7. Der Aufbau der kindlichen Seele
Die sensiblen Perioden
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Schon ehe man von Ausdrucksmitteln sprechen darf, führt die Sensibilität des Kleinkindes zu einem primitiven seelischen Aufbau, der freilich zunächst verborgen bleibt. Trotz der Ungreifbarkeit dieses frühkindlichen Seelenlebens wäre es irrig, sein Vorhandensein — etwa im Falle der Sprache — zu leugnen.
Dies würde zu der Annahme führen, daß die Sprache bereits völlig ausgeformt im kindlichen Geist vorliege, auch wenn die motorischen Organe des Wortes noch nicht ihre Ausdrucksfähigkeit erlangt haben. In Wirklichkeit besteht zunächst lediglich die Anlage zum Hervorbringen einer Sprache. Ähnlich verhält es sich mit der Gesamtheit der seelischen Welt, von der die Sprache ja nur eine äußere Kundgebung darstellt. Im Kinde ist die schöpferische Haltung, die potentielle Energie vorhanden, die es befähigt, auf Grund seiner Umwelteindrücke eine seelische Welt aufzubauen.
Von ganz besonderem Interesse ist für uns die vor kurzem gemachte Entdeckung der Biologie, wonach es in bezug auf die Entwicklung ganz bestimmte Empfänglichkeitsperioden (sensible Perioden) gibt. Worin besteht und wie erfolgt die Entwicklung, das Wachstum eines Lebewesens?
Wenn man von Entwicklung und Wachstum spricht, bezieht man sich auf einen von außen feststellbaren Vorgang, dessen innerer Mechanismus jedoch erst seit kurzem in einigen seiner Einzelheiten ergründet worden ist. Die moderne Forschung hat dazu zwei wesentliche Beiträge geliefert. Der eine von diesen bestand in der Entdeckung der inneren Drüsensekretion, von der das körperliche Wachstum abhängt. Sie hat einen gewaltigen Einfluß auf die Kinderheilkunde ausgeübt und eine dementsprechende Volkstümlichkeit erlangt.
Der andere Beitrag bestand in der Erkenntnis, daß es bestimmte Perioden gesteigerter Empfänglichkeit gibt, woraus sich neue Möglichkeiten für das Verständnis des seelischen Wachstums erschließen.
Der holländische Gelehrte De Vries entdeckte die Empfänglichkeitsperioden bei den Tieren, und uns gelang es in unseren Schulen, dieselben "sensiblen Perioden" auch in der Entwicklung der Kinder festzustellen und den Zwecken der Erziehung nutzbar zu machen.
Es handelt sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter der Lebewesen auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab. So entwickelt sich jeder Charakterzug auf Grund eines Impulses und während einer eng begrenzten Zeitspanne. Das Wachstum etwa ist nicht ein unbestimmtes Werden, ererbt und dem Lebewesen eingeboren, sondern das Ergebnis einer inneren Arbeit, die von periodisch auftretenden Instinkten sorgfältig geleitet wird. Diese Instinkte nötigen das Lebewesen in gewissen Stadien seiner Entwicklung zu einem Energieaufwand, der sich oft einschneidend von dem des erwachsenen Individuums unterscheidet. De Vries stellte diese sensiblen Perioden zuerst an solchen Insekten fest, bei denen die Entwicklung sich in besonders auffällige Perioden teilt; gehen sie doch durch Metamorphosen hindurch, die der experimentellen Laboratoriumsbeobachtung gut zugänglich sind.
Nehmen wir als Beispiel das von De Vries zitierte unansehnliche Würmchen, als das sich die Raupe eines gewöhnlichen Schmetterlings präsentiert. Man weiß, daß die Raupen mit großer Geschwindigkeit heranwachsen, gierig fressen und daher Pflanzenschädlinge sind. De Vries verwies nun auf eine Raupenart, die sich während ihrer ersten Lebenstage nicht von den großen Baumblättern, sondern nur von den zartesten Blättchen an den Enden der Zweige zu nähren vermag.
