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8.  Der Ordnungssinn

 

 

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Eine der wichtigsten und geheimnisvollsten sensiblen Perioden ist jene, die das Kind überaus sensibel macht für Ordnung. Schon im ersten Lebensjahr gibt sich diese Empfänglichkeit kund, und sie dauert auch während des zweiten an. 

Es mag verwunderlich und verstiegen klingen, wenn wir behaupten, daß das Kind eine Empfänglichkeitsperiode für äußere Ordnung durchlebe; herrscht doch allgemein die Überzeugung, das Kind sei seiner Natur nach unordentlich. Nun ist es jedoch sehr schwierig, eine so zarte Fähigkeit richtig zu beurteilen, wenn das Kind in einer geschlossenen Umwelt von der Art einer Stadtwohnung lebt, in einer Umwelt also voll großer und kleiner Gegenstände, die der Erwachsene aus Gründen, die dem Kinde völlig unbegreiflich bleiben, dauernd verschiebt und verstellt. Gerade wenn sich im Kinde ein starker Ordnungssinn entwickelt, stößt dieser in einer solchen Umgebung auf eine Fülle von Hindernissen, und das ruft in der kindlichen Seele einen abnormen Zustand hervor. 

Geschieht es nicht sehr oft, daß das Kind ohne erkennbare Ursache zu weinen beginnt und sich gar nicht beruhigen läßt? Wie wenig weiß der Erwachsene von den tiefen Geheimnissen in der Seele des kleinen Wesens, das in seiner nächsten Nähe lebt! Es genügt aber der Hinweis, daß das Kind einer uns unbekannten inneren Nötigung nachleben mochte, und der Erwachsene wird darauf aufmerksam und kann die besondere Art der Gefühle gewahren, die das Kind bei solchem Anlaß an den Tag legt.

Kleine Kinder zeigen eine charakteristische Liebe für Ordnung. Im Alter von anderthalb bis zwei Jahren bringen sie bereits deutlich, wenn auch in verworrener Form, das Bedürfnis nach Ordnung in ihrer Umwelt zum Ausdruck.

Das Kind kann nicht in Unordnung leben, sie verursacht ihm Pein, und diese Pein wieder äußert sich in verzweifeltem Weinen, unter Umständen in einem dauernden Aufregungszustand, der den Anschein einer richtigen Krankheit erwecken kann. Das Kleinkind bemerkt sofort eine Ordnungswidrigkeit, die der Erwachsene und das größere Kind leicht übersehen können. Ganz offenkundig besitzt es eine Empfänglichkeit für Ordnung, die mit zunehmendem Alter wieder verschwindet, eine jener zeitweisen, für das in Entwicklung begriffene Wesen bezeichnenden Empfänglichkeiten, von denen wir genügend gesprochen haben; es handelt sich hierbei um eine der wichtigsten und geheimnisvollsten sensiblen Perioden.

Ist die Umwelt den Bedürfnissen des Kindes in dieser Phase nicht angepaßt und lebt das Kind inmitten von Erwachsenen, können die so ungemein interessanten Kundgebungen dieser Empfänglichkeit, statt eine friedliche Entwicklung zu nehmen, in Angst­zustände, rätselhaftes Verhalten und Launenhaftigkeit umschlagen?

Der Erwachsene, der bei einem Kind eine positive Kundgebung dieser Empfänglichkeit, also einen Ausdruck von Begeisterung und Freude im Zusammenhang mit einer Befriedigung des Ordnungsbedürfnisses feststellen will, muß ein offenes Auge für dergleichen kinderpsychologische Studien besitzen, dies um so mehr, als sich die Empfänglichkeitsperiode für Ordnung bereits in den ersten Monaten einstellt. Nur Pflegerinnen, die mit unseren Grundsätzen vertraut sind, werden von Beispielen dieser Art zu berichten wissen. So fiel es einer solchen Pflegerin auf, daß das fünf Monate alte Kind, das sie in einem Privatgarten langsam im Wägelchen spazierenfuhr, Interesse und Freude beim Anblick einer in die gelbe Mauer eingelassenen weißen Marmorplatte bekundete. Obgleich der Garten mit schönsten Blumen angefüllt war, geriet das Kind gerade beim Vorbeifahren an der Marmorplatte in freudige Erregung. Die Pflegerin hielt daher das Wägelchen jeden Tag vor diesem Gegenstand an, von dem niemand vermutet hätte, daß er einem fünf Monate alten Kind ein dauerndes Vergnügen bereiten könne.

