Teil 2     Die historische Perspektive   Start     Weiter 

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Der verstörende Unterschied   -  Von Gerd Koenen in FAZ vom 10.12.1997

Warum Stalinismus und Nazismus doch nicht über einen Kamm zu scheren sind  

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Schon jetzt ist absehbar, daß das zum achtzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution in Paris veröffentlichte Schwarz­buch des Kommunismus trotz der Ungeheuerlichkeit der Tatsachen, die es nach dem letzten Stand der Forschung ausbreitet, kaum jene späte, epochale Erschütterung auslösen wird, auf die es abzielt und die es einklagt.

Während in Frankreich die Diskussion, bevor sie ernsthaft begonnen hat, in den Niederungen der Innenpolitik und einer nationalzentrierten Kritik der eigenen Geschichts­legenden zu versanden droht, bewährt sich in Deutschland wieder die Ignoranz gegen alles, was die Aufarbeitung der Vergangenheit (der eigenen natürlich) stören könnte. 

Die aus dem Historikerstreit vor zehn Jahren als ein neuer verfassungs­patriotischer Konsens hervor­gegangene Formel der »Singularität« der national­sozialistischen Massenverbrechen und vor allem des Judenmordes wird dabei als narzißtisches Instrument der Abschirmung mißbraucht. Es ist ja klar: Je einzigartiger die deutschen Verbrechen, um so bedeutender die eigene Läuterung. Und wenn Auschwitz das »absolute Böse« war, dann erscheint alles andere relativ. 

Das ist allerdings der absurdeste Gebrauch, der sich von dieser Menschheits­erfahrung machen läßt.

Leider macht das Pariser Schwarzbuch oder vielmehr das umstrittene Vorwort seines Herausgebers Stephane Courtois — es den Ignoranten aller Länder und jeglicher Couleur sehr einfach. 

»Die Fakten zeigen unwider­leglich, daß die kommunistischen Regime rund hundert Millionen Menschen umgebracht haben, während es im Nazismus rund 25 Millionen waren«, schreibt Courtois im Vorwort. Diese »hundert Millionen« sollen wie ein Menetekel und Donnerwort die taube Menschheit aufrütteln. Sie können nur neue Taubheit erzeugen.

Courtois möchte in einer Art publizistischem »Nürnberger Prozeß« post festum noch die »verbrecherische Dimension« des »Kommunismus in seiner Epoche« wissenschaftlich ratifiziert wissen, die Tatsache also, daß überall dort, wo kommunistische Parteien zur Macht kamen, »das Massenverbrechen zum Regierungssystem« gemacht wurde. Er will den stalinistischen »Klassen­genozid« dem nazistischen »Rassengenozid« wenigstens zur Seite gestellt sehen. »Die von Lenin erarbeiteten, von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden lassen an die Methoden der Nazis denken und nehmen sie oftmals voraus.«

Eine solche Strategie der historisch-politischen Annäherung und tendenziellen Gleichstellung von Kommunis­mus und National­sozialismus auf der Ebene der schieren »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« mag juristisch gerechtfertigt sein. Mord bleibt schließlich Mord. Aber sie ist sachlich und analytisch kontraproduktiv. Sie verdunkelt nämlich gerade das, was das Besondere, das auf seine Weise Singuläre und Beunruhigende der geschichtlichen Erfahrung des Kommunismus ausgemacht hat und noch immer ausmacht.

Diese sollte das eigentliche Thema des Schwarzbuches sein: eine vergleichende Zusammenstellung und Bilanz der verschiedenen kommunistischen Umstürze, Staatsgründungen und Gesellschaftsformationen dieses »kurzen Jahrhunderts« von 1917 bis 1991. Ihre katastrophalen Resultate, die sich in einer Statistik der »Opfer«, das heißt der gewaltsam ums Leben Gekommenen, keineswegs zureichend erfassen lassen, haben die komm­unistischen Regime dabei großteils völlig unabhängig von der Existenz des Faschismus und National­sozialismus erzielt. 

Anders als ein rückwärts konstruierter legitimatorischer »Antifaschismus« es gerne möchte, waren alle diese Kollektivierungs- und Säuberungs­kampagnen, Hungersnöte und ökologischen Devastierungen*  hausgemachte Katastrophen, die den inneren Gesetzen eines totalitären Experimentes folgten. Der russische beziehungsweise sowjetische Kommunismus war der erste in einer Kette von Versuchen, von einem einzigen leitenden Zentrum her Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Kultur und Sozialisation und schließlich selbst das individuelle oder familiäre Leben der einzelnen Bürger, kurzum das »Totum« eines Gemeinwesens zu erfassen und zu gestalten. Die permanente Mobilisierung der Kriegs­bereitschaft gegen das feindliche Draußen, den Weltimperialismus und Weltfaschismus, gehörte zu den psychologischen Bedingungen, bestimmte aber keineswegs die Entscheidungen.

* (d-2005:)  Devastation: Verheerung, Verwüstung, Zerstörung.  früher für: Herunterwirtschaftung eines Betriebes  

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Die vorschnelle Gleichsetzung mit dem Nationalsozialismus auf der Ebene der schieren Verbrechen gibt denen, die — aus welchen Gründen auch immer — nicht bereit sind, ins Medusengesicht dieses großen Experimentes des Kommunismus zu sehen, die bequeme Möglichkeit, seinen utopischen, universalistischen und »im Kern humanistischen« Charakter als »Idee« wie eine schützende Folie zwischen sich und die historische Realität zu legen. Dabei müßte man doch gerade sagen: Um so schlimmer! Denn die moralischen Abgründe werden doch nur um so tiefer, je besser die Motive waren, in deren Namen Millionen Menschen ermordet, zu Tode geschunden, gefoltert oder auch »nur« ihrer individuellen Lebens- und Entfaltungsrechte beraubt worden sind.

Für Courtois reduziert sich die Geschichte des Kommunismus auf die »Methoden«, die denen der Nazis »stark ähnelten«, sowie auf die Ziele der Exekutoren, die er aus der Ideologie gespeist sieht. So bezeichnet er den Marxismus-Leninismus als eine »kriminogene Ideologie«. Das erinnert in seiner tautologischen Schlichtheit an Daniel Jonah Goldhagen, für den der Judenhaß vom Antisemitismus kam, so wie bei Fritz Reuters Onkel Bräsig die verbreitete Armut von der allgemeinen Powreteh. Auch die Reduktion der historiographischen Darstellung und Analyse auf die Erstellung eines Anklagedossiers für ein postumes Geschichts­tribunal ist sehr ähnlich. Und ähnlich ist der Tenor der Anklage: Diese »ganz normalen« Kommunisten des 20. Jahrhunderts begingen Verbrechen, wo sie konnten, sie folgten ihren niederen Instinkten und »kriminogenen« Ideologien, und sie taten es bewußt und gern.

Natürlich ist auch Ernst Noltes geschichtsphilosophische Spekulation vom »kausalen Nexus« nicht weit. Aber wo Nolte den National­sozialismus zu einem verkappten (Gegen-)Bolschewismus macht und den Judenmord zur »asiatischen Tat«, da Courtois umgekehrt den Kommunismus zu einer anderen, verkappten Form eines »roten Faschismus« oder Nazismus. Und wie Nolte gerade die Spezifik und Singularität des deutschen Nationalsozialismus verfehlte, so Courtois die Spezifik und Singularität des russischen Bolschewismus und des chinesischen Maoismus, von dem Juche-System eines Kim II Sung oder dem archaischen Agrar­kommunismus eines Pol Pot noch ganz zu schweigen.


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Vergleichen ist die grundlegende wissenschaftliche Operation schlechthin. Vor allem ein direkter Vergleich von National­sozialismus und Stalinismus ist sinnvoll, da beide im selben historischen Raum und Umfeld spielten. Viel interessanter und erhellender als alle Ähnlichkeiten sind aber die Unterschiede, die sich nicht nur aus ihrer jeweiligen historischen Ausgangs­situation ergaben, sondern aus der ganzen Anlage des national- und sozialrevolutionären Projektes, das ihre Aktivkader jeweils vertraten. Man kann sie als zwei parallele, aber fundamental verschiedene Reaktionen auf die wirkliche Weltrevolution des Jahrhunderts sehen. 

Beide waren sie apokalyptische, von endzeitlichen Heils- und Unheilserwartungen bestimmte Reaktionen auf die sich beschleunigenden, überstürzenden Entwicklungen der kapitalistischen Weltwirtschaft, der modernen Wissenschaften und der begleitenden sozialen und kulturellen Umbrüche. Beide waren Versuche einer radikalen »Säuberung« der Welt von allen vermeintlichen Urhebern des Unheils und einer Homogenisierung und Senkung des Komplex­itätsgrades der verhaßten bürgerlichen und kommerziell bestimmten Gesellschaften. Beide waren sie darauf aus, als das Substrat dieser neuen Gesellschaft auch einen »neuen Menschen« zu produzieren, das heißt »einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus und, wenn man will – den Übermenschen« (Trotzki). Darin, und nicht im staatlichen Terrorismus als solchem, der ein Mittel zu einem viel weiter greifenden Zweck war, lag der Totalitarismus des einen wie des anderen Unternehmens.

Aber das bolschewistische Projekt unterschied sich von dem der Nazis grundlegend. Die nationalsozialistische Idee und Praxis zielte vor allem auf die radikale Aussonderung, die Selektion. Sie ging von der prinzipiellen Gesundheit und Einheitlichkeit des Volkskörpers aus von dem lediglich die »artfremden«, »degenerierten« und »kranken« Elemente abgestoßen oder abgetrennt werden müßten. Die eugenischen oder rassischen Grenzlinien, die dabei gezogen wurden, waren so absurd wie schroff; aber sie waren auch restriktiv. Gegenüber den engeren »Volksgenossen« überstieg der Naziterror kaum das Maß einer brutalen Diktatur konventionellen Zuschnitts. 1937/38 saßen in den Konzentrationslagern und Gefängnissen Deutschlands einige zehntausend politische, »sozial schädliche« und rassische Häftlinge. Die Zahl der Ermordeten rechnete nach Hunderten eher als nach Tausenden. Die entsprechenden sowjetischen Ziffern gingen zur selben Zeit in die Hunderttausende und Millionen Ausdruck eines organisierten sozialen und politischen Massenterrors, noch mitten im Frieden, der nach jedem Maßstab, den man anlegen könnte, beispiellos war.


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Was besagt das indes über den Nationalsozialismus? Eben nur, daß er es nicht nötig hatte, das deutsche Volk in seiner Mehrheit terroristisch zu unterdrücken, um es erst einmal gleichzuschalten. Er wurde wahrscheinlich von einer Mehrheit begeistert oder loyal getragen, zumal er auch ökonomisch äußerst erfolgreich schien. Welche totalitären Steigerungen der Nationalsozialismus gegenüber den deutschen »Volksgenossen« selbst genommen hätte, wenn er länger sich hätte entfalten können, was »Härtung« und »Auslese« im weiteren noch bedeutet hätten, ist eine andere Frage. 

In der geschichtlichen Realität jedenfalls richtete der NS-Totalitarismus seine ganze vernichtende Wucht fast ausschließlich gegen die zu Fremden, Andersrassigen und Untermenschen erklärten Bürger – und im weiteren dann, kunstvoll abgestuft, gegen die zu Objekten sukzessiver äußerer Aggressionen gemachten unterworfenen und versklavten Völker. Das »Judentum« aber war der mythologische innere und äußere Feind schlechthin, die Inkarnation aller abstrakten Mächte der modernen Weltbeherrschung (wie Geld, Information und so weiter), der globale »Überfeind«, in dessen Eliminierung die nationalsozialistische Weltrevolution kulminierte. Der Mord an den Juden Europas ist singulär zu nennen, weil es der radikalste jemals unternommene Versuch war, einen perfekten, möglichst lückenlosen und geräuschlosen Genozid zu vollbringen. Als solcher war er ein Extrem, ein Äußerstes in der Dehumanisierung menschlicher Gemeinschaft überhaupt. Und als solcher hat er sich dem Gedächtnis der Menschheit eingebrannt.