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Nun legt aber der Schmetterling seine Eier gerade an der entgegengesetzten Stelle, nämlich dort, wo der Ast aus dem Baumstamm hervorwächst, denn dieser Ort ist sicher und geschützt. Wer wird den jungen, eben erst aus dem Ei gekrochenen Raupen sagen, daß die zarten Blätter, deren sie für ihre Ernährung bedürfen, sich draußen, an den entferntesten Enden der Zweige, befinden? Siehe da, die Raupe ist mit starker Lichtempfindlichkeit begabt; das Licht zieht sie an, fasziniert sie. So strebt die junge Raupe mit ihren charakteristischen Sprungbewegungen alsbald der stärksten Helligkeit zu, bis sie am Ende der Zweige angekommen ist, und dort findet sie die zarten Blätter, mit denen sie ihren Hunger stillen kann. Das Seltsamste aber ist, daß die Raupe sogleich nach Abschluß dieser Periode, sobald sie sich auf andere Art ernähren kann, ihre Lichtempfindlichkeit verliert. Bald läßt das Licht sie völlig gleichgültig. Der Instinkt stirbt ab. Er hat seinen Dienst getan, und die Raupe wendet sich jetzt anderen Wegen und anderen Nährstoffen zu.
Es ist nicht so, daß die Raupe für das Licht unempfänglich, also im physiologischen Sinne blind geworden wäre; aber sie beachtet es nicht mehr.
Eine andere Periode veränderter Empfänglichkeit verwandelt die Schmetterlingslarven, die eben noch gefräßig alle Pflanzen ringsum verschlungen hatten, in eine Art von Hungerkünstlern. Während ihrer Fastenzeit bauen sie sich ein sargähnliches Gebilde, in dem sie sich gleich leblosen Wesen begraben. Wieder haben wir es hier mit einer intensiven und unausweichlichen Arbeit zu tun, denn in diesem Grab wird die endgültige Phase, der Schmetterling in seiner geflügelten Schönheit, vorbereitet.
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Es ist bekannt, daß die Bienenlarven durch ein Stadium hindurchgehen, in dem eine jede von ihnen, soweit sie weiblich ist, zur Königin werden kann. Doch die Gemeinschaft erwählt eine einzige dieser Larven, und nur für sie erzeugen die Arbeiterbienen eine besondere Nährsubstanz, die von den Zoologen "Königinnenbrei" genannt wird. So wird die Erwählte, indem sie königliche Nahrung zu sich nimmt, zur Königin der Gemeinschaft. Wollte das Bienenvolk nach einiger Zeit eine andere Larve zur Königin machen, so wäre das nicht mehr möglich, denn die Zeitspanne der Gefräßigkeit ist bereits vorbei, und der Larvenkörper besitzt nicht mehr die Fähigkeit der Entwicklung.
Von hier aus eröffnet sich der Weg zum Verständnis für das, was in bezug auf das Menschenkind von entscheidender Wichtigkeit ist: Auf der einen Seite haben wir es mit einem inneren Anstoß zu tun, der zu den bewunderungswürdigsten Leistungen führt, auf der anderen mit Perioden einer Gleichgültigkeit, die blind und leistungsunfähig macht.
Auf diese grundsätzlichen Entwicklungsstadien vermag der Erwachsene in keiner Weise von außen her einzuwirken.
Hat das Kind aber nicht die Möglichkeit gehabt, gemäß den inneren Direktiven seiner Empfänglichkeitsperioden zu handeln, so hat es die Gelegenheit versäumt, sich auf natürliche Weise eine bestimmte Fähigkeit anzueignen; und diese Gelegenheit ist für immer vorbei.
Was das Kind während seiner psychischen Entwicklung vollbringt, gleicht einem Wunder, und nur darum, weil wir gewohnt sind, dieses Wunder unter unseren Augen sich vollziehen zu sehen, stehen wir ihm ohne Ergriffenheit gegenüber. Wie bringt es das aus dem Nichts gekommene Kind fertig, sich in dieser komplizierten Welt zurechtzufinden? Wie gelangt es dahin, Gegenstand von Gegenstand zu unterscheiden und ohne Lehrer, einfach indem es lebt, eine Sprache mit allen ihren winzigen Besonderheiten zu erlernen? Dies alles vollbringt das Kind, indem es schlicht und froh in den Tag hinein lebt, während der Erwachsene, der sich in einer ihm neuen Umwelt zurechtfinden soll, zahlreicher Hilfen bedarf.
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Das Erlernen einer neuen Sprache nötigt den Erwachsenen zu harter Arbeit, und dennoch erreicht er niemals die Vollendung, mit der er seine in der Kindheit erworbene Muttersprache beherrscht.
Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitsperioden. Diese sind einem Scheinwerfer vergleichbar, der einen bestimmten Bezirk des Inneren taghell erleuchtet, vielleicht auch einem Zustand elektrischer Aufladung. Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zusammenhang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen, und von diesem Augenblick an wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit über die Seele des Kindes.