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Handelte es sich in diesem Falle offenbar um die Freude, denselben Gegenstand immer an demselben Platz wiederzufinden, so läßt sich die Wirksamkeit dieser sensiblen Periode meist am deutlichsten an der Reaktion des Kindes auf Störungen einer gewohnten Ordnung erkennen. Das nachfolgende Beispiel hat sich tatsächlich ereignet: Es handelt sich um eine kleine Familienszene mit einem sechs Monate alten Kind als Hauptperson. Im Kinderzimmer erscheint eines Tages eine Dame zu Besuch und legt ihren Sonnenschirm auf einen Tisch. Das Kind gerät in Erregung, aber offenkundig nicht über die Dame, sondern über den Schirm, denn es starrt ihn zuerst eine Weile an und beginnt dann zu weinen. Die Dame deutet dies als Wunsch nach dem Schirm und reicht ihn der Kleinen eiligst unter Lächeln und den üblichen Koseworten. Doch die Kleine stößt den Schirm von sich und schreit weiter. Was tun? Hier zeichnet sich offenbar eine jener Launen ab, die sich bei kleinen Kindern fast von Geburt an einzustellen pflegen. Mit einem Male nimmt die Mutter, die etwas von den besprochenen Kundgebungen kindlicher Seelenzustände versteht, den Schirm vom Tisch und trägt ihn ins Nebenzimmer. Schlagartig beruhigt sich das Kind. Ursache für seinen Kummer war der Schirm auf dem Tisch gewesen, das heißt ein dort nicht hingehörender Gegenstand, der das Bild der übrigen Dinge in der Lage und Ordnung, wie das Kind sie gewohnt war, auf das empfindlichste gestört hatte.

In einem anderen Falle handelte es sich um ein bereits anderthalbjähriges Kind, und ich selber nahm an der Szene aktiven Anteil. Ich befand mich mit einer kleinen Gesellschaft in Neapel beim Durchschreiten der Grotte des Nero. Unter uns war eine junge Frau und führte an der Hand ein Kind, das eigentlich zu klein war, um diesen langen unterirdischen Weg zu Fuß zurückzulegen.

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Tatsächlich wurde das Kind nach einer Weile müde, worauf die Mutter es auf den Arm nahm. Doch sie selber hatte ihre Kräfte nicht richtig eingeschätzt. Ihr wurde heiß, und sie blieb stehen, um ihren Mantel auszuziehen und über den Arm zu legen. Als sie darauf das Kind wieder aufnehmen wollte, begann dieses zu weinen und immer heftiger zu schreien. Vergebens bemühte sich die Mutter, es zu beruhigen. Sie war erschöpft und wurde sichtlich nervös. Das Gebrüll des Kindes ging der ganzen Gesellschaft auf die Nerven, und man suchte der Mutter zu Hilfe zu kommen. Das Kind wanderte also von Arm zu Arm und wurde dabei nur immer aufgeregter. Jeder suchte ihm gut zuzureden oder schalt es aus, was die Situation nur noch weiter verschlimmerte. Es blieb nichts übrig, als daß die Mutter den Jungen wieder zu sich nahm. Jetzt aber war dessen sogenannte Laune schon so weit gediehen, daß die Lage hoffnungslos erschien.

