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Ein Massengrab, so groß wie die Erde

Von Nicolas Weill,  Le Monde, 21.11.1997   fr.wikipedia  Nicolas Weill  *1957 

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Im Grunde genommen ist es gut, wenn ein so umfangreiches Buch wie das Schwarzbuch des Kommunismus eine so heftige Kontroverse entfacht, daß selbst im Gebäude der Pariser Nationalversammlung oder im Justizpalast von Bordeaux die Wände davon widerhallen. In jenem Justizpalast sitzt nämlich Jean-Marc Varaut, der als Verteidiger von Maurice Papon verlangt hat, daß das Schwarzbuch in die Akten aufgenommen wird. 

Leider hat die Polemik den abartigen Umstand zur Folge, daß sich die Aufmerksamkeit und das Interesse an diesem Buch auf die rund 30 Seiten der Einleitung und auf das Schlußkapitel beschränken. 

Beide Texte stammen von der Hand Stephane Courtois' und drängen einen Großteil des Werkes in den Hintergrund, nämlich den Teil, der das die ganze Welt umfassende Ausmaß der Tragödie beschreibt.  

Dennoch werden die weltweite Bedeutung des kommunistischen Phänomens und die verheerenden Auswirkungen der damit einhergehenden Repression nirgends deutlicher als in der Studie, die sich mit der asiatischen Entwicklung des Phänomens beschäftigt. Aus Asien nämlich kommen die hohen Opferzahlen dieser grauenvollen Bilanz. Und die Tragödien, die sich dort abgespielt haben, sind wesentlich weniger bekannt als die von Europa. 

Dank sei Jean-Louis Margolin von der Universite de Provence, der die Kapitel über China, Vietnam und Kambodscha geschrieben hat. Bedauerlich ist jedoch – ganz nebenbei bemerkt –, daß Georges Boudarel, einer der Akteure in diesem Stück, als eine für Vietnam zuständige wissenschaftliche Referenz zitiert wird, als ob sein Fall nicht selbst eine heftige Polemik ausgelöst hätte. Ebenfalls bedauerlich ist, daß Serge Thion im Zusammenhang mit Kambodscha erwähnt wird, ohne auf einen der aktivsten französischen Negationisten einzugehen.

Für den asiatischen Raum eine Geschichte des Kommunismus zu schreiben ist wahrlich nicht leicht. Denn bis auf Kambodscha sind die Archive nach wie vor nicht frei zugänglich. Außerdem sind die Ereignisse wesentlich jünger als der sowjetische große Terror von 1937/38.

Der Völkermord von Kambodscha (mit vielleicht zwei Millionen Toten, doch endgültige Zahlen stehen noch aus) liegt gerade einmal zwanzig Jahre zurück. Chinas »großer Sprung nach vorn« der Jahre 1959 bis 1961, der nach den seit 1988 vorgelegten quasi offiziellen Schätzungen 20 Millionen Menschen das Leben gekostet haben soll (andere geben eine – auch den Kannibalismus berücksichtigende – Zahl von 43 Millionen an), fand zur gleichen Zeit wie die ersten Raumflüge statt. Erst seit den achtziger Jahren gibt es erste Studien über die katastrophalen Folgen der bis heute größten Hungersnot der Menschheitsgeschichte. Sie ist weitgehend auf eine unrealistische Zahlen anstrebende Zwangskollektivierung und auf Beschlagnahmung mit unmenschlicher Härte zurückzuführen.

Selbstverständlich wurden die Zahlen aus Asien noch nicht mit der gleichen historiographischen Genauigkeit ermittelt wie diejenigen aus der ehemaligen UdSSR oder aus Osteuropa. Aber bereits an der enormen Bandbreite und den hohen Mindestzahlen wird das unglaublich große Ausmaß der Repression und der Massaker deutlich. Auch wenn der Gulag in seinen Spitzenzeiten 2.753.000 »Spezialsiedler« zählte, ist sein chinesisches Pendant, der Lagerarchipel Laogai, wo man durch Arbeit »umerzogen« wurde, »das meistbevölkerte Kerkersystem aller Zeiten«. »Die strahlende Sonne des Maoismus«, schreibt Jean-Louis Margolin, »ließ Dutzende von Millionen Menschen verschwinden, bis zur Mitte der achtziger Jahre insgesamt 50 Millionen (...), die Zahl ist nur eine Größenangabe (...), etwa 20 Millionen Chinesen starben während der Haft.«

Abgesehen von dieser Bilanz mit ihren schockierenden, weil bisher unbekannten Zahlen, deckt das Schwarzbuch eine ganze Reihe von geheimgehaltenen Massakern auf. Während die Roten Khmer Ende der siebziger Jahre ihre Schreckenstaten begehen, machen sich im Westen die letzten Symptome einer Haltung bemerkbar, die bestenfalls als Unwissenheit und langjährige Blindheit gegenüber dem »realen Sozialismus« bezeichnet werden kann. Als Symbol für diese Blindheit führt Stephane Courtois einen wenig vorzeigbaren Aragon an (unter anderem sein seltsames Gedicht aus dem Jahre 1931 zum Ruhm der GPU, der politischen Polizei der UdSSR). 

Die im Schwarzbuch aufgelisteten Vorfälle, die bisher nicht wirklich von der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis genommen wurden, lassen sich nicht zählen:


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Polens »eiserner Sozialismus« der Jahre 1948 bis 1956 (84.200 Personen wanderten in die Arbeitslager - so der Historiker Andrzej Paczowski, hinzu kamen 8700 Oppositionelle, die zwischen 1944 und 1947 in einem Bürgerkrieg, den man nicht als solchen zu bezeichnen wagte, umgebracht wurden); ferner wurden 200.000 Tschechoslowaken zwischen 1948 und 1954 durch die Lager geschleust, und Karel Bartosek zählt für die Jahre 1946 bis 1956 110.000 Bulgaren, die das gleiche Schicksal erlitten; nicht zu vergessen die Opfer (etwa eine Million) der großen chinesischen Kulturrevolution, deren Folklore eine Zeitlang in Frankreich so beliebt gewesen ist, usw.

Einige der Schwarzbuch-Autoren distanzieren sich heute von Stephane Courtois wegen der Parallele, die dieser zwischen dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus zieht. Dieser Vergleich hat heftige Reaktionen ausgelöst, auch Vorwürfe, beispielsweise den von Jean-Louis Margolin, zu »voreilig« gewesen zu sein. Die skandalöse Vorstellung einer erblichen Klassenzugehörigkeit, die von zahlreichen Regimes der UdSSR und Asiens mit den entsprechenden strafrechtlichen und für die Betroffenen oft tödlichen Konsequenzen umgesetzt worden ist, hat - ob man will oder nicht - einige Gemeinsamkeiten mit einem Rassismus, der die Leute für das, was sie sind, und nicht für das, was sie tun, ausrotten will.

Wenn ein Mädchen in der maoistischen Volksrepublik China die restliche Strafe ihres im Laogai umgekommenen Vaters verbüßen muß, wenn im »demokratischen Kampuchea« die Kinder eines »Knechts des Imperialismus« mit ihrem für »schuldig« befundenden Erzeuger inhaftiert, gefoltert und umgebracht werden oder wenn die Gesellschaft in Kategorien eingeteilt wird, die zuweilen sogar einen Untermenschen - halb Sklave, halb Arbeitstier - kennen (das »neue« und das »frühere« Volk von Kambodscha, die »Schwarzen« und »Roten« der chinesischen Kulturrevolution), so führt das zweifelsohne zu einem solchen Vergleich...

Nach einer Lektüre des Schwarzbuchs kann man die Ursprünge des Terrors nicht mehr in einer auf lokale oder internationale Konflikte (Bürgerkrieg in der UdSSR, amerikanische Bombardierung in Indochina usw.) zurückgehenden Brutalisierung suchen, auch nicht in einer angeblich traditionsbedingten Form asiatischer Gewalt und Unterwürfigkeit, die schon lange vor der Machtübernahme durch die Kommunisten existiert habe. 

Die Unnachgiebigkeit und Härte der Kommunisten ist von einer ganz eigenen Art.

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Nach Jean-Louis Margolin hatten eine ganze Reihe von Anführern der Roten Khmer - angefangen bei Pol Pot selbst - in den fünfziger Jahren Gelegenheit, sich diese anzueignen. Damals gehörten sie nämlich zu den Zellen der PCF, wo man von Robespierre schwärmte. Dennoch gesteht Margolin ein, daß die späteren Herren von Kambodscha in ihrer Ausbildung mehr dem chinesisch-vietnamesischen Modell als dem französischen Kommunismus verpflichtet sind.

Betrachtet man jedoch die »Pausen«, so steht der Vergleich zwischen dem Nationalsozialismus und Kommunismus auf schwachen Füßen. Die kurze - nämlich zwölf Jahre währende - Existenz des Dritten Reiches war sehr wohl durch einen Prozeß »zunehmender Radikalisierung« geprägt. Für die Geschichte des Kommunismus trifft dies aber nicht zu. Wie wären sonst die langen Phasen des politischen »Tauwetters«, die Perestroika oder der Teilübergang des postmaoistischen Chinas zur Marktwirtschaft zu analysieren?

Natürlich kann man das Nachlassen der staatlichen Unterdrückung auch damit erklären, daß bereits »die Erinnerung an die Repression« die gewünschte Wirkung bringt. Es ist jedoch zu vermerken, daß einige osteuropäische Regimes auch über andere Mittel als den politischen Terror eine bestimmte Form von Folgsamkeit erreichen konnten. Im Rumänien Ceausescus war es der Nationalismus, bei bestimmten Gesellschaftsschichten in der Tschechoslowakei der soziale Aufstieg, und in Asien war es die Teilliberalisierung der Wirtschaft, die immer mehr Menschen dem staatlichen Zugriff entzog.

Die Folgsamkeit gegenüber dem eigentlichen Terror ist nach wie vor eines der größten Geheimnisse dieser dunklen Geschichte.

 

Quelle: Le Monde, 21. November 1997

 


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Jens Petersen

Die Verwandlung des Gartens in eine Kaserne. 

Lösungen eines Bannes: Der Begriff des Totalitarismus kehrt in sein Ursprungsland Italien zurück

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 1998

 

Je weiter sich das zwanzigste Jahrhundert seinem Ende nähert, desto stärker tritt im Bewußtsein auch der italienischen Kultur der Gewaltcharakter dieser Epoche zutage. Der Stadtrat von Turin hat vor einiger Zeit mit linker Mehrheit die Einrichtung eines »Museums der Deportation« beschlossen. Es soll der Erinnerung an die jüdischen Italiener und Widerstandskämpfer aus der Region Piemont gewidmet sein, die nach der im September 1943 erfolgten Besetzung Nord- und Mittelitaliens durch deutsche Truppen in das Territorium des Deutschen Reichs deportiert wurden und von denen die meisten nicht zurückkehrten. Die Biographie und das (Euvre von Primo Levi stehen im Zentrum dieses Projekts. Die Mitte-Rechts-Opposition hatte statt dessen die Errichtung eines »Museums der Sowjetlager« vorgeschlagen.

Der zum Imperium des Medienzaren Silvio Berlusconi gehörige Verlag Mondadori wird demnächst eine Übersetzung des beim Pariser Verlag Laffont erschienenen Schwarzbuch des Kommunismus. Verbrechen, Terror, Unterdrückung herausbringen. Der Turiner Verlag Bollati Boringhieri hat vor kurzem die vergleichende Geschichte der Konzentrationslager von Andrzej Kaminski herausgebracht (auf deutsch zuerst 1982). Der aus Polen stammende und zuletzt an der Universität Wuppertal lehrende Zeithistoriker vertritt darin die These, das prägende Charakteristikum dieser Epoche der Gewalt sei das »Konzentrationslager« gewesen in seinen vielfältigen Ausprägungen und seinen schrecklichsten Realisierungen, dem nationalsozialistischen KZ und dem sowjetischen GULag. Die weitgehend positive Aufnahme dieses Werkes in der italienischen Presse zeigt, daß die Vorstellung eines »totalitären« Zeitalters und der Vergleichbar-


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keit der Diktaturen Hitlers und Stalins inzwischen weitgehend akzeptiert wird. Der vielleicht beste italienische Kenner russischer Literatur und Kultur, Vittorio Strada, schrieb Anfang September 1997 im Corriere della Sera: »Der Archipel GULag ist die andere Seite des Holocaust«, beide seien »organischer Teil der totalitären Systeme«.