Kaum ist jedoch eine dieser seelischen Leidenschaften erloschen, da entzünden sich auch schon andere Flammen, und so schreitet das Kind von einer Eroberung zur nächsten fort, in einem unablässigen Vibrieren von Lebenskraft, das wir alle kennen und als "Freude und Glück der Kindheit" bezeichnen. In dieser herrlichen Geistesflamme, die brennt, ohne zu verzehren, vollzieht sich das Schöpfungswerk des geistigen Menschen. Ist hingegen die Empfänglichkeitsperiode vorbei, so können weitere Errungenschaften nur mit reflektierender Tätigkeit, mit Aufwand von Willenskraft, mit Mühe und Anstrengung gemacht werden; und unter der Stumpfheit wird die Arbeit zu etwas Ermüdendem. Hierin besteht der grundlegende, wesensmäßige Unterschied zwischen der Psychologie des Kindes und der des Erwachsenen. Es gibt also eine besondere innere Lebenskraft, welche die wunderbaren natürlichen Errungenschaften des Kindes erklärt. Stößt das Kind jedoch während einer Empfänglichkeitsperiode auf ein Hindernis für seine Arbeit, so erfolgt in der Seele des Kindes eine Art Zusammenbruch, eine Verbildung.
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Die Folge ist ein geistiges Martyrium, von dem wir noch so gut wie nichts verstehen, dessen Wundmale jedoch beinahe alle Menschen unwissentlich in sich tragen.
Die mit dem Wachstum verbundene innere Arbeit, d.h. das Erwerben der Charaktermerkmale, hat bisher nicht unsere volle Beachtung gefunden; aber eine lange Erfahrung hat uns gezeigt, wie schmerzhaft und heftig das Kind reagiert, sobald äußere Hindernisse sich seiner Lebensbetätigung in den Weg stellen. Da wir die Ursachen solcher Reaktionen nicht kennen, halten wir sie kurzerhand für unbegründet und begreifen den Widerstand nicht, den das Kind allen unseren Beruhigungsversuchen entgegensetzt. Das unbestimmte Wort "Launen" dient dazu, sehr verschiedenartige Erscheinungen zu bezeichnen: Für uns ist alles das "Laune", was keine erkennbare Ursache hat, was uns unlogisch erscheint und sich doch nicht bezähmen läßt. Auch haben wir feststellen müssen, daß manche dieser "Launen" die Tendenz aufweisen, sich mit der Zeit immer weiter zu verstärken, — ein klares Anzeichen für das Vorhandensein weiterwirkender 'Ursachen, für die wir offenbar die Heilmittel nicht gefunden haben.
Mit dem Wissen um die sensiblen Perioden werden uns viele dieser Launen plötzlich verständlich; nicht alle freilich, denn es gibt verschiedene Ursachen für die inneren Kämpfe, und nicht wenige Launen sind ihrerseits bereits Folgen von Abweichungen von der Norm, die durch irrige Behandlung nur immer schlimmer werden. Diejenigen Launen, deren Ursache in den durch die Empfänglichkeitsperioden bewirkten inneren Konflikten zu suchen sind, gehen ebenso rasch vorüber wie jene Empfänglichkeitsperioden selbst und hinterlassen im Charakter des Kindes keine nachhaltigen Spuren. Dagegen ziehen sie die weit schwerwiegendere Folge einer Unvollständigkeit in der Entwicklung nach sich, und das Versäumte läßt sich späterhin bei der endgültigen Festlegung des Charakters nicht mehr nachholen.
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Die Launen im Zusammenhang mit einer Empfänglichkeitsperiode stellen den Ausdruck unbefriedigter Bedürfnisse dar und bilden das Alarmzeichen für eine falsche, gefährliche Seelenlage. Sie verschwinden sofort, wenn es uns gelingt, sie zu verstehen und die hinter ihnen verborgenen Bedürfnisse zu befriedigen. Man beobachtet dann eine plötzlich einsetzende Ruhe, die nach den vorausgegangenen Aufregungszuständen geradezu einen krankhaften Eindruck machen kann. Hinter jeder Kundgebung des Kindes, die wir als Laune bezeichnen, muß also eine wirkende Ursache gesucht werden. Diese kann uns, einmal erkannt, dahin führen, tiefer in die geheimnisvollen Gründe der Kinderseele einzudringen und kann so zur Schaffung eines friedlichen Vertrauensverhältnisses zwischen uns und dem Kinde beitragen.
