1. Das Jahrhundert des Kindes
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Die Fortschritte, die im Laufe weniger Jahre in der Pflege und Erziehung der Kinder erzielt wurden, haben einen so schnellen und überraschenden Verlauf genommen, daß sie eher mit einem Erwachen des Gewissens als mit der Entwicklung der Hilfsmittel erklärt werden müssen. Es handelt sich nicht nur um jene Fortschritte, die der Kinderhygiene zu verdanken sind, wie sie sich gerade in den letzten zehn Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat; vielmehr begann die Persönlichkeit des Kindes selbst sich unter neuen Gesichtspunkten kundzutun und höchste Wichtigkeit zu erlangen.
Heute ist es unmöglich geworden, in irgendeinen Zweig der Medizin, der Philosophie oder auch der Soziologie einzudringen, ohne dabei zu berücksichtigen, welches Licht die Kenntnis des kindlichen Lebens darauf zu werfen vermag. Ihre Wichtigkeit läßt sich annähernd mit dem klärenden Einfluß vergleichen, den die Embryologie auf unser gesamtes biologisches Wissen und auf unsere Kenntnis von der Entwicklung lebender Wesen gehabt hat: nur daß wir im Falle des Kindes anerkennen müssen, daß dieser Einfluß auf alle die Menschheit betreffenden Fragen unendlich größer ist.
Nicht das physische Kind ist es, das einen mächtigen, ja entscheidenden Anstoß zum Besserwerden der Menschen geben kann, sondern das psychische. Der Geist des Kindes kann vielleicht einen wirklichen Fortschritt der Menschen und unter Umständen sogar den Anbruch einer neuen Kultur herbeiführen.
Die schwedische Schriftstellerin und Dichterin Ellen Key sagte schon, unser Zeitalter werde das Zeitalter des Kindes sein. Wer die Geduld hätte, in historischen Dokumenten zu stöbern, würde eine eigenartige Übereinstimmung dieses Gedankens mit der ersten Thronrede des Königs von Italien Viktor Emmanuel III. finden, die dieser im Jahre 1900 hielt.
Bei seiner Thronbesteigung nach der Ermordung seines Vaters sprach der König von der neuen Ära, die mit dem zwanzigsten Jahrhundert anheben sollte, und bezeichnete sie als "das Jahrhundert des Kindes".
Höchst wahrscheinlich stellen solche wie prophetische Ausblicke anmutende Sätze einen Reflex jener wissenschaftlichen Einsichten dar, die in dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts dahin geführt hatten, uns das leidende Kind zu zeigen, das zehnmal mehr als der Erwachsene dem Tod durch Infektionskrankheiten ausgesetzt ist und das in der Schule gequält wird.
Niemand aber konnte damals wissen, daß das Kind ein Lebensgeheimnis in sich birgt, das imstande ist, einen Schleier von den Mysterien der menschlichen Seele zu heben, daß es etwas Unbekanntes in sich trägt, aus dem der Erwachsene die Möglichkeit gewinnt, seine individuellen und sozialen Probleme zu lösen. Dieser Gesichtspunkt ist es, der zur Grundlage einer neuen Richtung der Kinderforschung werden kann und der wichtig genug ist, das ganze soziale Leben der Menschheit zu beeinflussen.
Die Psychoanalyse und das Kind
Die Psychoanalyse hat ein bis dahin unbekanntes Forschungsfeld eröffnet, indem sie es uns ermöglichte, in die Geheimnisse des Unterbewußten einzudringen, aber sie hat keines von den uns bedrängenden praktischen Problemen des Lebens gelöst; immerhin vermag sie das Verständnis für den Beitrag, den die geheime Natur des Kindes zu leisten imstande ist, einigermaßen vorzubereiten.
Man kann sagen, die Psychoanalyse habe die Rinde des Bewußtseins durchbrochen, die in der Psychologie ebenso für eine Grenze gegolten hatte wie in der antiken Geschichte die Säulen des Herkules — eine Grenze, jenseits deren der Aberglaube das Ende der Welt wähnte.
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Die Psychoanalyse hat jene Schranke überschritten und ist in den Ozean des Unterbewußten eingedrungen. Ohne diese Entdeckung wäre es schwierig, den Beitrag zu erläutern, den das Seelenleben des Kindes für das vertiefte Studium der menschlichen Probleme liefern kann.
Man weiß, daß das, was später die Psychoanalyse wurde, zunächst nichts weiter war als eine neue Technik zur Heilung geistiger Erkrankungen. Sie bildete also anfangs einen Zweig der Medizin. Der wahrhaft erleuchtende Beitrag der Psychoanalyse bestand in der Entdeckung des Einflusses, den das Unterbewußtsein auf die Handlungen der Menschen ausübt. Es handelte sich hierbei um das Studium bestimmter psychischer Reaktionen jenseits des Bewußtseins, die verborgene Tatsachen und niemals erwartete Realitäten ans Licht brachten und damit alle altüberlieferten Vorstellungen umstürzten. Es enthüllte sich auf diese Weise die Existenz einer unbekannten, außerordentlich großen Welt, mit der, wie man wohl sagen kann, das Schicksal des Individuums eng verbunden ist.