Ende Oktober 1997 hat eine Gruppe linker, der Resistenza-Geschichtsschreibung nahestehender Zeithistoriker in Siena eine Tagung über das Thema »Die totalitäre Erfahrung im zwanzigsten Jahrhundert« veranstaltet. Es war kein Zufall, daß innerhalb der italienischen Presse die linkskommunistische Tageszeitung Il Manifesto dieser Tagung den breitesten Raum gewährte. Sie druckte den Beitrag von Zygmunt Bauman ab, der im Anschluß an Hannah Arendt die Konstruktion des »objektiven Feindes« als das eigentlich auslösende Moment institutionalisierter Gewalt beschrieb. Die Turiner Stampa konstatierte kürzlich, der Antikommunismus werde hoffähig, es handle sich um »das Ende eines Tabus« auch auf der Linken. Lange geächtete »antitotalitäre«, sowohl antifaschistische wie antikommunistische Figuren der italienischen Kultur wie Gustaw Herling, Ignazio Silone, Nicola Chiaromonte, Ernesto Rossi, Gaetano Salvemini oder Edgardo Sogno erfahren eine Neubewertung oder werden gar erst in ihrer historischen Bedeutung entdeckt.

In einer im eigentlichen Sinne »merkwürdigen« Parabel kehrt so das Totalitarismuskonzept nach Italien zurück, von wo es Anfang der zwanziger Jahre seinen Ausgang genommen hatte. Die begriffsgeschichtliche Entwicklung des Neologismus ist in ihren groben Umrissen erforscht. Der Begriff wurde im Umfeld der antifaschistischen Oppositionsgruppen geboren, die vor der Schwierigkeit standen, die entstehende neuartige, auf Gewalt und Massenkonsens gegründete Diktatur Mussolinis auf den Begriff zu bringen. Ausgehend von einer Neuaufnahme traditionaler Begriffe wie Tyrannis, Diktatur und Absolutismus, bildete sich 1923/24 im intransigenten Liberalismus, im Linkskatholizismus, bei den Republikanern und bei den Sozialdemokraten der Begriff der »Totalitären« heraus.

Der Geist der Intoleranz und des Machtwillens auf seilen der Faschisten zeigte sich zum Beispiel auf dem Gebiet der Kommunalpolitik. Die Faschisten zwangen allenthalben die Kommunalvertretungen zum Rücktritt. Bei den folgenden Neuwahlen stellten die Faschisten nach gewaltsamer Ausschaltung der Opposition sowohl die Mehrheits- wie die Minderheitslisten.


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Giovanni Amendola, der spätere Führer der antifaschistischen Opposition des Aventin 1924/25, nannte dieses Vorgehen in einem Artikel vom 23. Mai 1923 im Gegensatz zum sistema maggioritario und sistema minoritario ein sistema totalitario, ein totalitäres System, »das die absolute und unkontrollierte Herrschaft im kommunalen Bereich versprach«. Dieses ist ein gewissermaßen »technischer« Gebrauch des neuen Begriffs. Zugleich aber deutete er auf etwas fundamental Neues. Demokratie lebt von der Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen und dem Schutz von Minderheitsrechten. Der Faschismus war nicht bereit, diese Basisregeln zu akzeptieren.

Schnell breitete sich der neue Begriff ab 1923/24 in der italienischen Presse aus, bezeichnenderweise auch im dissidenten Faschismus. So sagte am 29. Mai 1923 Alfredo Misuri, einer der innerparteilichen Opponenten Mussolinis, im Parlament, Italien sei dabei, sich von einem Garten in eine Kaserne zu verwandeln. »So werden wir leider bald auch die faschistischen Kommunalvertretungen erschöpft sehen, die mit einem System geschaffen worden sind, das man scharfsinnigerweise als <totalitär> bezeichnet hat. Das ist ein Vorgeschmack für das, was eine totalitäre Kammer sein könnte.« Am Abend dieser Rede wurde Misuri von einem faschistischen Schlägertrupp überfallen und fast zu Tode geprügelt. 

Ende 1923 äußerte Giovanni Amendola, »das bedeutsamste Charakteristikum der faschistischen Bewegung« werde für künftige Historiker ihr »totalitärer Geist« sein. Am 2. Januar 1925 schrieb der junge Sozialist Lelio Basso in der Zeitschrift La Rivoluzione Liberale, der Faschismus setze sich mit der Nation gleich, »jede Opposition gegen ihn ist Verrat, jedes Verbrechen rechtfertigt sich durch seine nationalen Zwecke ... Eine einzige Partei macht sich zum Interpreten des Volkswillens, das heißt des unterschiedslosen Totalitarismus.« 

Hier erscheint, soweit bekannt, der Begriff des Totalitären erstmals in substantivischer Form. Nahezu gleichzeitig übernahm Mussolini in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom 3. Januar 1925 »die politische, moralische, historische Verantwortung für alles, was geschehen ist«. Das bedeutete den Übergang zur offenen Diktatur und die Unterdrückung aller Opposition.

In seinen letzten öffentlichen Äußerungen im Juni 1925 sah Giovanni Amendola zwei das liberale System gleichermaßen bedrohende Konzeptionen, die »die mehr als hundertjährigen Grundlagen des modernen politischen Lebens umzustürzen drohen, Kommunismus und Faschismus, beide eine totalitäre Reaktion auf Liberalismus und Demokratie«.


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Eine Woche nachdem Amendola den Faschismus als »schreckliche Krankheit der modernen Welt« charakterisiert hatte, nahm Mussolini den Kampfbegriff auf und sprach von »jenem Ziel, das als unser unerbittlicher totalitärer Wille definiert wird« und das der Faschismus »mit noch größerer Unerbittlichkeit« weiterverfolgen werde: die hundertprozentige Faschisierung der Nation. In diesem Augenblick überschnitten sich die beiden begriffsgeschichtlichen Linien: Der vom intransigenten Antifaschismus geprägte Begriff des Totalitären als Ausdruck für »das politische Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts« (G. Leibholz) wurde vom angehenden Diktator zum Banner seines triumphierenden Missionsprogramms gemacht.

Seit der diktatorialen Wendung vom Frühjahr 1925 gibt es so innerhalb und außerhalb Italiens eine doppelte Begriffsgeschichte des Totalitären, als positive Selbstcharakteristik des faschistischen Regimes und als antifaschistischer Kampfbegriff. Letzterer fand dank der antifaschistischen Emigration und ihrer publizistischen Präsenz in den großen europäischen Sprachen auch außerhalb Italiens Gehör. Deutsche Übertragungen sprachen anfangs von »Totalismus« oder von »Totalitätssystem«. In der Frankfurter Zeltung taucht der Begriff des »Totalitarismus« erstmals im Herbst 1925 auf. Die doppelte Entwicklung des Begriffs in der katholischen, republikanischen oder auch sozialdemokratischen Opposition ließe sich in Texten von Luigi Sturzo, Alcide De Gasperi, Carlo Rosselli, Filippo Turati oder Pietro Nenni nachzeichnen.

Nach 1933 hielt das Theorem des Totalitarismus Einzug in die große Politik. Es tauchte in der Sprache der Diplomatie, der internationalen Presse und der politologischen Forschung auf, und zwar sowohl in der kritischen wie in der programmatischen Version. In diesem semantischen Krieg verlor die positiv gemeinte Selbstdarstellung des Faschismus zunehmend an Boden. Luigi Sturzo, der geistige Kopf der katholischen Emigration, veröffentlichte 1935 auf spanisch seine Schrift El Estado Totalitario, in der er sich mit den Diktaturen Mussolinis, Hitlers und Stalins auseinandersetzte. Bereits in diesem Text sind fast alle Elemente der späteren Totalitarismus-Theorie präsent.


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Etwa zur gleichen Zeit schrieb der Gründer der radikaldemokratischen Gruppe »Giustizia e Liberia«, Carlo Rosselli: »Die Ablehnung des starken Staates, der Antitotalitarismus ist heute das Kampfeszeichen der unterdrückten Gesellschaft. Freiheit gegen Diktatur, Recht gegen Privileg und die Immanenz des Menschen gegen jede Transzendenz.« Auch in der ersten Erklärung des europäischen Föderalismus, dem von Ernesto Rossi und Altiero Spinelli 1941 in faschistischer Haft ausgearbeiteten Manifest von Ventotene, steht der »totalitäre« Staat Orwellscher Prägung im Zentrum der Analyse.

Trotz dieser langen Vorgeschichte hat der Begriff des Totalitarismus in der italienischen Kultur der Nachkriegszeit kaum eine Rolle gespielt. Zu den bestimmenden Faktoren der Situation Italiens in den Jahren 1944/45 zählte zunächst, daß seit dem Juni 1944 eine starke Koalition antifaschistischer Parteien die Regierung in Rom stellten; sodann, daß an der »Resistenza«, der stärksten Widerstandsbewegung Westeuropas, die Kommunisten in führender Position beteiligt waren; und drittens, daß die liberalen und demokratischen Gruppierungen aus einer Position der relativen Schwäche heraus agierten.

Unter diesen Umständen hatte das Totalitarismus-Theorem kaum große Rezeptionschancen. Alle wichtigen europäischen und amerikanischen Beiträge zur Totalitarismus-Debatte wurden in Italien sehr spät oder überhaupt nicht übersetzt. Noch Ende der sechziger Jahre gruppierte der Zeithistoriker Renzo De Felice in seinem Werk »Die Interpretationen des Faschismus« die Totalitarismus-Theorie in der Restkategorie der »kleineren Interpretationen« ein und konzedierte ihr nur wenige Seiten. Die der kommunistischen Partei nahestehenden Intellektuellen geißelten sie als schlimmste Form des Antikommunismus. Palmiro Togliatti publizierte in der Parteipresse Brandartikel gegen den Begriff des Totalitarismus als anglo-amerikanische semantische Invasion.

Einer der prominentesten kommunistischen Historiker, Delio Cantimori, schrieb 1946: »Es ist nicht sehr seriös, die neuen Begriffe >totalitär< und >Totalitarismus< zu benutzen. Dies ist ein Begriff, den man bei Lippmann, Chamberlain und anderen berühmten amerikanischen und englischen Autoren finden kann, die sich mit Politik beschäftigen. Der Zweck bei der Benutzung des Konzepts im Journalismus ist klar; es ist eine sehr clevere propagandistische Methode, den politischen Gegner zu beschuldigen, ein >Feind der Freiheit< zu sein. So findet er sich in der gleichen Gesellschaft wieder wie der Faschist und der Nationalsozialist.«


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Der größere Teil der italienischen Kultur nach 1945 ist durch eine Phase der Zugehörigkeit oder der Nähe zum Kommunismus hindurchgegangen. Selbst Renzo de Felice war bis 1956 Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens. So erwies sich die Strategie der begrifflichen Immunisierung als sehr erfolgreich. Das Konzept des Totalitären blieb bis in die siebziger Jahre weitgehend tabuisiert. Das ließe sich zum Beispiel an der Rezeptionsgeschichte von Solschenizyn zeigen, dessen Archipel GULag nur ein geringes Echo fand, oder auch an Person und Werk von Hannah Arendt, die in Italien erst in den achtziger Jahren wirklich rezipiert wurde. Über diese Blockierung und Tabuisierung schreibt Francois Furet in seinem Buch Das Ende der Illusion (1996): »In einem Land wie Italien, wo die Ideologie des Antifaschismus die größte Verbreitung fand, konnte das Konzept des Totalitarismus niemals heimisch werden. Dieses Theorem wurde ignoriert und quasi mit Verbot belegt - und das in einem Land, wo das Wort ursprünglich entstanden war.«

Die beginnende Totalitarismus-Diskussion betrifft nicht nur die historische Gesamtwahrnehmung der Sowjetunion und des Weltkommunismus. Sie betrifft auch das Bild der Kommunistischen Partei Italiens. Die parteinahen Historiker hatten seit den siebziger Jahren die »liberalen« Züge der KPI-Geschichte betont, ihre nationalbetonten Positionen in der Resistenza-Zeit, ihre Kompromiß­bereitschaft in der Suche nach einem eigenen »nationalen« Weg, ihren »Realismus« und ihre Unabhängigkeit von Moskauer Direktiven. Alle diese Interpretationen werden jetzt massiv in Frage gestellt durch die erstmals zugänglichen Dokumente in den Moskauer Archiven.