Einsicht in das Wirken der sensiblen Perioden
Wie durch eine Ritze vermögen wir während der Empfänglichkeitsperiode des Kindes in dessen werdendes Seelenleben hineinzublicken. Wir sehen dann sozusagen die inneren Organe dieser Seele am Werk, psychisches Wachstum hervorzubringen. Dabei zeigt es sich, daß die seelische Entwicklung nicht zufällig erfolgt und nicht von äußeren Eindrücken verursacht wird, sondern von dem Wechsel der Empfänglichkeiten, das heißt von vorübergehend auftretenden Instinkten, mit denen die Erwerbung verschiedener Fähigkeiten verbunden ist. Zwar dient die Umwelt hierbei als Material, aber sie hat für sich allein keine aufbauende Kraft. Sie liefert nur die erforderlichen Mittel, vergleichbar den lebenswichtigen Stoffen, die der Körper durch Verdauung und Atmung von außen her aufnimmt.
Die innere Empfänglichkeit bestimmt, was aus der Vielfalt der Umwelt jeweils aufgenommen werden soll, und welche Situationen für das augenblickliche Entwicklungsstadium die Vorteilhaftesten sind.
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Sie ist es, die bewirkt, daß das Kind auf gewisse Dinge achtet und auf andere nicht. Sobald eine solche Empfänglichkeit in der Seele des Kindes aufleuchtet, ist es, als ob ein Lichtstrahl von ihr ausginge, der nur bestimmte Gegenstände erhellt, andere hingegen im Dunkel läßt. Die ganze Wahrnehmungswelt des Kindes beschränkt sich dann mit einem Male auf diesen einen hell erleuchteten Bezirk. Nicht nur, daß das Kind jetzt das lebhafte Bedürfnis empfindet, sich in bestimmte Situationen zu versetzen und bestimmte Dinge um sich zu haben; es entwickelt auch eine besondere, ja einzigartige Fähigkeit, diese Elemente seinem seelischen Wachstum dienstbar zu machen. Während solcher Empfänglichkeitsperioden lernt es etwa, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden oder sein motorisches Muskelsystem bis in die feinsten Einzelheiten zu beherrschen.
Hier, in diesen Empfänglichkeitsbeziehungen zwischen Kind und Umwelt, liegt der Schlüssel zu der geheimnisvollen Tiefenschicht, in der sich das wunderbare Wachstum des geistigen Embryos vollzieht.
Wir können uns diese großartige Schöpfertätigkeit als eine Aufeinanderfolge von aus dem Unbewußten auftauchenden, starken Emotionen vorstellen, die bei ihrer Berührung mit der Umwelt zur Bildung des menschlichen Bewußtseins führen. Ihr Weg führt von der Unbestimmtheit über die Bestimmtheit zur Tätigkeit, wie wir dies am Beispiel der Erwerbung des Sprechvermögens gut beobachten können.
Zuerst bilden die Geräusche, die aus der Umwelt auf das Kind eindringen, ein wirres, unfaßbares Durcheinander. Dann aber wird das Kind mit einem Male gerade von jenen Lauten, die der ihm noch unverständlichen artikulierten Sprache angehören, bezaubert und angezogen; seine Seele, in der noch kein Gedanke ist, lauscht ihnen wie einer Art Musik und füllt sich damit an. Wie ein elektrischer Schlag geht es durch die kindlichen Muskeln — nicht durch alle, sondern nur durch jene, die bisher nichts anderes hervorgebracht haben als ungeformtes Geschrei.
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Diese Muskelgruppen erwachen nun plötzlich und beginnen, sich geregelt und diszipliniert zu bewegen, und mit der neuerworbenen Ordnung ihrer Tätigkeit verändern sich auch die von ihnen hervorgebrachten Laute. Dies wird für die Zukunft des geistigen Embryos von weittragender Bedeutung sein, doch das Kind lebt nur seiner Gegenwart und konzentriert sich ausschließlich auf diese. Noch weiß es nicht, zu welchen glorreichen Errungenschaften es weiterhin berufen sein wird.
Sein Ohr beginnt zu unterscheiden, seine Zunge bewegt sich nach neuen Impulsen. Diese Zunge, die bisher nur gesaugt hat, wird unwiderstehlich dazu genötigt, die Berührung der Kehle, der Lippen, der Wangen zu suchen. Noch scheint dies alles keinen Zweck zu haben, zu nichts nütze zu sein. Das Kind führt diese Bewegungen nur darum aus, weil es dabei ein unaussprechliches Wonnegefühl empfindet.
