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4. Das Neugeborene in der außernatürlichen Umwelt 

 

 

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Das Kind, das den Mutterleib verläßt, tritt nicht in eine natürliche Umwelt ein, sondern in die Umwelt der Zivilisation, in der sich das Leben der Erwachsenen abspielt. Es ist eine außernatürliche Umwelt, über der Natur und auf deren Kosten errichtet, mit dem Zweck, das Leben des Menschen angenehm zu gestalten und ihm die Anpassung zu erleichtern. 

Was aber hat die Zivilisation vorgesehen, um dem Neugeborenen zu Hilfe zu kommen, jenem Menschenwesen, das die ungeheuerlichste Anpassungsleistung vollbringen muß, wenn es, durch die Geburt, aus seinem bisherigen in ein neues Leben tritt? Dieser erschütternde Übergang müßte eine wissenschaftlich richtige Behandlung des Neugeborenen erfordern, denn bei keiner anderen Gelegenheit wird dem Menschen ein so schmerzhafter Umweltwechsel zugemutet.

Aber es sind keinerlei Vorkehrungen getroffen, um dem Neugeborenen diesen Übergang zu erleichtern. Vergebens sucht man im Buch der Zivilisation an erster Stelle eine Seite, auf der berichtet wird, was der zivilisierte Mensch tut, um dem Neugeborenen zu helfen. Die Seite ist unbeschrieben.

Ganz im Gegensatz zu dieser unserer Behauptung glauben die meisten Leute, die moderne Zivilisation tue wunder was für das Kind, das zur Welt kommt. Aber wie sieht die Sache in Wirklichkeit aus? Wenn ein Kind geboren wird, kümmern sich alle um die Mutter. Die Mutter, heißt es, hat gelitten. Hat das Kind etwa nicht gelitten?

Rings um die Mutter wird das Licht gedämpft, herrscht Stille, denn die Mutter ist erschöpft. Ist denn das Kind nicht erschöpft? Kommt es nicht von einem Aufenthaltsort her, wo nie der geringste Lichtschimmer, nie das leiseste Geräusch bis zu ihm gedrungen war? Das Kind hat somit den größten Anspruch auf Dunkelheit und Stille. 

Es ist an einem Ort herangewachsen, wo es vor jeder Erschütterung, vor jeder Temperaturschwankung geschützt war, umgeben von einer weichen, gleichmäßigen Flüssigkeit, die eigens dafür geschaffen war, ihm völlige Ruhe zu gewähren. Jetzt hat es diese flüssige Umgebung plötzlich mit der Luft vertauschen müssen, und zwar ohne aufeinanderfolgende Obergangsstadien, wie sie z.B. die Kaulquappe durchmacht, bis sie ein Frosch wird. 

Was aber tut der Erwachsene mit diesem Neugeborenen, das aus dem Nichts kommt, dessen zarte Augen noch nie Licht erblickt haben, dessen Ohren ein Reich völliger Stille gewohnt sind? Wie behandelt er dieses Wesen, dessen gequälte Glieder bisher nicht den Druck einer Berührung gekannt haben? 

Dieser zarte Körper wird dem brutalen Anprall der festen Gegenstände ausgesetzt, wird von den seelenlosen Händen Erwachsener gefaßt, die von seiner Zartheit nichts wissen. 

Jawohl, das Neugeborene wird brutal behandelt. Schwere Hände reiben seine empfindliche Haut mit rauhen Tüchern. Die Angehörigen freilich wagen es kaum, das gebrechliche neue Wesen anzurühren. Scheu betrachten sie es und vertrauen seine Pflege erfahrenen Händen an. Man wird sagen: "Was soll denn getan werden? Jemand soll das Kind doch anrühren." 

Ja, aber diese erfahrenen Hände sind nicht geschickt genug, um mit einem so zarten Geschöpf umzugehen. Es sind derbe Hände, deren einzige Geschicklichkeit darin besteht, das Kind sicher zu halten und es nicht fallen zu lassen. 

Der Arzt faßt es ohne viel Federlesen an, und wenn es dabei verzweifelt schreit, lächelt alles beifällig. Ein Säugling hat sich so zu gebärden, das Schreien ist seine Sprache, und je mehr er weint, desto kräftiger weiten sich seine Lungen, desto besser werden seine Augen gereinigt.

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Kaum zur Welt gekommen, wird das Kind auch schon bekleidet. Es gab eine Zeit, da wurden Neugeborene in steife Binden gewickelt, sozusagen in Gips gelegt, und man preßte ihre Gliedmaßen, die von allem Anbeginn nur eine zusammengekrümmte Haltung gekannt hatten, gewaltsam in die ausgestreckte Lage.

Jede Art Bekleidung ist genau so unnötig wie das Wickeln. Dies gilt nicht nur für die ersten Stunden nach der Geburt, sondern für den ganzen ersten Monat.

Verfolgen wir die Kostümgeschichte des Neugeborenen, so sehen wir darin eine ständige Entwicklung, die von starren Wickel­bändern zu immer leichteren und spärlicheren Kleidungsstücken fortschreitet. Noch ein Schritt, und man wird lernen, auf jedwede Bekleidung überhaupt zu verzichten.

Die Wärme, deren das Neugeborene bedarf, soll ihm von seiner Umgebung zugeführt werden, nicht aber von seiner Kleidung. Da es bisher im warmen Mutterleib gelebt hat, entwickelt es keine ausreichende Körperwärme, um der Außentemperatur Trotz zu bieten. Kleider aber wärmen nicht, sondern sie verhindern nur, daß sich die Körperwärme verliert, sie sind also für die Zwecke des Neugeborenen völlig ungeeignet. Der Raum, in dem es sich aufhält, muß warm sein, und in diesem Falle stellen Kleider nur ein Hindernis für die warme Luft dar, an den Körper des Kindes heranzugelangen.

Bei den Tieren können wir beobachten, wie die Mutter die Jungen mit ihrem Körper wärmt, selbst wenn diese mit einem Fell zur Welt kommen.

Ich möchte mich nicht zu lange bei diesem Thema aufhalten. Sicher werden mir die Amerikaner von den Vorkehrungen sprechen, die in ihrem Lande für die Neugeborenen getroffen werden; Deutsche und Engländer werden mich erstaunt fragen, ob ich denn nichts von den Fortschritten wisse, die bei ihnen auf diesem Felde der Medizin und des Anstaltswesens erzielt worden sind.