Vor einigen Wochen erschien eine Darstellung von Elena Aga Rossi und Victor Zaslavsky // Pci e la politica estera italiana negli archivi di Mosca (Verlag II Mulino), aus der hervorgeht, wie stark und kontinuierlich die Moskauer Kontrolle war. Der sowjetische Botschafter in Rom, Michael Kostylew, wirkte nach 1944, wie seine fast täglichen Kontakte mit führenden Funktionären der italienischen Kommunisten und seine wöchentlichen Berichte nach Moskau zeigen, als eine Art Prokonsul Stalins auf italienischem Boden. Bei vielen Fragen, so bei der berühmten »Wende von Salerno« im März 1944, bei der Triest-Politik oder der Mitarbeit an den Regierungen De Gasperis zeigt sich die direkte Abhängigkeit der KPI von den Moskauer Ratschlägen und Weisungen. Diese Erkenntnisse sind historiographisch wie politisch von hohem Interesse. Der Corriere della Sera spricht von einer der wichtigsten Neuerscheinungen der letzten Jahre. »Jeder wohldenkende Leser wird berechtigterweise erleichtert aufatmen bei dem Gedanken, welcher Gefahr Italien damals entgangen ist.«

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Januar 1998

 

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JENS PETERSEN

Abschied von einer Illusion.

Das Schwarzbuch des Kommunismus und Italiens Kultur

 

Auf blutrotem Untergrund prangen schwarz Hammer und Sichel. Das Schwarzbuch des Kommunismus. Verbrechen, Terror, Unterdrückung kam in Italien Ende Februar auf den Markt und eroberte schon in den ersten Tagen die Spitze der Bestsellerliste. Der Verlag Mondadori brachte den 800-Seiten-Wälzer zu dem Taschenbuchpreis von umgerechnet 32 Mark heraus. Der Absatz rechtfertigte diesen Lock- und Kampfpreis. Mehr als 100.000 Exemplare wurden in den ersten zwei Wochen verkauft. Kaum je in der Nachkriegszeit hat ein »Sachbuch« einen solchen Absatzerfolg erzielt. Kaum je aber auch hat eine Neuerscheinung ein solches Echo ausgelöst.

Der Herausgeber Stephane Courtois bereiste Italien als Star von Pressekonferenzen und Buchvorstellungen. Die Presse publizierte ein Dutzend Interviews, in denen er betonte, die Oktober­revolution habe man »als ein rein negatives historisches Phänomen zu betrachten. Und zwar von Anfang an«. Diese Botschaft trifft auf eine Gesellschaft, die mehr als vier Jahrzehnte im Zeichen des Antifaschismus und der Resistenza im Umkreis einer kulturellen Hegemonie der Kommunisten gelebt hatte und für die mehrheitlich der Antikommunismus der Koestler, Silone und Solschenizyn eine Sünde wider den wahren Geist repräsentiert hatte. 

Wie immer in Italien mischen sich bei wichtigen zeitgeschichtlichen Kontroversen historiographisches und politisches Interesse. Während der Präsident der »Nationalallianz« Gianfranco Fini auf dem Parteitag in Verona Ende Februar die Frage »Kommunismus« für historisch erledigt erklärte, ließ der »Forza Italia«-Chef Silvio Berlusconi unter den Delegierten einige hundert Exemplare des noch druckfrischen, in seinem Verlag Mondadori erschienenen Schwarzbuches verteilen — als Beweis für die fortdauernde Aktualität der kommunistischen Gefahr.


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Weniger ein Beitrag zur Erforschung einer der großen Ideologien dieses Jahrhunderts, ist die Rezeption dieses Buches vielmehr ein Lackmustest auf die geistigen Veränderungen der italienischen Gesellschaft. War der Weltkommunismus ein bei aller Vielfalt in seinem Kern einheitliches und auf Gewalt aufgebautes System? Läßt sich sein wesentlicher Charakter auf »Verbrechen, Terror und Unterdrückung« zurückführen? Hat man die direkten Opfer der kommunistischen Regime in einer Größenordnung von 90 bis 100 Millionen Toten zu sehen, wie die Autoren des Schwarzbuches behaupten? Dies sind tief verstörende Fragen für alle diejenigen Italiener, die sich früher einmal Kommunisten nannten oder auch heute noch nennen.

Bei den Europa-Wahlen 1984 wählte mehr als ein Drittel KPI. Italien verfügte nach 1945 über die größte kommunistische Partei der westlichen Welt. Die Utopie der egalitären Gesellschaft übte eine große Faszination aus. Der Schriftsteller Ignazio Silone, selbst früher Kommunist, sprach resigniert davon, der Endkampf werde zwischen Kommunisten und Exkommunisten stattfinden. Parteiführer Enrico Berlinguer sprach zwar Anfang der achtziger Jahre davon, die »vorwärtstreibende Kraft« der Oktoberrevolution sei erschöpft, aber die Loslösung der KPI aus den Bindungen des realen Sozialismus verlief quälend langsam. Noch in den achtziger Jahren erhielt die Partei Subventionen aus Moskau. Aus Furcht vor einem Staatsstreich nach chilenischem Muster bewahrte man noch damals die KPI-Archive in der sowjetischen Hauptstadt auf. Diese Vergangenheit bildet für die heutigen, mit der Regierung Prodi an die Macht gekommenen Linksdemokraten ein schwieriges Erbe und eine Flanke großer Verwundbarkeit.

Parteichef Massimo D'Alema versuchte deshalb, die Brisanz des mit Erscheinungstermin März angekündigten Schwarzbuchs präventiv zu entschärfen. Am 18. Januar dieses Jahres publizierte er in der Unità einen zweigleisigen Beitrag »Ideen für eine Linke im Jahre 2000«, in dem er abschließend auch auf die Frage des Weltkommunismus zu sprechen kam. »Es steht außer Zweifel, daß es sich um eine Tragödie handelt, die unser Leben und unser Selbstverständnis tief berührt. Die kommunistische Bewegung, die mit dem Ziel der Befreiung des Menschen angetreten war, hat sich überall dort, wo sie die Macht eroberte, rasch in eine Gewalt der Unterdrückung verwandelt. Es bildete sich so ein Totalitarismus, der sich enormer Verbrechen schuldig gemacht hat.«


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Und weiter: »Unter den Fahnen des Kommunismus entstand nicht der neue Mensch, sondern eine hassenswerte und schreckliche Form der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen.« In den »dunklen Jahren des Stalinismus« habe die KPI Togliattis eine »Mitverantwortung« zu tragen. Die Loslösung von Moskau sei »voller Widersprüche gewesen und geprägt durch Schweigezonen und Unentschlossenheiten«.

Nichtkommunstische Linke, Sozialisten, Demokraten und Linkskatholiken hätten die wahre Natur des Kommunismus früher und präziser erkannt. In diesen Worten findet »der lange Abschied von der KPI« (so der Titel eines vor kurzem erschienenen Buches von Nello Ajello) quasi einen Abschluß.

Welche Aufnahme hat das Schwarzbuch in der italienischen Kultur gefunden? Das Echo reicht von begeisterter und kritikloser Zustimmung auf der postfaschistischen Rechten (»Wir haben es ja immer gewußt und gesagt«) bis zu radikaler Ablehnung bei den orthodoxen Kommunisten von »Rifondazione Comunista«. Die konservative römische Tageszeitung Il Tempo forderte, das Schwarzbuch müsse als Pflichtlektüre in den Oberschulen eingeführt werden. Luciano Canfora dagegen spricht in der Tageszeitung Liberazione von einem finsteren Pamphlet mit makabren Zahlenspielereien. Hier werde mit »frei erfundenen oder bewußt gefälschten Daten« gearbeitet, um die Erinnerung an die Sowjetunion und den Weltkommunismus in den Schmutz zu ziehen.

Differenziertere Analysen brachte die Tageszeitung Il Manifesto. Sie widmete diesem Thema ein halbes Dutzend Beiträge, unter anderen von P. Ingrao, D. Bidussa, L. Pintor. Rossana Rossanda nannte in ihrem Aufsatz Ein Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen das Schwarzbuch »zusammengeschustert und parteilich«. Trotzdem verdiene es eine aufmerksame Lektüre. Die Feststellung sei unumgänglich: »Wo immer die Kommunisten an die Macht gekommen sind, ist das staatliche Monopol der Gewaltanwendung intensiver und dauerhafter ausgeübt worden als in irgendeiner Demokratie.« Die Kommunisten haben weder vor noch nach 1989 eine Bilanz des realen Sozialismus gezogen. Noch weniger haben sie analysiert, warum die Repression ein bestimmendes Strukturmerkmal geworden war. Diese schmerzende Untersuchung hat man den Gegnern überlassen. »Die Frucht war überreif und beschmutzt uns jetzt mit ihren Spritzern.«


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Der bedeutendste Beitrag der ganzen Diskussion erschien Anfang April. »Nein, es hat niemals einen gerechten Kommunismus gegeben ... Wo immer er regierte, herrschte der Terror«, unter diesem (wenige Jahre zuvor noch völlig undenkbaren) Titel publizierte die Tageszeitung der Linksdemokraten L'Unità am 3. April ein zweiseitiges Interview mit Norberte Bobbio, dem hochangesehenen Nestor der politischen Philosophie in Italien. Bobbio akzeptierte jetzt die Hauptthese des Schwarzbuchs, »die unlösbare Beziehung zwischen Kommunismus und Gewalt, zwischen Marxismus und Despotismus«. - »Der Kommunismus hat ein Terrorregiment installiert, wo immer er an die Macht kam.« - »Die Mechanismen der terroristischen Gewaltausübung, die Quantität und die Qualität der Opfer können sich ändern, aber identisch ist überall die Rücksichtslosigkeit, die Willkür und das enorme Ausmaß der Gewalt bei der Machtbehauptung.«

Läßt sich zwischen der Gewalt des Nationalsozialismus und der des Kommunismus unterscheiden? Bobbio hat bis vor kurzem, wenn auch mit nachlassender Überzeugung, diese Unterscheidung aufrechterhalten. Jetzt übt er Selbstkritik. Es gibt bei dem Vergleich keine Hierarchien des Schreckens. Die kommunistische Herrschaft »war ebenso totalitär wie die nazistische«. Noch in seiner Ende 1997 erschienenen Autobiographie hatte er von den existenzprägenden Erfahrungen des Widerstands 1943 bis 1945 gesprochen. Sein Leben sei eingebettet in die Kultur des Antifaschismus und der Resistenza. Entscheidend war das Verhältnis zum Kommunismus.