Dieses ihm eingeborene Wonnegefühl drückt es mit seinem ganzen Körper aus, wenn es mit angespannten Gliedmaßen, geschlossenen Fäusten und aufgerichtetem Kopf dasitzt und den Blick auf die sich bewegenden Lippen des redenden Erwachsenen heftet.
So scheint jede Empfänglichkeitsperiode einem göttlichen Anhauch zu entsprechen, der die tote Materie durch den Geist belebt.
Ein Drama spielt sich im Inneren des Kindes ab, und es ist ein Drama der Liebe; es stellt die einzige, große Wirklichkeit des kindlichen Seelenlebens dar und erfüllt dieses völlig. Diese großartige Aufbautätigkeit des Kindes jedoch, die ihre unaustilgbaren Spuren hinterläßt und das künftige Leben des Menschen vorherbestimmt, vollzieht sich in der Demut des Schweigens.
Ruhig und unbeachtet geht alles vor sich, so lange, bis die Gegebenheiten der Umwelt hinlänglich mit den inneren Bedürfnissen des Kindes übereinstimmen.
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Nehmen wir nochmals den Fall der Sprache, dieser schwierigsten unter den Errungenschaften des Kindes, die auch der wichtigsten Empfänglichkeitsperiode entspricht: Hier bleibt die ganze Vorbereitungsarbeit im Dunkel, denn das Kind ist ja immer von Menschen umgeben, die sprechen und die ihm damit die Elemente für den Aufbau seines Sprachvermögens liefern. Das einzige Anzeichen, an dem sich das Einsetzen der sensiblen Periode für die Sprache von außen her erkennen läßt, ist das Lächeln des Kindes, seine offenbare Freude, wenn ihm kurze Wörter klar und erkennbar vorgesprochen werden oder wenn ihm der Erwachsene beim Schlafengehen ein Schlummerlied mit immer denselben Worten vorsingt. In einem Zustand seligen Friedens verläßt das Kind dann die Welt seines Bewußtseins, um in die Ruhe des Traumes hinüberzugleiten. Wir wissen dies sehr wohl und bedenken das Kind deshalb mit kleinen Koseworten, um von ihm als Gegengabe sein lebensvolles Lächeln zu erhalten; und seit Menschengedenken suchen die Eltern deshalb des Abends das Bett des Kindes auf, das so gierig nach Wort und Musik verlangt wie der Sterbende nach tröstendem Zuspruch.
Dies sind sozusagen die positiven Anzeichen für das Eintreten einer Empfänglichkeitsperiode. Aber es gibt auch andere, weit augenfälligere Anzeichen negativer Art. Sie treten dann auf, wenn in der Umwelt sich dem inneren Funktionieren ein Hindernis entgegenstellt. Das Vorhandensein einer Empfänglichkeitsperiode kann dann heftige Ausbrüche und eine Verzweiflung bewirken, die wir für grundlos halten und daher Launen nennen. Launen sind der Ausdruck einer seelischen Störung, eines unbefriedigten Bedürfnisses, das einen Spannungszustand hervorruft; sie stellen einen Versuch der Seele dar, das ihr Zukommende zu fordern und sich gegen einen ihr unerträglichen Zustand zur Wehr zu setzen.
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Wir bemerken jetzt eine Zunahme nutzloser, unkoordinierter Tätigkeit, vergleichbar jenem hohen Fieber, das die Kinder unvermittelt befällt, ohne daß ihm eine entsprechende pathologische Ursache zugrunde liegt. Man weiß, daß kleine gesundheitliche Störungen, bei denen der Erwachsene nahezu normal bleiben würde, bei kleinen Kindern oft beängstigende Temperaturerhöhungen bewirken. Es handelt sich dabei um eine Art von phantastischem Fieber, das ebenso rasch verschwindet, wie es aufgetreten ist. In ähnlicher Weise lösen auch im kindlichen Seelenleben nicht selten geringfügige Ursachen heftige Aufregungszustände aus, und zwar dann, wenn die gesteigerte Empfänglichkeit des Kindes betroffen ist. Man hat diese Reaktionen immer beobachtet; ja, die kindlichen Launen, die fast unmittelbar nach der Geburt aufzutreten beginnen, sind sogar als Beweise für die eingeborene Verderbtheit des Menschengeschlechtes angesehen worden. Nun, wenn wir jede Funktionsstörung des Körpers als Krankheit ansprechen, so müssen auch die Störungen seelischer Funktionen als Krankheit bewertet werden, und in diesem Sinne sind die ersten Launen des Kindes nichts anderes als die ersten Krankheiten der Seele.