An diesem Punkte griff der Führer ein und nahm mit seiner männlichen Energie das Kind in seine kräftigen Arme. Die Reaktion des Jungen war von außerordentlicher Heftigkeit. Ich überlegte, daß dergleichen Reaktionen stets eine psychologische Ursache haben, die mit einer Sensibilität des Kindes zusammenhängt, und beschloß, einen Versuch zu wagen. Ich trat also auf die Mutter zu und sagte: "Gestatten Sie, daß ich Ihnen helfe, Ihren Mantel wieder anzuziehen?" Sie sah mich verdutzt an, denn ihr war heiß, aber in ihrer Ratlosigkeit gehorchte sie mir Sofort beruhigte sich das Kind, hörte auf zu weinen und sagte mehrmals: "To palda", was wohl soviel heißen sollte wie "Auf Schulter", also: "Ja, die Mutter soll den Mantel über den Schultern tragen." Es war als dächte es: "Endlich habt ihr mich begriffen!" Die Hände nach der Mutter ausgestreckt, lächelte es ihr zu, und der Rest der Wanderung verlief völlig friedlich. Der Mantel war nach Ansicht des Kindes eben dazu da, über den Schultern und nicht wie ein nutzloser Fetzen auf dem Arm getragen zu werden. Diese Unordnung an der Person der Mutter hatte in der Seele des Kindes einen quälenden Konflikt hervorgerufen.

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Eine andere Familienszene, der ich ebenfalls beiwohnte, war nicht minder aufschlußreich. Die Mutter eines fast zweijährigen Mädchens war krank und ruhte in einem Lehnsessel, auf den das Dienstmädchen zwei Kissen gelegt hatte. Die Kleine kam heran und verlangte nach "einer Geschichte". Welche Mutter läßt sich zweimal bitten, wenn sie ihrem Kind ein Märchen erzählen soll? Also begann auch die Dame zu erzählen, obwohl sie sich unwohl fühlte, und die Kleine folgte mit größter Aufmerksamkeit. Doch die Schmerzen der Mutter verstärkten sich dermaßen, daß sie nicht fortfahren konnte und sich im Nebenzimmer zu Bett bringen lassen mußte. Das kleine Mädchen blieb bei dem Sessel zurück und begann zu weinen. Es schien klar, daß sie deswegen weinte, weil die Mutter krank war, und man bemühte sich, sie zu beruhigen. Als jedoch das Dienstmädchen kam und die beiden Kissen aus dem Lehnsessel nehmen und ins Schlafzimmer tragen wollte, begann die Kleine zu schreien "Nein, die Kissen nicht! ...", so als wollte sie sagen: "Laßt doch wenigstens etwas an seinem Platz!"

Unter Liebkosungen und Schmeichelworten wurde die Kleine hierauf an das Bett der Mutter geführt, die trotz ihrer Schmerzen das Märchen weiterzuerzählen begann, in der Annahme, die geweckte Neugier des Kindes verlange nach Befriedigung. Doch schluchzend und mit tränennassem Gesicht sagte die Kleine: "Mama, Lehnsessel!" Die Mutter sollte also weiterhin im Lehnsessel sitzen.

Das Märchen interessierte das Kind jetzt nicht mehr: Die Mutter und die Kissen hatten den Platz gewechselt, das in einem Zimmer begonnene Märchen war in einem anderen fortgesetzt worden, und die Folge war ein dramatischer, nicht so bald wieder gutzumachender Konflikt in der kindlichen Seele. 

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Diese Beispiele zeigen die Stärke des Ordnungsinstinktes. Was daran besonders überraschen muß, ist das frühzeitige Auftreten seiner Kundgebung, denn beim Zweijährigen wird das Ordnungsbedürfnis bereits zu einem Beweggrund für praktisches Handeln, womit seine störende Wirkung auf das Seelenleben abzuklingen beginnt. Man kann in unseren Kinderhäusern eine außerordentlich interessante Erscheinung beobachten: Befindet sich ein Gegenstand nicht an der ihm zukommenden Stelle, so bemerkt das zweijährige Kind dies sofort und bringt die Sache in Ordnung. Es bemerkt Unordnung selbst in kleinen Einzelheiten, an denen Erwachsene und auch ältere Kinder achtlos vorübergehen — wenn etwa ein Stückchen Seife auf dem Waschtisch liegt und nicht in der Seifenschüssel. 

