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Nachwort 1970

von Alex. und  Marg. Mitscherlich

 

 

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Das Nachwort, das jetzt hinzugefügt wird, soll es ermöglichen, im tagespolitischen Geschehen der letzten Jahre enthaltene kollektive Einstellungen zum unbewältigten realen Kern der Vergangenheit besser zu verstehen.

Die Autoren beschäftigen sich daher auch in diesem kurzen Hinweis mit der Gegenwart, genauer mit der Fortsetzung, welche die psychische Verfassung gefunden hat, die sie vor vier Jahren schilderten. Zeitgeschichte ist für sie keinem Körper im Konservierungstank einer Anatomie vergleichbar, über deren Pforten geschrieben steht: Historia Mundi.

Sie wollen schon mit den Lebenden die Frage nach den Motiven ihres Handelns erarbeiten, und wenn es nicht geht, sie zu klären, sie doch ein wenig weiter aufzuhellen versuchen, als das Bewußtsein es für gewöhnlich erreicht. Beides hat Vorzüge und Nachteile: das anatomische Präparieren am »Nachlaß« des geschichtlichen Prozesses und die methodisch-kritische Beobachtung in vivo.

Um ein Wort aus der Sprachwelt der Informationstheorie zu verwenden: In den voranstehenden Abhandlungen, wie jetzt auch in diesem Nachwort, wird versucht, Beobachtungsergebnisse noch bei Lebzeiten in den Entscheidungsprozeß derer, die an Entscheidungen historischen Ausmaßes mitwirkten, zurückzufüttern.

Die Unfähigkeit zu trauern ist immer noch ein Problem der deutschen Öffentlichkeit, weil es uns offenbar immer noch Schwierigkeiten bereitet, unmittelbare Konsequenzen unseres früheren Verhaltens während des »Dritten Reichs« in ihren Nachwirkungen anzuerkennen.

Dazu ist Einsicht notwendig, und diese scheint in einem sehr konkreten Sinn gestört. Die Aktualität des Inhalts dieser Abhandlungen ist seither nicht nur nicht gemindert, sie ist mit dem Regierungswechsel in der Bundesrepublik 1969 erneut sichtbar geworden. Die Frage unseres Selbstverständnisses im Rückblick auf das »Dritte Reich«, den Zweiten Weltkrieg und die bisher unterbliebenen Anstrengungen, mit dem Osten zu einer Verständigung über die historische Realität zu kommen, einschließlich der psychischen Konsequenzen — die Dissonanzen dieses Selbstverständnisses beherrschen, seit ein sozialdemokratischer Bundeskanzler eine neue Ostpolitik zu inaugurieren versucht, das politische Geschehen in unserem Land. Wir erkennen in ihm ein weiteres Kapitel der Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit. Es sind nicht äußere Streitfragen allein, die dabei nicht zur Ruhe kommen, sondern typische innere Konflikte einer großen Zahl von Menschen, welche die Phase des Dritten Reiches in Deutschland durchlebten. Vielleicht löst sich eine Vorurteilsstarre, die ein Vierteljahrhundert anhielt. Jedenfalls zeichnet sich deutlich ab, daß im Augenblick um eine politische Entscheidung gerungen wird, von der ein Großteil der inneren politischen Entscheidungsfreiheit abhängt. Sie wird durch unsere Fähigkeit bestimmt, uns von kollektiv geteilten Vorurteilen distanzieren zu können.

Die Ereignisse des letzten halben Jahres haben zu erkennen gegeben, daß diese Ablösung keineswegs durchgehend erfolgt ist. Im Gegenteil, die christlich-demokratische Opposition kann aus Affekten, die aus angeblich verletzten nationalen Rechten erweckbar sind, ansehnliches Kapital schlagen. Der politische Streit, der jetzt noch einmal aufgeflammt ist, hat etwas von einer Chimäre, und zugleich ist er todernste Realität. In der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze geht es um den Grad der Bereitschaft, eine Trauer erweckende Wirklichkeit zu ertragen, die aber aus dem eigenen Verhalten herrührt. Die bisherige Außenpolitik der Bundesrepublik wurde so formuliert — jedenfalls in den offiziellen Verlautbarungen —, als ob dies gar nicht so eindeutig klar wäre, daß die Wirklichkeit ein Ergebnis unseres Handelns ist. Die gestern noch führende politische Gruppe der Bundesrepublik hatte vielmehr vorgemacht und tut es weiter, was das Gegenteil von Ertragen der Wirklichkeit ist: Sie verleugnete das Unbequeme und motivierte dies mit Idealen, z.B. der Treue zur Heimat, der Unveräußerlichkeit des Selbstbestimmungsrechtes der Deutschen und ähnlichem.