Der stalinistische Terror war dagegen vor allem nach innen gerichtet und ließ keine Klasse und Gruppe der Gesellschaft, weder das Fabrikproletariat noch die Beamtenschaft, weder die Partei noch die Geheimpolizei, aus. Buchstäblich jeder konnte im Frieden wie im Krieg ein »Feind des Volkes« werden. Jede soziale Schicht, jede Berufsgruppe, jede Nationalität, jede religiöse oder sonstige Gemeinschaft, jede einzelne Familie wurde gespalten, atomisiert und radikal umgemodelt oder »liquidiert«. Der stalinistische Totalitarismus war demnach vollkommen intrusiv*. Er erfaßte die gesamte Gesellschaft und ließ keine Struktur unberührt.

* (d.2007:)  Intrusion: das Eindringen einer Gesteinsschmelze in die Erdkruste, ohne die Oberfläche zu erreichen


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Die »richtige Linie« der Partei war sowenig wie irgend etwas anderes geeignet, klare Trennungslinien zwischen dem Volk und den »Volksfeinden« zu ziehen. Auch soziologische Kriterien waren im Grunde ohne Belang. »Burshui«, »Kulak«, »Intelligent«, »Spekulant« und so weiter waren populäre Schablonen, deren soziale Bedeutung beliebig ausgedeutet werden konnte. »Arbeiter« war umgekehrt ein völlig leerer Begriff, der keine spezifische Kompetenz, sondern nichts als universelle Verfügbarkeit meinte. 

Worum es sich handelte, war die Produktion einer neuen, »höheren« Gattung von Sowjetmenschen, auch »Stalinsche Menschen« genannt, aus dem Rohmaterial der Jugend. Eine der letzten ideologischen Ausformungen des Stalinismus, die mit dem Namen Lyssenkos verbunden ist, drehte sich folgerichtig um die Frage, auf welche Weise und in welchem Grade sozial erworbene Eigenschaften ins Erbgut übertragen werden könnten.

Der Nationalsozialismus verfügte über kein theoretisches System, er hatte nicht einmal eine geschlossene Ideologie, sondern nur eine weit auslegbare »Weltanschauung«. Er bedurfte eines diesbezüglichen Aufwandes auch gar nicht, eben weil sich das Gesunde und Richtige im praktischen Lebenskampf zu zeigen und zu bewähren hatte. Der loyale Fachmann, der deutsche Unpolitische und selbst der »innere Emigrant« konnten im großen und ganzen unbehelligt arbeiten und leben. Der Bolschewismus dagegen entfaltete ein nachgerade bizarres Geflecht von Theoremen und Doktrinen über so gut wie alle Fragen des Lebens eben weil sein Gestaltungs­anspruch ungleich weiter reichte. Und er verlangte von allen einzelnen Gliedern der Gesellschaft, daß sie die »richtigen Gedanken« und ihre »revolutionäre Ergebenheit« jederzeit unter Beweis stellten. Er war das eigentlich totalitäre System, eben weil sein Anspruch der universalere war.

Und gerade weil er die höchsten Ziele der Menschheit auf seine Fahnen schrieb, weil er noch das Böseste und Gemeinste, Verrat und Denunziation, zur revolutionären Tugend erhob und die offensichtliche Lüge zur unbestreitbaren Wahrheit, weil er das Gedächtnis der ihm unterworfenen Menschen auslöschte, ihre Geschichte neu erfand, sie von der übrigen Welt isolierte und auf dieser Grundlage schließlich die Realität selbst durch die Fiktion ersetzte – ebendeshalb konnte er seine Subjekte und selbst viele äußere Beobachter oder gutwillige Reisende auf eine im nachhinein erstaunlich anmutende Weise entwaffnen und in seinen Bann ziehen. 


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Ebendeshalb haben ihm so viele große Geister der Zeit gehuldigt, wie er ja überhaupt ein Tempel der Künste war und besonders die Schriftsteller zeitweise in eine fast priesterliche Rolle versetzte. So daß ein Stephan Hermlin noch im Jahre 1986 über seine großen Stalin-Oden trauernd sagen konnte: »Es sind utopische Gedichte, Gedichte, in denen eine Gestalt und ein Name, wenn Sie so wollen, zu Unrecht, als Symbol für eine große Sache stehen.«

Diese »große Sache« schloß große Geister wie einfache Menschen in opferbereiten Kampfbünden und Gesinnungs­gemeinschaften zusammen, wie es allenfalls religiöse Erweckungs­bewegungen zuzeiten vermochten. Das erzeugte eine Spannung, in der allein solche ungeheuren Dramen spielen konnten, wie sie sich etwa in der großen, »kniefälligen« Rede des Nikolaj Bucharin auf seine eigene, bevorstehende Exekution Ausdruck verschafften. 

Ein Heiner Müller wußte, warum nur hier noch der »echte« Stoff für shakespearesche Königsdramen zu finden war. Daß hinter den großen Geständnissen sehr einfache Rezepte wie lügnerische Versprechungen und »Schlagen, Schlagen, Schlagen!« standen, das mußte man ja nicht wissen müssen. Und änderte es eigentlich etwas? Jedenfalls hat es Jahrzehnte gedauert, bis sich dieser intellektuelle Bann gelöst hat. Und die in dieser extremen Spannung geschaffenen künstlerischen Produkte sind ja selbst in die Formensprache und den Kernbestand der modernsten Moderne eingegangen. Warum kann die Alte Oper in Frankfurt am Main, dieser Tempel des »Wahren, Schönen, Guten«, in den Vorweihnachtstagen 1997 Sergej Eisensteins »Generallinie« mit großem Orchester vor einem gutbürgerlichen Publikum aufführen, nicht aber Leni Riefenstahls »Triumph des Willens«? Will man in dieser Ehrung Eisensteins als eines Propagandisten des »Soziozids« der Kollektivierungen nicht ein schieres Skandalen sehen (und wer tut das schon?) - dann kommt man nicht umhin, »einen Unterschied« zu machen.

Um wieviel leichter und gründlicher ist man mit den faschistischen Regimen und besonders dem deutschen Nationalsozialismus fertig geworden. Daß der Nationalsozialismus und die verschiedenen Faschismen das Kainszeichen des Bösen, des »sacro egoismo«, der brutalen Durchsetzung des »Lebensrechtes des Stärkeren« und des primitiven Hasses gegen die »anderen« viel sichtbarer auf der


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Stirn trugen und ganz ausdrücklich eine Rebarbarisierung des »überzivilisierten« modernen Lebens mit den Mitteln der Gewalt und der Unterwerfung betrieben, gehörte mit zu den Gründen, warum sie nach einer kurzen Phase der Attraktion und Faszination die ganze Welt gegen sich aufbrachten und in epochaler Weise besiegt wurden. Und nur deshalb konnte es auch einen Nürnberger Prozeß geben.

Die kommunistischen Staaten und Parteien sind niemals besiegt worden; sie haben sich in jeder Schlacht behauptet. Zusammen­gebrochen sind sie nach einer längeren Zeit des Friedens und der Entspannung im wesentlichen von innen heraus, wie die Länder des sowjetischen Blocks und wenig später die Sowjetunion selbst. Oder sie haben sich, wie China, aus eigenem Antrieb in ein halb traditionelles, halb modernes Machtkartell zurückverwandelt, das nun eine entfesselte Marktwirtschaft als Katze benutzen möchte, um Mäuse zu fangen. 

Was man 1989 wiederum kaum geahnt hätte: In so gut wie allen Ländern des früheren »sozialistischen Lagers« waren und sind es Fraktionen und Kader der früheren kommunistischen Staatsparteien, die einen mehr oder weniger deutlichen und erfolgreichen Übergang auf ein neues geschichtliches Terrain führend mit vorangetrieben haben. Aber gleichzeitig kommen ihre erbittertsten Gegner im Lager der neuen völkisch-chauvinistischen und meist antisemitischen Opposition ebenfalls zum großen Teil aus dem alten kommunistischen Ideologiekader. Offenkundig haben diese Differenzen und Antagonismen innerhalb der Staatsklassen der sozialistischen Länder seit langem koexistiert und gebrütet, bevor sie aufgebrochen sind.

Diese vielfältigen Zusammenbrüche, Übergänge und inneren Differenzierungen haben das Phänomen des historischen »Kommunismus« aber nur noch schwieriger und geheimnisvoller gemacht. So sang- und klanglos, wie die Sowjetunion und der um sie gebildete Block nach 1989-91 zusammengebrochen sind, ist wohl niemals eine Weltmacht in der Geschichte abgetreten. Wie war es dann aber möglich, daß dieses »sozialistische Lager« sich über Jahrzehnte hinweg so siegreich hatte aufbauen, ausdehnen und behaupten können?

Der Kommunismus ist die eigentlich unbegriffene historische Erfahrung und damit das große Änigma* des 20. Jahrhunderts. Das Pariser Schwarzbuch mit seiner niederschmetternden Bilanz bietet eine wichtige Grundlage eines vertieften Verständnisses und trägt doch nur zu der Beunruhigung bei, die von diesem singulären historischen »Experiment« ausgeht - und zwar gerade dann, wenn man es nicht, wie Courtois, in die gewissermaßen vertraute Gestalt seines unterlegenen historischen Rivalen zurückzuverwandeln versucht.

 

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Dezember 1997, unter dem Titel 
»Das absolute Böse und die ganz normalen Täter. Die Vergleichbarkeit des Unvergleichbaren: Warum Stalinismus und Nazismus doch nicht über einen Kamm zu scheren sind«

 

* OD: Änigma:  Rätsel  <griechisch>

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Eckhard Jesse 

Die einäugigen Vergleicher

 Ist der intellektuelle Bann des Kommunismus wirklich gebrochen?

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. April 1998

 

Am 11. Januar dieses Jahres nahmen etwa hunderttausend Menschen an der Gedenkveranstaltung der PDS für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht teil. Zuletzt waren so viele im Januar 1990 gekommen, als die SED-PDS, wie sie damals noch hieß, mit Hilfe des Antifaschismus ihr Machtmonopol in letzter Minute zu retten suchte und dabei auch vor Provokationen nicht zurückschreckte. Luxemburg und Liebknecht hatten im Januar 1919 einen blutigen Aufstand gegen die ungefestigte junge Demokratie und die sozialdemokratische Regierung Ebert-Scheidemann entfacht. Medien berichten nur spärlich über solche Veranstaltungen, schon gar nicht kritisch kommentierend. Eine Kundgebung für die Gebrüder Strasser dürfte ein ganz anderes Medienecho hervorrufen.

Allerdings hat der Zusammenbruch des Kommunismus der vergleichenden Diktaturforschung Auftrieb verliehen. Die in den siebziger und achtziger Jahren weithin verfemte Totalitarismusforschung ist inzwischen mehr oder weniger rehabilitiert. Die Gründung eines Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung wäre vor dem Schlüsseljahr 1989 undenkbar gewesen. Erst heute findet der auch von Jürgen Habermas 1994 positiv gebrauchte Begriff des »antitotalitären Konsensus« breite Anerkennung.

Doch das Totalitarismuskonzept wird vielfach nicht konsequent zu Ende gedacht. Das gilt auch für Gerd Koenen (F.A.Z. vom 10. Dezember 1997), dessen Argumentation sich ungeachtet erhellender Befunde durch mangelnde Stringenz und Wider­sprüch­lichkeit auszeichnet.