Doch konnte die Psychoanalyse diese unbekannte Welt nicht völlig erforschen. Eine Angst, vergleichbar dem Aberglauben der Griechen, hielt Freud in den Grenzen des Krankhaften fest. Schon seit den Zeiten Charcots, im vergangenen Jahrhundert, war das Unterbewußte auf dem Gebiet der Psychiatrie aufgetaucht.
Unter dem Druck einer gewaltigen inneren Spannung, hervorgerufen durch die Mischung verschiedenster Elemente, bricht in gewissen Fallen schwerer geistiger Erkrankung das Unterbewußte zur Oberfläche durch und wird damit offenbar. Die seltsamen Erscheinungen des Unterbewußten, die so sehr mit den Kundgebungen des Bewußtseins kontrastieren, wurden daher lange Zeit einfach als Krankheitssymptome angesehen.
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Freud beschritt den umgekehrten Weg: Mit Hilfe einer sorgfältig ausgearbeiteten Technik erwarb er die Möglichkeit, in das Unterbewußtsein einzudringen; aber auch er beschränkte sich fast ausschließlich auf das Feld des Krankhaften. Denn welcher normale Mensch wäre bereit gewesen, sich den schmerzhaften Untersuchungen der Psychoanalyse zu unterziehen, die einer Art operativen Eingriffs in die Seele gleichkommen?
So kam es, daß Freud seine psychologischen Folgerungen aus der Behandlung von Kranken ableitete und auf Grund seiner Beobachtungen an diesen zu den Grundsätzen seiner neuen Psychologie gelangte. Freud ahnte wohl, daß es jenseits der Säulen des Herkules den offenen Ozean gebe, aber er erforschte ihn nicht; und da in der Meerenge zumeist unruhige See herrschte, nahm er an, daß auch der Ozean von Stürmen aufgewühlt werde.
Darum konnten die Theorien Freuds nicht befriedigen, und auch seine Technik der Krankheitsbehandlung war nicht völlig zufriedenstellend, da sie keineswegs immer zur Heilung der "Seelenkrankheiten" führte. So kommt es, daß die gesellschaftlichen Überlieferungen, in denen uralte Erfahrungen ihren Niederschlag gefunden haben, sich wie eine Mauer vor einigen Verallgemeinerungen der Freudschen Theorien erhoben haben. Eine wirklich leuchtende neue Wahrheit hingegen hätte diese Tradition zu Fall bringen müssen, wie die Wirklichkeit stets den Schein zu Fall bringt. Doch zur Erforschung dieser ungeheuren Wirklichkeit gehört wohl mehr als eine Technik der klinischen Behandlung oder eine Ableitung von Theorien.
Das Geheimnis des Kindes
Die Aufgabe, in dieses weite, unerforschte Feld einzudringen, fällt vielleicht anderen Zweigen der Wissenschaft zu und setzt einen anderen Ansatz der Begriffe voraus. Es handelt sich ja darum, den Menschen von seinen Ursprüngen an zu studieren,
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dabei in der Seele des Kindes ihre Entwicklung unter den Zusammenstößen mit der Umwelt zu entziffern und so in das dramatische oder tragische Geheimnis der Kämpfe einzudringen, denen man es zuzuschreiben hat, wenn die Seele des Menschen entstellt und verdüstert blieb.
Die Psychoanalyse hat bereits an dieses Geheimnis gerührt. Eine der eindrucksvollsten, aus der Anwendung ihrer Technik sich ergebenden Entdeckungen bestand in der Erkenntnis, daß die Psychose ihren Ursprung im fernen Kindesalter haben kann. Aus dem Unterbewußten heraufbeschworene Erinnerungen erzählten dem Forscher von seltsamen Leiden in der Kindheit, die ganz anders aussahen als alle bis dahin bekannten; so weit waren sie von allen herrschenden Vorstellungen entfernt, daß ihre Aufdeckung zu der eindrucksvollsten und revolutionärsten Botschaft der Psychoanalyse geworden ist.
Es waren lang dauernde und beharrliche Leiden rein seelischer Art, und niemand hatte sie je zuvor als Fakten gewertet, die hätten imstande sein können, sich in psychischen Erkrankungen Erwachsener auszuwirken. Sie ergaben sich aus der Unterdrückung der spontanen Tätigkeit des Kindes durch den Erwachsenen, der die Befehlsgewalt über das Kind hat, und diese Unterdrückung hängt daher mit demjenigen Erwachsenen zusammen, der den größten Einfluß auf das Kind ausübt: mit der Mutter.