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Erst das Ertragen der Realität, wie sie ist, schafft aber die Voraussetzung ihrer Änderung zum besser Erträglichen; Verleugnung konserviert unfreiwillig den Status quo. In der Tat hat die Ostpolitik der CDU, wenn die selbstverschuldete Wirklichkeit der Grenzen ins Spiel kam, im Schatten der weltpolitischen Konstellation alles getan, um einen Status quo der Forderungen aufrechtzuerhalten. Die Funktionäre eines realitätsverleugnenden Nationalismus beharren auf Ansprüchen, die eben gerade durch die entsetzliche Erniedrigung der Ostvölker und das unabsehbare Leiden, das wir ihnen zufügten, verwirkt waren. Die innere Konsequenz, der dann folgende Gebietsverlust und Repressalien gegen Millionen Deutscher, war ein Stück historischer Mechanik und entsprechend auch brutal. Wer Sturm sät, kann nicht weniger als Sturm erwarten.

Natürlich ist der Verlust der Umwelt, in der man aufwuchs, schmerzlich. Ohne Zweifel ist es wünschenswert, daß Deutsche, wie andere Völker auch, über die politische Verfassung, in der sie leben wollen, bestimmen können.

Aber da wir doch noch nie in der Geschichte eine Revolution zustande gebracht haben, die diesem Selbst­bestimmungs­recht überzeugend zur Anwendung verholfen hätte, da wir unsere demokratische Verfassung einem Zufall der Geschichte verdanken wie die Deutsche Demokratische Republik mit ihrer Verfassung auch, weil uns die Siegermächte ihre eigenen politischen Systeme verschrieben, so wirkt draußen in der Welt unser Pochen auf »Heimat«, die in einem bedenkenlosen Hasard verspielt wurde, das Pochen auf Selbstbestimmungsrecht wie ein Kunststück grotesker Verstellung. 

Angesichts dieser Lage scheint es eine sehr wichtige Aufgabe, die Einsicht zu vermitteln, daß sich fataler­weise kein willkürlicher Betrug, sondern eine aus unbewußten Schuldmotiven herrührende Entstellung der Wirklichkeit abspielt. Hier wird nichts vorgetäuscht, nichts simuliert, vielmehr sind die Forderungen, die wir so hartnäckig aufrechterhalten, Ausdruck einer kurzsichtigen, unbewußt arbeitenden Selbstverteidigung

Dies versuchte der vorliegende Bericht in einzelnen Schritten darzustellen. Die Ereignisse seit seiner Abfassung haben gezeigt, daß die hier angesprochene Vergangenheit durchaus noch nicht zur Ruhe gekommen ist.

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Auf das Wesentliche reduziert: 

Es ist nicht nur der Verlust der ehemals deutschen Ostprovinzen, der so schwer annehmbar ist. Im Unbewußten nicht weniger wirksam ist die Tatsache, daß wir als »Herrenmenschen« vor den »slawischen Untermenschen«, und dazu noch unter bolschewistischer Führung, bedingungslos kapitulieren mußten. Nur wenn man die Grausamkeit, deren nicht nur die SS, sondern die regulären deutschen Truppen und ihre Führung im Osten fähig waren, als eine von Vorurteilen gedeckte Verhaltensform sieht, die überall, an allen Stellen, an allen Fronten, wo es gewünscht wurde, aktualisierbar war, begreift man, warum gerade Politiker mit christlichem Selbstverständnis auf die Ostgebiete nicht verzichten wollen. Sie können unsere Unmenschlichkeit, die zu den härtesten Kriegsfolgen führte, nicht mit ihrer jetzigen bürgerlich-christlichen Identität zur Deckung bringen. Sie müssen, wie vermittelt sie auch beteiligt sein mochten, deswegen die Vergangenheit in ihren Folgen und Zeugnissen abwehren.