Im zwanzigsten Jahrhundert, dem »kurzen Jahrhundert« (Eric Hobsbawm) von 1917 bis 1989/1991, zog die totalitäre Herrschaft einerseits Massen in den Bann und verbreitete andererseits Furcht und  Schrecken – paradoxerweise zur selben Zeit.


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Millionen von Opfern sind ihr anzulasten. Totalitäre Ideologien, Bewegungen und Systeme bestimmten jedenfalls zeitweilig diese Epoche. Dem Kommunismus wie dem Nationalsozialismus waren – vorübergehend vielfältige Integrationsmechanismen eigen. Der Enthusiasmus der Massen wurzelte in dem Glauben an eine historische Mission, die eine große Zukunft verhieß, in einer Ideologie, die universelle Welterklärung versprach.  

Die Pseudolegitimierung vollzog sich in Form von Massenaufmärschen, Vertrauensbekundungen und Hundert-Prozent-Akklamationen. Der neue Mensch sollte geschaffen werden – um jeden Preis. Das »System der kollektiven Schizophrenie« (Boris Orlov) machte aus Wahrheit Lüge, aus Lüge eine höhere Form der Wahrheit.

Die »Verführungskraft des Totalitären« (Klaus-Dietmar Henke) ist durch Fixierung auf den staatlichen Terrorismus zu wenig beachtet worden, gerade mit Blick auf den Nationalsozialismus ein Befund, der bei Koenen zu kurz kommt. Es war nicht der Rassismus, der faszinierte und Leidenschaften entfesselte, wohl aber der Glaube an die Gemeinschaft, an die Größe der deutschen Nation, an soziale Gleichheit. Vielleicht übte gar nicht einmal so sehr der jeweilige Inhalt die Faszination aus, sondern die als unwiderstehlich empfundene Art der Vermittlung, heroisch anmutende Bilder etwa, monumentale Bauten, suggestive Reden.

Die Frage nach der Wechselbeziehung von Weltanschauungsdiktaturen wie dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus ist lange vernachlässigt worden. Gemäß den strittigen Untersuchungen Ernst Noltes war dieser weitgehend eine Reaktion auf jenen, besteht ein »kausaler Nexus« zwischen beiden. Aber das ist nur die eine Seite. Es gibt einen deutlicheren Zusammenhang zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus in umgekehrter Richtung. 

Warum hat sich dieser so lange behauptet? Gerd Koenen stellt die Frage, ohne sie zu beantworten. Der Wirkungs­zusammen­hang zwischen der Dauerhaftigkeit der sowjetischen Herrschaft und der Existenz des Nationalsozialismus ist evident. Denn ohne den antifaschistischen Mythos wären die Bindekräfte der kommunistischen Herrschaftsausübung eher gebrochen. Francois Furet hat zu zeigen vermocht, wie gut sich vom »Antifaschismus« zehren ließ. Immer wieder wurde der Leichnam des »Faschismus« exhumiert, sei es aus Furcht, sei es aus Kalkül. Der Antifaschismus war nicht nur in Deutschland beträchtlich lebenskräftiger als der Antikommunismus, obwohl (und zugleich weil) der


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Kommunismus weitaus länger an den Schalthebeln der totalitären Macht geblieben ist. Zu Recht würdigt hingegen fast niemand die vehement antikommunistischen Affekte des Nationalsozialismus. Mithin ist nicht die Gefahr einer Antikommunismusfalle gegeben, wohl aber die einer Antifaschismusfalle.

Die These von dem doppelten Wirkungszusammenhang ließ sich auf die Bundesrepublik Deutschland erweitern, auf die Vergang­enheits­bewältigung nach 1949 wie nach 1989. Sollte die Existenz des Kommunismus für die zunächst zögerliche Aufarbeitung der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus verantwortlich sein – aus Furcht davor, dem linken Gegner der Demokratie eine Vorlage zu liefern? Und: Sollte die Existenz des Nationalsozialismus für die halbherzige Aufarbeitung des Kommunismus haftbar zu machen sein aus Angst vor dem Beifall von der falschen Seite? Die Wechselbeziehung geht noch weiter, benötigt doch die eine Variante des Extremismus die andere. Was der Antipode großsprecherisch verkündet, wird vielfach als bare Münze genommen. Man glaubt, auf diese Weise die eigene Legitimität zu erhöhen.

Der Bonus, den der Kommunismus gegenüber dem Nationalsozialismus immer noch genießt, beruht wohl nicht zuletzt darauf, daß er sich wie der demokratische Verfassungsstaat, jedenfalls theoretisch, zu universalistischen Prinzipien bekennt. Gerade dadurch hat das kommunistische »Experiment« dieser nicht nur von Koenen verwendete problematische Terminus, der niemals für den National­sozialismus gebraucht wird, suggeriert Wiederholbarkeit unter besseren Bedingungen – das Schlimmste guten Gewissens möglich gemacht. Beim Kommunismus konnte man von »Deformationen« in der Praxis reden, während beim National­sozialismus schon die Idee als »Deformation« galt. Die Begriffe »Stalinismus« und »Nazismus« illustrieren das.

Bezeichnenderweise spricht selbst Koenen, der den »beispiellosen« Massenterror in der Sowjetunion herausstreicht, von »Stalinismus«, stellt also auf eine scheinbare Pervertierung ab, läßt die Idee des Kommunismus damit weitgehend ungeschoren.

Der kompromißlose und glaubensfeste Revolutionär Lenin, nicht Stalin, hat den Aufbau eines gigantischen Unter­drückungs­systems begonnen, das auf dem Opferwillen vieler basierte. Umgekehrt unterschlägt die aus dem antifaschistischen Jargon stammende Wendung »Nazismus« die Anziehungskraft des Dritten Reiches, die auch in der tatsächlichen oder vermeintlichen sozialistischen Komponente der NS-Ideologie bestand.


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Im übrigen ist es im Interesse der Aufhebung wissenschaftlicher Selbstblockaden höchste Zeit, die Frage der Wechselwirkungen zwischen den Totalitarismen nicht mehr mit der Schuldfrage zu verquicken und zu verwirren. Ließe sich die These vom Bolschewismus als Vor- und Schreckbild des Nationalsozialismus gegenüber anderen genetischen Theorien empirisch erhärten, so besagt das keineswegs, der Kommunismus sei für den Nationalsozialismus und seine monströsen Verbrechen verantwortlich. Es bedeutete nicht mehr, aber auch nicht weniger, als daß der Nationalsozialismus im wesentlichen eine Reaktion auf den Bolschewismus war. Gleiches gilt für die andere These: Sollte der Nationalsozialismus indirekt verantwortlich dafür gewesen sein, daß sich der Kommunismus in der Sowjetunion, Mittel- und Osteuropa wegen der Schrecken seines totalitären Antipoden derart lange halten konnte, verbietet sich der Schluß, dieser trage die Schuld an der Fortdauer des Kommunismus. Dagegen wird die »Interaktion« der beiden Bewegungen und Herrschaftssysteme im Weltbürgerkrieg einsichtig.

Die Forschung ist durch eine auffallende Asymmetrie gekennzeichnet. Wir wissen weitaus mehr über den Nationalsozialismus als über den – nicht nur sowjetischen Kommunismus. Insofern ist ein Schwarzbuch des Kommunismus, das unnachsichtig dessen Verbrechen registriert, sehr nützlich, für ein Begreifen des totalitären Geschehens jedoch unvollständig. Noch immer kennen wir zu wenig die Herrschafts­mechanismen unter Lenin, unter Stalin, unter ihren Nachfolgern. Was ist von »Lenins und Stalins willigen Vollstreckern« bekannt, den »ganz gewöhnlichen Russen«? Die Antwort muß lauten: so gut wie nichts!

Die Bezugnahme auf die doppelte Wechselwirkung ist für die Forschung heuristisch anregender als Koenens widersprüchlich anmutende These von der doppelten Singularität. Wiederholt schreibt er dem Stalinismus wie dem Nationalsozialismus singuläre Züge zu, unterhöhlt so indirekt die eigene Argumentation, die geradezu nach einer Aufhebung der Singularität im spezifischen Sinne drängt. Wer von einer zweifachen Singularität spricht, sollte konsequenterweise auf den Begriff der Singularität verzichten.

Der »intellektuelle Bann« gegenüber dem Kommunismus habe sich gelöst, wenn auch erst nach Jahrzehnten. Trifft das zu? Wer im gleichen Atemzug den »Unterschied« zwischen dem National­sozialismus und dem Kommunismus damit zu erklären sucht, daß die Alte


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Oper in Frankfurt Sergej M. Eisensteins »Generallinie« zeigen kann und nicht Leni Riefenstahls »Triumph des Willens«, hat nur die unterschiedliche Perzeption erhellt. Es ist in der Tat ein Skandalon, wenn ein Film des zwei Jahre vor 1900 geborenen russischen Regisseurs ohne Proteste läuft, hingegen nicht ein solcher der zwei Jahre nach 1900 geborenen deutschen Regisseurin, ob in Frankfurt oder St. Petersburg. Beide haben sich – und sei es aus Idealismus willfährig in den Dienst einer totalitären Macht gestellt. Betört von ihr, haben sie ihrerseits betörend gewirkt.

Leni Riefenstahl, die in ihren Memoiren die betäubende Wirkung der Filme Eisensteins rühmt, zitiert die drastische Wendung eines amerikanischen Magazins: »Sie sind ein Regisseur mit Talent, Sie arbeiten für Hitler? Sie sind ein Nazi! – Sie arbeiten für Stalin? Sie sind ein Genie!« 

Unter moralischen Gesichtspunkten sind die Verbrechen dieser Systeme gleichzusetzen. Insofern ist die verbreitete Schieflage in der Einordnung beklagenswert. Der nicht nur zeitliche Abstand sollte, achtzig Jahre nach der »Oktoberrevolution«, 65 Jahre nach der »Machtergreifung«, groß genug sein, um Eisensteins und Riefenstahls Werke betrachten zu können als Beispiel für die Vereinnahmung und das Sich-Vereinnahmen-Lassen von hochbegabten Künstlern durch totalitäre Mächte.

Er sollte allerdings nicht groß genug sein, um zu übersehen, daß die Versuche der Vereinnahmung in modifizierter Form anhalten. Die von einem »Bündnis linker Schriftsteller, Theologen, Wissenschaftler und Gewerkschafter« am 9. Januar 1997 veröffentlichte »Erfurter Erklärung« ermuntert SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS, nach der nächsten Bundestagswahl gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Erstaunlicherweise findet sie kaum ein Echo in den Medien, Kritik demzufolge auch nicht.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. April 1998

 

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FOCUS  48 / 1997

Der rote Schrecken

Historikerstreit á la francaise: Sind die Verbrechen 
der Kommunisten denen der Nazis vergleichbar?

 

Das »Ende der sowjetischen Welt«, schrieb der unlängst verstorbene französische Historiker Francois Furet, werde nicht die »Forderung nach einer anderen Gesellschaft« aus der Welt schaffen; es sei vielmehr wahrscheinlich, daß dem »umfassenden Scheitern« des Kommunismus »in der öffentlichen Meinung weltweit mildernde Umstände zuerkannt werden«.

Das Orakel irrte nicht – wie etwa zahlreiche Reaktionen auf ein soeben in Paris erschienenes Schwarzbuch über die Verbrechen des Kommunismus demonstrieren.

Zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution haben sechs französische Historiker eine Bestandsaufnahme der im Namen der marxistisch-leninistischen Heilslehre begangenen Verbrechen vorgelegt. Demnach sind weltweit zwischen 85 und 100 Millionen Menschen dem bislang mörderischsten Menschheitsmythos zum Opfer gefallen. Folgt man dem Philosophen Hegel, von Marx und seinen Anhängern als Geschichtsdialektiker überaus geschätzt, schlägt Quantität an irgendeinem Punkt in Qualität um. Für die Opfer des Kommunismus scheint dieser dialektische Kniff jedoch nicht zu gelten.