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Darauf muß ich antworten, daß mir dies alles wohl bekannt ist und daß ich in einigen von jenen Ländern die letzten und raffiniertesten Vervollkommnungen studiert habe. Und dennoch muß ich laut erklären: Allenthalben fehlt noch immer jenes vornehme Verantwortungsbewußtsein, das notwendig ist, um den Menschen, der in die Welt tritt, auf würdige Weise zu empfangen.

Es ist wohl wahr, daß viel getan wird, aber was wäre denn der Fortschritt, wenn nicht das Erkennen von Dingen, die zuvor nicht erkannt worden sind, als das beständige Verbessern alles dessen, was bereits ausreichend, ja unübertrefflich zu sein schien? So gibt es noch immer kein Land der Erde, in dem das Kind zur Genüge verstanden wird.

Auch mochte ich hier einen anderen Punkt berühren und auf die Tatsache hinweisen, daß in uns allen, obzwar wir das Kind innig lieben, ein Instinkt lebendig ist, der uns vom ersten Augenblick, da das Kind in unser Leben tritt, in eine Art Abwehrhaltung ihm gegenüber drängt. Es scheint nicht nur ein Abwehrinstinkt, sondern auch ein Instinkt des Geizes, der bewirkt, daß wir alle Dinge unseres Besitzes vor dem Kind beschützen, und wären es selbst die wertlosesten. Da ist etwa die armselige kleine Matratze, die den Körper des Neugeborenen aufnehmen soll. Damit sie nur ja nicht zu Schaden komme, legen wir schleunigst ein Gummituch darüber und lassen es geschehen, daß der Körper des Kindes unter den Folgen leidet.

Wenn die Stimme der ewigen Gerechtigkeit uns fragt: "Und was habt ihr vorbereitet, um das kostbare Geschöpf zu empfangen, das ich euch anvertraut habe?" — was hätten wir zu antworten? 
"Wir haben Kleidungsstücke vorbereitet, die für das Kind eine Qual sind, und diese jämmerliche Matratze, die wir mit solchem Eifer verteidigen."

Immer wird sich die Seele des Erwachsenen fortan auf diese selbe Weise äußern: paß auf, daß das Kind nicht etwas verderbe, etwas beschmutze, uns auf irgendeine Weise belästige. Wir verteidigen uns, das ist es. Wir verteidigen uns gegen das Kind.

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Ich glaube, wenn die Menschheit erst einmal dahin gelangt sein wird, das Kind ganz zu verstehen, wird sie lernen, seine Pflege unendlich zu vervollkommnen.

In Wien ist man auf den Gedanken gekommen, den Teil des Bettes, auf den das Kind bei der Geburt zu liegen kommt, anzu­wärmen; man hat Matratzen aus saugfähigem Material ersonnen, die jedesmal, wenn sie beschmutzt worden sind, weggeworfen und durch neue ersetzt werden.

Aber die Pflege des Neugeborenen darf sich nicht darauf beschränken, es vor dem Tode zu behüten und vor Ansteckungskeimen zu schützen, wie dies in den modernen Kliniken heutzutage geschieht. Dort tragen sogar die Pflegerinnen Gesichtsmasken, damit die Mikroben aus ihrem Munde nicht zu dem Kinde gelangen können.

Es gibt auch Probleme einer psychischen Behandlung des Kindes vom Augenblick der Geburt an, die darauf abzielt, seine Anpassung an die Außenwelt zu erleichtern. In dieser Richtung werden noch viele Versuche in den Kliniken angestellt werden müssen, und es wird einer langdauernden Propaganda in den Familien bedürfen, ehe die heute übliche Haltung gegenüber dem Neugeborenen eine Änderung erfahren kann.

In den reichen Familien legt man noch immer Wert auf die Pracht der Wiege und auf kostbare Spitzen für die Säuglingskleider. Mir kommt dabei der Gedanke, daß, wenn es üblich wäre, Säuglinge auszupeitschen, die Kinder reicher Eltern wahrscheinlich zu diesem Zweck Peitschen mit perlenbesetztem Goldgriff bekämen.

Dieser Luxus rings um den Säugling beweist die völlige Verständnislosigkeit für die Bedürfnisse der kindlichen Seele. Der Reichtum einer Familie sollte ausschließlich dazu dienen, dem Kind die allerbeste hygienische Behandlung zu sichern, nicht aber einen äußerlichen Luxus. Diese Behandlung bestünde etwa in der Bereitstellung eines vor dem Lärm der Stadt geschützten Raumes, wo ausreichende Stille herrscht und die Beleuchtung gedämpft werden kann. Dieser Raum müßte gleichmäßig warm gehalten werden wie ein Operationssaal, damit das Kind darin nackt liegen kann.

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Muß das Kind bewegt und transportiert werden, so soll dies auf eine Weise erfolgen, bei der es so wenig wie möglich mit den Händen berührt wird. Zu diesem Zweck sollte eine leichte, nachgiebige Unterlage verwendet werden, eine Art Hängematte aus einem dünnen wattierten Netz, in welcher der Körper des Kindes in einer der embryonalen Lage ähnlichen Haltung ruhen kann.

Diese Hängematte muß zart und langsam bewegt werden, wozu geschickte und durch lange Übung dafür geschulte Hände erforderlich sind. Besondere Geschicklichkeit ist geboten, wenn es gilt, das Kind in vertikaler oder in horizontaler Richtung zu bewegen. In jedem Krankenhaus läßt sich beobachten, daß es eine besondere Technik gibt, um einen Patienten aufzuheben und langsam in horizontaler Richtung zu verlagern, und es ist dies die elementarste Technik der Krankenpflege. Niemandem fällt es mehr ein, einen Kranken mit den Armen aufzuheben, vielmehr schiebt man zu diesem Zweck vorsichtig weiche Unterlagen unter seinen Körper und führt mit deren Hilfe die Lageveränderung so durch, daß der Patient stets in der horizontalen Richtung verbleibt.