Eine kürzliche Aufsatzsammlung Bobbios trägt den Titel Weder mit noch gegen Marx. Abgewandelt könnte man sagen »weder mit noch gegen die Kommunisten«. Ihm - wie vielen anderen zeitgenössischen Intellektuellen - erschien das Bündnis der beiden Diktatoren Mussolini und Hitler als die Weltgefahr Nummer eins. Die Sowjetunion Stalins besaß das enorme Verdienst, einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über Hitler-Deutschland geliefert zu haben. »Unsere Generation war besessen von der Gefahr von rechts«, schrieb Bobbio 1997. Totalitarismustheoretisch Faschismus und Kommunismus auf eine Stufe zu stellen wäre ihm noch vor kurzem als Sakrileg erschienen. Das hat sich jetzt geändert. Das Interview Bobbios hat ein breites Echo in der italienischen Presse gefunden. Daß der vielleicht bedeutendste geistige Mentor der nichtkommunistischen Linken die Hauptaussagen der Totalitarismuskonzeption übernimmt, signalisiert den nach 1989 eingetretenen Wandel des geistigen Klimas in Italien.

 

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. April 1998

 


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RUDOLF WALTHER

Das Schwarzbuch des Kommunismus

 

Genaugenommen handelt es sich nicht um ein Buch, sondern um mehrere Bücher von unterschiedlicher Qualität. Sechs Autoren sind für die Hauptbeiträge verantwortlich, in denen die Geschichte der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion, in China, Kambodscha, Vietnam sowie in den europäischen »Volksdemokratien« untersucht wird. Hinzu kommen fünf weitere Mitarbeiter, die die kommunistischen Regimes in der Dritten Welt beschreiben. Für die deutsche Ausgabe haben Ehrhart Neubert und Joachim Gauck das SED-Regime analysiert. Eingerahmt wird das über 966 Seiten starke Buch von einem Vor- und einem Nachwort des Herausgebers.

Es war indes nicht das kaum gelesene Buch, das für Debatten sorgte, sondern sein französischer Untertitel Verbrechen, Terror, Unterdrückung und dessen Zuspitzung zur Gleichung »Kommunismus = 100 Millionen Tote« durch den Herausgeber Stephane Courtois. Nach dieser plakativen Vorabetikettierung distanzierten sich die wissenschaftlich seriösen Mitarbeiter öffentlich vom Herausgeber.

Der wichtigste und fast ein Drittel des Buches beanspruchende Beitrag stammt von Nicolas Werth und behandelt die Geschichte der Repression und des Terrors in der Sowjetunion. Lenin baute den Terror früh als Mittel der Herrschaft in seine Doktrin ein, und Werth zeigt, wie nach der Gründung der Geheimpolizei Tscheka (20. 12. 1917) der Terror zur »Regierungsmaxime« wurde. Ihr fielen nacheinander Streikende, Sozialrevolutionäre, Sozialdemokraten, Liberale, Anarchisten und die alten Eliten zum Opfer. Das ist nicht neu, nur besser belegt als bislang. Stalin installierte den Terror als »revolutionäre Gesetzlichkeit«, ließ ihn generalstabsmäßig planen und durchführen. Wo es an Planung fehlte, wie zeitweise bei der Deportation der Kulaken, wuchsen die Zahlen der Opfer im allgemeinen Chaos.

Werth rekonstruiert aus neu erschlossenen Archivbeständen die Terror- und Deportationswellen, mit denen Lenin das Land von Fall zu Fall, Stalin dann systematisch überzogen.


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Sein Ergebnis: Der »Kommunismus an der Macht« regierte immer »antidemokratisch und repressiv«, aber »weder überall noch permanent mörderisch«. Er kommt für die Zeit von 1917 bis zu Stalins Tod (1953) auf eine Gesamtzahl von 15 Millionen Opfern. Im Jahresdurchschnitt faßten die Lager 2 bis 2,7 Millionen Häftlinge (etwa viermal weniger als bislang angenommen), aber die Haftbedingungen, die Haftdauer und die Überlebenschancen waren für die verschiedenen Kategorien von Häftlingen sehr unterschiedlich. Das gilt auch für die Präzision der Daten. In der Ukraine starben Werth zufolge 1932/33 etwa sechs Millionen Menschen an Hunger. Für die ganze Zeit der »großen Säuberung« (1937/38) kann er dagegen genau 681692 Erschießungen nachweisen - ein Fünftel so viele, wie von der Forschung bisher vermutet wurde.

Der Historiker will damit nichts verharmlosen. An der Grausamkeit der Diktatur läßt er keinen Zweifel, aber Werth besteht auf der Differenz zu deutschen Vernichtungslagern und unterscheidet präziser als alle bisherigen Studien zwischen Opfern des Bürgerkriegs, der Hungersnot (als Folge von Zwangsrequisition und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft), der Arbeitslager, der Spezialgefangenenlager, der Umsiedlungen und des Kampfes gegen die »Konterrevolution«. Der Archipel Gulag war kein System fabrikmäßig organisierter Vernichtung. Seine wirtschaftliche Funktion bei der Modernisierung des Landes ist noch unklar (aber nach der Aktenlage wahrscheinlich). Trotz vieler neuer Erkenntnisse räumt Werth ein, daß noch manches im dunkeln liegt, nicht nur die Zahl der Opfer, sondern auch die Basis der Repression sowie deren staatliche Träger- und Täterschaft.

Jean-Louis Margolin untersuchte die chinesischen Verhältnisse und stieß dabei - was Quellen und Archivalien betrifft - auf sehr viel größere Schwierigkeiten als Werth. Seit den dreißiger Jahren und verstärkt nach dem Langen Marsch richtete sich der »rote Terror« in China gegen »Abweichler« und »Verräter« in den eigenen Reihen wie gegen »Klassenfeinde«: reiche Bauern, Händler, hohe Beamte. Nach dem Sieg von Maos Armee über Tschiang Kai-schek und nach der Staatsgründung von 1949 errichtete die chinesische Führung die berüchtigten »Umerziehungslager« für jene, die den »Erziehungskampagnen« trotzten. Aus Mangel an verläßlichen Zahlen ist Margolin weitgehend auf Hochrechnungen und Schätzungen angewiesen.


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Unter der Annahme, daß jeder zwanzigste Häftling während und wegen der Haft starb oder umgebracht wurde, gelangt der Autor zur Zahl von 10 bis 20 Millionen Toten. Für die Zeit von 1949 bis zu Maos Tod (1976) rechnet Margolin mit der horrenden Zahl von 44 bis 72 Millionen Opfern, von denen mehr als die Hälfte in der Zeit der Hungersnot starben, also mittelbar an den Folgen der Politik des »Großen Sprungs nach vorn« (1959-62).

Andrzei Paczkowskis Darstellung der kommunistischen Herrschaft in Polen ist beispielhaft für den Anspruch vieler Beiträge des Buches, nicht eine verallgemeinernde Synthese zu bieten, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme dessen, was man jetzt gesichert weiß. Dies gelingt im Fall Polens, weil sich der Autor bewußt ist, daß »man riskiert, das kommunistische System auf verzerrte Weise wahrzunehmen, wenn man die Vergangenheit einzig unter dem Gesichtspunkt der Repression betrachtet«.

Verglichen mit dem stalinistischen Terror nehmen sich die Wellen staatlicher Repression im Nachkriegspolen moderat aus, obwohl allein im Bürgerkrieg von 1947 1486 Partisanen und 136 Soldaten starben. Die daran anschließende Systematisierung der Unterdrückung steigerte deren Effizienz und abschreckende Wirkung und verkleinerte damit die Zahl der Opfer.

Vor allem die »Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Mißbrauch und Sabotage« sorgte für Furcht und Schrecken: Bis 1954 wurden 84.200 Menschen verurteilt und in Arbeitslager eingewiesen. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU und dem Beginn der Phase der sogenannten Entstalinisierung kam es nur noch in der Folge der periodischen Streiks (1968,1970,1976,1980) zu großen Verhaftungs- und Verurteilungswellen. Das repressiv-polizeistaatlich, aber nicht mehr terroristisch agierende Regime manövrierte sich selbst so in die Enge, daß General Jaruzelski im Dezember 1981 - angesichts der wachsenden Opposition - nur noch der Griff nach dem Kriegsrecht blieb (Bilanz: 14 Tote, 4000 Verhaftete, 5000 in »Isolationszentren« Internierte).

Von gleicher informativer Prägnanz ist die Darstellung der Verhältnisse in den mittel- und südosteurop­äischen Staaten durch den gebürtigen Tschechen Karel Bartosek. Viel prekärer erscheint dagegen die Informationslage in den Kapiteln über Nordvietnam, Kambodscha, Laos, Afghanistan, Äthiopien, Angola, Mogambique und Kuba. Pascal Fontaines »Analyse« der kubanischen Repressionspolitik kommt ganz ohne Belege aus und bleibt wissenschaftlich wertlos.


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Das gilt ebenfalls für das ideologisch vernagelte Vor- und Nachwort des Herausgebers sowie den Beitrag von Ehrhart Neubert über die DDR. Er versucht allen Ernstes, den unleugbaren Kurswechsel von Terror, moderater Unterdrückung und Tauwettern zu einer »kommunistischen Herrschaft ... aus einem Guß« (»von 1917 bis 1991«!) auszuwalzen.

Quelle: Tages-Anzeiger (Zürich), 29. Mai 1998

 

 


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STEFAN KARNER

Die zum Opfer fielen

 

»Suchen Sie bei den Ermittlungen nicht nach Dokumenten oder Beweisen für das, was der Angeklagte getan hat. Die erste Frage lautet, welcher Klasse er angehört, was seine Herkunft, sein Bildungsstand, seine Schulbildung, sein Beruf ist«, befahl Lazis, einer der ersten Chefs der Geheimpolizei Tscheka. Und über Iwan Grigorjewitsch sagte man: »Er blieb nur immer der, der er von Geburt an war – ein Mensch.« Genau deshalb war er aber ein Opfer des kommunistischen Terrors geworden.

An die 100 Millionen Tote listet das Schwarzbuch des Kommunismus auf: 65 Millionen in China, 20 Millionen in der Sowjetunion, je zwei Millionen in Nordkorea, Kambodscha (rund ein Viertel der Bevölkerung in dreieinhalb Jahren), 1,7 Millionen in Afrika, 1,5 Millionen in Afghanistan, je eine Million in Vietnam und in den osteuropäischen Staaten. Wenn die Zahlen im einzelnen auch ungenau sein mögen, geben sie doch eine Größenordnung für die kommunistischen Verbrechen auf vier Erdteilen in dem »kurzen« 20. Jahrhundert (Eric Hobsbawm) an.

Das Buch definiert die dargestellten Verbrechen nicht nach der inneren Gesetzgebung der kommunistischen Diktaturen, sondern nach den nicht schriftlich niedergelegten natürlichen Rechten des Menschen. Der Terror war - so wird mit zahlreichen Beispielen belegt - von Beginn an Wesensmerkmal der kommunistischen Systeme an der Macht. Die französischen Autoren sprechen von Verbrechen des Kommunismus wider den Geist, gegen die universalen und die nationalen Kulturen, gegen Personen und Völker.

Der internationale Militärgerichtshof in Nürnberg, der über die NS-Verbrecher zu Gericht saß, hat nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals die von einem Staat begangenen Verbrechen unter juristischen Gesichtspunkten behandelt und drei Hauptverbrechen aufgelistet: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.


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Hier werden der Kürze wegen nur einige sowjetische aufgelistet.

»Verbrechen gegen den Frieden«, als nach dem Pakt mit Hitler die Teilung Polens, die Annexionen baltischer Staaten, der Nordbukowina und Bessarabiens folgten oder der Angriff auf Finnland 1939. Der Einmarsch in Ungarn oder der Tschechoslowakei, die Militärintervention in Afghanistan.

»Kriegsverbrechen« etwa durch die Liquidierung eines Teils der polnischen Offiziere und der bürgerlichen Intelligenz des Landes in Katyn 1940. Der Tod von über einer halben Million gefangener Soldaten der Deutschen Wehrmacht und mit ihr verbündeter Armeen im Archipel Gupwi, der vielfach auf Hunger und menschenverachtende Zustände in den Lagern zurückzuführen war.

