Naturhaushalt und in die überkommenen Sozialordnungen kritisch denkend im voraus zu übersehen, muß die Frage offenbleiben, ob die menschliche Natur tatsächlich unverbesserlich ist; was hier heißt, ob es auch unseren Nachfahren nicht gelingen wird, aggressive Triebwünsche erfolgreicher ihrem kritischen Ich zu unterstellen.

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Dies wäre aber die innerseelische Voraussetzung politischer Konfliktlösungen unter Verzicht auf Gewalt.

Soviel scheint freilich festzustehen, daß man auf solche Wandlung nicht wie auf ein »Wunder« warten kann. Wir müssen die Motive hinter den aggressiven Ausbrüchen besser kennenlernen und nicht das Wunschbild nähren, sie würden plötzlich durch eine spontan entstehende Moralisierung von Großgruppen verschwinden.

Vor allem die Analyse der menschlichen Kindheit hat gezeigt, daß wir für den entmutigenden Wiederholungszwang, mit dem sich tötungsbesessene Aggression immer wieder in Populationen ausbreitet, weniger Anlagefaktoren anschuldigen dürfen als unsere Erziehungspraktiken, die viele potentielle Fähigkeiten zur Kompensation von tödlicher Aggression verkümmern lassen — wie zum Beispiel die Fähigkeit zur Einfühlung bei gleichzeitig wachem kritischem Bewußtsein; ohne ihre Mitwirkung muß sich zutragen, was uns die täglichen Nachrichten über Brutalität des Menschen gegen seinesgleichen berichten.

Es könnte sein, daß eine Erweiterung unseres Wissens um die Grundbedürfnisse des Menschen die einzig erreichbare Garantie gegen das Entstehen unkontrollierbarer Triebspannungen, besonders solcher aggressiver Art, bieten kann. Kein Zweifel, daß wir von diesem Wissen sehr weit entfernt sind.

 

Offenbar muß eine neue Form des Besitzes erfunden werden, die nicht — wegen des artspezifischen Instinktwertes der Verteidigung des Eigenterritoriums — jederzeit zur Anfachung aggressiver Triebregungen mißbraucht werden kann. Besitz und Aggression im herkömmlichen Stil bedingen einander. Die neue Besitzform muß die Befriedigung der Selbstdarstellung enthalten. Da die Epoche handwerklicher Differenzierung unwiederbringlich vergangen ist, können es nur neue, neu zu erfindende, Ebenen der Selbstdarstellung sein, durch welche die Umwandlung von primär objektblinder Aggressivität gelingt: Die Umwandlung des »Todestriebes« in bewußt kontrollierte und humanisierte Aktivität. Die Entfaltung kreativer Möglichkeiten verleitet nicht wie der verdinglichte Besitz zur Wegnahme und dem daraus resultierenden aggressiven Konflikt.

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Die dritte Konsequenz besteht also darin, daß das weitgehend unbewußt verlaufende Erlebnis der Selbstentwertung mit der Zunahme der Aggressions­ausbrüche nach Zahl, Umfang und Intensität korreliert — aber auch mit dem Trend der ansteigenden Süchtigkeit nach Ersatzbefriedigungen. Die Unlust fortgesetzter Entfremdung führt zu einer Fixierung an rasch erreichbare, zum Beispiel orale Befriedigungsmöglichkeiten oder auch zur Rückkehr zu ihnen und zu deren süchtiger Entartung (zu steigendem Alkoholismus, zu Rauschgiftsucht etc.). Das sind Schwächen in der Persönlichkeitsstruktur, die zu kommerzieller wie zu politischer Ausbeutung einladen.

Die kulturverhängten Frustrationen aktiver Selbstdarstellung erzeugen so viel Unlust, daß pathologische Abwehrmechanismen in Gang kommen. Die seelische Entwicklung wird dadurch gehemmt. Entweder bleibt man, wie soeben angedeutet, an infantile Arten rascher Triebbefriedigung fixiert, oder es werden Regressionen ausgelöst: Man kehrt zur primitiveren Form der Triebbefriedigung (wie in den Süchten) zurück. Wenn letzteres der Fall ist, sind Schuldgefühle unvermeidlich, und es bilden sich zirkuläre Prozesse, in denen Regressionen Schuldgefühle auslösen, wie umgekehrt die Unlust eines auch nur vage artikulierten Schuldgefühls Regression zu Ersatzbefriedigungen befördert. Wenn Fixierung an infantile Triebbefriedigungen geschieht — also an Saturierungs­wünsche solcher Bedürfnisse vor der Entwicklung verläßlich arbeitender Ich-Apparate —, ist die Lage noch prekärer, da die betreffenden Menschen eine vorsoziale Charakterstruktur aufweisen oder wenigstens deutliche Merkmale der Fortdauer infantiler Wunsch- und Phantasieorientierung.