Auf den vorangehenden Seiten wurde einiges davon differenziert: Die schuld- und die schamverursachenden Geschehnisse wurden voneinander geschieden. Jede der beiden Motivationen wirkt auf ihre Weise, beide setzten jedenfalls das Selbstbewußtsein so unter Druck, daß es nur unter Zuhilfenahme der massiven Abwehrtaktiken von Verleugnung und Verdrängung sich aufrechterhalten kann.

Die Autoren dieser Abhandlung hat ein Phänomen seit der Niederschrift besonders beeindruckt: 

Politiker sind offenbar, wie andere Menschen auch, dort nicht lernfähig, wo ihre neurotischen Selbstschutzmechanismen ins Spiel eintreten. Das nun schon zweieinhalb Jahrzehnte währende Manipulieren jener politischen Realität, die so heftig innerlich zurückgewiesen wird, vollziehen Politiker, die in diesem Zusammenhang jedenfalls über einen langen Zeitraum keine innere Entwicklung erkennen lassen. Wir treffen vielmehr auf einen aus der Analyse neurotischer Symptome wohlbekannten Zeitstillstand. Eine Zwangshandlung wird z.B. tausende Male ausgeführt, ohne daß sich die Situation durch diese Handlung ändern würde. So scheinen es in ihrem inneren Entwicklungsspielraum definitiv festgelegte Personen zu sein, die im politischen Selektionsprozeß in die leitenden Positionen einrücken und die für eine Weile nicht nur die politischen Dienstgeschäfte besorgen, sondern im Dienst der Neurose1) mehr oder weniger großer Gruppen der Gesamtpopulation stehen. 

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Jeder Politiker ist vielfach abhängig und alles andere als ein freier Mann. Wir meinen eine besondere Form von Abhängigkeit, in welcher der Politiker im affektiven Kontakt mit seinen »Wählermassen« das Stück tabuierter Realität mit Glacehandschuhen behandelt, das um des momentanen psychischen Wohlbefindens seiner Wähler willen tabuiert bleiben soll. Auf diese Weise läßt sich auf der Ebene der unformulierten affektiven Übereinstimmung zäher Widerstand aufrechterhalten.

In den letzten 25 Jahren stand objektiv trotz versteinert erscheinender Formen des Selbstverständnisses die Zeit in der Bundesrepublik nicht still. Das kann man aus dem Wandel des politischen Illusionismus der Bevölkerung und dem korrespondierenden Verhalten der einander folgenden Bundeskanzler entnehmen. Nur elf Prozent der Deutschen hielten im Sommer 1953, acht Jahre nach Kriegsende, die ehemals deutschen Ostgebiete für verloren, und zwei Drittel der Bevölkerung waren nicht willens, sich den definitiven Verlust einzugestehen. Adenauer war nicht der Staatsmann, der hier auf Aufklärung gedrungen hätte. Trotz allem wuchs die Zahl der Einsichtigen: 1964 machten die Realisten schon 46 Prozent aus, und die Anhänger der Illusion von der Wiederherstellung der Reichsgrenzen von 1937 oder gar 1939 hatten bis auf 25 Prozent abgenommen. Der damalige Kanzler Erhard wich in den spätbürgerlichen Traum einer Gesellschaft aus, die ganz in Ordnung ist, wenn ihre Ökonomie floriert. Politischer Erfolg wird an der Konjunktur gemessen: statt politischer Selbstbesinnung prosperierende Wirtschaft. Nach all dem Grauen, welches das »Dritte Reich« gebracht hatte, ging es den Bundesdeutschen besser als je zuvor.