»Verbrechen gegen die Menschlichkeit« durch die Indienststellung der Macht des Staates für eine verbrecherische Politik und Praxis: Deportationen, systematische Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, Menschenraub oder Massenfolterungen aus politischen, ideologischen, rassischen oder religiösen Gründen. Millionen Unschuldige wurden von kommunistischen Systemen umgebracht, denen nichts vorzuwerfen war, außer daß sie Adelige, Bürger, Kulaken, Ukrainer, Juden, Intelligenzler oder KP-Mitglieder waren.

Seit 1920 wurden etwa die Kosaken verfolgt und in einem streng umrissenen Gebiet ausgelöscht. Männer wurden erschossen, Frauen, Kinder und Alte deportiert, die Dörfer dem Erdboden gleichgemacht oder Umsiedlern übergeben. Millionen Kulaken wurden zwar nicht an Ort und Stelle erschlagen, doch die Zwangsarbeit (katorga) in den unwirtlichsten Gebieten des Riesenreiches ließ ihnen kaum eine Überlebenschance: ein Tod auf Raten. Die inszenierte »Hungersnot« in der Ukraine raffte 1932/33 binnen weniger Monate sechs Millionen Menschen dahin.

Die Frage des Vergleichs von Kommunismus und Nationalsozialismus - der Möglichkeiten und Risiken eines solchen Vergleichs - bleibt, oft unausgesprochen, auf den gesamten mehr als 900 Seiten des Buches präsent: die vielfältigen Integrationsmuster in beiden Systemen, der Enthusiasmus der Massen, der Glaube an eine historische Mission, die Ideologie des »neuen Menschen«, die »Verführungskraft des Totalitären« (Henke) oder der imperiale Bann (»Lichterdome«, Stalin-»Kathedralen«), die Lagergesellschaften, die Massenrepressionen aus politischen, rassischen, religiösen und ideologischen Gründen. Ende der zwanziger Jahre etwa führte die politi-


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sche Verwaltung (GPU) in der UdSSR das Quotensystem ein: Aus jedem Gebiet und jedem Rayon mußte ein bestimmter Prozentsatz von Personen, die vermeintlichen »feindlichen« Gesellschaftsschichten angehörten, verhaftet, deportiert oder erschossen werden. Die Prozentsätze wurden am »grünen« Tisch in Moskau festgelegt.

Die Autoren artikulieren selbst die Frage, die auch ein erkenntnistheoretisches Problem ist: Darf ein Historiker in seiner Darstellung und Interpretation von Fakten die Termini »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »Genozid« gebrauchen, die aus dem juristischen Bereich stammen, die zeitgebunden im Zusammenhang mit den Nazis und außerdem überfrachtet mit Wertungen sind, die eine Objektivität der historischen Analyse beeinträchtigen könnten. Die Autoren des Buches bejahen dies für die kommunistischen Systeme.

Und zwar, weil sich die Praxis der Massenvernichtung und Massenrepression durch Staaten oder Staatsparteien nicht auf die Nazis beschränkte. Weil führende Historiker zu Recht NS-Verbrechen als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« qualifizieren und daher bestimmte, unter kommunistischen Regimen begangene, ähnliche oder gleichartige Verbrechen mit demselben Terminus zu charakterisieren sind. Drittens, weil die kommunistischen Regime weltweit an die 100 Millionen Opfer gekostet haben. Viertens, weil eine Anlehnung an Zwangarbeitsmaßnahmen der Kommunisten in der UdSSR durch NS-Konzentrationslager vorlag. Im Bericht an den Auschwitz-Kommandanten Höß über die Gulag-Lager wurde »besonders hervorgehoben, daß die Russen durch die großen Zwangarbeitsmaßnahmen ganze Völkerschaften vernichteten«.

Mitten im Krieg, 1943/44, ließ Stalin Tausende von Zügen von der Front abziehen, um kaukasische Völker der Sowjetunion binnen weniger Tage zu deportieren. Schließlich, um die Kulaken zu töten, mußte man erklären: Kulaken sind keine Menschen.

Die Frage der Mitschuld und Mitschuldigen wird ebenso zu stellen sein, gegenüber dem Ausland, den »unabhängigen Kommentatoren« (Journalisten, Schriftstellern, Intellektuellen), den Kommunisten (den »Wissenden«). Dabei werden die Wirkungsweisen des Totalitarismus sichtbar. Vielleicht ist es heute möglich, jene zeitgenössischen Positionen, die Stalins Gewaltpolitik akzeptierten, kritisch zu ergründen, zu verurteilen; viel schwieriger, ja unmöglich ist es jedoch, den Anhängern dieser Positionen vorzuwerfen, diese Verbrechen nicht verhindert zu haben oder nicht in den Widerstand gegangen zu sein.


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Widerstand hätte im totalitären System keine Chance auf eine nennenswerte Unterstützung der Masse gehabt. Tzwetan Todorow: »Der Totalitarismus (ist) eine Maschinerie von fürchterlicher Effizienz. Die kommunistische Ideologie zeigt uns ein Bild einer besseren Gesellschaft und fordert uns auf, diese anzustreben. Außerdem beraubt die kommunistische Gesellschaft den einzelnen seiner Verantwortung: Es sind immer ›sie‹, die entscheiden. Verantwortung ist oft eine schwere Bürde. Die Anziehungskraft des totalitären Systems, die unbewußt sehr viele Menschen erfahren, ergibt sich aus einer gewissen Angst vor der Freiheit und der Verantwortung.« Das erklärt auch die Popularität autoritärer Regime (Erich Fromm).

Warum wußte und weiß man - trotz der Arbeiten von Solschenizyn, der Maschke-Kommission oder des Instituts für Kriegsfolgenforschung - so wenig über die Verbrechen des Kommunismus? Warum beschäftigt sich die Wissenschaft erst am Ende des 20. Jahrhunderts mit diesem Thema?

 

Mehrere Erklärungen können dafür angegeben werden. Sie sind zugleich auch ein Vergleich der Rezeption der beiden totalitären Systeme.

Erstens. Die Verschleierung durch die Täter selbst, auch durch Nikita Chruschtschow, der bei seiner Abrechnung mit Stalin 1956 (»Geheimrede«) nur so weit ging, daß seine eigenen Verbrechen als KP-Führer in der Ukraine davon nicht betroffen waren. Oder Stalins Schattenmann, Lazar Kaganowitsch, der erst vor kurzem in Moskau verstorben ist: »Wenn Verbrechen begangen wurden, dann wollte Kaganowitsch sichergehen, daß seine eigenen Spuren verwischt waren.« Ganz zu schweigen von Berija, der nach Stalins Tod mit politischen Amnestien die Flucht nach vorne antreten wollte.

Zweitens. Die Unzugänglichkeit der politischen und polizeilichen Archive in den kommunistischen Staaten, die sich erst seit der Wende zu öffnen beginnen. Von den ehemaligen relevanten Archiven der UdSSR, so schätzt man, kann derzeit erst ein Bruchteil der wichtigen Dokumente eingesehen werden.

Drittens. Die Kontrolle der veröffentlichten Meinung durch die kommunistischen Parteien, ihre Propagandaabteilungen und politischen Büros. Kein Foto kam vor Gorbatschow aus den Archiven der Sowjetunion ohne Sanktionierung durch die Propagandaabteilung des ZK der KPdSU.


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Viertens. Der gleichzeitige Kampf der kommunistischen Systeme gegen Menschen, die objektiv zu informieren suchten. In einem systematischen Vorgehen boten die Machthaber das ganze Arsenal der Möglichkeiten moderner Staaten auf, bis zur weltweiten Intervention und zur politischen Psychiatrie im Inneren des Landes, wie dies jüngst erst A. Prokopenko dargestellt hat.

Fünftens. Durch die nachdrückliche Einschüchterung und Verschleierung zögerten die noch lebenden Opfer, an die Öffentlichkeit zu treten. Gleichzeitig waren viele Opfer zeitweilig selbst zu Tätern geworden.

Sechstens. Das System der Lager, das zu einem Werk der Umerziehung wurde. Die Lagerhäftlinge sollten an ein System glauben lernen, das sie versklavte und aller Rechte beraubte. »Besserungsarbeitslager« nannte man die Gulag-Lager, »Arbeitserziehungs­lager« jene Kategorie der NS-Konzentrationslager. Eine Studie des Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen­forschung hat für das österreichische Innenministerium 1996 den Nachweis der ungeheuren Ähnlichkeit beider Lagertypen erbracht.

Siebtens. Der besiegte Nationalsozialismus wurde von den Alliierten zum absoluten Bösen erklärt. So geriet der Kommunismus, auch durch die psychologische Stärke Stalins in den Konferenzen der »Großen Drei«, fast automatisch in das Lager der Guten. In Nürnberg traten die Sowjets als Ankläger und Richter auf. Geschehnisse wie Katyn oder der Hitler-Stalin-Pakt mußten heruntergespielt, der Sieg über den Nationalsozialismus als Beweis für die - auch moralische - Überlegenheit des Kommunismus benützt werden.

Achtens. Die Kommunisten erkannten bald den Vorteil, den sie aus der Anerkennung der Besonderheit für die regelmäßige Mobilisierung des Antifaschismus ziehen konnten.

Neuntens. Sollte es vorstellbar sein, daß jene, die mit ihrem Sieg zur Zerstörung des genozidalen NS-Systems beigetragen haben, selbst solche Methoden anwandten? Nikita Petrow, ein Kenner des sowjetischen Repressionsapparats, sprach den sowjetischen Richtern das moralische Recht ab, über andere zu Gericht zu sitzen, weil sie selbst ein Unrechtsregime verkörperten.

 

Die Kommunisten wußten, daß sie fortgesetzt Unrecht taten und zuließen. Chruschtschow konfrontierte seine Parteispitze selbst mit der rhetorischen Frage:


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»Was tun wir mit all denen, die verhaftet wurden? Wir wissen heute, daß sie unschuldig waren. Wir haben unwiderlegbare Beweise, daß sie, weit davon entfernt, Feinde des Volkes zu sein, ehrliche Männer und Frauen des Volkes waren, der Partei ergeben, der Revolution ergeben. Früher oder später werden die Leute aus den Gefängnissen kommen. Sie werden allen erzählen, was passiert ist.«

Es gab keinen Widerspruch zum Inhalt, aber auch keine Umkehr. Unter Breschnjew hat die KP zur Herrschaftssicherung weiterhin Massenrepressionen durchgeführt. Die entsetzlichsten Verbrechen von Pol Pot, in Afghanistan, in Peking oder in Afrika standen noch bevor.

Das vorliegende Buch ist - obwohl es in einigen Bereichen dem internationalen Forschungsstand nachhinkt zum Denkmal geworden: für die Opfer selbst, für die Kommunismus-Forschung, für die vergleichenden Forschungen zum Totalitarismus und für das 20. Jahrhundert.

Quelle: Die Presse (Wien), 30. Mai 1998

 


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JUTTA SCHERRER

»Laßt die Toten ihre Toten begraben.«

Warum Rußland von den sowjetischen Massenverbrechen nichts wissen will

 

 

Als ich neulich im Moskauer Institut für Allgemeine Geschichte der russischen Akademie der Wissenschaften das Schwarzbuch des Kommunismus erwähnte, entgegnete mir der Direktor, dies bereite hier keine Freude. Ob es denn eine Debatte darüber gebe? Oder sollten wir, fragte ich, zusammen mit den Franzosen und Russen eine Veranstaltung zu diesem Thema organisieren, da es die Geschichte unserer Länder so belastet? Besser nicht, hieß die verlegene Antwort. Dafür sei die Zeit noch nicht gekommen.