 

Konsequenz 4: 

Entsprechend dem Wissensideal entwickelte sich ein Spezialistentum, das die ungeheure Menge des Wissens zu verwalten hat. Wir haben versucht, im vorhergehenden Kapitel auszuführen, daß auch die politische Autorität — auf dem Weg zur kritisch befragten Autorität — in die Hände von Spezialisten übergeht. Es läßt sich dies als ein Übergang vom Typus der Vaterautorität zur Brüdergesellschaft; deuten, in der sich die Spezialisten wechselseitig in ihren Autoritätsbefugnissen kontrollieren. Infolgedessen entwickeln sich auch neue Abhängigkeitsverhältnisse. Im Vordergrund steht nicht mehr die Rivalität mit dem idealisierten und zugleich von heftigster Aggression bedrohten Vater, sondern die Neidproblematik.

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Im öffentlichen Bewußtsein gibt es noch keine akzeptierten Muster für die Autorität des politischen Spezialisten, der effektvoll nur im Team zu arbeiten versteht. Auf welche Weise im politischen Feld spezialistisches Einzelwissen und Machtstreben nicht nur nach primitiven egoistischen Gesichtspunkten zur Wirkung gebracht werden kann, wie vielmehr Einzelwissen nicht nur addiert, sondern tatsächlich in einem Prozeß der Integration zu einer »Gestalt« und im Zusammenspiel mit der verwalteten Macht zu einem Herrschafts- oder Aktionskonzept gebracht wird, darüber können wir noch wenig sagen, weil wir noch wenig Gelegenheit hatten, derartiges zu beobachten. 

Wir stellten statt dessen fest, wie alte Autoritätsformen sich mit dem Eindringen der Technifizierung auflösen, wenn Wissen mit rationalen Methoden produziert wird und wie andere Produkte der Zivilisation ungeheuer anwächst, ohne daß schon — jedenfalls auf dem gesellschaftlichen Sektor — stabile Ordnungsformen neuer Art gefunden sind. Man denke etwa an die Rückläufigkeiten der europäischen Einigungsbewegung und an die Schwäche der Vereinten Nationen. Regressionen zu anachronistischen Autoritätsformen oder aber zu brutalem Faustrecht sind häufig.

Die größte Schwierigkeit für das Entstehen einer heute akzeptablen politischen Autoritätsform, die sich auf die Macht spezialistischen Wissens stützen kann, ist der Neid. Die Emotionen der Menschen haben sich nicht geändert, sosehr sich das technische Inventar geändert haben mag.

Infolgedessen berufen sich Spezialisten im Kampf um Herrschaftspositionen auf ihr Wissen wie einst die autokratischen Herrscher auf das Gottesgnadentum ihrer Privilegien. Die Vermengung von sachlichen Erwägungen mit emotionell geladenen Argumenten, welche z.B. dem Prestigebedürfnis eines Politspezialisten dienen, macht es für den Außenstehenden, den Bürger in der verwalteten Welt, immer schwieriger, zu unterscheiden, was objektive Information ist und was im psychologischen Sinn eine »Rationalisierung« darstellt (ein auf Selbsttäuschung beruhender Versuch der Fremdtäuschung). Dieses Ausgeliefertsein an manipulierte Informationen dürfte ein wichtiger Faktor für die politische Apathie großer Teile der Bevölkerung sein. Man zieht seine Libido aus Bereichen ab, in denen man sich nicht mehr zurechtzufinden vermag.

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Die heutigen Parteiapparate arbeiten noch ganz auf der Ebene herkömmlicher Autoritätshierarchien. Sie versuchen, das Image von Politikern aufzubauen, wobei gerade nicht die Bewußtseinsentwicklung berücksichtigt oder gar gefördert wird. Politische Führer werden stets als Ausbund von Tugenden angepriesen. Die Ambivalenz der Gefühle wird — wie oben beschrieben — aufgespalten: die negativen Seiten, Verachtung, Haß, gelten den politischen Führern der Gegenseite. Die Gegensätze haben aber immer weniger etwas mit Wettstreit zu tun. Sie nehmen eine definitiv feindselige Haltung, die Haltung von Todfeindschaften an, die dort entstehen, wo sich, entsprechend unbefragter Autorität, unbefragbare Vorurteile eingebürgert haben. Sie müssen dazu dienen, den Affekthaushalt der Mitglieder der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Das geschieht einerseits durch die Identifikation mit idealisierten Führern, andererseits durch reuelose Verfolgung der Feinde, also jener Gruppen, die von den Führern »zum Abschuß freigegeben« werden. Der Wahnanteil an diesem Geschehen ist erschreckend hoch.