Man hat gerade die Launen stets beachtet, weil alles Krankhafte immer zuerst ins Auge fällt. Nie ist es der Ruhezustand, der Probleme aufwirft und zum Nachdenken herausfordert, sondern immer der Umsturz, die Unruhen. Was in der Natur am deutlichsten hervortritt, sind nicht ihre Gesetze, sondern ihre Irrtümer. Daher achtet denn auch niemand auf die fast unmerklichen äußeren Anzeichen, die das Schöpfungswerk des Lebens begleiten, und auf die Funktionen, die seiner Erhaltung dienen. Alles, was der Schöpfung und Erhaltung dient, bleibt zumeist im Verborgenen.
Es geht mit den Dingen des Lebens ähnlich wie mit den Gegenständen, die der Mensch erzeugt: Sie werden ins Schaufenster gelegt, wenn sie bereits fix und fertig sind; die Werkstätten aber, in denen sie entstehen, bleiben dem Publikum verschlossen, obwohl sie das Interessanteste wären.
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Was am lebendigen Körper am meisten Bewunderung verdient, ist ohne Zweifel das Funktionieren der verschiedenen inneren Organe; die jedoch bekommt niemand zu sehen, ja wir fühlen sie nicht einmal. Das Individuum selbst, das sie besitzt und durch sie lebt, merkt nicht ihre erstaunliche Organisation. Die Natur arbeitet und läßt dabei, gemäß der christlichen Vorschrift, "die Rechte nicht wissen, was die Linke tut". Wir nennen das harmonische Gleichgewicht zusammenwirkender Energien "Gesundheit" oder "Normalität". Gesundheit ist der Sieg des Ganzen über das Einzelne, des Zwecks über die Ursachen.
Wir achten auf jede Einzelheit der Krankheiten, während das wunderbare Wirken der Gesundheit oft unbeachtet und unerkannt bleibt. Die Geschichte der Medizin zeigt uns in der Tat, daß man bereits in den frühesten Zeiten Krankheiten gekannt hat. Der prähistorische Mensch weist Spuren chirurgischer Behandlung auf. und die Wurzeln der Heilkunde reichen in die ägyptische und griechische Kultur zurück. Hingegen ist die Entdeckung der Funktionsweise der inneren Organe ganz jungen Datums. Die des Blutkreislaufes fällt ins siebzehnte Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die erste anatomische Sektion eines Menschenkörpers zum Studium der inneren Organe wurde um das Jahr 1600 vorgenommen, und noch in der Folgezeit war es jedesmal die Pathologie, das heißt die Krankheit, die indirekt zur Entdeckung der Geheimnisse der Physiologie, das heißt der normalen Organfunktionen führte.
Es ist daher nicht zu verwundern, wenn auch am Kinde vorwiegend die seelischen Krankheiten hervorgehoben wurden, während das normale Funktionieren der kindlichen Seele in tiefstes Dunkel gehüllt bleibt. Das ist um so verständlicher angesichts der besonders zarten Natur dieser seelischen Funktionen, die sich im Schatten, im Geheimnis heranbilden und sich lange Zeit in keiner Weise kundgeben können.
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Die Behauptung ist etwas überraschend, aber keineswegs unsinnig: Der Erwachsene hat nur die Krankheiten der Kinderseele kennengelernt, nicht jedoch deren Gesundheit. Die Seele blieb verborgen wie die vielen unentdeckten Energien im Weltall.
Das gesunde Kind gleicht dem mythischen Menschen, von dem es heißt, Gott habe ihn nach seinem Ebenbild geschaffen. Diesen Menschen hat nie jemand gesehen, denn was wir kennen, ist nur seine von allem Anbeginn verderbte Nachkommenschaft.
Wenn dem Kind keine Hilfe zuteil wird, wenn es nicht in einer dafür vorbereiteten Umwelt empfangen wird, dann befindet sich sein seelisches Leben in steter Gefahr. Das Kind wird gleichsam ins Leben ausgesetzt und im Stich gelassen. Es ist verderblichen Zusammenstößen und Kämpfen um sein seelisches Dasein ausgesetzt, die sich zwar im Unterbewußten abspielen, nichtsdestoweniger aber real sind und für den endgültigen Aufbau des Individuums verhängnisvolle Folgen haben.
Der Erwachsene hilft dem Kinde nicht, weil er von dem Kraftaufwand nichts ahnt, den es zu vollbringen hat, und daher auch nichts von dem Wunder merkt, das sich hier verwirklicht. Es ist das Wunder der Schöpfung, vollbracht von einem Wesen, das scheinbar gar kein Seelenleben besitzt.