Im vergangenen Sommer hatte ich zwei politische Seminare für junge Abgeordnete der Staatsduma und der regionalen Parlamente in der Umgebung von Moskau und in Rostow am Don zum Anlaß genommen, um die politische Elite nach ihrer Einstellung zu den Lasten der sowjetischen Vergangenheit zu befragen. Als Gast aus dem Westen wurde ich mit größter Zuvorkommenheit behandelt, doch zu hören bekam ich immer dasselbe: Wir haben genug von diesem Problem, wir sind seiner müde. Während der Perestrojka sei die Öffentlichkeit über sämtliche Verbrechen informiert worden. Das Thema sei erledigt, der Gegenstand erschöpft. »Laßt die Toten ihre Toten begraben.« Das Bibelzitat ist in jedermanns Munde, gilt es hier doch als alte russische Redensart. Heute gehe es darum, die Zukunft aufzubauen. »Die Vergangenheit liegt hinter uns.«

So argumentiert nicht nur die politische Elite, auch Freunde im vertrauten Gespräch, nachts in der Küche weisen das Thema von sich. Es sei noch zu schwierig, hierüber zu sprechen, oder: Man habe gegenwärtig andere Sorgen. Als ich diese Einstellung der russischen Intelligenz in Bremen in einer Debatte über das Schwarzbuch des Kommunismus erwähnte, fragte mich der ehemalige Bürgerrechtler Ehrhart Neubert besorgt: »Frau Scherrer - welches sind Ihre Freunde in Rußland?«


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- »Menschen wie du und ich«, konnte ich nur sagen: Kollegen, Historiker und Sozialwissenschaftler, Philosophen und Künstler, Pensionäre und Studenten, auch ein Priester ist darunter. Sie würden sich als Liberale oder Demokraten bezeichnen, wenn diese Begriffe im heutigen Rußland noch etwas bedeuteten.

Einer von ihnen, ein jüngerer Historiker, der mit gleichaltrigen Kollegen in Moskau verschiedene Quellenbände zum Stalinismus ediert hat, erklärt mir dies, daß der Schock über die kommunistischen Verbrechen während der Perestrojka durch die ganze Gesellschaft gegangen sei. Doch der romantische Aufbruch in ein besseres Morgen, in eine demokratische Zukunft, den die Perestrojka verheißen hatte, habe Revanche-Gelüste gegenüber der Nomenklatura erst gar nicht aufkommen lassen. Sie sei schließlich selbst von den Enthüllungen getroffen worden. Erst als das erwartete Wunder der Reformen ausblieb, als sich die Umgestaltung der Sowjetunion als viel komplizierter und langwieriger als ursprünglich angenommen erwies, als 1993 die Demokraten das Weiße Haus stürmten und ein Jahr später den Krieg gegen Tschetschenien begannen, da sei vielen klargeworden, daß es keine wirkliche Alternative zur Vergangenheit geben würde. Deswegen, so meint der Historiker Gennadij Bordjugow, sei die Gesellschaft heute in ihrer Einstellung zur Vergangenheit geteilt. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit finde nicht statt, solange man selber in der Misere lebe. Die meisten Russen, die ich auf die russische Vergangenheit ansprach, verstehen sich als Opfer. In ihren Augen haben sie selbst, die russische Nation, das größte Opfer gebracht, verglichen mit den anderen Nationalitäten und Volksgruppen des Sowjetreichs. Auch für Angehörige der ehemaligen Sowjetrepubliken wie die Ukrainer oder Balten ist die Schuldfrage ebenso eindeutig: Die Verantwortlichen für das System waren die Russen, sie selbst die Opfer. Schuld hatten immer die anderen. Die Frage nach dem anderen in mir selbst wird nicht gestellt.

Kollektive Haftung für den mentalen und kulturellen Kontext, in dem die Massenverbrechen möglich wurden, gibt es in Rußland nicht. Man empfindet sich nicht als Erben des Geschehenen. »In die Geschichte zurückkehren« lautet deshalb seit 1992 Alexander Jakowlews Devise. Gorbatschows langjähriger Berater für ideologische Fragen - Jakowlew war Mitglied des Politbüros - meint, daß der sowjetische Kommunismus keine Geschichte gehabt habe und keine Geschichte gewesen sei.


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Jakowlew selbst würde daher wohl am liebsten zu den Idealen der sozialistischen Internationale zurück­kehren und dort neu ansetzen, wo diese, durch Krieg und Revolution, von einem kompromißlosen Herrschaftssystem überrollt wurden - einer Gewaltherrschaft, die die Bezeichnung Geschichte nicht verdiene.

»Wir sind aus der Geschichte herausgefallen« - lamentieren auch prominente Angehörige der Intelligenzija, womit sie sich von jeder Verantwortung reinwaschen. Die sowjetische Periode wird gleichsam aufgehoben - denn abschaffen, rückgängig machen kann sie keiner. Auch wenn der von Jakowlew geleitete Demokratische Fonds einige Dokumentenbände zur sowjetischen Geschichte herausbringt (Kronstadt, Katyn, GPU-NKWD), findet die Auseinandersetzung nicht statt. So hielten es die Gründer der neuen, vom Staat unabhängigen Europäischen Universität in St. Petersburg nicht für nötig, in den Lehrplan für das Studium der russischen Geschichte auch die Periode nach dem Oktober 1917 miteinzubeziehen. Es bedurfte westlicher Stimmen im Verwaltungsrat, die dem sonst so vorbildlichen Unternehmen die sowjetische Geschichte als Lehrfach geradezu aufdrängten.

Kollektive Schuld, kollektive Schande gibt es in Rußland nicht. Eine Öffnung der sowjetischen Geheimdienstakten, sagt der Moskauer Historiker Jakow Drabkin, hätte nur zu neuen »Säuberungen« geführt. Andere Gesprächspartner erinnern an den Bürgerkrieg, falls jemand damit beginnen sollte, in den Akten nach Schuldigen zu suchen. Man müsse die Denunzianten nicht kennen, höre ich von jungen Parlamentariern. Freilich hatten sie fast alle, die heute wichtige Positionen im nationalen Parlament in Moskau oder in den regionalen Dumas einnehmen, ihre Karrieren im Komsomol, in der Gewerkschaft oder in der Partei begonnen. Der fast nahtlose Übergang in ihre neue Verantwortung als Demokraten stellt für sie kein Problem dar, weder ein politisches noch ein moralisches. Schon gar kein existentielles.

Wer in der Perestrojka in der Öffentlichkeit das stalinistische System mit demjenigen Hitlers verglich, der brauchte dafür ungeheuer viel Mut. Bezeichnenderweise waren es Literaten, Publizisten und Ökonomen, die als erster hierüber sprachen und schrieben. Die vom Staat angestellten Fachhistoriker hielten sich lange zurück. Als dann vor kaum zehn Jahren die Archive, wenigstens teilweise, geöffnet wurden, konnte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und dem Terrorsystem beginnen. Das vor allem von westlichen Historikern und russischen Dissidenten wie Roy Medwedew oder Alexander Solschenizyn zusammengetragene Wissen konnte endlich mit den Quellen verglichen werden.


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 Der Prozeß der Wahrheitsfindung fordert vor allem russische Historiker heraus. In kurzer Zeit haben sie Quellen zutage gefördert, die neue und entscheidende Erkenntnisse über das System der Straflager und die Deportationen (V. N. Zemskow, N. Burgaj), über den Krieg gegen die Bauern durch Zwangskollektivierung und gesteuerte Hungersnot (V. Danilow), über die Zwangsarbeit und den inneren, für die Repressionen verantwortlichen Führungskreis (O. Chlewnjuk) beibringen. Hierzu gehören auch neue, präzisere Zahlenangaben über die Verhafteten, Deportierten und Umgebrachten. Nicolas Werths zentraler Beitrag im französischen Schwarzbuch des Kommunismus über die Politik der Verbrechen in der Sowjetunion hätte ohne diese Quellen nicht geschrieben werden können.

Was geht in einem Forscher vor angesichts der Ungeheuerlichkeit der Opferzahlen? Vorerst, so scheint mir, gehen die jungen Forscher mit dem Elan von Profis an ihre Arbeit: Sie wollen neue Dokumente »entdecken«. Diese werden historisch ediert, quellenkritisch kommentiert und im spezifischen Kontext interpretiert. Das alles muß schnell geschehen, denn niemand kann sagen, ob die Archive auf Dauer zur Verfügung stehen. Der Umgang mit den neuen Quellen ist daher vorwiegend technischer Art, weder »metaphysisch« noch metahistorisch. Das bleibt anderen überlassen, vielleicht erst der nächsten Generation.

Wenig weiß man über die Formen von Gewalt und Terror. Wer waren die Täter? Wann wird von einer Gesellschaft die Rede sein dürfen, die nicht nur Opfer war? Vorerst fühlt sich der Großteil der Gesellschaft als Opfer; damit lebt es sich allemal besser, zumal alle von der »Zeit der Wirren« (Smuta) ermüdet sind. Auch die historische Analogie zum Zerfall des Moskauer Rußlands am Beginn des 17. Jahrhunderts bemüht man gern. Und überall ist der Ruf nach Stabilität und Ordnung vernehmbar; Stalin erscheint in der Erinnerung weniger als Verbrecher denn als jemand, der das Land zusammengehalten und für Ordnung gesorgt hat. Man beruft sich auf die Liebe zu »einem Rußland in Ordnung«, und so entsteht eine Erinnerungskultur, die der zaristischen Autokraten gedenkt, weil sie doch einmal den starken Staat verkörpert haben. Gewiß, Jelzin hat jetzt öffentliche Reue bekundet und für den 17. Juli einen Staatsakt angeordnet. Doch dieser gilt nicht den anonymen Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft, sondern dem Massaker an dem letzten Zaren und seiner Familie. Für die Reue über den Gulag ist es offenbar noch zu früh.


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Zur Reue - pokajanie - wird die postsowjetische Gesellschaft auch von der orthodoxen Kirche aufgerufen - obwohl diese selbst niemals öffentliche Reue bezeugt und ihre Zusammenarbeit mit dem KGB eingestanden hat. Die Gesellschaft »Memorial« ist die einzige Institution, die seit zehn Jahren die Opfer der Verfolgungen von den zwanziger Jahren an namentlich zu erfassen sucht, Archivmaterialien zusammenträgt, ihnen Denkmäler setzt. Sie wird jedoch vom Staat kaum unterstützt, und ihre finanziellen Mittel sind bescheiden. Auch wenn »Memorial« derzeit von inneren Zwistigkeiten aufgerieben wird, ermöglicht sie, unterstützt von Lehrern, Ärzten, Ingenieuren und Heimatkundlern, wertvolle Forschungen über die Opfer des Bürgerkriegs, der Hungersnot, der Entkulakisierung, der Lager.

Nein, der Zeitpunkt ist noch nicht gekommen, daß sich die Gesellschaft nach ihrer Mittäterschaft fragt. Und vielleicht wird dieser Zeitpunkt auch nie kommen. Rußland lebt unter anderen Vorzeichen als Deutschland nach 1945 und wird nicht, wie seinerzeit Deutschland, von Siegermächten in Demokratie eingeübt. Während der ersten Hälfte der mehr als siebzigjährigen Geschichte der Sowjetunion, bis zu Stalins Tod, gehörten Terror und Repressionen zur Tagesordnung. Und auch nach 1953 herrschte Unterdrückung, wenn auch in modifizierter Form. Diese »lange Zeit«, die die Mentalitäten von Generationen prägte, läßt sich nicht mit den zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur in Deutschland vergleichen. Im Unterschied zu Deutschland 1945 hat Rußland 1991 keinen Krieg verloren. Im Unterschied zu Deutschland 1989 hat Rußland seine ehemaligen Führungs-Eliten beibehalten, und erst nach und nach sollen neue Kräfte nachwachsen.

Sollte Deutschland für Rußland wirklich ein Beispiel sein für die Überwindung der Diktatur durch die Demokratie, wie eine Gruppe ; deutscher Professoren an einem Moskauer Kolloquium meinte? Man darf nicht vergessen, wie lange es dauerte, bis die nationalsozialistischen Verbrechen der westdeutschen Gesellschaft zu Bewußtsein kamen. Das Moskauer Kolloquium über Totalitarismus in Rußland und Deutschland machte übrigens deutlich, daß sich die gemeinsamen Erfahrungen totalitärer Herrschaft im Stalinismus und Nationalsozialismus sehr wohl erörtern, aber mangels Material- und Methodenkunde kaum vergleichen lassen. Aber nicht für alle Russen sind Totalitarismus und Kommunismus identisch. Deshalb wird es noch lange dauern, bis sich der Kommunismus in Rußland auf die Opferzahlen reduzieren läßt, wie es der Herausgeber des Schwarzbuchs will. Der postsowjetische Mensch ist nicht der postkommunistische Mensch.