So entzündete sich die Debatte im Mutterland der modernen Revolutionen nicht etwa an den ermittelten Opferzahlen - die kein Gelehrter bezweifelt -, sondern an der vom deutschen Historikerstreit her sattsam bekannten Frage, ob der Blutzoll der Weltrevolution denn mit der Schreckensquote des Nationalsozialismus verglichen werden dürfe.

Anlaß zum Streit bot das Vorwort des Chefherausgebers Stephane Courtois. »Warum«, fragt darin der Ex-Maoist, dem seine Kontrahenten nun folgerichtig Renegateneifer unterstellen, »mußte bis zum


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Ende des Jahrhunderts gewartet werden«, damit die kommunistischen Repressalien »den Status eines wissenschaftlichen Gegenstandes« erlangen konnten? Warum kenne, während die Namen von Himmler und Eichmann weltweit als »Symbole der Barbarei« bekannt seien, fast niemand Dscherschinski, Jagoda oder Jegow? Warum diese Einseitigkeit? Wegen der Gleich­gültigkeit und Ignoranz der öffentlichen Meinung, aber auch der heimlichen bis offenen Sympathie der westeuropäischen Linken für das Gesellschaftsexperiment im Osten. Namentlich die französischen Kommunisten seien lange Zeit »Komplizen des Stalinismus« gewesen.

Sehr lange übrigens. 1972 beispielsweise, gerade zu einer Zeit, als Alexander Solschenizyns Buch Archipel Gulag in Frankreich mit fast einer Million verkauften Exemplaren einen Riesenerfolg landete, unterzeichnete Francois Mitterrand, Erster Sekretär der Sozialistischen Partei, ein anti-antikommunistisches »Gemeinsames Regierungsprogramm der Linken« mit den Kommunisten unter Georges Marchais – das »letzte neobolschewistische Programm der universellen Geschichte« (Francois Furet).

Courtois kritisiert die verbreitete Neigung, »dem Völkermord an den Juden das >Monopol< als Verbrechen gegen die Menschheit zu überlassen«. Nicht nur Auschwitz sei »einzigartig« gewesen, sondern auch der gezielte Einsatz der »Waffe des Hungers« seitens kommunistischer Diktatoren. Und: »Die Kommunisten und nicht die Nationalsozialisten waren es, die den Massenterror als Druckmittel für eine totalitäre Regierung, die sich auf ein Einparteiensystem stützte, einführten.« Auch den kommunistischen Untaten stünde das Verdammungsurteil »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu.

Solch ketzerische Thesen und bohrende Fragen riefen innerhalb der französischen Linken, zuallererst unter Autoren des Schwarzbuchs selbst, die bekannten Reflexe hervor – bis hin zu dem Argument, die Liquidierung der 85 Millionen sei im Gegensatz zu den Nazi-Morden nicht von Anfang an intendiert gewesen.

So hält Nicolas Werth, Verfasser des Kapitels über die Sowjetunion, der kommunistischen Bewegung nach wie vor zugute, sie sei, im Gegensatz zum Nationalsozialismus, eine »Ideologie zur Befreiung der Mehrheit der Menschen« gewesen. Man dürfe, sekundierte Co-Autor Jean-Louis Margolin, die Bilanz nicht auf die Zahl der Toten reduzieren.


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Auch die Zeitschrift Le Monde diplomatique agitierte gegen »Historiker, die Slogans der extremen Rechten übernehmen und so tun, als würden sie ein >Nürnberg des Kommunismus< veranstalten«. Man könne aber die Realitäten der beiden Systeme nicht »vermischen«, weil sie auf völlig verschiedenen historischen Zielstellungen basierten.

Ob es weniger schlimm sei durch Pol Pot als durch Hitler ermordet zu werden, fragte der Philosoph Jean-Frangois Revel, Mitglied der Academie francaise, im konservativen Figaro zurück. Die Nazis hätten ihre Absichten nie versteckt, die Kommunisten dagegen Ideale vorgetäuscht. Er sei, so Revel, »fast geneigt, das noch schlimmer zu finden, weil zum Verbrechen auch noch die Lüge kam«.

Der Chefredakteur der kommunistischen Humanité wehrte sich gegen den »für Kommunisten, die gegen die Nazi-Herrschaft kämpften, menschlich unerträglichen« Vergleich und berief sich auf den Ausspruch des italienischen Schriftstellers und KZ-Häftlings Primo Levi: »Man kann den Nazismus nicht ohne Gaskammern denken, wohl aber den Kommunismus ohne Lager.« Das Schwarzbuch freilich besagt in Punkt zwei das Gegenteil.

Der Streit erreichte sogar das Parlament. »Stalins Sowjetunion war, was immer man von ihr halten mochte, unser Alliierter gegenüber Deutschland«, rief Frankreichs Premier Lionel Jospin bei der Sitzung am 12. November in einer in Aufruhr begriffenen National­versammlung. Er weigere sich, so der Regierungschef, Nazismus und Kommunismus gleichzusetzen.

Anlaß für den Tumult war die Forderung eines Abgeordneten der liberalkonservativen UDF - mit Anspielung auf die kommunistischen Minister in der Regierung - nach Definition der »Verantwortlichkeit derer, die diese Greueltaten unterstützt haben«.

Nachdem sich Jospin demonstrativ vor seinen Koalitionspartner gestellt hatte, verließen die UDF-Abgeordneten protestierend den Plenarsaal. Die Gaullisten, peinlich daran erinnert, daß in der ersten von Charles de Gaulle geführten Regierungskoalition Kommunisten saßen, blieben auf ihren Bänken sitzen. So endete die politische Debatte um das Schwarzbuch vorerst mit einem kuriosen Resultat: die Rechte gespalten, die Linke noch fester geeint.

Quelle: Focus, 48 / 1997

 


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Frankfurter Rundschau, 27. Mai 1998

CHRISTIAN GEULEN

Von der Unmöglichkeit einer historischen Bilanz

Das vieldiskutierte Schwarzbuch des Kommunismus nun in deutscher Übersetzung

 

Zahlen muß man nicht übersetzen: 100 Millionen bleiben 100 Millionen, ob auf französisch oder auf deutsch. Die Zahl bleibt Zahl – monströs und nichtssagend, weil sie zählt statt zu erzählen. Ebenso monströs und nichtssagend erscheint der Unterschied, den sie markieren soll: 100 Millionen Opfer des Kommunismus gegen 25 Millionen Opfer des Nationalsozialismus. Auch dazu bedarf es keiner Übersetzung: eine Differenz von 75 Millionen Toten, ein schier unüberbrückbarer Abstand.

An ihm hat sich im Herbst vergangenen Jahres die Debatte um das Livre noir du communisme entzündet. Sie bewegte sich zwischen zwei sehr radikalen, weil nicht mehr vermittelbaren, Thesen: 1. Daß der Kommunismus um vieles tödlicher war als der Nationalsozialismus und das eigentliche Übel des 20. Jahrhunderts. 2. Kommunismus und Nationalsozialismus sind unvergleichbar, sie können und dürfen nicht miteinander verglichen werden.

75 Millionen Tote beweisen das eine so gut wie das andere.

Jetzt ist das Schwarzbuch des Kommunismus auf deutsch erschienen. 900 Seiten stark, der komplette Text der französischen Ausgabe, ergänzt um Essays von Ehrhart Neubert und Joachim Gauck über den Kommunismus in seiner DDR-Variante. Endlich. Denn jetzt stehen nicht mehr nur die Zahlen, sondern auch die ausführlichen und meist sorgfältig erarbeiteten Texte einer größeren deutschen Leserschaft zur Verfügung – Einzelstudien zu den Verbrechen der kommunistischen Regime in der Sowjetunion, aber auch in China, Polen, Afghanistan, Kuba, Vietnam, Korea und anderen Ländern.


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Nicht die Verbrechen kommunistischer Regime an sich, sondern, die Tatsache, daß die Ideologie, in deren Namen sie ausgeführt wurden, mindestens bis 1991 von so vielen Menschen und nicht zuletzt von vielen Intellektuellen als eine echte, bessere und mögliche Alternative zum westlichen Kapitalismus angesehen wurde – dies ist das eigentliche Problem, dem sich Herausgeber und Autoren des Schwarzbuchs – teilweise mit Blick auf ihre eigenen Biographien – stellen möchten. Um dieses Problem als solches überhaupt in den Blick nehmen zu können, müssen sie die völlige Unverhältnismäßigkeit der Verbrechen des Kommunismus betonen. Sie suchen einen externen Ort, von dem aus die Wirklichkeit des Kommunismus als das ganz Andere der menschlichen Zivilisation deutlich wird, müssen aber feststellen, daß dieser Ort bereits besetzt ist und einen Namen hat: Auschwitz.

Auf diese Entdeckung, die den aufklärerischen Impetus des eigenen Projekts tatsächlich untergräbt, reagiert das Schwarzbuch mit drei so problematischen wie naheliegenden Kurzschlüssen: Die Berechtigung des Holocausts, Platzhalter des singulären Zivilisationsbruchs zu sein, wird in Frage gestellt; der Gedächtnisort des Holocausts, seine symbolische Repräsentationen und seine sprachlichen Kennzeichnungen werden für das eigene Gedenkprojekt funktionalisiert; und es wird eine neue Einmaligkeit, die Singularität von Auschwitz ersetzend, konstruiert. Aus 6 Millionen werden 100 Millionen, aus dem »Rassengenozid« wird ein »Klassengenozid«, der universalistische Anspruch der kommunistischen Idee gilt als Nachweis der Universal-Negativität ihrer Folgen, und das »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« wandelt sich von einem völkerrechtlichen zu einem universalhistorischen Urteilskriterium.

Das Bemerkenswerte daran ist, daß diese erinnerungspolitische Mimesis weit weniger den Holocaust relativiert als vielmehr den anderen Opfern, deren Sprachrohr das Schwarzbuch sein will, ihre eigene historische Besonderheit abspricht. Mit Recht ist bereits in den Mahnmaldebatten auf die enthistorisierenden und entpolitisierenden Effekte eines allgemeinen Opfer-Gedenkens hingewiesen worden, das sich seine symbolische Annäherung an das eigentlich Unfaßbare durch eine Gleichschaltung der Opfer erkauft. Im Schwarzbuch führt der Versuch, ein universalhistorisches Verbrechen durch ein »noch universaleres« zu übertrumpfen, zu einem ähnlich problematischen Vergessen dessen, was den chinesischen Studenten vom Ostberliner Flüchtling, was den kubanischen Intellektuellen vom ukrainischen Bauern unterscheidet.


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Ist diese Abstraktion einmal erfolgt, dann ist die Lehre, die das Schwarzbuch aus all dem zieht, daß uns nämlich zwischen »Nationalsozialismus« und »Kommunismus« allein »Demokratie« als Zukunft bleibe, nicht mehr als das trockene Ergebnis einer Rechenaufgabe.

Im Gegensatz zu dieser vordergründigen Aufrechnungslogik machen die Einzelstudien, besonders diejenigen über die Sowjetunion und über China, vor allem eines deutlich: Die im Namen des Kommunismus Ermordeten, die Opfer kommunistischer Regime, ihres Terrors, ihrer »Liquidierungen«, ihrer Schikanen machen eine neue Anstrengung historischen Denkens, eine eigene, noch zu entwickelnde Form vergleichender Geschichtsschreibung erforderlich. Die Begriffe, mit denen sie beschrieben, analysiert und zumindest teilweise verstanden werden können, liegen eben nicht vor. Es gibt keine Charakterisierungen, derer man sich angesichts der versammelten Fakten einfach bedienen könnte - auch nicht diejenigen, die bislang den Holocaust zu erfassen suchten. Dessen sind sich trotz der beschriebenen Kurzschlüsse wohl auch Herausgeber und Autoren des Schwarzbuchs bewußt.