Es gilt, genau zwischen den zwei Schichten zu unterscheiden, auf die die Psychoanalyse mit ihrer Tiefenforschung gestoßen ist: die eine, die oberflächlicher gelagerte, ist jene, in der sich der Konflikt zwischen den Instinkten des Individuums und den Bedingungen der Umwelt abspielt, an die dieses Individuum sich anpassen muß. Dieser Konflikt kann gelöst werden, da es nicht schwer fällt, die störenden unterbewußten Ursachen in das Feld des Bewußtseins emporzuheben.
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Dann aber gibt es eine tieferliegende Schicht, die Schicht der Kindheitserinnerungen, bei denen der Konflikt sich nicht zwischen dem heranwachsenden Menschen und dem ihn umgebenden sozialen Milieu abspielt, sondern zwischen dem Kind und der Mutter — oder, allgemein gesprochen, zwischen dem Kind und dem Erwachsenen.
Dieser letztere Konflikt steht eng in Verbindung mit schwer heilbaren Krankheiten; ihm wurde keine größere Wichtigkeit beigemessen als die einer einfachen Anamnese oder einer Deutung vermuteter Krankheitsursachen.
Immerhin ist für alle Krankheiten, auch die physischen, nunmehr die Wichtigkeit gewisser Vorfälle im Kindesalter erkannt worden, und es hat sich erwiesen, daß diejenigen Krankheiten, deren Verursachungen im Kindesalter liegen, die schwersten und am wenigsten heilbaren sind. So kann man sagen, in der Kindheit liege die Werkstatt der Prädispositionen.
Während diese Erkenntnis jedoch in bezug auf die physischen Krankheiten bereits zur Entwicklung neuer Wissenschaftszweige wie der Kinderhygiene, Jugendpflege und schließlich Eugenik geführt und eine praktische soziale Bewegung zur Reform der körperlichen Behandlung der Kinder hervorgerufen hat, ist die Psychoanalyse nicht zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Die Feststellung der Ursprünge schwerer psychischer Störungen beim Erwachsenen im Kindesalter sowie der frühen Prädispositionen, welche die Konflikte der Erwachsenen mit der Außenwelt erschweren, hat keine entsprechende praktische Aktion für das Leben des Kindes im Gefolge gehabt.
Dies vielleicht darum, weil die Psychoanalyse sich einer bestimmten Technik der Sondierung des Unterbewußten verschrieben hat. Dieselbe Technik, die bei Fällen von Erwachsenen zu Entdeckungen führt, wird beim Kind zu einem Hindernis. Das Kind, das sich schon seinem Charakter nach nicht für diese Technik eignet, braucht sich nicht an seine Kindheit zu erinnern: es lebt ja darin. Man muß es eher beobachten als sondieren, und zwar von einem psychischen Gesichtspunkt aus, der es gestattet, die Konflikte aufzuzeigen, durch die das Kind in seinen Beziehungen zum Erwachsenen und zur sozialen Umwelt hindurchgeht.
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Es ist klar, daß diese Betrachtungsweise uns aus dem Feld der psychoanalytischen Techniken und Theorien heraus-, — und in ein neues Feld der Beobachtung des Kindes in seinem sozialen Dasein hinführt.
Es handelt sich hier nicht darum, die schwierigen Engpässe der Analyse kranker Individuen zu beschreiten, sondern sich in der weiten Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu bewegen und dabei zur Psyche des Kindes zu gelangen. Praktisch angefaßt, begreift dieses Problem das ganze menschliche Leben von der Geburt an in sich. Noch ist jene Seite im Buch der Menschheitsgeschichte unbekannt, auf der die ersten Abenteuer der Menschenseele erzählt werden: das sensible Kind, das auf die ersten Hindernisse stößt und sich in unüberwindliche Konflikte mit dem Erwachsenen verstrickt sieht — mit jenem Erwachsenen, der stärker ist als das Kind und es beherrscht, ohne es zu verstehen. Auf diesem unbeschriebenen Blatt sind die Leiden noch nicht aufgezeichnet worden, die das bis dahin unversehrte, zarte Seelenleben des Kindes aufwühlen und in dessen Unterbewußtsein einen herabgeminderten Menschen vorbereiten, verschieden von dem, den die Natur gewollt und vorgezeichnet hat.
Diese schwierige Frage wird wohl von der Psychoanalyse beleuchtet, steht aber mit ihr in keinem direkten Zusammenhang. Die Psychoanalyse handelt hauptsächlich von Erkrankungen und deren medizinischer Heilung; die Frage nach dem Wesen der Kinderseele aber hat im Verhältnis zur Psychoanalyse vorbeugenden Charakter, denn es handelt sich hier um die normale und allgemeine Art des Umganges mit einem Teil der Menschheit, dem Kinde, eines Umganges also, der dazu beitragen soll, Schwierigkeiten und Konflikte und demnach auch deren Folgen — eben die seelischen Krankheiten, mit denen die Psychoanalyse zu tun hat — zu vermeiden, desgleichen auch jene einfachen moralischen Gleichgewichtsstörungen zu verhüten, an denen nach Ansicht der Psychoanalytiker fast die gesamte Menschheit leidet.