Quelle: Die Zeit, 2. Juli 1998

 

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WACLAW DLUGOBORSKI

Da war noch mehr als die Toten.
Auch die Lebenden wollen sich wiederfinden: 
Das
Schwarzbuch des Kommunismus weist aus osteuropäischer Sicht Lücken auf

 

Als kürzlich die Angehörigen Wiktor Abakumows, des ehemaligen Stellvertreters des sowjetischen Geheimdienstschefs Beria, vierundvierzig Jahre nach dessen Hinrichtung seine Rehabilitierung durch das Moskauer Militärgericht erreicht hatten, waren die Meinungen selbst unter ausgesprochen antikommunistisch eingestellten Historikern und Publizisten in Rußland geteilt - zumal auch die Familien von Jeschow und Beria selbst und ihrer Mitarbeiter ähnliche Anträge eingereicht haben. 

Nikita Petrow von der Vereinigung »Memorial«, die sich um die Aufdeckung kommunistischer Verbrechen verdient gemacht hat, sieht in der Rehabilitierung der NKWD-Spitze einen Beweis für die russische Rechtsstaatlichkeit; die Geheimdienstleiter waren aufgrund gefälschter Beweise verurteilt worden. Für die unrechtmäßigen Hinrichtungen, Massenexekutionen und -deportationen, die Beria und seine Leute zuvor verfügt hatten, habe ihnen nach den damaligen sowjetischen Gesetzen als »Amtsmißbrauch« nur Gefängnisstrafe gedroht. Es sei zu beklagen - so weiter Petrow -, daß die Akten der Prozesse gegen die NKWD-Spitze nicht einmal dem für die Rehabilitierung zuständigen Militärgerichtshof zugänglich sind. Deshalb scheint ein heutiges Gerichtsverfahren um die von der Geheimdienstleitung begangenen Verbrechen aussichtslos zu sein.

Jurij Samodurow vom Moskauer Sacharow-Zentrum ist anderer Ansicht. Auch ohne Aufhebung der gesetzwidrigen Urteile gegen Jeschow, Beria und ihre Leute solle man möglichst schnell mit einem Prozeß wegen der von ihnen begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem »russischen Nürnberg«, beginnen, solange noch jene Generation am Leben sei, deren Eltern und Großeltern Opfer der kommunistischen Repressionen geworden sind.


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Ein ähnlicher Prozeß war schon nach dem Juli-Putsch von 1991 angestrengt worden, als man die Kommunistische Partei der Sowjetunion aufgelöst hatte und die Putschisten um Janajew als reformfeindlichen Flügel der Partei zur Verantwortung ziehen wollte. Der ehemalige Dissident Wladimir Bukowski hatte damals dafür plädiert, diese Verhandlung in ein Tribunal gegen die Verbrechen des Kommunismus zu verwandeln, ohne jedoch bei den Anhängern des siegreichen Jelzin Unterstützung zu finden.

Unabhängig davon, ob es den Russen gelingen sollte, das kommunistische System, seine Institutionen und Funktionsträger wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen, muß man an den internationalen Charakter dieser Vergehen erinnern. Ähnlich wie die Nürnberger Prozesse müßte also auch ein etwaiges Verfahren gegen die früheren sowjetischen Machthaber vor einem internationalen Tribunal stattfinden - und auch die kommunistischen Führer in den einstigen Satellitenstaaten umfassen. Sonst bliebe ein tragisches Mißverhältnis zwischen 86.000 wegen Kriegs- und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Naziverbrechern und vielleicht einem Dutzend verurteilter Kommunisten in Rußland. Leider scheint es dafür aber kaum Hoffnung zu geben. Die polnische Generalstaatsanwaltschaft versuchte zum Beispiel mehrfach, eine Voruntersuchung wegen der in Polen begangenen sowjetischen Verbrechen einzuleiten, doch die russische Seite verweigerte ihr die gewünschte Rechtshilfe.

Das für einen solchen Prozeß notwendige Beweismaterial liegt jetzt als Buch bereit, auch wenn dessen Titel Das Schwarzbuch des Kommunismus wenig juristisch klingt. Sein Herausgeber Stephane Courtois hat die Bedeutung der darin errechneten Opferzahl hervorgehoben, die einerseits das unfaßbare Ausmaß der kommunistischen Verbrechen deutlich mache, andererseits angesichts der niedrigeren Opferzahl des Nationalsozialismus einen Vergleich beider totalitärer Systeme ermöglichen solle. Es scheint aber zweifelhaft, ob das die richtige Vergleichsebene ist. Das eine System war ein halbes Jahrhundert an der Macht, das andere nur zwölf Jahre.

Sinnvoller ist ein Vergleich der von beiden Regimen angewandten Methoden der Massenvernichtung, der meiner Ansicht nach die These von der Singularität des Holocausts betätigen würde.


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Denn kein Jude, in manchen besetzten Gebieten auch kein Roma, sollte am Leben bleiben. Im Fall der sowjetischen Massenmorde in Polen, auch der spektakulärsten wie etwa der von Katyn, konnten Gefangene ihr Leben retten, wenn sie sich bei den Verhören als sowjetfreundlich deklarierten und dazu bereit waren, nach ihrer Freilassung nicht »nach Hause«, das heißt in den deutsch besetzten Teil von Polen zurückzukehren, sondern in der Sowjetunion zu bleiben und in die Rote Armee einzutreten. Dem Holocaust dagegen fielen auch jene Juden zum Opfer, die für die Nazis Polizei- oder sogar Spitzeldienste geleistet hatten.

Es ist peinlich, die Grausamkeiten einzelner Vernichtungsaktionen vergleichen zu müssen. In manchen Fällen ist es aber notwendig, um nicht den gleichen Maßstab an nur scheinbar ähnliche Ereignisse anzulegen. Vorsicht sei auch beim Umgang mit Zahlen empfohlen, insbesondere mit Schätzungen. Vor dem »Feilschen« um die Zahl der Opfer in den Konzentrationslagern warnte Adorno schon vor mehr als dreißig Jahren. Und die amerikanische Roma und Historikerin Debra Kaufmann bezeichnet die Auseinander­setzungen um die Zahl der Toten ihres Volks als »makabres Zahlenspiel«. Die Schätzungen schwanken hier von 100.000 bis zu einer halben Million.

Die Blamage bei der Ermittlung der Zahl der Ermordeten von Auschwitz hätte Warnung genug sein sollen. Kurz nach Kriegsende wurde sie von einer sowjetischen Untersuchungskommission ohne weitere Nachforschungen auf vier Millionen festgelegt. Obwohl von Anfang an Zweifel an der Richtigkeit der Schätzung bestanden, wurde sie zum Dogma. Bis 1989 galt in Osteuropa ein Verbot, die Zahl von vier Millionen Getöteten anzuzweifeln; in der Gedenkstätte von Auschwitz drohte man Angestellten, die an der Richtigkeit der Schätzung zweifelten, mit Disziplinarverfahren.

Ebenso fraglich und umstritten schienen mit wenigen Ausnahmen die Schätzungen zur Opferzahl des Kommunismus zu sein. Als Historiker die bis zum Anfang der neunziger Jahre verschlossenen Sowjetarchive auszuwerten begannen, erwiesen sich unter anderem die bisherigen Vermutungen zur Zahl der Insassen des GULags als unhaltbar. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs hatten die Experten bislang 2,5, bisweilen 3,5, sogar 5,5 oder gar 15 Millionen Gefangene vermutet.

Der russische Historiker W.N. Semskow, der als erster die entsprechenden Akten auswertete, der Deutsche Stephan Merl und der Amerikaner Edwin Bacon korrigierten die Zahl der 1941 im GULag Inhaftierten dann auf 1,5 Millionen; allerdings ohne die Insassen der sogenannten Arbeitskolonien (eine halbe Million Menschen) zu berücksichtigen, die ebenfalls der GULag-Verwaltung unterstanden. 


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Umstritten ist auch die Zahl der in den Lagern Gestorbenen: Für die Zeitspanne von 1935 bis 1954 schätzt man sie nun auf bis zu 1,1 Millionen (zuvor hatte man zwischen sieben und zehn Millionen Tote vermutet), und ähnlich unterschiedlich fallen die alten und neuen Schätzungen zur Opferzahl der Kulakenverfolgung in den dreißiger Jahren aus.

Auch die Zahl der aus Ostpolen und dem Baltikum von 1939 bis 1941 Deportierten wurde nach unten revidiert: für Ostpolen von fast zwei Millionen auf maximal 600.000. Die Ursache dieser Revisionen liegt in der Art der auszuwertenden Quellen: Bis 1989/1990 standen den Forschern fast ausschließlich die Berichte und Schätzungen der Überlebenden zur Verfügung. Auch wenn diese nicht immer zu Übertreibungen neigten, können selbst die umfangreichsten und mannigfaltigsten Erfahrungen und Wahrnehmungen, insbesondere im Hinblick auf Zahlen, weder für das ganze Lagersystem noch für einzelne große Lagerkomplexe als repräsentativ gelten. Sogar diejenigen Angaben, die man - wie im Falle der im Herbst 1941 und zu Anfang 1942 aus sowjetischen Lagern, Arbeiter- und Spezialsiedlungen entlassenen polnischen Staatsbürger - auf Glaubwürdigkeit überprüft und miteinander (nicht aber mit den geheimgehaltenen Transportlisten des NKWD) verglichen hatte, haben sich als fragwürdig erwiesen. Nur bei speziellen Fragen, wie zum Beispiel nach dem Prozentsatz der während der Transporte Umgekommenen, haben sich die von ehemaligen Deportierten genannten Zahlen bewährt. Vieles steht auch noch aus. Es mangelt etwa weiterhin an einer Dokumentation der auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion entdeckten Massengräber aus der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre.

Deswegen stimme ich Stephan Merl zu, daß »die zum Teil sehr hohen Schätzungen drastisch nach unten korrigiert, die niedrigen (...) etwas angehoben werden müssen«. Die angeblich sechzig Millionen Toten allein in der Sowjetunion, von denen Stephane Courtois' Einführung zum Schwarzbuch spricht, werden aber wohl nicht erreicht werden. Courtois wiederholt lediglich die zweifelhaften hohen Schätzungen aus der Zeit vor 1989.

Es ist verwunderlich, daß er weder die neuesten Forschungsergebnisse wahrnimmt noch den Entschluß von Nicolas Werth, des Verfassers des Schwarzbuch-Kapitels über die Sowjetunion, beachtet, der auf jeden Versuch einer Gesamtbilanz verzichtet.


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Genau verifizierbare Einzelangaben, wie zum Beispiel zur »großen Säuberung« von 1937 bis 1938, bei der 134.5000 Menschen verurteilt wurden - mehr als die Hälfte zum Tode -, wirken überzeugender als die Spekulationen über Millionen von Opfern ohne ausreichende Quellengrundlage, die Courtois in seiner Einführung präsentiert.