So widmet sich etwa Stephane Courtois in seinem Nachwort ganz anderen Fragen als denen, die in seinem umstrittenen Vorwort zur Sprache kommen: Unter dem einfachen Titel Warum? macht er zusammenfassend auf Aspekte des Kommunismus aufmerksam, welche die Notwendigkeit neuer Forschungskonzepte unterstreichen und seine Geschichte als eine Aufgabe und nicht als ein bereits Existentes und nur noch zu Beurteilendes erscheinen lassen.

Zu diesen Aspekten gehört unter anderem die Tatsache, daß auch die kommunistischen Regime des 20. Jahrhunderts – in einem weit höheren Maße als bislang wahrgenommen – von jenem wissenschaftlich-technologischen Diskurs der Produzierbarkeit von Fortschritt, Gleichheit und paradiesischen Gesellschaftszuständen bestimmt wurden, der in unterschiedlicher Weise auch die Ideologien des Liberalismus, Kapitalismus oder Nationalsozialismus mit geprägt hat. Als seine zwei wichtigsten Komponenten erwähnt Courtois die Idee der Herstellung »neuer Menschen« und die Grundannahme, daß »Gesellschaftskritik« letztlich immer eine sich in Konkurrenz und Kampf (zwischen Individuen, Gruppen, Klassen oder Rassen) befindende physische Bevölkerung zum Gegenstand habe.


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Mit solchen Überlegungen begibt sich Courtois auf eine Ebene historischen Vergleichens, die mit den einfachen Aufrechnungen des Vorworts nichts mehr zu tun hat. Denn hier wird etwas deutlich, das noch viel beunruhigender ist als die Tatsache, daß der Kommunismus mehr Opfer forderte als der Nationalsozialismus: Es wird deutlich, daß beide Ideologien, jenseits der Frage ihrer nachträglichen Vergleichbarkeit oder Nicht-Vergleichbarkeit, bereits einem größeren, vorgängigen historischen Zusammenhang angehören. Die im Schwarzbuch ansatzweise dokumentierte Geschichte des Kommunismus zeigt, was auch die Geschichten des Imperialismus, des Nationalismus, des Rassismus und des Nationalsozialismus zeigen und was Foucault als eines der Grund­probleme moderner Geschichte und Geschichtsschreibung bezeichnet hat: Daß in der Moderne eine kritische Analyse von Macht und Unterdrückung nicht ohne eine kritische Analyse von Freiheit und Befreiung auskommt.

Vor diesem Hintergrund ist das Problem, das die Herausgeber und Autoren des Schwarzbuchs umtreibt – die verbrecherische Seite einer Ideologie anerkannt zu sehen, die für eine bessere, gerechtere Gesellschaft eintrat , durch die Publikation und die Voranstellung eines aufrechnenden Vorworts gerade nicht gelöst. Statt dessen markiert das Schwarzbuch, einschließlich der Debatte, die es auslöste, das Ende jener zur Zeit beliebten Illusion, man könne die bestimmenden Phänomene und großen Fehler des 20. Jahrhunderts kurzerhand bilanzieren, um befreit ins nächste zu schreiten.

Quelle: Frankfurter Rundschau, 27. Mai 1998

 

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Die Zeit, 28. Mai 1998 

ALBERT C. SELLNER  

Karl Marx, der Visionär und Kulturimperialist  

Zum Schwarzbuch des Kommunismus – 
ein Essay über die Quellen des großen Hasses  

 

Das Entstehen eines Weltmarkts und die »Globalisierung« waren im Jahre 1848 schon erkennbar. Es lohnt sich eine kleine Zitatenlese aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels:

»Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. (...) Die uralten nationalen Industrien werden verdrängt durch neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.«

»Die Bourgeoisie reißt (...) durch die unendlich erleichterte Kommunikation auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.«

Soweit Marx und Engels. Allerdings wissen wir, daß diese scharfsinnige Analyse Bestandteil eines der repressivsten Systeme der Weltgeschichte wurde. Wo steckt also das Falsche im Richtigen? Welche Munition ist in ihren Texten versteckt, die für den späteren Gebrauch durch linkstotalitäre Ideologien geeignet war?

Auffällig ist die militärische Färbung des Wortschatzes von Marx und Engels. Die Kräfte des Marktes sehen sie als Waffen, mit denen überständige Verhältnisse wie Festungsmauern zerschossen werden. Die Herstellung neuer »Produktionsverhältnisse« verstehen sie als gigantischen Akt der Mobilmachung.


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Mit dem Selbstverständnis der »Bourgeoisie« hatte dies gar nichts gemein: Deren Ziel war gerade die Verbannung der Gewalt aus dem öffentlichen Leben, äußerer Friede, das Eindämmen von Militär und Bürokratie, Freiheit von obrigkeitsstaatlicher Gängelung des Geistes. Das entsprach ihren Interessen. Grundlage der Marktverfassung ist der Marktfriede.

Marx und Engels aber zeichnen das Bild eines militärischen Oberkommandos, in dem die einzelnen Wirtschaftszweige als Teilarmeen fungieren. »Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt, werden soldatisch organisiert. Sie werden als Industrie­soldaten unter die Aufsicht einer vollständigen Hierarchie von Unteroffizieren und Offizieren gestellt.«

Das hat wenig mit dem tatsächlichen Verlauf der Industriellen Revolution zu tun – dafür drängt sich der Vergleich mit dem Aufbau der sowjetischen Industrie geradezu auf.

Marx und Engels glänzten durch die Denunziation aller Gemäßigten. Die Revolution mußte für sie nach dem Schema der Französischen Revolution ablaufen und am Ende die radikalste Partei – ihre Partei – an die Macht bringen. Mittel dazu war der Vernichtungskrieg gegen konterrevolutionäre Klassen und Völker.

Das qualitativ Neue einer Gesellschaft, die das Recht des Stärkeren ersetzt durch eine Kultur des Tausches und einer diskutierenden Öffentlichkeit, blieb ihnen fremd. Der das ganze 19. Jahrhundert beherrschende Diskurs, wie Gewalt zu bändigen und eine zivile Ordnung herzustellen sei, schien ihnen Heuchelei.

Dies kennzeichnet 1848 und 1849 durchgehend die Politik der Neuen Rheinischen Zeitung (NRZ), des »Organs der Demokratie«. Für Marx und Engels, die beiden Chefs, ist klar: Ihre Vorstellung von »Demokratie« wird sich nur in »Weltkriegen« verwirklichen lassen.

Fix- und Angelpunkt ist die leidenschaftliche Propaganda eines revolutionären Kriegs gegen Rußland, dessen Zarentum der Hort der »Reaktion« ist. Man hat in der Dauerpolemik der NRZ gegen Rußland und slawische Völker einen heimlichen Nationalismus gelesen, doch die Quelle dieses Hasses ist eine andere. Die NRZ schoß sich auf die Tschechen, Slowaken und Ruthenen (Ukrainer) ein, deren Bauernbevölkerung ihren Grundherren mehr traute als den Demokraten.

Während im Juni 1848 noch den Tschechen das Zertifikat »sozial-revolutionär« zugestanden wird, wandelt sich das Urteil im Lauf des Sommers.


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Als im Herbst kroatische, ruthenische und tschechische Regimenter gegen die ungarischen und Wiener Aufständischen vorgehen, wird die NRZ-Redaktion feindselig.

Engels kann selbst an den demokratischen Kräften unter den Tschechen nur »Schurken oder Phantasten« erkennen. Als der Wiener Oktoberaufstand niedergeschlagen wird, schwindet jede Zurückhaltung. Die Korrespondenten der NRZ aus Wien, namentlich der rassistische Müller-Teilering, titulieren die kleinen slawischen Völker nur noch als »tierisch-blödsinnige Slaven«, »blödsinnige Slavenesel«, »niederträchtige Hunde von Slaven und Ruthenen«, »Tschechenhunde«, »Kroatenabschaum«.

Im Februar 1849 legt Müller-Teilering antisemitisch nach: »Man fühlt in Österreich im ganzen Volke, daß das Judenvolk dort die niederträchtigste Sorte von Bourgeoisie und den gemeinsten Schacher repräsentiert, darin liegt die ganze Antipathie gegen das Judengesindel.«

Die Chefredakteure in Köln deckten all das. Marx selber schrieb Ende des Jahres in einem Leitartikel: »In Wien erwürgten Kroaten, Panduren, Tschechen, Sereschaner (eine aus Südslawen gebildete Heerestruppe) und ähnliches Lumpengesindel die germanische Freiheit.«

Wer dies als typisch für den damaligen Stil streitbarer Publizistik herunterspielt, der unterschätzt den nach Systematisierung drängenden Geist der Väter des Marxismus. Sie zauberten aus dem Hut eine Theorie der »Völkerabfälle«, dem Untergang geweiht. »Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt«, schreibt Engels. Deshalb fordert er 

»unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod mit dem revolutions­verräterischen Slaventum; Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus. (...) Auf die sentimentalen Brüderschaftsphrasen (...) antworten wir: daß der Russenhaß die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist; daß seit der Revolution der Tschechen- und Kroatenhaß hinzugekommen ist.«

Engels hatte nichts übrig für den Anarchisten Bakunin und seine Parteinahme für die Südslawen, die unter dem Joch der ungarischen Revolutionsregierung standen. Die Ungarn seien im Gegenteil viel zu nachgiebig gegenüber den Kroaten, das sei konterrevolutionär.


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Für die beiden Revolutionstheoretiker ist das Slawentum – mit Ausnahme der Polen eine einzige »Vendee« (in der Franz­ösischen Revolution lehnten sich royalistische Bauern aus der Vendee gegen das jakobinische Regime auf). Nach dem Vorbild der Jakobiner müsse man die Slawen mir Feuer und Schwert austilgen.

Marx und Engels meinten nicht unbedingt die physische Ausrottung, sondern »nur« die terroristische Unterdrückung der National­bewegungen und des Panslawismus. Sie unterscheiden zwischen fortschrittlichen Nationen, die ein Lebensrecht haben, und »geschichtslosen« Völkern, die nur die Knute verdienen.

Inwieweit sie damit der Legitimation der Ausrottung ganzer Nationalitäten in kommunistischen Diktaturen vorgearbeitet haben, ist eine interessante Frage. Stalin, Mao Tse-tung, Pol Pot und Mengistu haben »konterrevolutionäre« Klassen und Völker liquidiert, ohne sich im einzelnen auf Marx zu berufen.

Ihr kriegerisches Verständnis der gesellschaftlichen Entwicklung hinderte Marx und Engels daran, die bürgerliche Zivilgesellschaft zu begreifen. Sie übersahen, daß das Freihandelsinteresse von britischen Manchester-Industriellen durchaus korrespondierte mit linksliberalen Prinzipien, internationalen Friedensbestrebungen und dem Willen zu sozialen und politischen Reformen. Für sie war das allenfalls die sentimentale Bemäntelung eines reinen Profitinteresses. (Heute steht die amerikanische Politik bei der europäischen Linken unter einem ähnlichen ideologischen Verdacht.)

In fast allen Äußerungen über die Mächte des 19. Jahrhunderts bleibt von Marxens Klarsicht in Sachen Weltmarkt wenig übrig. Statt dessen regieren Gewaltphantasien, die sich mit Versatzstücken aus Hegels Volksgeistlehre tarnen, wonach sich jede höhere zivilisatorische Stufe in einer konkreten Nation verkörpere.