Rings um das Kind tut sich somit ein neues Feld für die wissenschaftliche Forschung auf, das von der Psychoanalyse unabhängig und ihre einzige Parallele ist. Es handelt sich dabei im wesentlichen darum, dem kindlichen Seelenleben zu Hilfe zu kommen, und zwar im Bereich des Normalen und der Erziehung. Einerseits gilt es, noch unbekannte psychische Tatsachen im Leben des Kindes zu ergründen, andererseits den Erwachsenen selbst zu erwecken, der dem Kinde gegenüber eine irrige, vom Unterbewußtsein her bestimmte Haltung einnimmt.
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2 Der Erwachsene als Angeklagter
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Wenn Freud im Zusammenhang mit den tiefsten Ursprüngen der beim Erwachsenen zutage tretenden seelischen Störungen von Unterdrückung spricht, so ist dies an sich bezeichnend genug.
Das Kind kann sich nicht so frei entwickeln, wie es für ein im Wachstum begriffenes Lebewesen erforderlich wäre, und zwar deshalb, weil der Erwachsene es unterdrückt. Das Kind steht isoliert in der menschlichen Gesellschaft da. Wer auf das Kind Einfluß ausübt, ist für dieses nicht im abstrakten Sinne ein Vertreter der Welt des Erwachsenen, sondern verkörpert sich sogleich in derjenigen Person, die ihm am nächsten steht. An erster Stelle. ist dies die Mutter, dann folgt der Vater, schließlich jeder andere Lehrer und Erzieher.
Die Aufgabe, die diesen Erwachsenen von der Gesellschaft zugeteilt wurde, ist gerade das Gegenteil von Unterdrückung: Sie sollen das Kind erziehen und weiterbilden. So erwächst aus der seelischen Tiefenforschung eine Anklage gegen jene, die bisher für die Behüter und Wohltäter des Menschengeschlechtes galten. Sie alle werden plötzlich zu Angeklagten, und da so ziemlich alle Menschen Väter und Mütter sind und die Zahl der Lehrer und Erzieher groß ist, erweitert sich diese Anklage auf den Erwachsenen schlechthin, auf die menschliche Gesellschaft, die für die Kinder verantwortlich ist. Es ist etwas Apokalyptisches an dieser überraschenden Anklage, so als riefe die geheimnisvolle und schreckliche Stimme des Jüngsten Gerichtes: "Was habt ihr mit den euch anvertrauten Kindern getan?"
Man ist geneigt, sich zu verteidigen, zu protestieren: "Wir haben unser möglichstes getan! Wir lieben die Kinder, wir haben für ihre Pflege jedes Opfer gebracht!" In Wirklichkeit aber stehen zwei einander widersprechende Auffassungen da, von denen die eine bewußt ist, die andere jedoch aus dem Unterbewußten emporsteigt. Wir kennen die Argumente, mit denen der Erwachsene sich verteidigt; sie sind uralt, tief eingewurzelt und daher uninteressant. Viel interessanter ist die Anklage, besser gesagt, der Angeklagte selbst — jener Erwachsene, der sich eifrig zu schaffen macht, um Pflege und Erziehung der Kinder zu verbessern, und sich dabei immer tiefer in einem Irrgarten auswegloser Probleme verliert. Dies darum, weil er den Irrtum nicht kennt, den er in sich selbst trägt.
Wer für das Kind eintritt, muß dauernd diese anklagende Haltung gegen den Erwachsenen einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht walten lassen noch Ausnahmen machen.
Und plötzlich wird diese Anklage ein Mittelpunkt von außerordentlichem Interesse. Sie richtet sich nämlich nicht gegen bewußte Unterlassungsgründe, die eine demütigende Unzulänglichkeit der Erzieher verraten würden, sondern gegen unbewußte Irrtümer. Damit dient sie einer erweiterten Selbsterkenntnis und macht den Menschen reicher, wie denn alles das Wesen des Menschen bereichert, was zu irgendwelchen bis dahin unbekannt geblichenen Entdeckungen im seelischen Bereich führt.
Zu allen Zeiten hat deshalb die Menschheit ihren Fehlem gegenüber eine zwiespältige Haltung eingenommen. Jedermann ärgert sich über seine bewußten Fehler, während die unbewußten ihn anziehen und faszinieren. Unbewußter Irrtum enthält einen Schritt zur Vervollkommnung über die bis dahin bekannten Grenzen hinaus, und seine Erkenntnis erhebt auf ein höheres Niveau. Der Ritter des Mittelalters war stets bereit, jedes kleinste Wort der Anklage, das sein bewußtes Handeln betraf, zum Anlaß für einen Zweikampf zu machen; gleichzeitig aber warf er sich demütig vor dem Altar nieder und erklärte: "Ich bin ein Sünder und bekenne vor aller Welt meine Schuld." Die biblische Geschichte gibt interessante Beispiele für dieses Verhalten der Menschen.