Ein neugeborenes Kind ist ein Kranker. Es ist, ebenso wie die Mutter, durch eine Lebensgefahr hindurchgegangen. Die Freude, die Befriedigung, die sein Anblick hervorruft, ist ja zugleich ein Aufatmen über die Abwendung dieser Gefahr. Bisweilen ist das Neugeborene fast erstickt und kann nur durch sofortige Anwendung der künstlichen Atmung zum Leben gebracht werden. Oft ist sein Kopf durch einen Bluterguß unter der Haut deformiert. Trotzdem ist keine Verwechslung zwischen einem Neugeborenen und einem kranken Erwachsenen möglich. Seine Erfordernisse sind nicht die eines Kranken, sondern die eines Wesens, das eine unvorstellbar schwierige Aufgabe der Anpassung zu bewältigen hat, während es zugleich die ersten seelischen Eindrücke hat. Dieses Wesen kommt aus dem Nichts und ist trotzdem bereits für viele Eindrücke empfänglich.

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Was wir für ein Neugeborenes empfinden, ist nicht Mitleid, sondern Bewunderung für das Mysterium der Schöpfung, für das Geheimnis eines Unendlichen, das sich hier in einer für uns erfaßbaren Form offenbart.

Ich habe gesehen, wie ein neugeborenes Kind unmittelbar nach seiner Rettung aus schwerer Erstickungsgefahr in eine niedrige, beinahe auf dem Fußboden stehende Wanne gelegt wurde. Bei der raschen Bewegung, mit der man es ins Wasser tauchte, riß das Kind die Augen auf, zuckte zusammen und streckte Arme und Beine von sich — einem Menschen gleich, der fühlt, wie er abstürzt. Dieses Kind machte in jenem Augenblick zum ersten Mal die Erfahrung der Angst.

Die Weise, wie wir ein neugeborenes Kind berühren und bewegen, die Zartheit des Gefühls, das es uns einflößt, läßt mich an die Gebärden denken, mit denen der katholische Priester die heiligen Gegenstände auf dem Altar handhabt. Mit gereinigten Händen und mit wohldurchdachten Bewegungen hebt er sie bald aufwärts, bald nach der Seite und macht dabei häufig Pausen, ganz als wären seine Bewegungen mit einer solchen Kraft geladen, daß sie von Zeit zu Zeit unterbrochen werden müssen.

Und alles das spielt sich in einem stillen Raum ab, in den das Licht nur durch farbige Gläser gedämpft einzudringen vermag. Ein Gefühl der Hoffnung und der Andacht beherrscht den heiligen Ort. Ähnlich sollte die Welt aussehen, in der ein neugeborenes Kind lebt.

Die ganze Verkehrtheit unseres Verhaltens ergibt sich aus einem Vergleich zwischen der Pflege, die der Mutter, und der, die dem Neugeborenen zuteil wird. Man braucht sich nur vorzustellen, was aus der Mutter würde, wenn man mit ihr ebenso umginge wie mit dem Kind.

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Die Mutter bleibt still in ihrem Bett liegen. Das Neugeborene wird sofort weggetragen, damit seine Gegenwart nicht störe, und wird nur dann wieder herbeigetragen, wenn es trinken soll. Auf diesen Reisen bleiben dem Kind Stöße und Puffe nicht erspart, und es muß sich schön anziehen lassen. Dies bedeutet soviel, als wollte man die Mutter nötigen, sofort nach der Geburt aufzu­stehen, sich elegant zu kleiden und an einem Empfang teilzunehmen.

Das Kind wird aus der Wiege genommen und bis in Schulterhöhe des Erwachsenen gehoben, der es tragen soll. Dann wird es wiederum zur Mutter hinuntergesenkt. Wer käme je auf den Gedanken, die Wöchnerin ähnlichen Bewegungen auszusetzen? Man pflegt diese Behandlungsweisen des Säuglings damit zu rechtfertigen, daß man sagt: "Das Kind hat kein Bewußtsein, und ohne Bewußtsein gibt es kein Leiden und keine Freude. Es wäre also sinnlos, auf ein Neugeborenes allzuviel Rücksicht zu verwenden."

Wie steht es aber mit erwachsenen Kranken in Lebensgefahr, die bewußtlos sind?

Worauf es ankommt, ist der Zustand der Hilfsbedürftigkeit an sich, nicht aber die Frage, ob der Hilfsbedürftige bei Bewußtsein ist, und das Alter des Hilfsbedürftigen spielt dabei schon gar keine Rolle.
Nein, es gibt da keine Rechtfertigung.

Die Geschichte der menschlichen Zivilisation hat eine Lücke, ein unbeschriebenes Blatt. Niemand hat darauf verzeichnet, wie der erste Abschnitt unseres Daseins beschaffen ist, denn niemand kennt die ersten Bedürfnisse des Menschen. Doch mit jedem Tag kommt uns eine eindrucksvolle, in vielen Erfahrungen erhärtete Wahrheit klarer zum Bewußtsein, daß nämlich die Leiden des frühesten Kindesalters (und sogar des vorgeburtlichen Daseins) einen starken Einßuß auf das ganze spätere Leben des Menschen ausüben. Es wird heute allgemein anerkannt, daß die Gesundheit des Erwachsenen, die Gesundheit der Rasse, im embryonalen und frühkindlichen Leben beschlossen liegt. Warum also verkennt man die Bedeutung des Geburtsaktes selbst, der am schwersten zu überwindenden Krise im gesamten menschlichen Leben? 

Wir haben kein Gefühl für das Neugeborene: es ist für uns noch kein Mensch. Es kommt zu uns, und wir wissen es nicht zu empfangen, obgleich die Welt, die wir geschaffen haben, einst ihm gehören wird, obgleich ihm die Aufgabe zufallen wird, über das von uns Erreichte hinauszuschreiten.

Das alles läßt uns an die Worte des Evangelisten Johannes denken: "Er war in der Welt, und die Welt war durch ihn geworden, doch die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, doch die Seinen nahmen ihn nicht auf."

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5  Die natürlichen Instinkte

 

 

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Von ihrem Instinkt geleitet, nehmen die höheren Tiere, insbesondere die Säugetiere, gebührend Rücksicht auf die Schwierigkeiten der Anpassungsperiode, die ihre Jungen durchzumachen haben. Dafür haben wir ein Beispiel an der schlichten Hauskatze. Sie verbirgt ihre Jungen sogleich nach der Geburt an einem abgesonderten und dunklen Ort und wacht so eifersüchtig über ihre Jungen, daß sie einem nicht einmal erlaubt, diese anzuschauen. Und bald kommen dann die gut geratenen, munteren Kätzchen aus ihrem Versteck zum Vorschein.