Der Hegelianismus offenbart sich in späteren Jahren noch deutlicher in Engels Polemik gegen Bakunin, dessen Beharren auf dem Lebensrecht der slawischen Bauernvölker gegen die Germanisierung mit Hohn bedacht wird: Es sei ein Verbrechen, »daß die Deutschen und Magyaren zu der Zeit, als in Europa die großen Monarchien eine Historische Notwendigkeit wurden, alle diese kleinen, verkrüppelten, ohnmächtigen Natiönchen zu einem großen Reich zusammenschlugen und sie dadurch befähigten, an einer geschicht-


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lichen Entwicklung teilzunehmen, der sie, sich überlassen, gänzlich fremd geblieben wären. Freilich dergleichen läßt sich nicht durchsetzen, ohne manch sanftes Nationalblümchen gewaltsam zu zerknicken. Aber ohne Gewalt und eherne Rücksichtslosigkeit wird nichts durchgesetzt in der Geschichte.«

An anderer Stelle statuiert Engels das Urteil: »Die ganze frühere Geschichte Österreichs beweist es bis auf den heutigen Tag, und das Jahr 1848 hat es bestätigt: Unter allen Nationen und Natiönchen Österreichs sind nur drei, die aktiv in die Geschichte eingegriffen haben, die noch jetzt lebensfähig sind – die Deutschen, die Polen, die Magyaren. Daher sind sie jetzt revolutionär. Alle anderen kleinen Stämme und Völker haben zunächst die Mission, im revolutionären Weltsturm unterzugehen.«

1851 holt Engels in einem Brief an Marx die letzte slawische Nation aus seinem Pantheon: »Die Polen haben nie etwas anderes in der Geschichte getan, als tapfre, krakeelsüchtige Dummheit gespielt. Auch nicht ein einziger Moment ist anzugeben, wo Polen (...) den Fortschritt mit Erfolg repräsentierte oder irgend etwas von historischer Bedeutung tat.«

In alldem zeigt sich – gegen das bürgerliche Prinzip der Gewaltenteilung und -begrenzung – das alte absolutistische Prinzip, wonach Opposition gegen den Herrscher ein Verbrechen ist. Im Zentrum der kapitalistischen Welt, in Großbritannien, hatte sich längst eine neue politische Kultur und ein liberaler Rechtsstaat herausgebildet. Nutznießer waren die geschlagenen Revolutionäre des Kontinents von Mazzini bis Kossuth, von Marx bis Engels. Sie wußten ihr sicheres Exil zu schätzen.

Im Herzen der Weltbourgeoisie war durch kluge Reformen der Ausbruch einer Revolution verhindert worden. Der freie Wettbewerb wurde abgesichert durch den legitimen Wettbewerb im politischen Bereich. Der spätere Tory-Premierminister Disraeli lobte 1845 die »gesunde und heilsame Kontrolle durch eine verfassungsmäßige Opposition«. Die Wahlrechtsreformen, die Abschaffung der Schutzzölle, die Fabrikgesetzgebung, die Ächtung der Sklaverei wurden nicht »auf dem Schlachtfeld« erkämpft, sondern von wechselnden Koalitionen der Vernunft, von fortschrittlichen Aristokraten, Kirchenleuten, gemäßigten Arbeiterführern und realitätstüchtigen Industriellen.

Und: Es waren englische »Bourgeois«, die neben Amerikanern und Schweizern zum Motor einer Weltfriedensbewegung wurden. Der Dritte Weltfriedenskongreß wurde 1850 in der Frankfurter Paulskirche abgehalten, in einer Zeit, als die Revolutionäre noch imaginäre Armeen über ein phantasiertes Weltkriegsschlachtfeld schoben.   Quelle: Die Zeit, 28. Mai 1998

 

 

OD: Aber wer hat die "wechselnden Koalitionen der Vernunft" so plötzlich vernünftig gemacht?

 

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Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juni 1998

HEINRICH MAETZKE

Tausend Jahre Glückseligkeit

Oder: Was bedeutet schon eine Generation?
Das Schwarzbuch zu den Jahrhundertverbrechen der Kommunisten

 

Am 5. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das Konzentrationslager Ohrdruf nicht weit von Gotha. General Walker, der amerikanische Kommandeur, zwang den Bürgermeister von Ohrdruf und dessen Frau zum Marsch durch die Stätte des Grauens. Nach Hause zurückgekehrt, erhängten sich die beiden.

Etwas Ähnliches wie General Walker tun nun Stephane Courtois und zehn Historiker, Politikwissenschaftler und Journalisten mit ihrem Schwarzbuch des Kommunismus: Sie zwingen ihre Leser zum Marsch durch sowjetische GULags, chinesische Laogai-Lager, kubanische Kerker und kambodschanische »Killing Fields« – weltweit hundert Millionen Opfer kommunistischer Herrschaft errechnet Courtois. 

Selbstmorde wie damals in Ohrdruf wird man heute aber nicht befürchten müssen. Die französischen Kommunisten wehren sich wütend gegen die Zumutung, die Courtois und seine Autoren ihnen bereiten. Die deutsche DKP hat sich in ihrer Parteizeitung schon über »die Verteufelung des Kampfes um eine sozialistische Zukunft« empört.

Helfen wird es ihnen nicht. Courtois' Bilanz des kommunistischen Gesellschaftsexperiments erzielt schon große Wirkung. In Frankreich, wo das Schwarzbuch vergangenen November erschien – pünktlich zum 80. Geburtstag der Oktoberrevolution , waren bald 150.000 Exemplare des achthundertseitigen Buches verkauft, im Februar in Italien nach nur vierzehn Tagen 120.000. Der Piper Verlag hat nun die deutsche Übersetzung mit einer Startauflage von 100.000 Exemplaren herausgebracht.


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»Könnte man nicht das soziale und politische Kräfteverhältnis in einem Staate radikal ändern? Zum Beispiel durch – die Ausrottung bestimmter Klassen der Gesellschaft?« Felix Dserschinskij stellte im August 1917 diese Überlegung an. Nur ein paar Wochen nach der Oktoberrevolution betraute Lenins Sowjetregierung ihn mit der Bildung der »Tscheka« der »Allrussischen Sonderkommission zum Kampf gegen die Konterrevolution, die Spekulation und die Sabotage«, so die vollständige Bezeichnung der politischen Terrortruppe. Später wurde daraus der KGB.

Am 5. September 1918 proklamierte Lenins Regime den »Roten Terror« und forderte »Konzentrationslager« und »summarische Erschießungen«. Innerhalb zweier Monate richtete Dserschinkijs »Tscheka« zehn- bis fünfzehntausend Menschewiken, Sozial­revolutionäre, Offiziere, Polizisten, Verwaltungsbeamte, streikende Arbeiter, Kulaken genannte selbstständige Bauern hin. Mit dem Bürgerkrieg, schreibt der Historiker Nicolas Werth - er ist verantwortlich für den 250 Seiten langen Beitrag über den Kommunismus in der Sowjetunion -, hatte Lenins »Roter Terror« wenig zu tun. Der Petersburger Parteiführer Grigorij Sinowjew erklärte, ebenfalls im September 1918, worum es ging: »Um unsere Feinde zu vernichten, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Von den hundert Millionen Einwohnern des sowjetischen Rußland müssen wir etwa neunzig Millionen auf unsere Seite ziehen. Was die anderen angeht, so haben wir ihnen nichts zu sagen. Sie müssen ausgelöscht werden.«

Für die neunzig Millionen – im agrarischen Rußland von 1918 war das vor allem die bäuerliche Landbevölkerung war das kein Versprechen, sondern eine Drohung. Die Sowjetregierung unterwarf sie einer unerbittlichen Versorgungsdiktatur. Requisitions­armeen durchzogen plündernd und mordend das Land. Bauernunruhen brachten die Sowjetregierung in Bedrängnis. Die »Tscheka« richtete nun, so Werth, »Konzentrationslager« ein. Die Rote Armee setzte Artillerie, Flugzeuge und selbst Gasmunition ein.

Folge der Massaker und der Requisitionsexzesse war die »Große Hungersnot« von 1920 bis 1922. Fünf Millionen Menschen verhungerten. Für einen Augenblick mußte selbst Lenin zurückweichen. Seine »Neue Ökonomische Politik« ersetzte 1921 die willkürlichen Requisitionen durch Naturalsteuern. Aber das sollte nur ein kurzer Waffenstillstand im Krieg der Sowjetregierung gegen die Landbevölkerung sein. 1929 nahm Stalin eine schlechte Ernte zum Anlaß, um die


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»totale Kollektivierung« und die »Liquidierung des Kulakentums als Klasse« zu verkünden. Wieder wehrten sich die Bauern – vergeblich. Mehr als zwei Millionen von ihnen wurden deportiert, Hunderttausende kamen um.

Die mörderischste Waffe des Sowjetregimes war der Hunger. Stalin, schreibt Werth, setzte sie planmäßig ein: Sechs Millionen Bauern verhungerten 1932/33, vor allem in der Ukraine. Stalin berichtete später dem britischen Premierminister Churchill von zehn Millionen Opfern: »Aber wir mußten es tun, um unsere Landwirtschaft zu mechanisieren. Am Schluß hat sich die landwirt­schaftliche Produktion verdoppelt. Was bedeutet schon eine Generation?« Churchills Leibarzt Lord Moran hat Stalins Worte in seinem Tagebuch festgehalten.

Von den Terrorjahren 1936 bis 1938 hat man im Westen vor allem die spektakulären Moskauer Schauprozesse in Erinnerung, mit denen Stalin sich tatsächlicher oder vermeintlicher innerparteilicher Gegner entledigte. Tatsächlich war Stalins »Großer Terror« eine gigantische Gleichschaltungsaktion. Nicht nur die Partei war gemeint, sondern die ganze Gesellschaft: Alle Überreste der alten, vorrevolutionären Ordnung sollten verschwinden und mit ihr die alten bolschewistischen Kader aus der Bürgerkriegszeit.

Entsprechend dehnbar war die Definition der Opfer, die das Politbüro vorgab: »kriminelle Elemente«, »sozial gefährliche Elemente«, ehemalige Kulaken«, »Angehörige antisowjetischer Parteien«, »zaristische Funktionäre«. »Spion« war jeder, der mit dem Ausland in Berührung gekommen war: Bewohner von Grenzregionen, Angehörige nationaler Minderheiten, zurückgekehrte Kriegsgefangene, Amateurfunker, Briefmarkensammler, jeder, der eine Fremdsprache sprach. Politbüro und NKWD in Moskau gaben für das ganze Land Verhaftungs- und Hinrichtungsquoten vor, die regelmäßig »überfüllt« wurden: planwirtschaftlich betriebener Massenmord. Knapp 700.000 Hinrichtungen errechnet Werth für 1937 und 1938. 362 Listen mit Todesurteilen hat Stalin selbst unterzeichnet.

1926 schlug Dserschinskij vor, »die unwirtlichen Zonen unseres Landes mit den parasitären Elementen aus unseren Städten zu bevölkern, nach einem vorbereiteten und von der Regierung bestätigten Plan«. Die GPU, wie Dserschinskijs »Tscheka« nun hieß, beschloß, die Arbeitskraft der Gefangenen systematisch auszubeuten. Riesige Kolonisierungsprojekte entstanden. Pharaonische Bauvorhaben am Weißen Meer, in Sibirien, verlangten nach Arbeitskräften. 1929 war


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das der Hintergrund der »Dekulakisierung«, »der massenhaften Deportation der selbständigen Bauern«. Die Sowjetunion war ein Sklavenstaat. Zwischen 1935 und 1941 stieg die Zahl der GULag-Häftlinge von 965.000 auf 1,9 Millionen - unter ihnen befanden sich viele polnische und baltische Opfer des Hitler-Stalin-Paktes. Deportationen aus »befreiten« und annektierten Gebieten ließen die Häftlingszahlen auch nach Kriegsende weiter wachsen. 2,75 Millionen waren es, als Stalin am 5. März 1953 starb. Anfang der sechziger Jahre stabilisierte sich die Zahl der GULag-Häftlinge bei 900.000.