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Was veranlaßte das Volk von Ninive, sich um Jonas zu scharen, was rief die Begeisterung hervor, mit der alle, vom König bis zum Bettler, dem Propheten nachfolgten? Jonas schalt sie verhärtete Sünder und verkündigte ihnen, Ninive werde untergehen, wenn sie sich nicht bekehrten. Und wie redete Johannes der Täufer am Ufer des Jordans die Menge an? Mit welchen gewinnenden Worten lockte er sie in solchen Scharen herbei? "Natterngezücht" nannte er sie alle.
Welch ein geistiges Phänomen: Menschen, die herbeieilen, damit sie hören, wie jemand sie anklagt; und wir sehen diese Menschen enthusiastisch ihre eigene Schuld bekennen. Es gibt harte und beharrliche Anklagen, die das Unbewußte aus seiner Tiefe emporziehen und es mit dem Bewußten verschmelzen. Alle geistige Entwicklung besteht in solchen Eroberungen des Bewußtseins, welches etwas in sich aufnimmt, das zuvor außerhalb von ihm war. Nicht anders spielt sich der Fortschritt der Zivilisation auf der Bahn immer neuer Entdeckungen ab.
Wollen wir nun das Kind anders behandeln als bisher und wollen wir es vor Konflikten bewahren, die sein Seelenleben gefährden, so ist zuvor ein grundlegender, wesentlicher Schritt erforderlich, von dem alles Weitere abhängt: Es gilt, den Erwachsenen zu ändern. Dieser Erwachsene behauptet ja, bereits sein möglichstes zu tun, das Kind zu lieben, ihm jedes Opfer zu bringen. Damit gesteht er, an der Grenze seiner bewußten Fähigkeiten angelangt zu sein, und es bleibt ihm somit nichts anderes übrig, als den Schritt über das Bereich des Bekannten, Willentlichen und Bewußten hinaus zu versuchen.
Unbekanntes gibt es auch im Kinde. Von einem Teil seines Seelenlebens haben wir bisher nichts gewußt, und diesen gilt es zu erforschen. Es sind da wesentliche Entdeckungen zu machen, denn es gibt nicht nur das Kind, das von Psychologen und Erziehern beobachtet und studiert worden ist; es gibt auch ein von niemandem beachtetes Kind — beide in derselben Person.
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Dieses verborgene und verkannte Kind gilt es ausfindig zu machen, und dazu bedarf es einer Begeisterung und Opferwilligkeit ähnlich jener, mit der die Goldsucher in die fernsten Länder vordringen. Alle Erwachsenen müssen an diesem Entdeckerwerk mithelfen, ohne Unterschied des Standes, der Rasse oder der Nation; handelt es sich doch um nichts Geringeres als um die Auffindung eines für den moralischen Fortschritt der Menschheit unerläßlichen Elements.
Bisher hat der Erwachsene das Kind und den Halbwüchsigen nicht verstanden, und deshalb liegt er mit ihnen in ständigem Kampfe. Das kann nicht dadurch anders werden, daß der Erwachsene mit der Vernunft neue Kenntnisse erwirbt, daß er gewisse Bildungsmängel beseitigt. Nein, es handelt sich darum, einen völlig anderen Ausgangspunkt zu finden. Der Erwachsene muß den in ihm selber liegenden, bisher unbekannten Irrtum entdecken, der ihn daran hindert, das Kind richtig zu sehen. Kein Schritt nach vorwärts ist möglich, solange diese vorbereitende Erkenntnis nicht gewonnen ist und solange wir nicht die Haltungen erworben haben, die sich aus ihr ergeben.
Diese innere Einkehr ist gar nicht so schwierig, wie es den Anschein hat. Denn unser Irrtum ist uns zwar nicht bewußt, aber er bewirkt doch in uns eine ständige, schmerzhafte Beklemmung, und das Bedürfnis nach Abhilfe weist uns bereits den Weg. Wer sich den Finger verstaucht hat, empfindet das Bedürfnis, ihn ausgestreckt zu halten, denn er weiß instinktiv, daß er diesen Finger nicht gebrauchen darf, wenn der Schmerz sich legen soll. So spüren wir auch den Drang, unser Gewissen auszurichten, sobald wir erkannt haben, daß wir uns falsch verhalten; denn mit dem Augenblick dieser Erkenntnis wird das Bewußtsein unserer Unzulänglichkeit und der Kummer darüber unerträglich, die wir bis dahin ertragen haben. Von da an ist alles ganz einfach: Sobald in uns die Überzeugung erwacht ist, daß wir uns überschätzt und uns mehr zugetraut- hatten, als wir zu leisten berufen und in der Lage sind, interessiert es uns und wird es uns möglich, die Wesenszüge solcher Seelen zu begreifen, die, wie die Seelen der Kinder, von den unseren verschieden sind.