Die in Freiheit lebenden Säugetiere pflegen ihre Jungen oft mit noch größerer Sorgfalt. Fast alle diese Tiere leben in großen Herden. Das Weibchen, das die Stunde der Niederkunft herankommen fühlt, zieht sich jedoch stets von der Gruppe zurück und sucht sich einen abgelegenen, verborgenen Platz aus. Nach der Geburt hält die Mutter die Jungen in der Stille isoliert, und zwar während eines Zeitraumes, der je nach der Art zwischen zwei und drei Wochen bis zu einem Monat und mehr schwankt. Schlagartig verwandelt sich die Mutter bei dieser Gelegenheit in eine Pflegerin und Helferin der neuen Geschöpfe. Die gewohnte Umwelt der Mutter ist voll Lärm und Licht und daher für die Jungen ungeeignet; deshalb vertauscht die Mutter diese Umwelt zeitweilig mit einem ruhigen, geschützten Ort. 

Obzwar die Jungen im allgemeinen bereits mit gut entwickelten Körperfunktionen zur Welt kommen, auf den Beinen stehen und laufen können, nötigt die Mutter sie durch eine Art zärtlich-fürsorglicher Erziehung dazu, so lange von den anderen Tieren der Herde abgesondert zu bleiben, bis sie den Vollbesitz ihrer Fähigkeiten erlangt und sich ihrer Umwelt angepaßt haben. Dann erst bringt die Mutter sie zur Herde, damit sie fortan unter ihresgleichen leben.

Es ist außerordentlich eindrucksvoll, diese mütterliche Fürsorge zu studieren, die sich im wesentlichen stets auf dieselbe Weise kundgibt, mag es sich dabei auch um so verschiedene Tierarten handeln wie Pferde, Bisons, Wildschweine, Wölfe und Tiger. 

Das Bisonweibchen lebt mit seinem Jungen einige Wochen lang fern von der Herde und pflegt das Junge mit wunderbarer Zärtlichkeit. Wenn ihm kalt ist, deckt die Mutter es mit ihren Vorderbeinen zu; ist es schmutzig, so leckt sie es geduldig, bis das Fell wieder glänzt; wenn sie es stillt, steht sie dabei auf drei Beinen, um ihm die Mühe zu verringern. Schließlich bringt sie es zur Herde und säugt es dann weiterhin mit der geduldigen Teilnahmslosigkeit aller vierbeinigen Mütter. 

Bisweilen beschränkt sich das Muttertier nicht darauf, einen abgelegenen Ort zu suchen, sondern nimmt in der letzten Zeit seiner Trächtigkeit noch eine intensive Arbeit auf sich zu dem Zweck, ein geeignetes Nest für den kommenden Wurf zu schaffen. Die Wölfin etwa verbirgt sich für gewöhnlich in einem abgelegenen Teil des Waldes, möglichst in einer als Zufluchtsort geeigneten Höhle Findet sie aber nichts dergleichen fertig vor, so gräbt sie ein Erdloch oder bereitet ein Lager in einem hohlen Baumstrunk, das sie mit weichem Material ausfüttert. Als solches dienen zumeist die Haare ihres eigenen Felles, die sie sich von der Brust reißt, womit zugleich auch das Säugen der Jungen erleichtert wird. Sie wirft sechs bis sieben Junge, die mit geschlossenen Augen und Ohren zur Welt kommen und die sie in der Verborgenheit aufzieht, ohne sie jemals im Stich zu lassen. 

Sämtliche Muttertiere verhalten sich in dieser Zeit äußerst feindselig gegen jeden, der versucht, sich ihrer Höhle zu nähern.

Diese Instinkte entarten, wenn die Tiere zu Haustieren werden. So gelangen Hausschweine dahin, ihre eigenen Jungen aufzufressen, während die Wildsau eine der zärtlichsten und liebevollsten Mütter ist, die es gibt. Auch Löwinnen in den Käfigen der zoologischen Gärten zerreißen gelegentlich ihre eigenen Jungen.

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Die Natur entwickelt somit ihre schützenden Energien nur dann, wenn die betreffenden Lebewesen in der Lage sind, ihrem Grundinstinkt frei zu folgen.

Die Logik dieses Instinkts ist klar und einfach: Das Neugeborene eines Säugetiers bedarf besonderer Hilfe während der Zeit seiner ersten Berührungen mit der äußeren Umwelt. Daher muß man eine erste äußerst zarte Lebensperiode unterscheiden, die der Ankunft in der Welt, in der das Junge sich von der enormen Anstrengung des Geburtsaktes erholen und gleichzeitig alle seine Lebensfunktionen beginnen muß.

Dann erst setzt das ein, was wir die frühe Kindheit nennen, d. h. das erste Lebensjahr, das Säuglingsalter, der erste Abschnitt des Lebens in dieser Welt.

Die Pflege der Tiere, die ihre Jungen isolieren, beschränkt sich nicht auf deren Körper. Das Muttertier gibt sich ebensolche Mühe, die Instinkte zu wecken, die aus der innersten Natur des neuen Wesens hervorkommen und aus ihm ein neues Individuum derselben Rasse werden lassen; dieses seelische Erwachen vollzieht sich besser bei gedämpftem Licht und fern von jedem Lärm, unter der Aufsicht der Mutter, die die Jungen nicht bloß nährt, sondern auch liebevoll zur Vervollkommnung leitet.

In dem Maße als die Gliedmaßen z.B. des Füllens kräftiger werden, lernt es, seine Mutter zu erkennen und ihr nachzufolgen. Inzwischen aber beginnen in seinem noch empfindlichen Körper bereits die Rassemerkmale des Pferdes sichtbar zu werden; die ererbten Eigenschaften treten nun in Funktion. Darum gestattet die Stute es niemandem, das Füllen zu sehen, ehe es zu einem Pferdchen geworden ist, und die Katze will nicht, daß man ihre Jungen in Augenschein nimmt, solange diese nicht die Augen geöffnet und kräftige Pfötchen entwickelt haben, das heißt, solange sie nicht zu richtigen Kätzchen geworden sind.