Zwischen den Kriegen steuerte Moskau kommunistische Umsturzversuche in Deutschland, Ungarn, Bulgarien. Erfolg war ihnen beschieden. 1936 bis 1939 schreibt Courtois, »gab Spanien das Experimentierfeld ab«, auf dem Moskau die Techniken kommunistischer Machtergreifung testete, die dann ab 1945 in Osteuropa Anwendung fanden: Spanien sollte die erste Volks­demokratie werden. Hinter der Bürgerkriegsfront operierten schon sowjetische Henker.

Einen »langen Marsch in die Nacht« nennt Jean-Louis Margolin - der Historiker und Südostasien-Spezialist schrieb das hundert­seitige Kapitel über den chinesischen Kommunismus - Chinas kommunistische Erfahrung. Sechzig Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Im Gewaltakt, im »großen Sprung nach vorne«, wollte Mao 1958 die kommunistische Gesellschaft verwirklichen: Auf dem Lande wurden Tausende, Zehntausende von Familien zu riesigen »Volkskommunen« zusammen­geschlossen. Gigantische agrarische Produktionszentren entstanden: Der Unterschied zwischen agrarischer und industrieller Produktion sollte aufgehoben werden.

»Drei Jahre der Anstrengungen und der Entbehrungen, tausend Jahre Glückseligkeit« verhieß die Propaganda. Aus taktischen Gründen hielt Mao an dem Unternehmen auch dann noch fest, als sich die Katastrophe schon abzeichnete. Die schlimmste Hungersnot der Weltgeschichte war die Folge. Zwischen 1959 und 1961 verhungerten dreißig Millionen Chinesen. Auf dem Lande spielten sich gräßliche Szenen ab. Kannibalismus war verbreitet: Verzweifelte Familien tauschten ihre Kinder, um sie dann zu essen. Ganz zurückgekehrt vom »langen Marsch in die Nacht« ist China auch heute noch nicht.

Hatte Pol Pots Terrorherrschaft überhaupt etwas mit Kommunismus zu tun? Die geläufige Formulierung vom »kambo­dschanischen Steinzeit-Kommunismus« soll Zweifel wecken. Aber die Verbindungen zwischen Maoismus und Pol-Potismus sind offensichtlich, Be-


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züge zum Marxismus-Leninismus europäischer Prägung ebenfalls: Pol Pot kam zum Kommunismus während des Studiums in Paris. Margolin hält für möglich, daß der Pol-Potismus nicht Entgleisung war, sondern vielmehr enthüllende Karikatur der kommunistischen Utopie.

Wie Mao wollte auch Pol Pot die kommunistische Gesellschaftsutopie auf einen Schlag verwirklichen. Nur noch schneller sollte es gehen, unter völligem Verzicht auf Übergangsphasen: Innerhalb zweier Jahre war die Kollektivierung des Agrarstaates abgeschlossen. Soziale Unterschiede wurden erledigt durch die Auslöschung der besitzenden Schichten, der Intellektuellen, der Kaufleute. Der Gegensatz zwischen Stadt- und Landbevölkerung wurde in einer Woche beseitigt: Die Städter wurden aufs Land getrieben. Die Abschaffung des Geldes war konsequent: Wer den freien Handel, den freien Markt, die freien Preise abschafft, ist von der Abschaffung der Währung nicht mehr weit entfernt.

Man mußte die Utopie nur wollen, wirklich wollen. In nur dreieinhalb Jahren ermordeten Pol Pots Rote Khmer zwei Millionen Kambodschaner, ein Viertel der Bevölkerung des Landes: »Für das Land, das wir aufbauen wollen, genügen eine Million gute Revolutionäre. Die anderen brauchen wir nicht. Lieber erschießen wir zehn Freunde, als daß wir einen Feind am Leben lassen.« 1979 setzte der Einmarsch der vietnamesischen Armee dem Grauen ein Ende.

Über die Frage, ob Kommunisten für sich in Anspruch nehmen können, die Vision von der besseren, gerechteren Welt zu vertreten, ist in den vergangenen fünfzig Jahren oft gestritten worden. Am 11. April 1948 hatte Raymond Aron, der Denker der totalitären Erfahrung unseres Jahrhunderts, in der Pariser Tageszeitung Le Figaro eine Antwort parat, für die er seither gehaßt worden ist: »Wer ein Regime, das Konzentrationslager einrichtet und eine politische Polizei unterhält, die jene der Zaren weit übertrifft, als Station auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit betrachtet, der verläßt die Grenzen selbst der für Intellektuelle noch erträglichen Idiotie.«

Es ist schwer, Courtois' und seiner Autoren Schwarzbuch zu lesen und sich nicht an den Historikerstreit vor zwölf Jahren zu erinnern. Der Historiker und Faschismusforscher Ernst Nolte hatte damals die nationalsozialistische neben die kommunistische Gesellschaftsutopie gestellt und einen Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem »Rassenmord« und kommunistischem »Klassenmord« gesehen.


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Der Weltkriegshistoriker Andreas Hillgruber glaubte für das letzte Kriegshalbjahr in der deutschen Kriegführung an der Ostfront auch Elemente eines Abwehrkrieges zu erkennen. Beides hätte man in aller Ruhe für plausibel oder unplausibel halten können. Der Frankfurter Soziologe Jürgen Habermas und der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler warfen Nolte und Hillgruber »apologetische Tendenzen« – Verharmlosung des Nationalsozialismus vor. Den Vorwürfen folgte eine Kampagne. Nolte wurde von Fanatikern tätlich angegriffen, Hillgruber öffentlich als »konstitutioneller Nazi« beschimpft. Habermas und Wehler haben seither nie etwas zurückgenommen.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juni 1998, Heinrich Maetzke

 


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Die Zeit, 4. Juni 1998

Manfred Hildermeier

Im Reich des Bösen.

Das Schwarzbuch des Kommunismus und die Fakten der historischen Forschung

 

Nun erhebt es wieder sein Haupt, das alte Problem: Ist »roter« Terror gleich »brauner« Terror oder noch schlimmer? Was vor zehn Jahren im »Historikerstreit« hohe Wellen schlug und nach Ernst Noltes Buch über den »Bürgerkrieg« im 20. Jahrhundert Schlagzeilen machte, dringt von Frankreich wieder in die deutsche Diskussion ein. 

Damals ging es zwar primär um die »Einzigartigkeit« von Auschwitz. Aber die Frage stellte sich vor dem Hintergrund der implizierten Gegenthese: daß die »Rattenkäfige« der Tscheka primär waren und Hitler letztlich »nur«, wenn auch perfektioniert und industrialisiert, nachahmte, was ihm das Sowjetregime vorgemacht hatte.

Nun ist nicht mehr von Dscherschinskij und seinen Schergen die Rede, sondern gleich von »dem« Kommunismus, so wie Francois Furet (der ein Vorwort schreiben wollte) vor einigen Jahren nicht nur das »Ende« seiner eigenen früheren »Illusionen« verkündete, sondern mit dem »Kommunismus im 20. Jahrhundert« insgesamt abrechnete.

Wer die öffentliche Erregung verstehen will, die das Schwarzbuch des Kommunismus in Frankreich auslöste, muß die boden­ständigen Voraussetzungen bedenken. Ein politisches Lager und eine Weltanschauung stehen vor Gericht, die das Nachkriegs­geschehen in Frankreich tief geprägt und partiell in der moskautreuen KP einen institutionellen Anker besaßen. Der Angriff galt zuerst der eigenen Linken (so daß Frankreichs Premier selber sich veranlaßt sah, seinen Koalitionspartner in Schutz zu nehmen). Aber nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums bot es sich an, zu einer generellen Breitseite auszuholen: Wenn das ganze Projekt, wo immer es realisiert wurde, nichts als Verderben gebracht hat, dann sind seine letzten Sympathisanten unbelehrbare Helfer einer verbrecherischen Politik.


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In Deutschland trifft das Buch auf andere Diskussionen. Im Westen hat es zwar linke Intellektuelle gegeben, aber keine kommunistischen, in der alten DDR keine regime- und moskautreuen (jedenfalls nicht von Rang). An der Selbstkasteiung wird sich hier niemand beteiligen, und eine KP gibt es nicht. Und auch die Aufarbeitung der Vergangenheit in den neuen Bundes­ländern läuft sehr anders. Terror hat es, vor allem in der Nachkriegszeit, zur Genüge gegeben, Verfolgung und Unter­drückung auch. Aber von Massenvernichtung wird niemand im Ernst sprechen wollen.

Stachel im Fleisch sind vor allem das Ausmaß der verdeckten Überwachung und der Verrat von Nachbarn und Freunden. Terror im genaueren Sinn prägt dagegen die deutsch-deutsche gemeinsame Vergangenheit, in deren Sog die Debatte daher unweigerlich gezogen wird. Dabei geraten die Fronten durcheinander. Als Mitstreiter erscheinen, die bei Licht besehen keine sind; und Argumente ähneln einander, denen sehr verschiedene Motive zugrunde liegen. Rußland-Historiker kennen das Phänomen aus ihrer Fachdiskussion der letzten Jahre.

Die »deutsche« Lesart des Schwarzbuchs dürfte sich um so eher einstellen, als sie ebenfalls beabsichtigt ist. Der Spiritus rector des Unternehmens, Stephane Courtois, läßt in der Einleitung keinen Zweifel daran. Der »erste Versuch, sich mit dem Kommunismus unter dem Gesichtspunkt der verbrecherischen Dimension ... zu beschäftigen«, soll kein Selbstzweck sein.

Die »kommunistischen Diktaturen« des 20. Jahrhunderts werden immer wieder mit dem Nationalsozialismus verglichen. Maßstab sind dabei die »Massenverbrechen«, die auch der Kommunismus »regelrecht zum Regierungssystem« erhoben habe. »Gnadenloser Klassenkampf ... nahm die Züge eines Genozids« an, war Rassenkampf mit anderen Zielen, aber sehr ähnlichen Mitteln und Folgen. Zum Leitmotiv wird auch hier der berüchtigte Satz des Tschekisten Latsis: »Wir führen nicht Krieg gegen bestimmte Personen. Wir löschen die Bourgeoisie als Klasse aus.«

Wenn damit nur auf die Pauschalität des Terrors als gemeinsamer Nenner verwiesen würde, wäre das Argument überzeugend. Aber das Buch will mehr und überschreitet seinen erklärten Zweck auf verräterische Weise: Ohne »irgendwelche makabren Vergleiche« aufstellen zu wollen, müsse doch auf das »unwiderlegbare« Faktum hingewiesen werden, »daß die kommunistischen Regime rund hundert Millionen Menschen umgebracht haben«, während es im Nationalsozialismus »25 Millionen waren«.


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Daraus wird zwar nicht abgeleitet, daß der Kommunismus (jedenfalls im Weltmaßstab) schlimmer war als der National­sozialismus, aber doch angeraten, über die »Ähnlichkeit« beider Systeme nachzudenken. Und auch ein Hinweis, wie die Verwandtschaft unter anderem erklärt werden könnte, fehlt nicht: »Die von Lenin erarbeiteten, von Stalin und seinen Schülern systematisierten Methoden« nahmen nämlich die »Methoden der Nazis ... oftmals vorweg«. Daraus lasse sich zwar keine kausale Beziehung ableiten, aber ein Argument gegen die Einzigartigkeit des Juden-Genozids. Auschwitz habe das Böse des Totalitarismus so vollständig in sich verkörpert, daß der Blick für die Verbrechen des Kommunismus vernebelt worden sei. Eine solche »halbseitig gelähmte Geschichte« aber sei »nicht länger akzeptabel«. So bleibe es dem Schwarzbuch überlassen, das siebzigjährige Schweigen zu brechen und nun die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen, »als moralische Verpflichtung, das Gedächtnis der Toten zu ehren«.