Was nottut, ist somit eine neue Behandlungsweise des Kindes, das bisher als ein vegetativen lediglich hygienischer Fürsorge bedürftiger kleiner Körper angesehen worden ist. Wir müssen lernen, den Kundgebungen des kindlichen Seelenlebens den Vorrang einzuräumen und damit dem Werdenden beizustehen, nicht bloß dem bereits Gewordenen. Der Erwachsene darf nicht länger blind bleiben angesichts der seelischen Realität, die sich im Neugeborenen verwirklicht. Er kann ihm freilich nicht dabei helfen, sich selbst aufzubauen, denn das besorgt die Natur allein; aber er muß die Kundgebungen dieser Aufbauarbeit respektieren und die dafür erforderlichen Mittel bereitstellen, jene Mittel, die sich das Kind aus eigener Kraft nicht verschaffen kann.
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Wenn dies so ist, wenn das kleine Kind mit seinen verborgenen Kräften noch ein Geheimnis für uns ist und wenn das kindliche Seelenleben sich auf einem Hintergrund von Funktionsstörungen, von Krankheiten abspielt, so muß sich mit Notwendigkeit eine große Zahl von seelisch verbildeten Individuen ergeben. Als es noch keine Kinderhygiene gab, war vor allem die hohe Zahl der Todesfälle bestürzend; aber dies war nicht die einzige Folge der damaligen Zustände, vielmehr gab es unter den Überlebenden eine Unmenge von Blinden, Rachitikern, Krüppeln, Gelähmten, von Mißgeburten und organisch geschwächten, für Tuberkulose, Lepra, die Skrofeln und andere Ansteckungskrankheiten prädisponierten Individuen.
Nicht viel anders ist das Bild, das sich uns in seelischer Hinsicht heute noch bietet. Wir haben keine seelische Kinderhygiene, wir verstehen es nicht, den Neugeborenen eine schützende und rettende Umwelt zu bereiten, ja wir wissen nichts von den verborgenen Funktionen des kindlichen Seelenlebens und seinen Bemühungen, zur geistigen Harmonie zu gelangen.
Die Folge hiervon sind vor allem tote Seelen, aber auch verkrüppelte, blinde, schwache, in der Entwicklung gehemmte Seelen in großer Zahl, und obendrein Hochmut, Machtgier, Geiz, Jähzorn, Wirrköpfigkeit, alles Charakterzüge, die sich dann entwickeln, wenn die seelischen Funktionen durcheinandergeraten sind. Dieses Bild ist nicht eine rednerische Floskel, ein Vergleich:
Es ist nicht mehr und nicht weniger als die fürchterliche Wirklichkeit eines seelischen Zustandes von heute, dargestellt mit den Ausdrücken eines physischen Zustandes von gestern. Kleine Ursachen, die dort wirksam sind, wo der Ursprung des Lebens liegt, können die weitreichendsten Wirkungen haben. Der Mensch wächst und reift dann in einer geistigen Umwelt heran, die nicht die ihm gemäße ist. Er hat, mit den Worten der Überlieferung, das Paradies seines Lebens verloren.
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Beobachtungen und Beispiele
Es ist nicht möglich, für den Nachweis des Seelenlebens im ganz kleinen Kind seine Zuflucht zu wissenschaftlichen Experimenten zu nehmen, wie die Experimentalpsychologie sie anzustellen pflegt. Ähnliches gilt von den Versuchen einiger moderner Psychologen, die mit Hilfe von Reizen die Aufmerksamkeit des Kindes wecken und eine gewisse motorische Reaktion erwarten, die eine psychische Antwort darstellen soll.
Nichts läßt sich überhaupt beweisen bis zu einem Alter (noch vor dem beendeten ersten Jahre), wo bereits ein Zusammenhang zwischen Geist und Bewegungsorganen besteht, die Beseelung oder Inkarnation also schon in der Entwicklung ist. In jedem Falle aber muß ein, sei es auch embryonales, Seelenleben früher da sein als jegliche Art willentlicher Bewegung.
Schon der erste Bewegungsimpuls des Kindes wird durch ein Gefühl veranlaßt. So hat Lewin mittels seiner psychologischen Lehrfilme gezeigt, wie schon ein ganz kleines Kind, das einen Gegenstand begehrt, diesem unter Anspannung aller seiner Körpermuskeln zustrebt. Erst viel später wird es imstande sein, dank seinem vorgeschrittenen motorischen Koordinierungsvermögen, die verschiedenen Muskelgruppen voneinander zu trennen und bloß die Hand nach dem begehrten Gegenstand auszustrecken.