Es ist klar, daß die Natur mit großer Sorgfalt über diesen wichtigen Entwicklungen wacht. Der mütterlichen Fürsorge kommt dabei eine erheblich größere Bedeutung zu als die der rein körperlichen Betreuung: Mit ihrer Liebe und zarten Pflege erwartet sie wachsam das Erwachen der latenten Instinkte. In entsprechender Weise könnte man sagen, die zärtliche Pflege. die dem menschlichen Neugeborenen zuteil wird, diene dazu, die geistige Geburt des Menschen zu hüten.

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6  Der geistige Embryo — Die Fleischwerdung

 

 

 

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Wenn wir das Wort Fleischwerdung gebrauchen, so drücken wir damit die Vorstellung aus, in dem Körper eines Neugeborenen sei ein Geist Fleisch geworden, um auf dieser Erde zu leben. Diese Vorstellung ist im Christentum als eines der verehrungswürdigsten Mysterien der Religion lebendig, als die Inkarnation des göttlichen Geistes nach dem Wort: "et incarnatus est de Spiritu Sancto: et homo factus est."

Hingegen betrachtet die Wissenschaft das Neugeborene als ein Wesen, das aus dem Nichts gekommen ist. Demnach ist es lediglich Fleisch, kein fleisch­gewordener Geist, ein Organismus aus Geweben und Organen, die zusammen ein lebendiges Wesen bilden. Auch hier haben wir ein Mysterium vor uns: Warum und wie ist dieser komplizierte, lebendige Körper aus dem Nichts entstanden? Aber es ist nicht unsere Aufgabe, uns mit derlei Betrachtungen aufzuhalten, vielmehr wollen wir in die Wirklichkeit eindringen und unter ihre Oberfläche blicken.

Bei der Pflege des Neugeborenen ist, wie wir nun bereits wissen, große Rücksicht auf dessen Seelenleben erforderlich. Wenn aber bereits das Neugeborene ein Seelenleben besitzt, um wieviel mehr wird dies bei einem Kinde während seines ersten Lebensjahres und nachher der Fall sein! Der eigentliche Fortschritt der Kinderpflege besteht gerade m der Rücksichtnahme nicht nur auf das körperliche, sondern auch auf das seelische Leben. Man hat heute erkannt, daß die Erziehung mit der Geburt zu beginnen hat. Hierbei wird das Wort Erziehung natürlich nicht im Sinne von Unterricht verstanden, sondern im Sinne einer Unterstützung der seelischen Entwicklung des Kindes.

Wenn sich jetzt die Überzeugung durchgesetzt hat, daß das Kind schon von der Geburt an ein richtiges Seelenleben besitzt, so ist dies nur dadurch möglich geworden, daß wir gelernt haben, zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten zu unterscheiden. Das Unbewußte, in dem eine Fülle von Impulsen und seelischen Tatsachen ihren Ursprung haben, ist heutzutage in der Sprache des Volkes schon beinahe zum festen Begriff geworden.

Aber selbst wenn man sich auf die augenfälligsten und elementarsten Ideen beschränkt, wird man doch annehmen dürfen, daß bereits im Säugling ein Spiel der Instinkte vor sich geht, das sich nicht bloß auf die Funktionen der Verdauung, sondern auch auf seelische Funktionen bezieht. An den Jungen der Säugetiere können wir beobachten, wie rasch sie aus innerem Antrieb die Eigentümlichkeiten ihrer Art entwickeln. In seinen Bewegungen zeigt das Menschenkind freilich weit langsamere Entwicklungs­möglichkeiten als das tierische Neugeborene. Zwar funktionieren seine Sinnesorgane vom Augenblick der Geburt an — ist doch das Kind sogleich empfindlich für Licht, Lärm und Berührung —, aber seine Bewegungen bleiben lange Zeit unentwickelt.

Das menschliche Neugeborene als Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung ist zunächst ein Wesen, das sich lange Zeit nicht fortzubewegen vermag, das außerstande ist, sich aufzurichten, dessen Stimme nur im Weinen und Schreien ertönt und gleichsam ständig um Hilfe ruft.

Erst nach langer Zeit, nach Monaten, einem ganzen Jahr oder mehr, wird dieser Körper sich aufrichten und gehen, wird nicht mehr etwas völlig Hilfloses sein, sondern der Körper eines kleinen Menschen; und nach Monaten und Jahren erst wird aus seiner Stimme die Stimme eines Menschen werden, der spricht.

Auf diese seelischen und körperlichen Tatsachen des Wachstums beziehen wir uns, wenn wir den Ausdruck Fleischwerdung gebrauchen. Fleischwerdung ist der geheimnisvolle Vorgang, demzufolge in dem trägen Leib des Neugeborenen eine Energie erwacht, die dem Fleisch der Gliedmaßen, den Organen der artikulierten Sprache die Fähigkeit verleiht, gemäß seinem Willen zu handeln, und so inkarniert sich der Mensch.

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Es muß auffallen, daß das Kind so lange Zeit unfähig bleibt, sich von der Stelle zu bewegen, während die kleinen Säugetiere unmittelbar nach der Geburt oder doch schon nach kürzester Zeit auf ihren Beinen stehen, laufen, die Mutter suchen und, wenngleich schwach, unvollkommen und beinahe jämmerlich, die Sprache ihrer Art sprechen. Die kleinen Kätzchen miauen, die Lämmchen blöken, und das Füllen wiehert. Es sind schwache Stimmchen, die nur selten die Stille durchbrechen; die Welt ist ja keineswegs erfüllt von dem Klagegeschrei neugeborener Tiere. Die Zeit, die sie zu ihrer Entwicklung benötigen, ist kurz, ja man kann sagen, der Instinkt, der die Handlungen des Tieres bestimmt, belebe bereits das Neugeborene. Man weiß im vorhinein, in welcher Weise das Tigerjunge springen, das Zicklein hüpfen wird, kaum daß es sich aufgerichtet hat. 

Jedes Wesen, das auf die Welt kommt, ist also nicht nur ein materieller Körper; es enthält in sich bereits Funktionen, die nicht die seiner physiologischen Organe sind, sondern von seinen Instinkten abhängen. Alle diese Instinkte Enden ihren Ausdruck in der Bewegung und stellen Artmerkmale dar, die noch unveränderlicher und charakteristischer sind als die Form des Körpers. Mehr noch als durch seine Form wird das Tier durch seine Bewegungsweise gekennzeichnet.