Der Erwachsene ist in seinem Verhältnis zum Kind egozentrisch — nicht egoistisch, aber egozentrisch. Alles, was die Seele des Kindes angeht, beurteilt er nach seinen eigenen Maßstäben, und dies muß zu einem immer größeren Unverständnis führen. Von diesem Blickpunkt aus erscheint ihm das Kind als ein leeres Wesen, das der Erwachsene mit etwas anzufüllen berufen ist, als ein träges und unfähiges Wesen, dem er jegliche Verrichtung abnehmen muß, als ein Wesen ohne innere Führung, das der Führung durch den Erwachsenen bedarf. Schließlich fühlt sich der Erwachsene als Schöpfer des Kindes und beurteilt Gut und Böse der Handlungen des Kindes nach dessen Beziehungen zu ihm selbst. So wird der Erwachsene zum Maßstab von Gut und Böse. Er ist unfehlbar, nach seinem Vorbild hat sich das Kind zu richten, und alles im Kinde, was vom Charakter des Erwachsenen abweicht, gilt als ein Fehler, den der Erwachsene eilends zu korrigieren sucht.
Mit einem solchen Verhalten glaubt der Erwachsene um das Wohl des Kindes eifrig, voll Liebe und Opferbereitschaft besorgt zu sein. In Wirklichkeit aber löscht er damit die Persönlichkeit des Kindes aus.
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3 Biologisches Zwischenspiel
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Mit der Veröffentlichung seiner Entdeckungen über die Zellteilung zeigte Wolff den Prozeß auf, in dem Wesen entstehen, und wies durch direkte Beobachtungen nach, daß es in der Keimzelle eine Zielstrebigkeit auf eine vorherbestimmte Form hin geben müsse. Wolff war es, der mit einigen philosophischen Vorstellungen — wie denen von Leibniz und Spallanzani — über die Präexistenz der fertigen Form im Keim aufräumte.
Die philosophische Schule der Zeit nahm an, daß im Ei, also im Ursprung, das Wesen, das sich später daraus entwickeln soll, bereits geformt vorhanden sei, wenngleich unvollkommen und in winziger Ausdehnung. Diese Vorstellung war durch Beobachtung des Pflanzensamens entstanden, der tatsächlich, zwischen den beiden Keimblättern verborgen, ein vollständiges Pflänzchen enthält. An diesem sind bereits Wurzel und Blätter erkennbar, die sich dann nur weiterentwickeln, sobald der Same im Erdreich heranreift. Man vermutete also, daß der Vorgang bei Tieren und Menschen ein ähnlicher sei.
Als Wolff jedoch nach der Entdeckung des Mikroskops beobachten konnte, wie sich ein lebendes Wesen in Wirklichkeit heranbildet (er begann mit dem Studium des Vogel-Embryos), fand er als Ursprung eine einfache Keimzelle, in der, wie sich mittels des Mikroskops jetzt feststellen ließ, keinerlei Form vorgebildet war. Die Keimzelle (entstanden aus der Verschmelzung zweier Zellen) besteht lediglich aus Zellhaut, Protoplasma und Zellkern wie jede andere Zelle auch. Sie stellt also die einfache Zelle in ihrer primitiven Form dar, ohne daß eine Spur von irgendwelchen Differenzierungen wahrnehmbar wäre. Jedes lebendige Wesen, ob Pflanze, ob Tier, entstammt einer solchen einfachen Zelle.
Was man vor der Entdeckung des Mikroskops gesehen hatte, nämlich das Pflänzchen im Samen, ist in Wirklichkeit ein Embryo, der sich bereits aus der Keimzelle herausentwickelt und schon seine erste Phase hinter sich gebracht hat, wenn der Samen in die Erde versenkt wird.
Aber die Keimzelle hat eine höchst eigentümliche Eigenschaft: Sie teilt sich sehr schnell in immer neue Hälften und teilt sich nach einem vorherbestimmten Plan, ohne daß sich von diesem Plan in der ursprünglichen Zelle auch nur die geringste materielle Spur finden ließe. Lediglich der Zellkern enthält winzige Körperchen, die Chromosomen, die die Träger der Erbmasse bilden.