Es gibt bei allen Verdiensten der Publikation noch mehr Einwände gegen das Schwarzbuch. Mit der Stabilisierung der kommunistischen Systeme wurde - vielleicht mit Ausnahme Albaniens - der brutale Terror durch andere, elastischere und pragmatische Methoden der Herrschaft abgelöst. In der Sowjetunion und in den meisten Satellitenstaaten wurde nach 1956 ein Regierungsstil entwickelt, der von dem Warschauer Historiker Andrzej Paczkowski als »System der selektiven Repressionen« bezeichnet wird. Massenterror eines Umfangs wie in der Sowjetunion vor 1953 wurde in diesen Staaten nur während der Etablierung des kommunistischen Regimes angewendet - mancherorts (in Polen, Rumänien, Ungarn, Ostdeutschland) mit aktiver Hilfe der Sowjets, vor allem des NKWD als treibender Kraft, anderswo dagegen (in der Tschechoslowakei oder Bulgarien) von einheimischen Kommunisten, denen der NKWD »nur« beratend zur Seite stand. Der Übergang zu selektiven Repressionen bedeutete aber keinesfalls, daß solche Praktiken nicht später wieder massenhaft angewendet werden konnten - so geschehen 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1970 in den polnischen Ostseestädten.

Daß die Kommunisten bis zum Ende ihrer Herrschaft jederzeit bereit gewesen sind, politische und soziale Krisen mit Gewalt zu lösen, wird von denjenigen nicht zur Kenntnis genommen, die das letzte Jahrzehnt des Kommunismus samt Perestrojka als dessen »milde« oder »rationale« Phase betrachten, die sich angeblich nicht nur vom Stalinismus, sondern auch von der diesem direkt folgenden Periode so grundsätzlich unterscheide, daß sie eigentlich gar nicht mehr dem kommunistischen System zugerechnet werden könne. Nur oberflächlich, auf kaum vierzehn Seiten, wird etwa im wichtigsten Kapitel des Schwarzbuchs, dem über die Sowjetunion, auf das Ende des Stalinismus und dessen Überbleibsel nach 1953 eingegangen. Nicolas Werth bleibt uns eine Erläuterung schuldig, ob und inwieweit sich mit der Abkehr vom Massenterror und der außenpolitischen Entspannung auch das System verändert hat und ob es überhaupt möglich ist, dessen Wesen zu definieren.


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Viel ausführlicher wird die Endphase des Kommunismus im Kapitel über die »volksdemokratischen« Regime behandelt. Hier diente den Kommunisten ihre größere Reformwilligkeit vor 1989 - ob nun faktisch oder bloß behauptet - als angeblicher Beweis ihrer Bereitschaft, das in diesen Ländern neu eingeführte demokratisch-parlamentarische System anzuerkennen und sich am politischen Leben nach dessen Regeln zu beteiligen. Deswegen ist es besonders wichtig, daß die Autoren Paczkowski und Bartosek auf die Doppelgleisigkeit der Politik hinweisen, die die »volksdemokratischen« Regime in ihrer Endphase betrieben haben. Die beiden Historiker distanzieren sich von der Legende, nach der sich vor allem in Polen die sogenannten Reformkommunisten bei Zustandekommen des Wandels von 1989 gleiche Verdienste wie die demokratische Opposition erworben haben sollen.

Joachim Gauck hat unlängst daran erinnert, daß der Kommunismus nicht nur Menschen, sondern auch die Politik getötet habe; »durch jahrzehntelange Ohnmacht und Unterdrückung« führte er seine Untertanen in einen »Mentalitätsrückstand«, der die Menschen ihrer Wertsysteme beraubte und sie in willens- und anspruchslose »Homini sovietici« verwandelte. An klägliche, wenn auch gesicherte Leistungen in den »Wohlfahrtsstaaten« des realen Sozialismus gewöhnt, stellen viele davon heute noch die Wählerschaft der Postkommunisten. Insbesondere in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, wo Lebensstandard und Bruttosozialprodukt vor 1939 höher lagen als in manchen jetzigen EU-Ländern, führte die kommunistische Herrschaft zu einem statistisch nachweisbaren Rückschritt in fast allen Bereichen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Inwieweit die Ausbeutung dieser Länder durch die Sowjetunion und die von Moskau durchgesetzte Kommandowirtschaft als Ursachen dieser Entwicklung betrachtet werden müssen, sollte noch intensiver als bisher erörtert werden. Denn der 1949 gegründete Comecon wurde zum Instrument eines sowjetischen Kolonialismus, dessen Eigenart darin lag, daß im Gegensatz zum traditionellen westlichen Kolonialsystem die kolonisierende Großmacht wirtschaftlich schwächer entwickelt war als manche ihrer Kolonien. Die Vernichtung bestehender soziokultureller und -ökonomischer Strukturen und der


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daraus resultierende Mangel an technologischem und wirtschaftlichem Fortschritt reichen zur politischen Delegitimierung der kommunistischen Regime völlig aus. Ihre wirtschaftlichen und sozialen Mißerfolge scheinen in den einstigen Satellitenstaaten schwerer und dauerhafter zu wiegen als die menschlichen Verluste.

Auf diese Folgen des Kommunismus wies unlängst der national gesinnte polnische Abgeordnete Stefan Niesiolowski hin, als er mit dem liberalen Publizisten Ernest Skalski über das Schwarzbuch debattierte. Skalski besteht auf der Unvergleichbarkeit der sechs Millionen polnischen Opfer unter der NS-Besatzung mit irgendwelchen Schäden - biologischen, materiellen oder geistigen -, die man der russischen Besatzung oder der späteren sowjetischen Hegemonie anlasten kann. Viele Bewohner der betroffenen Staaten sehen das anders. Ähnlich wie in Ungarn, wo die neue Verfassung die Niederschlagung des Aufstandes von 1956 als ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezeichnet, ist 1997 auch in der polnischen Konstitution die kommunistische Herrschaft verurteilt und sogar mit der nazistischen gleichgesetzt worden. Im Artikel 13 heißt es: »Verboten ist die Existenz von solchen politischen Parteien und anderen Organisationen, die in ihren Programmen an die totalitären Methoden und Praktiken des Nazismus, Faschismus und Kommunismus anknüpfen.« Nicht einmal die Postkommunisten erhoben gegen diese Formulierung Einspruch.

Das Verhältnis Stalins zu Polen bietet ein gutes Beispiel dafür, daß im Gegensatz zur verbreiteten und auch an manchen Stellen des Schwarzbuchs wiederholten Meinung, der Diktator und seine Nachfolger hätten sich in ihren Entscheidungen vor allem vom klassenmäßigen Standpunkt leiten lassen, auch nationale Aversionen eine bedeutende Rolle gespielt haben. Laut dem weißrussisch-polnischen Historiker Nikolaj Iwanow wurden die Polen zur ersten von der Sowjetunion »bestraften Nation«, der dann weitere folgten: Finnen, Esten, Letten, Krimtataren, Ungarn. Auf Stalins Voreingenommenheit den Polen gegenüber, die zunächst vermutlich in seinen militärischen Mißerfolgen während des polnisch-sowjetischen Krieges von 1920 und dann im Antistalinismus mancher führenden polnischen Kommunisten ihre Ursachen hatte, ist in der Forschung des öfteren hingewiesen worden.

Die »Strafen«, denen die Polen ausgesetzt waren, begannen mit der sogenannten Polen-Operation des NKWD von 1937 bis 1938, die die in der UdSSR lebende polnische Volksgruppe


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134.500 Deportierte und Tote (immerhin zehn Prozent aller Opfer der »großen Säuberung«) kostete. Nach der Besetzung Ostpolens erreichten sie ihren Höhepunkt; bei Paczkowski läßt sich das im Schwarzbuch nachlesen.

Große Teile der polnischen Gesellschaft, darunter auch viele Intellektuelle, haben sich danach mit der sowjetischen Dominanz und der Parteidiktatur der Kommunisten abgefunden und nach einem möglichst günstigen Arrangement mit den Machthabern gestrebt. Die Opposition besaß wenig Hoffnung, den Sturz des Systems noch erleben zu können. In dieser Lage halfen seit den siebziger Jahren die ausländischen Sender, vor allem Radio Free Europe, und die nach Polen geschmuggelte Exilpresse dabei, das Wissen über die Verbrechen der Sowjets und ihrer polnischen Helfer lebendig zu halten.

Doch erst durch das Engagement der Solidarnosc-Bewegung wurde die Wahrheit über den Hitler-Stalin-Pakt, Katyn, die Deportationswellen von 1939 bis 1941 und 1944 bis 1945, aber auch über den GULag, die »große Säuberung« oder die Niederwerfung der Arbeiteraufstände in anderen sozialistischen Staaten allgemein bekannt. Die Einführung des Kriegsrechts Ende 1981 verringerte zwar bald die Möglichkeiten zur Verbreitung dieser Fakten, doch seit der Wende von 1989 und der folgenden Aufhebung der Zensur gibt es keine Hindernisse bei der Berichterstattung mehr. Auch die Massenmedien nahmen sich nun des Themas an, und obwohl nach zwei bis drei Jahren das öffentliche Interesse abzuflauen begann, ließ der Strom der »sowjetologischen« Veröffentlichungen nicht nach.

Die polnische Presse hat seit dem Erscheinen der französischen Originalausgabe im Herbst 1997 immer wieder auf die Bedeutung des Schwarzbuchs und die Diskussionen hingewiesen, die dessen Publikation in Frankreich, Deutschland und Italien ausgelöst hat. Dennoch ist kaum zu erwarten, daß die für diesen November angekündigte polnische Ausgabe die Gemüter meiner Landsleute in gleichem Maße wie im Westen bewegen wird. Einerseits sind die kommunistischen Verbrechen, so grauenhaft sie auch sein mögen, keine Sensation mehr: Ein Teil der Öffentlichkeit ist heute gerne bereit, die Kommunisten, ähnlich wie früher die Nazis, für alle möglichen Untaten verantwortlich zu machen, andere haben jegliches Interesse an neuen Enthüllungen verloren. Andererseits scheint die Zeit der Abrechnung mit dem kommunistischen Regime und seiner Funktionsträger vorbei zu sein:

Der von der stärksten Parlamentsfraktion AWS (Wahlaktion Solidarnosc) jetzt vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur »Entkommunisierung«, das noch vor wenigen Jahren auf die Zustimmung einer Parlamentsmehrheit wie auch der Öffentlichkeit hatte setzen können, stößt jetzt auf Widerstand nicht nur seitens der postkommunistischen Sozialdemokratie, sondern auch bei der liberalen Freiheitsunion, dem Koalitionspartner der AWS, oder der ihr politisch nahestehenden Gazeta Wyborcza, der meistgelesenen polnischen Tageszeitung.

Auch in anderen von sowjetischen beziehungsweise einheimischen Kommunisten unterdrückten Nationen wie Esten, Letten, Litauern, Ukrainern, Ungarn sind die Erinnerungen an die einstige Herrschaft und die entsprechende Voreingenommenheit gegenüber den Russen erhalten geblieben. Heute müssen sie sich deshalb häufig dem westlichen Vorwurf stellen, ihre Einstellung sei nationalistisch. Aus ihren Erfahrungen mit dem Sowjetkommunismus könnte aber leicht ein zweites »Schwarzbuch« entstehen. Ein ganzer Länderstreifen, von Estland im Norden bis Bulgarien im Südosten, ist vor sechs Jahrzehnten wie zwischen Amboß und Hammer geraten, zwischen zwei eroberungs- und herrschsüchtige totalitäre Staaten, die von 1939 bis 1941 Ostmitteleuropa gemeinsam eine Neuordnung aufzwingen wollten und danach um die Hegemonie auf dem ganzen Kontinent gegeneinander kämpften.

Beide Regime haben in den eroberten Staaten zahlreiche Verbrechen begangen. Ohne auf die Frage einzugehen, welches dabei als Okkupant schlimmer, blutiger und in den Folgen verheerender gewesen ist - diese Frage müßte je nach Land unterschiedlich beantwortet werden -, kann man mit Genugtuung feststellen, daß endlich neben dem nazistischen auch das kommunistische Herrschaftssystem auf wissenschaftlich fundierte Weise, das heißt auf der Basis glaubwürdiger Quellen, und ohne sich von politischen Emotionen leiten zu lassen, analysiert werden kann. Das Erscheinen des Schwarzbuchs hilft bei allen Mängeln dabei, die Voreingenommenheiten hinsichtlich dieses Vorhabens auszuräumen.

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Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. September 1998

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