Wir können alle diese Merkmale, die nicht im vegetativen Ablauf körperlicher Vorgänge bestehen, zusammenfassend als psychische bezeichnen. Wie schon gesagt, finden sie sich bei allen Tieren bereits im Augenblick der Geburt. Warum ist dies gerade beim menschlichen Neugeborenen nicht der Fall? 

Es gibt eine wissenschaftliche Lehre, die besagt, die instinktiven Bewegungen der Tiere seien die Folge von Erfahrungen, die in früheren Epochen von den Vorfahren gemacht und weitervererbt worden seien. Warum erbt dann gerade der Mensch so wenig von seinen Vorfahren? Die Gattung Mensch ist doch immer aufrecht gegangen und hat immer eine artikulierte Sprache gesprochen, so daß sich dies auf die Nachfahren hätte vererben können.

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Es wäre absurd anzunehmen, daß gerade der Mensch, der sich vor allen anderen Geschöpfen durch die Großartigkeit seines Seelenlebens auszeichnet, als einziges Lebewesen keinen seelischen Entwicklungsplan in sich tragen sollte. Hier besteht ein Widerspruch, hinter dem sich eine Wahrheit verbergen muß. Offenbar schlummert der Geist des Menschen in solcher Tiefe, daß er sich nicht auf dieselbe Weise kundgeben kann wie der Instinkt des Tieres, der von Anfang an bereit ist, sich in bestimmten, im voraus festgelegten Handlungen zu äußern.

Die Tatsache, daß der Mensch nicht von festen und vorherbestimmten Leittrieben beherrscht wird, wie dies beim Tier der Fall ist, deutet auf das Vorhandensein einer gewissen Handlungsfreiheit, die erst langsam heranreifen kann. Man könnte beinahe von einer Schöpfung sprechen, die dem einzelnen Individuum überlassen bleibt und im voraus nicht zu bestimmen ist. Es sei uns gestattet, hier einen etwas abseitigen Vergleich heranzuziehen: den Vergleich mit den Dingen, die wir selbst hervorbringen. Es gibt Dinge, die serienweise hergestellt werden. Sie gleichen einander alle und werden in rascher Folge mit einer Gußform oder maschinell erzeugt. Dann aber gibt es andere Dinge, die mit der Hand hergestellt werden. Dazu braucht es mehr Zeit, und jedes Stück fällt anders aus. Der Wert der in Handarbeit erzeugten Gegenstände liegt gerade darin, daß jeder von ihnen etwas von der Schöpferhand an sich trägt, die ihn hervorgebracht hat, sei es die Hand einer tüchtigen Stickerin, sei es, im Falle eines Kunstwerks, die Hand des Genies.

Man könnte den psychischen Unterschied zwischen Tier und Mensch so kennzeichnen: Das Tier gleicht dem in Serie hergestellten Gegenstand, und jedes Individuum reproduziert sofort die gleichförmigen, für die ganze Art gemeinsamen Charakteristiken. Der Mensch hingegen entspricht dem in Handarbeit hergestellten Gegenstand: Jeder ist von allen anderen verschieden, in jedem wohnt ein ihm eigener schöpferischer Geist, der aus ihm ein Kunstwerk der Natur macht.

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Aber die Arbeit ist langsam und langwierig. Da es sich hier nicht darum handelt, bloß einen festen Typus zu wiederholen, da vielmehr etwas grundlegend Neues geschaffen werden soll, bedarf es eines inneren Reifungsprozesses, bevor äußere Wirkungen erscheinen. Jeder neue Mensch ist ein Rätsel und wird uns Überraschungen bereiten; davon aber sieht man lange Zeit nichts, wie denn auch der Schöpfer eines Kunstwerkes dieses lange in der Abgeschlossenheit seines Arbeitszimmers verwahrt und es mit seiner Persönlichkeit erfüllt, ehe er es den Blicken des Publikums preisgibt. 

Diese Aufbauarbeit, in der sich die menschliche Persönlichkeit formt, stellt das verborgene Werk der Fleischwerdung dar. Der Säugling, der sich nicht zu bewegen vermag, ist ein Rätsel. Sein Körper birgt den kompliziertesten Mechanismus unter allen lebenden Wesen, aber dieser Mechanismus gehört ihm; der Mensch gehört sich selbst. Sein eigener Wille ist es, der ihm zur Fleischwerdung verhelfen muß.

Was man gemeinhin "Fleisch" nennt, ist eine Vielfalt von Bewegungsorganen, die man in der Sprache der Physiologie willkürliche Muskeln nennt. Dieser Ausdruck besagt schon, daß es der Wille ist, der sie bewegt. Nichts könnte besser als dies die Tatsache verdeutlichen, daß die Bewegung mit dem Seelenleben verknüpft ist. Der Wille wäre ohnmächtig, verfügte er nicht über die Organe, über seine Instrumente. 

Kein Tier, nicht einmal das einfachste Insekt, könnte seinen Instinkten folgen, wenn es nicht Bewegungsorgane besäße. Bei den vollkommeneren Formen, also insbesondere beim Menschen, ist das System der Muskulatur so kompliziert und die Zahl der Muskeln so groß, daß die Anatomiestudenten zu sagen pflegen: "Um alle Muskeln im Gedächtnis zu behalten, muß man sie mindestens siebenmal herauspräpariert haben." 

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Überdies wirken mehrere Muskeln bei der Ausführung komplizierter Bewegungen zusammen. Einige üben Impulse aus, andere nehmen eine passive Haltung ein, manche sind nur imstande, eine Annäherung zu bewirken, wieder andere führen die Berührung herbei. Und alle diese gegensätzlich wirkenden Muskelfunktionen vollziehen sich in vollendeter Harmonie!

Eine Hemmung korrigiert jeden Impuls und begleitet ihn deshalb beständig. Der Tätigkeit eines Beugemuskels gesellt sich die eines Streckmuskels hinzu, und das Ergebnis ist eine einheitliche Bewegung von oftmals höchst komplizierter Art, wie dies bei den Akrobaten oder bei der Hand des Geigers der Fall ist, der seinen Bogen mit unendlich feinen Strichen zu führen weiß.

Jede Bewegung Ist das Ergebnis gegensätzlicher Tätigkeiten, so als seien gleichzeitig zwei sich gegenüberstehende, bis zur höchsten Vollkommenheit geschulte Heere am Werk.