Verfolgt man die ersten Entwicklungsstufen des Tieres, so sieht man, wie die ursprüngliche Zelle sich in zwei teilt, wie diese sich ihrerseits halbieren und so fort, bis eine Art leerer Ball entsteht, die sogenannte "Morula", die sich dann einstülpt, so daß eine doppelwandige Höhle mit einer Öffnung, der "Gastrula", entsteht. Durch fortgesetzte Vervielfältigungen, Einstülpungen und Differenzierungen bildet sich ein komplizierter Organismus mit vielerlei Organen und Geweben heraus. Die ganz einfache, klare, jeder erkennbaren Struktur bare Keimzelle arbeitet also und führt mit gehorsamer Genauigkeit einen immateriellen Befehl aus, den sie in sich trägt, gleich einem getreuen Diener, der seinen Auftrag auswendig kennt und ihn durchführt, ohne ein Dokument bei sich zu führen, das diesen geheimen Auftrag verraten könnte: Der Bauplan läßt sich nur aus der unermüdlichen Tätigkeit der Zellen erkennen, wenn das Werk bereits getan ist. Nichts anderes ist zu sehen als dieses Werk selbst.
Eines der ersten Organe, die sich im Embryo der Säugetiere und somit auch des Menschen herausbilden, ist das Herz, besser gesagt ein Organ, das zum Herzen werden soll — ein Bläschen, das sogleich nach einem vorherbestimmten Rhythmus zu pulsieren beginnt. Es schlägt zweimal in der Zeit, die das Herz der Mutter für einen Schlag benötigt. Und es wird unermüdlich zu schlagen fortfahren, denn es stellt den Lebensmotor dar, der alle sich bildenden Gewebe unterstützt, indem er ihnen die erforderlichen Stoffe zuführt.
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Das Wunderbare an dieser heimlichen Aufbauarbeit liegt darin, daß sie sich ganz von sich aus vollzieht. Wir haben es hier tatsächlich mit dem Wunder der Schöpfung zu tun. Diese weisen Lebenszellen irren sich nie und besitzen die Fähigkeit, sich grundlegend umzuwandeln, sei es in Knorpelzellen, sei es in Hautzellen, sei es in Nervenzellen; und jedes Gewebe nimmt seinen ihm zukommenden Platz ein. Dieses Schöpfungswunder bildet eine Art Geheimnis des Universums und spielt sich in größter Heimlichkeit ab. Die Natur umgibt es mit undurchdringlichen Schleiern und Hüllen, und nur sie vermag diese Hüllen zu zerreißen: wenn sie ein reif gewordenes Wesen hervorbringt, das als neugeborenes Geschöpf in die Welt tritt.
Aber dieses neugeborene Geschöpf ist nicht nur ein materieller Körper. Es wird seinerseits zu einer Art Keimzelle, die latente, schon vorausbestimmte seelische Funktionen in sich beschließt. Dieser neue Körper funktioniert nicht nur mit seinen Organen; er hat auch andere Aufgaben: Die Instinkte, die nicht in einer Zelle Aufnahme finden konnten, müssen sich jetzt in dem lebenden Körper des bereits geborenen Geschöpfes herausbilden. Wie jede Keimzelle bereits den Bauplan des ganzen Organismus in sich trägt, ohne daß dieser irgendwie feststellbar wäre, so enthält jedes neugeborene Lebewesen, welcher Gattung immer es angehört, in sich den Bauplan jener psychischen Instinkte und Funktionen, die das Wesen instand setzen sollen, zur Außenwelt in Beziehung zu treten. Das gilt von jedem Wesen, auch vom Insekt.
Die wunderbaren Instinkte der Bienen, die sie befähigen, eine so komplizierte soziale Organisation zu schaffen, beginnen erst in der Biene selbst wirksam zu werden und nicht bereits im Ei oder in der Larve. Der Flieginstinkt tritt erst im bereits ausgekrochenen Vogel auf, nicht früher.
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Sobald sich jedoch das neue Lebewesen gebildet hat, wird es zu einer Art Magazin geheimnisvoller Leittriebe, die dann zu Handlungen, Charakterzügen und Leistungen führen, also zu Einwirkungen auf die Umwelt und zu Reaktionen auf diese.
Die äußere Umwelt muß nicht nur die Mittel für das physiologische Dasein liefern, sondern auch die Reize für die geheimnisvolle Aufgabe, die jedes lebende Wesen in sich trägt. Denn jedes Lebewesen wird von seiner Umwelt nicht nur dazu aufgerufen, schlechthin zu existieren, sondern eine Funktion auszuüben, die zur Erhaltung der Welt und ihrer Harmonie notwendig ist.
Die Form des Körpers ist stets dieser seelischen "Überfunktion" angemessen, mit der das betreffende Wesen am Haushalt des Weltalls teilnehmen soll. Daß diese höheren Funktionen schon im Neugeborenen liegen, ist bei den Tieren ohne weiteres ersichtlich: Man weiß im vorhinein, daß dieses soeben zur Welt gekommene Säugetier friedlich sein wird, denn es ist ein Lämmchen, daß jenes andere wild sein wird, denn es ist ein Löwe. Man weiß. dieses Insekt wird rastlos nach einer unveränderlichen Ordnung arbeiten, weil es eine Ameise ist, und jenes andere wird nichts weiter tun, als einsam zu zirpen, weil es eine Grille ist.