Ein Stuhl steht ein wenig schief, und schon rückt ihn das zweijährige Kind zurecht. Auf einer Ausstellung in San Franzisko im Eröffnungsjahr des Panamakanals konnte jedermann Vorfälle dieser Art in dem Glaspavillon unserer Schule beobachten. Ein Zweijähriger beschäftigte sich nach Beendigung der täglichen Schularbeit aus eigenem Antrieb damit, alle Stühle längs der Wand genau ausgerichtet aufzustellen. Bei dieser Beschäftigung schien er über etwas nachzudenken. Während er eines Tages einen großen Sessel an Ort und Stelle rückte. hielt er plötzlich unentschlossen inne, kehrte nochmals um und stellte den Sessel schräg. Und so sollte dieser Sessel auch tatsächlich stehen.

Man möchte sagen, die Ordnung stellt für das Kind einen Anreiz, eine Aufforderung zum Handeln dar. Aber darüber hinaus ist sie fraglos eines von den Bedürfnissen des Lebens, deren Befriedigung wirklichen Genuß bereitet. Immer wieder können wir in unseren Schulen beobachten, wie die Kinder auch in der Altersstufe von drei und vier Jahren nach jeder Übung freiwillig und freudig die dabei benutzten Dinge wieder aufräumen. Ordnung bedeutet, die Lage der Gegenstände im Raum kennen, sich an die Stelle erinnern, wo jedes Ding sich befindet. Das wieder bedeutet, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden und sie in allen ihren Einzelheiten zu besitzen.

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Besitz der Seele ist nur diejenige Umwelt, die man kennt, in der man sich mit geschlossenen Augen bewegen und jeden gesuchten Gegenstand wiederfinden kann. Nur wenn es seine Umwelt auf diese Weise besitzt, ist das Kind ruhig und glücklich. Offenbar also ist die Ordnungsliebe, wie Kinder sie verstehen und empfinden, etwas, das weit über den kalten und trockenen Begriff hinausgeht, den wir Erwachsenen uns davon machen.

Für den Erwachsenen handelt es sich hierbei um eine äußerliche Annehmlichkeit, die uns im übrigen mehr oder minder gleichgültig läßt. Das Kind aber formt sich mit Hilfe seiner Umwelt, und solch ein innerer Aufbau kann nicht nach unbestimmten Formeln vor sich gehen, erfordert vielmehr eine genaue und bestimmte Führung.

Für das Kind ist die Ordnung das, was für uns der Boden ist, auf dem wir stehen, was für den Fisch das Wasser ist, in dem er schwimmt. Im frühen Kindesalter entnimmt der Menschengeist seiner Umwelt die Orientierungselemente, deren er für seine späteren Eroberungen bedürfen wird.

Daß alles dies sich in einer vitalen Freude widerspiegelt, ist aus verschiedenen Spielen sehr kleiner Kinder zu ersehen, deren Unlogik uns in Erstaunen versetzt und die ausschließlich auf dem Vergnügen beruhen, Gegenstände an dem ihnen zukommenden Platz vorzufinden. Ehe ich jedoch solche Spiele anführe, möchte ich von einem Erlebnis des Professors Piaget in Genf mit seinem Kind erzählen. Der Vater versteckte einen Gegenstand zuerst unter dem Kissen eines Sessels und dann, in Abwesenheit des Kindes, unter dem Kissen eines zweiten, gegenüber befindlichen Sessels. Das Kind sollte den Gegenstand dort suchen, wo es ihn zuletzt gesehen hatte, und dann, da er sich nicht mehr dort befand, anderswo; und um ihm die Aufgabe zu erleichtern, hatte der Professor den Gegenstand wieder unter einem Sesselkissen verborgen. Das Kind jedoch beschränkte sich darauf, das Kissen des ersten Sessels abzuheben.

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Ohne weiter zu suchen, sagte es einfach: »Es ist nicht da!" Darauf wiederholte der Professor das Experiment, indem er vor den Augen des Kindes den Gegenstand von dem einen Sessel zum anderen trug. Aber auch diesmal wiederholte das Kind sein Betragen und die Worte: "Es ist nicht da!" Ärgerlich über soviel Unverstand, hob der Professor etwas ungeduldig das Kissen von dem zweiten Sessel und sagte: "Hast du denn nicht gesehen, daß ich's hierher gelegt habe?" — "Ja," entgegnete das Kind, "aber es soll da sein!" Und es deutete dabei auf den ersten Sessel.