Dieser Bekenner-Gestus ist nicht unbekannt. Mit guten Gründen stößt er nicht nur in der Wissenschaft auf erhebliche Skepsis. Sachkenner fragen sich verwundert, wer eigentlich mit dem Schweigekartell gemeint ist. Was das »Herz des Systems in Moskau« angeht, so ist es mindestens seit fünfzig Jahren als mörderisch entlarvt. Kurz nach Kriegsende enthüllten die Ex-Menschewiki David Dallin und Boris Nicolaevskij ihre Kenntnisse über die sowjetischen Arbeitslager; das Buch erregte Aufsehen und wurde ins Deutsche übersetzt (1948).

In den sechziger Jahren sammelte Robert Conquest, heute Kurator der Hoover Institution in Stanford, alle verfügbaren Informationen – nicht zuletzt von ehemaligen Insassen und Flüchtlingen – und gab dem »Großen Terror« der Vorkriegsjahre einen Namen. 

Bald darauf erschienen die dokumentarischen Anklagen der Dissidenten, Roy Medwedews Buch über Stalins »Säuberungen« (Die Wahrheit ist unsere Stärke) und Alexander Solschenizyns Archipel Gulag, ferner autobiographische Versuche, die Lager­erfahrung zu bewältigen (Wassilij Grossman, Warlam Schalamow und andere).

Und Anfang der achtziger Jahre fand auch der – quellenmäßig noch schwerer zu erfassende Terror Lenins und der Tscheka eine bis heute unübertroffene Darstellung. Die Zwangskollektivierung und die Hungersnot der Jahre 1932-34 wurden mehrfach in all ihrer


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Grausamkeit beschrieben, auch in der öffentlichkeitswirksamen Absicht, den Hunger als gezielten Versuch des Genozids an der ukrainischen Bevölkerung nachzuweisen (Robert Conquest).

In der politischen Theorie wurde seit Hannah Arendts Klassiker über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von 1951 auch über den systematischen Charakter des Sowjet-Terrors diskutiert. Merle Fainsod, Politikwissenschaftler in Harvard, veröffentlichte sein Standardwerk Wie Rußland regiert wird, das zentrale (und kluge) einschlägige Kapitel enthielt. Zbigniew Brzezinski verdichtete seinen Anteil an der idealtypisch-komparativen Beschreibung totalitärer Herrschaft Mitte der sechziger Jahre zur These, Systeme dieser Art seien als »permanente Säuberung« zu begreifen. Zahlreiche Stalin-Biographen befaßten sich mit den Schauprozessen, dem Treiben des Geheimdienstes NKWD und den Arbeitslagern.

Seit Verkündung der Glasnost hat sich eine neue Generation von Historikern darangemacht, Licht in die Stalinsche Sonnen­finsternis (Arthur Koestler) zu bringen. Die Inkubationszeit ist lang, so daß noch längst nicht alles veröffentlicht ist. Immerhin: Die ersten Datenreihen über die Insassen der Arbeitslager von 1934-53 wurden aus der Verschwiegenheit der Archive gehoben; die ersten genaueren Zahlen über die »Kulaken«, die von Haus und Hof vertrieben und im Eis der Tundra wieder aus den Viehwaggons ausgeladen wurden, liegen der Wissenschaft vor; die verschwunden geglaubten Ergebnisse der Bevölkerungs­zählung von 1937, deren Leiter erschossen wurden, weil die Daten nicht Stalins Wünschen entsprachen, wurden wiederentdeckt; Verhaftungslisten tauchten auf, von Stalin und seinen engsten Mitarbeitern höchstpersönlich unterzeichnet (mit über 39.000 Todesurteilen); es fand sich ein Beschluß des Politbüros, die über 14.000 polnischen Offiziere zu erschießen, die bei der Besetzung Ostpolens im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts 1939 gefangengenommen worden waren (man verscharrte sie bei Katyn und anderswo); und zahlreiche Dokumente wurden aus Beständen lokaler Tscheka-Agenturen und anderer Vorläufer des NKWD zutage gefördert, die belegen, daß der bolschewistische Staat auch vor dem Stalinismus im engeren Sinn mit maßloser Härte gegen seine Gegner vorging.


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Was den einst gefeierten Matrosen von Kronstadt im März 1921 widerfuhr, mußten auch aufständische Bauern erfahren, die sich gegen den Raub ihrer letzten Getreidevorräte wehrten. Gerade das Dorf blieb bis zu seiner Unterwerfung 1929-32 (subkutan auch darüber hinaus) ein Menetekel, das den ersten »sozialistischen« Staat hartnäckig daran erinnerte, einen »Irrtum des Kolumbus« (Martin Malia) begangen und die Herrschaft des Proletariats in einem rückständigen Agrarland ausgerufen zu haben.

Wer also schwieg, so daß der Welt nun endlich die ungeschminkte Wahrheit eröffnet werden muß? Gerade die, die das Schwarzbuch kaum der Mitwisserschaft verdächtigen wird, haben nicht geschwiegen. Und diejenigen, die vielleicht gemeint sind, auch nicht. Sie haben aber jüngst etwas getan, das manchen gar nicht gefällt: die Zahlen für die Sowjetunion deutlich nach unten korrigiert. Statt sieben bis acht Millionen Insassen von 53 Arbeitslagern und 425 Arbeitskolonien am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, wie die verbreitete Schätzung besagte, lassen sich »nur« rund 3,5 Millionen belegen und statt einer selten präzisierten, aber auf mehrere Millionen geschätzten Anzahl »vorzeitiger« Todesfälle »nur« 2,3 Millionen.

Die Glaubwürdigkeit dieser Zahlen wurde heftig bestritten, weil sie aus NKWD-Archiven stammen. Man streute auch den Vorwurf, ihr Entdecker sei gekauft worden. Bislang gibt es aber keine zuverlässigeren, so daß eine seriöse Darstellung gut daran täte, sie zumindest zu erwähnen. Jedenfalls kann es nicht angehen, Opfer – im Sinne von temporär Eingesperrten mit Opfern im Sinne von tatsächlich Verstorbenen (Hunger, Krankheit, Erschöpfung als Ursache dabei eingeschlossen) gleichzusetzen. Von zwanzig Millionen Toten, die Courtois der Sowjetmacht anlastet, hat nicht einmal die gröbste Schätzung des letzten halben Jahrhunderts gesprochen. Dies ist pravda, keine Wahrheit, und alles andere als ein gutes Omen für die Glaubwürdigkeit der übrigen »Fakten« über die Verbrechen »des« Weltkommunismus.

Schon ein genauerer Blick in sein eigenes Buch hätte Courtois eines Besseres belehren müssen. Denn was Nicholas Werth im ersten, großen Abschnitt von 250 Seiten über die Politik des Sowjetstaates »gegen sein Volk« zu sagen hat, bewahrt wohltuende Distanz zum durchsichtigen Bekennertum wie auch zu den suggerierten Folgerungen. Auch er steht (linkem) Revisionismus fern, bewegt sich aber auf dem neuesten Kenntnisstand und formuliert – etwa in der umstrittenen Frage der Verursachung des Terrors bedenkenswerte Mittelpositionen.


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Was über die Komintern und das »übrige Europa« folgt, zeichnet sich durch erheblich größere Disparität und Raffung aus. Dem Kenner sagt das meiste wenig Neues. Er wird sich fragen, wie sinnvoll es ist, Daten und Fakten aus verschiedensten Kontexten in einer Form aneinanderzureihen, die auf Erläuterung weitgehend verzichtet. Die schiere Masse soll Eindruck erzeugen; ein Unrecht und Verbrechen jagt das andere. Daß dabei Sequenzen entstehen, die höchst Unterschiedliches miteinander verbinden, scheint entweder nicht zu stören oder gehört zur Methode. Von Bela Kun über den Spanischen Bürgerkrieg bis zu Arafat und Baader-Meinhof, vom russisch-polnischen Grenzkrieg 1920 über die Liquidierung vermeintlicher polnischer Aktivisten auf sowjetischem Boden durch »N. Etschow« (worunter sich der NKWD-Chef Jeschow verbirgt) im Sommer 1937 und das Massaker von Katyn bis zur Ermordung des Priesters Popieluszko 1984 – der Kommunismus wütete überall.

Aber die Perspektive wird noch erweitert. Nach einem - kompetenten - Abschnitt über China geraten auch Nordkorea, Vietnam, Laos, Pol Pots Schreckensregiment in Kambodscha, Äthiopien, Angola, Mosambik, Kolumbien, Nicaragua und Kuba zwischen die Buchdeckel. Ein solch globaler Blick verlangt eine Antwort auf die Frage, was denn die versammelten Untaten quer durchs 20. Jahrhundert und rund um die Welt miteinander verband. Warum tat »der« Kommunismus dies alles?

Die Antwort wäre dort zu suchen, wo intelligente Verfechter einer westlichen und strukturellen Ähnlichkeit totalitärer Regime sie stets vermutet haben: in der Verbindung von diktatorisch ausgeübter staatlicher Zwangsgewalt und weltgeschichtlich für notwendig gehaltener Ideologie. Natürlich hat der Untergang des Ostblocks die Frage nach dem Charakter kommunistischer Regime und ihrer Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus reaktiviert. Bei verschiedenen Vergleichen neuer Art, die das Totalitarismusmodell der fünfziger und sechziger Jahre überwinden wollen, zeichnen sich auch — trotz bleibender gravierender Unterschiede vor allem im ökonomisch-zivilisatorischen Niveau — Analogien ab. Sie dürften am ehesten im Bereich der Mentalitäten, der verhaltensprägenden Einstellungen zu suchen sein.

Man sprang bei Planungen von Transfers ganzer Bevölkerungsgruppen, bei Aufbau-, Umsiedlungs- oder gar »Umvolkungs«-projekten skrupellos mit Menschen um. Der Schutz des Individuums – Zentralbegriff aller »zivilgesellschaftlichen« Ordnungsvorstellungen – galt nicht als Wert, Gewalt gegen einzelne nicht als Hinderungs­grund, weil sie durch eine bessere Zukunft gerechtfertigt schien.

Solche Überlegungen – von exsowjetischen Regimekritikern, aber auch von den scharfsinnigeren »Abrechnungen« mit dem Sozialismus angestellt sind den Initiatoren des Schwarzbuchs offenbar nicht geläufig. Vielleicht paßten sie auch nicht ins Konzept. Denn wie modifiziert auch immer, sie beziehen sich primär auf die Zwischenkriegszeit und den Stalinismus. Das Schwarzbuch aber will mehr: das »kommunistische System« anklagen, allüberall, »solange es existierte«. Daß der Beitrag über die Sowjetunion mit guten Gründen 1953 abbricht, ficht seine Initiatoren ebensowenig an wie Hinweise auf starke autochthone Komponenten gerade des asiatischen »Sozialismus«.

Was bleibt, ist die schiere Massivität einer globalen Zusammenstellung terroristischer Aktionen in kommunistischen Staaten – und daraus dürfte das Schwarzbuch einen erheblichen Teil seiner öffentlichen Wirkung beziehen. Nur was eigentlich demonstriert werden soll, bleibt unbewiesen: daß »Massenverbrechen« zeit- und ortsunabhängig zum Wesensmerkmal »des« etablierten Kommunismus gehören und daß der »rote« Terror mindestens so schrecklich war wie der »braune«. 

Wem wäre auch mit der verqueren Logik gedient, daß der Gulag und Pol Pot Auschwitz noch in den Schatten stellten? 
Den Opfern oder auch nur dem historischen Verständnis?

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Quelle: Die Zeit, 4. Juni 1998

 

 

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