Auch das neugeborene Menschenkind ist somit nicht bloß ein Körper, bereit, seine animalischen Funktionen aufzunehmen, sondern ein geistiger Embryo mit latenten seelischen Leitkräften. Es wäre widersinnig, anzunehmen, daß gerade der Mensch, der sich durch die Großartigkeit seines seelischen Lebens von allen anderen Geschöpfen unterscheidet und auszeichnet, als einziger keinen Plan seelischer Entwicklung in sich tragen sollte.
So tief liegt der Geist im Menschen verborgen, daß er nicht sogleich offenbar wird, wie dies beim tierischen, ohne weiteres aktionsbereiten Trieb der Fall ist. Die Tatsache, daß das menschliche Neugeborene nicht wie das tierische von allem Anfang an von festen und unabänderlichen Leitinstinkten beherrscht wird, ist ein Zeichen dafür, daß der Mensch ein gewisses Maß von Handlungsfreiheit besitzt.
Diese macht eine besondere Durchformung erforderlich, die jedes Individuum von sich aus vornehmen muß und deren Ergebnisse daher unvorhersehbar sind. Es gibt also in der kindlichen Seele ein Geheimnis, in das wir nicht eindringen können, wenn das Kind selbst es uns nicht dadurch offenbart, daß es allmählich sich selbst aufbaut. Wieder haben wir es hier mit einer ähnlichen Erscheinung zu tun wie bei der Zellteilung. Hier wie dort vollzieht sich die Entwicklung nach einem unsichtbaren Plan, der auf keine Weise zu erfassen ist und sich erst enthüllt, wenn die Bildung des Organismus in seinen Einzelheiten vor sich geht.
So vermag uns nur das Kind selber zu enthüllen, welches der natürliche Bauplan des Menschen ist. Doch da es nichts Zarteres und Empfindlicheres gibt als das neugeborene Geschöpf, bedarf auch das Seelenleben des Kindes eines Schutzes und daher einer Umwelt, die es in ähnlicher Weise behütet, wie dies die Hüllen und Schleier rings um den physischen Embryo besorgen.
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Und man vernahm auf der Erde eine bebende Stimme,
nie zuvor gehört. Sie drang aus einer Kehle,
aus der noch nie ein Laut erklungen war.
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Von einem Menschen habe ich gehört, der in der tiefsten aller Finsternisse gelebt hatte. Niemals hatten seine Augen auch nur den Schimmer eines Lichtes gesehen, als läge er auf dem Grunde einer tiefen Schlucht.
Von einem Menschen habe ich gehört, der in der Stille gelebt hatte. Kein Geräusch, nicht einmal das leiseste, war je an sein Ohr gedrungen.
Von einem Menschen habe ich gehört, der wahrhaftig dauernd unter Wasser gelebt hatte, in einem seltsam lauen Wasser, und der dann mit einem Male in eisige Kälte emportauchte.
Und er entfaltete seine Lungen, die nie zuvor geatmet hatten (die Arbeit des Tantalus war leicht, verglichen mit der seinen!). Und er lebte. Mit einem einzigen Atemzug füllten sich diese Lungen, die seit Anbeginn zusammengefaltet gewesen waren.
Dann schrie dieser Mensch.
Und man vernahm auf der Erde eine bebende Stimme, die nie zuvor gehört worden war. Sie drang aus einer Kehle, aus der nie zuvor ein Laut gedrungen war.
Er war der Mensch, der geruht hatte. Wer vermag sich auszudenken, was völlige Ruhe ist?
Die Ruhe dessen, der nicht einmal zu essen braucht, weil ein anderer für ihn ißt;
jede Faser seines Leibes ist entspannt, weil andere lebende Gewebe alle Wärme hervorbringen, deren er zum Leben bedarf;
und dessen Eingeweide ihn nicht gegen Gifte und böse Keime zu verteidigen brauchen, weil andere Gewebe dies für ihn tun.
Einzig das Herz arbeitet in ihm. Es schlug bereits, ehe er noch war. Ja, während er noch nicht existierte, schlug sein Herz schon, doppelt so schnell, wie andere Herzen schlagen. Und ich wußte, dies war das Herz eines Menschen.
Und jetzt ... tritt er hinaus:
Verwundet von Licht und Ton, erschöpft bis in die letzte Fiber, nimmt er alle Arbeit seines Daseins auf sich. Und er stößt einen lauten Schrei aus:
"Warum hast du mich verlassen?"
Und das ist das erste Mal, daß der Mensch in seinem Dasein den sterbenden Christus wie auch den Christus der Auferstehung widerspiegelt!
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