Die permanente Wandlung der Umwelt, wie sie die technische Zivilisation hervorbringt, ist extrem anti-biologisch. In der außermenschlichen Natur drängen ökologische Lebensgemeinschaften immer nach einem gewissen Gleichgewicht der Ansprüche. Die Erfindungszivilisation unserer Zeit stört nicht nur die Homoiostasen solchen ökologischen Zusammenspiels in der Natur, sie löst auch die bisher traditionsgelenkten Gesellschaftsformen der Menschen auf. Dies allein erweckt schon seit Generationen vielfach Angst und beschwört damit Regressionsgefahr herauf. Die Entwicklungsprogression der vom Wissensideal geleiteten Kultur unserer Tage hat alle Züge einer Explosion. Das Wissen vermehrt sich allseitig, aber die Kräfte, die es zu bändigen, in irgendeine Ordnung zu bringen vermöchten, sind noch nicht gefunden. Wir behelfen uns vorläufig mit Autoritätsformen, die aus der vorindustriellen Welt stammen und für die in unserem inneren psychologischen Haushalt gar keine echten Motivationen mehr bestehen.

Die Zeiten sind vorbei, in denen man mit alten Techniken, etwa der Segelschiffahrt, überraschende Entdeckungen machen konnte. Statt dessen werden mit neuen Techniken bisher unerreichbare Ziele angestrebt. 

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Dazu gehört unter anderem auch das Ziel, die Menschheit vom Hunger zu befreien, ein Ziel, das vielleicht erreichbar wird, wenn sich diese Menschheit zu gleicher Zeit eine Ordnung gibt, in der sie selbst nicht mehr planlos weiterwächst. Aber — und das ist der Hintergedanke dieser Überlegungen — wir können uns auch nicht mehr mit dem alten Ideal, den Hunger zu besiegen, zufriedengeben. Es stammt aus einer Zeit, in der die Beherrschung der Welt noch so unvollkommen war, daß es wirklich eine Utopie schien, mit diesem Widerstand gegen die Ausbreitung des Menschengeschlechts einmal fertig werden zu können. Heute sind unsere Kenntnisse auf einem Niveau angelangt, wo das Ziel realisierbar erscheint. 

Aber der Ausgleich der Affekte, die durch diese gesellschaftlichen Prozesse, denen wir unterworfen sind, ausgelöst wurden, steht dahin. Es ist uns nicht gelungen, vergleichbar zu unserem Wissen über die Natur in die Hintergründe unserer Motivationen einzudringen und das dabei erworbene Wissen zu einer Stärkung unseres kritischen Bewußtseins zu benützen. Speziell die heute noch die Macht verwaltenden politischen Gremien verraten kaum je ein Problem­bewußtsein auf dieser Ebene. 

Statt dessen besteht die Gefahr einer doppelten Korruption psychologischen Wissens. In der Konsumgesellschaft wird es zur Steigerung der Abhängigkeit von den Konsumgütern verwendet, in der Politik zum Konsum politischer Ideologien, die über präparierte Imagines das Publikum erreichen.

Sicher pointiert diese Darstellung Fehlentwicklungen oder die Möglichkeit zu ihnen, und es mag eine Reihe von positiven Errungenschaften geben, die nicht erwähnt wurden. Dies kann wiederum eine Konsequenz der Ausgangsposition unserer Beobachtungen sein, der des Arztes, der von Berufs wegen mit pathologischen Entwicklungen konfrontiert wird. Er lernt die Krankheit als etwas verstehen, was die Menschheit bisher nicht abschütteln konnte, und er wird darin geschult, den Grad der Gefährlichkeit einzelner Krankheitssymptome abzuschätzen. Trotzdem bleibt es gewagt, von der individuellen direkt auf die Sozialpathologie zu schließen. Es ist jedoch nicht mehr zu umgehen, pathologisch Entwicklungen im Verhaltensbereich (das heißt im emotionellen Bereich, der das Verhalten motiviert) als solche erkennen zu lernen, um mit ihnen umgehen zu können — individuell wie im Kollektiv.

Die Erscheinungsformen politischer Autorität stehen in diesem Spannungsfeld zwischen normalen, das heißt ertragbaren, und pathologischen Äußerungsformen unseres gesellschaftlichen Lebens. Ihre Erträglichkeit wird zunehmend an der Bewußtseinsentwicklung, die sie erkennen lassen, und weniger an der Fähigkeit gemessen werden, den Primärprozessen nahe Triebäußerungen zu manipulieren. In dieser Form wäre die Aussage ein aufklärerisches Kredo.

Also sei hinzugefügt: Die Schärfung des Bewußtseins für innere und äußere Realität verläuft in einem dialektischen Prozeß zur Selbstentfremdung, verhängt von den Auswirkungen bestehender Produktions- und Lebensformen. Diese Verhältnisse wirken anti-aufklärerisch. Der Ausgang ist offen; sicher ist nur, daß sich die Geschichte in dieser Dialektik fortsetzen wird.

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E n d e

 

 

 

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