Man könnte sagen, der Schöpfer habe der Natur allein nicht völlig vertraut und daher die höheren Aufgaben — die des Aufbaues und der Leitung — der Energie des Individuums überantwortet, einer Energie, die sich der Natur überlagert und in diesem Sinne über-natürlich genannt werden darf. Das ist die Grundtatsache der menschlichen Entwicklung: Der Menschengeist muß Fleisch werden, um den Weg ins Dasein zu erschließen und zu ermöglichen, und dieser Vorgang der Fleischwerdung stellt das erste Kapitel im Leben des Kindes dar.

Diese Fleischwerdung aber erfolgt nach psychischen Richtlinien, und somit muß es im Kinde ein Seelenleben geben, das dem bloß motorischen Leben vorangeht und das früher da ist als jeder wahrnehmbare Ausdruck und von diesem in keiner Weise abhängt.

Es wäre ein großer Irrtum zu glauben, das Kind besitze schwache Muskeln und könne sich darum nicht aufrecht halten, und ebenso falsch ist auch die Annahme, es gehöre zur Natur des Kindes, daß es unfähig sei, seine Muskeln zu koordinieren.

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"Die Muskelkraft des Neugeborenen ist beachtlich, wie sich an seinen Bewegungen und an dem Widerstand, den es zu leisten vermag, deutlich erkennen läßt; und nichts könnte schwieriger sein als die komplizierte Koordination des für das Saugen und Schlucken erforderlichen Muskelspiels, das doch vom ersten Augenblick an funktioniert. Aber zum Unterschied von den jungen Tieren läßt die Natur beim Menschenkind die Bewegungen vom Zwang der Instinkte frei. Die Instinkte ziehen sich zurück, die Muskeln erwarten stark und gehorsam neue Befehle, sie erwarten den Ruf des Willens, um sich sodann im Dienste des menschlichen Geistes zu koordinieren. Ihre Aufgabe ist es, nicht nur die Kennzeichen einer bestimmten Art zum Ausdruck zu bringen, sondern die einer individuellen Seele. Zweifellos gibt es auch im Menschen Instinkte, die die grundlegenden Kennzeichen der Gattung herausbilden helfen. So weiß man im voraus, daß jedes Kind aufrecht gehen und sprechen wird. Aber im übrigen stellen sich so unerwartete persönliche Eigenarten ein, daß man immer wieder vor Rätseln steht.

Von jedem Tier können wir erraten, was aus ihm werden wird, sobald es heranwächst: eine vorzügliche Schnelläuferin, wenn es sich um eine Gazelle handelt, ein langsames und plumpes Tier, falls wir es mit einem Elefantenjungen zu tun haben. Das Tiger­junge wird zu einem reißenden Raubtier werden, das Kaninchenjunge zu einem Nager und Pflanzenfresser.

Aber der Mensch ist zu allem fähig, und in seiner anscheinenden Untätigkeit bereitet sich die wunderbare Überraschung der Individualität vor. Seine unartikulierte Stimme wird eines Tages Worte von sich geben, und noch wissen wir nicht, welches seine Sprache sein wird. Er wird die Sprache sprechen, die er von seiner Umwelt aufmerksam aufgenommen hat, er wird mit unvor­stellbarer Anstrengung Töne, dann Silben und schließlich Wörter formen. Er wird kraft seines Willens alle diejenigen Funktionen in sich aufbauen, die seinen Beziehungen zur Umwelt dienen, und damit Schöpfer eines völlig neuen Wesens werden.

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Die Tatsache, daß das Kind in der ersten Zeit nach seiner Geburt ein passives Verhalten an den Tag legt, ist von jeher fest­gestellt worden und hat Anlaß zu mancherlei philosophischen Betrachtungen geboten; aber weder die Ärzte noch die Psychologen und Erzieher haben sie sonderlich beachtet. Man sah darin eine von den vielen offenkundigen Tatsachen, die man einfach feststellt. Es gibt zahlreiche Dinge, die auf diese Weise für lange Zeit sozusagen beiseite gelegt und in den Magazinen des Unterbewußten eingeschlossen werden.

Im praktischen Leben jedoch hat diese Eigentümlichkeit der kindlichen Natur vielerlei Folgen gehabt, die sich als höchst gefährlich für das kindliche Seelenleben erwiesen. Man hat nämlich irrtümlich angenommen, nicht nur die Muskeln, also das Fleisch des Kindes, sondern das Kind selbst sei passiv und bar jedes psychischen Inhalts. In der Folge, angesichts der großartigen, wenn auch späten Kundgebungen der kindlichen Psyche, glaubte der Erwachsene, er erst habe dem Kind durch Pflege und Hilfe dazu verholten, eine Seele zu entwickeln. Der Erwachsene hielt sich gewissermaßen für den schöpferischen Former des Kindes, für den Baumeister seines psychischen Daseins. So vermeinte er, von außen her ein schöpferisches Werk vollbringen zu können, indem er dem Kinde Anreize, Richtlinien und Ratschläge gab und auf diese Weise in ihm Intelligenz, Gefühl und Willen zu entwickeln wähnte.

Damit schrieb sich der Erwachsene eine nahezu göttliche Macht zu. Er kam dahin, sich für den Gott des Kindes zu halten und den Satz der Schöpfungs­geschichte: "Ich will den Menschen nach meinem Bild und Gleichnis schaffen" auf sich selber anzuwenden. Hoffart ist die erste Sünde des Menschen gewesen. Dieser Wunsch, sich an die Stelle Gottes zu setzen, hat die Verderbnis des ganzen menschlichen Geschlechtes nach sich gezogen.

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In Wirklichkeit trägt das Kind den Schlüssel zu seinem rätselhaften individuellen Dasein von allem Anfang in sich. Es verfügt über einen inneren Bauplan der Seele und über vorbestimmte Richtlinien für seine Entwicklung. Das alles aber ist zunächst äußerst zart und empfindlich, und ein unzeitgemäßes Eingreifen des Erwachsenen mit seinem Willen und seinen übertriebenen Vorstellungen von der eigenen Machtvollkommenheit kann jenen Bauplan zerstören oder seine Verwirklichung in falsche Bahnen lenken. 