 

1)  Das Wort »Neurose« wird mit voller Absicht gebraucht. Es soll uns daran erinnern, daß ein aktuelles pathologisches Verhalten — wie die Verleugnung von Kriegsschuld und der Verantwortung für die Kriegsfolgen — mit Reaktionsweisen in Verbindung steht, die in früher Kindheit erworben wurden. Die Formen der (mangelhaften) Konfliktbewältigung in der Kindheit setzen sich im ungünstigen und leider überaus häufigen Fall ein Leben lang störend durch und bestimmen wesentlich den »Charakter« des Einzelnen.

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Die Verbände der Heimatvertriebenen beginnen im Lauf dieser Zeit immer deutlicher den Part eines pervertierten Gewissens zu übernehmen. Sie wollen verhindern, daß vergessen wird; aber es ist das falsche Bild, das bleiben soll — eine geschichtslose Deutschheit: Schlesien ist deutsch, Danzig ist deutsch etc. Aber die Zeit geht weiter. 1967 sind es nur noch 20 Prozent, die glauben, »die Ostgebiete werden noch einmal zu Deutschland gehören«. 56 Prozent haben diesen Glauben aufgegeben.1)  

Aus ideologischen Gründen blieb die Gruppe um Kiesinger, allmählich gegen ihre politischen Interessen, gegen den Wählertrend zur Verständigung, bei ihrer Intransigenz gegenüber jeder Abmachung mit den sozialistischen Regierungen, solange diese nicht die illusorische Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen angenommen haben. 

»Ausgeklammert« (um mit einem Wort Kiesingers zu sprechen) bleibt die Tatsache, daß diese Freiheit in einem Schuldzusammenhang verloren gegangen war, der sich längst bevor die harten russischen Diktate kamen, nämlich schon am 30. Januar 1933, hergestellt hatte. Wie enthusiastisch war sie geopfert worden, diese kostbare Freiheit unserer Gesellschaft, durch diese selbst. Nur angesichts der inneren Zwangslage, mit offensichtlich unbewältigten Schuldgefühlen leben zu müssen, auch wenn man nur Mitläufer war wie Kurt Georg Kiesinger, kann man der Absurdität solcher Haltung Sinn abgewinnen. 

Rückkehr der verlorenen Ostgebiete, Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen symbolisiert für die unbewußte Phantasie dieser Gruppe von Politikern und ihrer Auftraggeber restitutio ad integrum. Die Nazigreuel hat es demnach nie gegeben. Auf dieser unausgesprochenen Annahme verständigen sich immer noch mehr Deutsche, als man es glauben möchte. Wahrscheinlich tun sie das neben der zugleich erfaßten Realität vom definitiven Verlust. Rationale und emotionelle Auffassung der Wirklichkeit müssen im Menschen keineswegs immer zur Deckung kommen oder in Deckung bleiben. Am sinnfälligsten wird das bei der Radikalisierung, wenn Vernunft und auf eine Ideologie bezogener Glaube immer weiter auseinander treten; soweit, daß schließlich das rationale Realitätsbild verschwindet.

1) Alle Zahlen sind Repräsentativumfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie entnommen. Siehe Manfred Bissinger: >Liegt Polens Grenze an Oder und Neiße?< STERN 22/1970, S.176f

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Ein weiterer Faktor fällt mehr und mehr ins Gewicht. Auch an ihm erweist sich die oben erwähnte Beschränkung der Lernfähigkeit von Politikern, die einmal für eine Rolle selektiert wurden. Viele — vor allem in der nachgewachsenen jungen Generation — haben inzwischen eine pragmatische Einstellung zur Frage der Beziehung zu den östlichen Nachbarn erworben, zum Teil unter Ausblendung aller Geschichtstiefe: Der Wohlstand hierzulande wirkt wie die Taube in der Hand, was soll die Jagd nach dem Spatzen auf dem Dach.