Ein vier Monate altes Kind betrachtet bereits aufmerksam den Mund des sprechenden Erwachsenen, vollführt dabei unbestimmte Lippenbewegungen und hält den Kopf ganz steif und aufrecht, offensichtlich angezogen von diesem interessanten Phänomen. Erst mit sechs Monaten wird dieses Kind anfangen, selbst ein paar Silben zu artikulieren, aber schon ehe das laute Artikulieren beginnt, ist ein merkliches Interesse für Lautverbindungen bemerkbar, und die verborgene Arbeit der Belebung der eigenen Sprachorgane setzt ein, was wiederum beweist, wie dem Akt ein seelischer Ansporn vorausgeht.
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Dergleichen Sensibilitäten lassen sich wohl beobachten, nicht aber durch Experimente erforschen. Solche Experimente, wie sie von den Anhängern der Experimentalpsychologie versucht worden sind, stellen nämlich ihrerseits äußere Faktoren dar, die zur unrechten Zeit bestimmte kindliche Energien wecken und dadurch die gesunde seelische Entwicklung gefährden können.
Die Beobachtung des kindlichen Seelenlebens muß in ähnlicher Weise erfolgen, wie Fahre die Insekten beobachtete, der nämlich in ihre natürliche Umwelt ging und sich dort versteckte, damit nichts den normalen Lebensablauf der beobachteten Lebewesen störe. Man kann damit beginnen, sobald die Sinne des Kindes, gleich Greiforganen, bewußte Außenwelt-Eindrücke erfassen und ansammeln und das Kind sein Leben aus Materialien seiner Umwelt aufbaut.
Hierbei sind weder komplizierte Vorrichtungen noch besondere Fähigkeiten erforderlich, und es bedarf keiner scharfsinnigen Deutungsfähigkeit; es genügt die innere Bereitschaft, der Kinderseele zu Hilfe zu kommen, und unsere Logik reicht völlig dazu aus, uns in Verbündete des Kindes zu verwandeln.
Ein Beispiel möge zeigen, wie einfach diese Aufgabe ist, und wir wollen dabei von einer besonders augenfälligen Einzelheit ausgehen. Es gilt als ausgemacht, daß das Kleinkind stets liegen muß, weil es nicht imstande ist, sich auf den Beinen zu halten. Es soll seine ersten Sinneseindrücke aus der Umwelt beziehen, vom Himmel wie von der Erde, zugleich aber verwehrt man ihm den Anblick des Himmels. Was es zu sehen bekommt, ist bestenfalls die weiße und glatte Zimmerdecke oder der Baldachin über seinem Bettchen. Wie soll es da seinem hungrigen Geist Eindrücke zuführen?
Die Erkenntnis, daß das Kind etwas braucht, das es anschauen kann, hat dazu geführt, daß ihm gewisse Gegenstände gezeigt werden, die seine schädliche Isolierung von der Umwelt durchbrechen sollen.
So bindet man also einen an einem Faden hängenden Ball oder einen anderen hin- und herschwingenden Gegenstand an das Kinderbett, in der Absicht, den Säugling zu zerstreuen. Dieser, begierig. Bildeindrücke aus der Umwelt in sich aufzunehmen, folgt dem hin- und herschwingenden Gegenstand, und da er noch nicht imstande ist, den Kopf zu bewegen, muß er seinen Augen eine völlig unnatürliche Anstrengung zumuten. Diese schädliche Anstrengung ist eine Folge der unzweckmäßigen und künstlichen Lage, in der sich das Kind befindet.
Es würde genügen, das Kind ein wenig aufzurichten und ihm eine leicht geneigte, stützende Unterlage zu geben, und schon konnte sein Blick die ganze Umwelt erfassen. Besser noch wäre es, sein Bettchen befände sich in einem Garten, wo sein Auge die sanft sich wiegenden Bäume, Blumen und Vögel vor sich hätte.
Dabei ist es notwendig, daß sich längere Zeit hindurch stets dieselben Dinge im Blickfeld des Kindes befinden, denn erst dadurch lernt es, sie wiederzuerkennen, sie immer am gleichen Ort wiederzufinden und zwischen dem Ortswechsel verschobener Gegenstände und den Bewegungen lebendiger Wesen zu unterscheiden.
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