So hat es der Erwachsene tatsächlich in der Hand, vom ersten Anbeginn an die göttliche Absicht zunichte zu machen, und der Mensch wird sich dann von Generation zu Generation in einer Art seelischer Verkrüppelung weiterentwickeln. Hier liegt eines der größten und grundlegenden praktischen Probleme der Menschheit. Das Entscheidende ist dabei dieses: Das Kind besitzt ein aktives Seelenleben bereits dann, wenn es noch nicht imstande ist, es nach außen hin kundzugeben, weil es noch lange Zeit im geheimen an seiner Entwicklung zu arbeiten hat. An diesem Punkte eröffnet sich eine eindrucksvolle Vision: die einer im Dunkel eingeschlossenen Seele, die sich bemüht, ans Licht zu gelangen, geboren zu werden, heranzuwachsen und die nach und nach das träge Fleisch mit ihrem Willen belebt, bis sie mit der Kraftanstrengung eines Geburtsaktes zur Helligkeit des Bewußtseins durchbricht. Dort aber wartet ein anderes Wesen auf sie, ein Wesen von ungeheurer Macht, das sie sogleich packt und beinahe erdrückt — der Erwachsene.

In der Umwelt des Säuglings ist nichts vorbereitet, um das Wunder des fleischgewordenen Menschenwesens würdig zu empfangen; denn niemand sieht dieses Wunder, niemand erwartet es.

Das fleischgewordene Kind ist ein geistiger Embryo, der auf Kosten seiner Umwelt leben muß. So wie der physische Embryo die besondere Umwelt des Mutterschoßes benötigt, braucht auch der geistige Embryo den Schutz einer lebendigen, von Liebe durchwärmten, an Nahrung reichen Umwelt, in der alles darauf eingerichtet ist, sein Wachstum zu fördern, und nichts hindernd im Wege steht.

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Hat der Erwachsene diese Tatsache erst einmal begriffen, so muß sich sein Verhalten dem Kinde gegenüber grundlegend ändern. Das Kind als geistiger Embryo, der im Begriff steht, sich zu inkarnieren, muß uns erschüttern und erlegt uns neue Verantwortung auf.

Dieser kleine, zarte, anmutige Leib, den wir bewundern und ausschließlich der körperlichen Pflege überlassen, den unsere Hände fast so behandeln wie ein Spielzeug, wird nun mit einem Male zu etwas, das unsere Ehrfurcht herausfordert. "Multa debetur puero reverentia."

Diese Fleischwerdung vollzieht sich unter geheimer Mühsal. Rings um diese schöpferische Arbeit spielt sich ein noch nie geschildertes Drama ab.

Keinem anderen Geschöpf obliegt es, wollen zu müssen, noch ehe es einen fertigen Willen besitzt, befehlen zu müssen, damit Aktivität und Disziplin in eine träge Materie komme. Ein unsicheres, zartes Leben ist gerade erst bis in die Nähe der Bewußtheit vorgedrungen, und schon stellen die Sinne eine Berührung mit der Umwelt her, schon erteilt auch der Wille seine Befehle an die Muskeln.

Es kommt zu einem Austausch zwischen dem Individuum, besser gesagt dem geistigen Embryo, und der Umwelt, und in diesem Austausch formt und vervollkommnet sich das Individuum. Diese erste aufbauende Tätigkeit entspricht der Funktion jenes Bläschens, das im leiblichen Embryo zuerst das Herz vertritt, die Entwicklung und Ernährung aller Körperteile des Embryos sicherstellt und dabei die erforderlichen Nährstoffe den Blutgefäßen der Mutter entnimmt. Auch die seelische Individualität entwickelt sich durch die Arbeit eines solchen Motors, der die Beziehung zur Umwelt aufrechterhält. Alle Anstrengungen des Kindes zielen darauf ab, seine Umwelt zu absorbieren, und aus diesen seinen Bemühungen erwächst die tiefgegründete Einheit seiner Persönlichkeit.

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Stets wacht bei dieser langsamen und schrittweisen Arbeit der Geist über das Werkzeug, damit er seine Oberherrschaft bewahre und verhindere, daß die Bewegung sich in der Trägheit verliert oder mechanisch wird. Er muß ständig befehlen, soll die Bewegung sich von der Herrschaft vorgegebener Instinkte befreien und dabei doch nicht im Chaos enden. Diese Übung in solcher Anstrengung führt dazu, daß sich im Kinde ständig neue aufbauende Energien entwickeln, und trägt so zu dem dauernden Werk der Fleischwerdung des Geistes bei. So schafft die menschliche Persönlichkeit sich selbst, und aus dem Embryo, dem Kind, wird der Schöpfer des Menschen, der Vater des Menschen.

Was haben Vater und Mutter in Wirklichkeit getan? 

Der Beitrag des Vaters beschränkt sich auf eine einzige, unsichtbare Zelle. Die Mutter hat außer einer Keimzelle auch noch die geeignete lebendige Umwelt mit allem für Schutz und Entwicklung Erforderlichen bereitgestellt, damit die Keimzelle sich in Ruhe aus eigenem Antrieb teilen und schließlich das Neugeborene hervorbringen könne. Es ist also nicht ganz richtig, wenn man von Vater und Mutter als den Schöpfern des Kindes spricht. Besser sollte es heißen: Baumeister des Menschen ist das Kind. Das Kind ist der Vater des Menschen. Die Kraftanstrengung, die das Kind um dieses Zieles willen insgeheim vollbringt, sollte als geheiligt respektiert werden, und wir sollten ihr eine hoffend-erwartungsvolle Haltung entgegenbringen; formt sich doch in dieser Periode die zukünftige Persönlichkeit des Individuums.

Die Verantwortung des Erwachsenen ist so groß, daß ihm daraus die Pflicht erwächst, mit aller wissenschaftlichen Gründlichkeit die seelischen Bedürfnisse des Kindes zu erforschen und ihm eine dementsprechende Umwelt zu bereiten.

Es handelt sich hier um eine Wissenschaft, die noch in ihren ersten Anfängen steckt. Sie wird sich noch weit entwickeln müssen, und der Erwachsene wird seine ganze Intelligenz aufzuwenden haben, ehe nach langen Bemühungen schließlich das letzte Wort über die Art gesprochen sein wird, in der der Mensch sich formt. Dieses letzte Wort wird das erste sein, mit dem das leere Blatt der Menschheitsgeschichte beschrieben werden wird.

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