Als nur noch 16 Prozent den Traum von unserer politischen Rückkehr in den Ostraum nährten, kam das auch dann noch Unerwartete zustande: Ein politisch entschiedener Gegner der Hitler-herrschaft und Emigrant wurde Bundeskanzler. Damit ist ohne Zweifel ein neues Plateau der Selbstwahrnehmung erreicht. Die deutsche Außenpolitik, die unter der Devise des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik sich seit wenigstens zwei Jahrzehnten immer weiter von der Realität entfernte, kann neue Bewegungsfreiheit gewinnen, wenn diese nachgewachsene Generation Deutscher sie unterstützt. Deutschlands Lage nimmt sich von der Position eines Mannes, der die Naziideologie nie geteilt, deutsche Kriegsziele nie gebilligt hat, noch in die nachnationalsozialistische Schuld- und Schamproblematik persönlich verwickelt ist, anders aus als von der seiner Vorgänger. Er hat eine ungleich größere Bewegungsfreiheit, weil er für seine Partner eine andere Glaubwürdigkeit wecken kann.

So entstand eine Rivalität in der deutschen Politik, die sich eindeutig von der Vergangenheit herleitet, von Belastung in ihr bzw. Unbelastetheit von ihrer Schuldrealität. Die sofort einsetzende »Verhärtung« der Einstellung zur Ostpolitik bei den christdemokratischen Politikern lieferte den Beweis. Tatsächlich reagieren sie oft mit dem Auftauchen eines von dem ihren abweichenden Ost-Konzeptes, als hätten sie, wie einst Adenauer, einen neuen »Abgrund von Landesverrat« erblickt. Sie betreiben, in die Opposition verwiesen, ihre parlamentarische Aufgabe unpolitisch und erliegen dem pharisäischen Anteil ihrer unbewußten Rivalitätszwänge.

Wenn diese Rechnung nicht mehr aufgeht, dann hat die Nachkriegsgeneration daran den entscheidenden Anteil. Auch dies geht eindeutig aus den zitierten Befragungen hervor und bestätigt unsere These, daß es großenteils unbewußt gewordene und heftig abgewehrte Schuldgefühle sind, nicht rationales Kalkül, was das ostpolitische Konzept der Bundesrepublik bis zum Jahre 1969 bestimmt hat. Mit dem Eingreifen einer neuen Generation ändert sich fast mühelos, was bis dahin sich wie eine »Wacht an allen deutschen Reichsgrenzen« ausnehmen mußte.

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Der neue Ansatz der deutschen Ostpolitik könnte ein Stück der so lange aufgeschobenen Bearbeitung der Vergangenheit unter dem Realitätsprinzip bewirken. Denn diese Politik wurde bisher mit einem trickartigen Doppelargument gedeckt: einerseits Versicherung unserer Friedfertigkeit, andererseits Fortsetzung der Ostpolitik des Dritten Reiches: keine Verhandlung, ohne daß der siegreiche ehemalige Gegner sich nicht bereit erklärt, unsere Friedensbedingungen zu akzeptieren. Ein so bizarres Konzept bliebe unverständlich, hätte man nicht Zugang zu den unbewußten Motiven, die hinter ihm stecken. Freilich muß man zu sehen gelernt haben, wie unbeherrschbar unbewußte Kräfte im Verhalten des Einzelnen und von Gruppen aller Größenordnungen sich auswirken können. Eine frühzeitige Rückkehr jener Kräfte zur Regierung, die ihre Popularität durch Verleugnung der weiterwirkenden Konsequenzen der nationalsozialistischen Ostpolitik abzusichern bestrebt waren, eine solche abermalige Abwendung von der historischen Redlichkeit würde ein neues Scheitern einer auf rationale Zukunftsvorstellungen gerichteten Politik einleiten. Sie hat sich spät genug angebahnt.

Das Nachwort im Jahre 1970 kann nur nochmals die Bedeutung und die Wirkungsvielfalt unbewußter Motive unterstreichen, die als dynamisches Element in politischen Prozessen wirken. Diese Motive beziehen ihre Kraft aus der Artikulierung oder aus der Verschleierung des Wahrnehmbaren. Jeder, der sich um die Genauigkeit in der Beobachtung seiner selbst und seiner Welt bemüht, handelt dadurch auch politisch. 

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1. Juli 1970,
A. und M. Mitscherlich

 

 

 

 

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