Es kam dem Kind gar nicht darauf an, den Gegenstand zu finden, sondern darauf, daß dieser Gegenstand wieder an seine richtige Stelle gelangte. Zweifellos war es der Meinung, sein Vater habe das Spiel nicht begriffen. Bestand denn dieses Spiel nicht eben darin, ein Ding dort zu finden, wo es hingehörte? Wenn also der Gegenstand nicht wieder unter das Kissen des ersten Sessels zurückkehrte, was für einen Sinn sollte dann das ganze Spiel haben?

Ich selbst war sehr verwundert, als ich anfing, das sogenannte Versteckenspielen zwei- bis dreijähriger Kinder zu beobachten. Die Kinder schienen bei solchen Gelegenheiten erregt, glücklich und' höchst erwartungsvoll, ihr Versteckenspiel aber bestand in folgendem: In Gegenwart der anderen hockte sich ein Kind unter ein Tischchen, das von einem bis zum Boden herabhängenden Tuch bedeckt war. Dann liefen alle übrigen aus dem Zimmer, kehrten alsbald wieder, hoben das Tuch auf und "fanden" unter Jubelgeschrei den darunter "versteckten" Spielkameraden. Das wiederholte sich viele Male. Der Reihe nach sagte jedes der Kinder: "Jetzt verstecke ich mich" und setzte sich unter das Tischchen. Ein andermal sah ich, wie größere Kinder zusammen mit einem kleinen Verstecken spielten. Das kleine Kind versteckte sich hinter einem Möbelstück, und die Größeren taten so, als sähen sie es nicht, in der Annahme, ihm damit eine Freude zu machen.

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Doch das Kleine schrie alsbald: "Da bin ich!" mit einem Ausdruck, als wollte es sagen: "Habt ihr denn nicht gesehen, wo ich bin?"

Eines Tages nahm ich selber an einem dieser Spiele teil. Ich traf auf eine Gruppe von Kleinen, die freudig schrien und in die Hände klatschten, weil sie einen ihrer Spielkameraden hinter der Tür versteckt gefunden hatten. Sie kamen auf mich zu und forderten mich auf: "Spiel mit uns, versteck dich!" Ich sagte zu, und alle liefen getreulich aus dem Zimmer, damit ich mich verstecken könne. Statt mich jedoch hinter die Tür zu stellen, verbarg ich mich in einem Winkel hinter einem Schrank. Als die Kleinen das Zimmer wieder betraten, suchten sie mich alle zusammen hinter der Tür. Ich wartete eine Weile, doch als ich dann bemerkte, daß sie gar nicht weiter suchten, kam ich aus meinem Versteck hervor. Die Kinder waren enttäuscht und traurig. "Warum hast du nicht mit uns gespielt?" fragten sie. "Warum hast du dich nicht versteckt?"

Wenn es wahr ist, daß das Spiel dazu dient, Freude zu wecken (und die Kinder waren bei ihrem absurden Spiel sehr vergnügt), dann besteht die Freude bei Kindern eines bestimmten Alters einfach darin, alles dort zu finden, wo es hingehört. Sie deuten den Sinn des Versteckenspiels also dahin, daß es gelte, etwas aufzufinden, das man zwar nicht sieht, von dem man aber genau weiß, wo es sich befindet. Sie sagen sich offenbar: "Obwohl es unsichtbar ist, weiß ich doch, wo ich es finden kann, sogar mit geschlossenen Augen; denn ich bin ganz sicher, wo es versteckt ist."

Alles das zeigt, daß die Natur dem Kinde die Sensibilität für Ordnung einpflanzt, um einen inneren Sinn aufzubauen, der nicht so sehr Unterscheidung zwischen den Dingen ist, als vielmehr das Erkennen der Beziehungen zwischen den Dingen. Dieser Sinn macht die ganze Umwelt des Kindes zu einem Ganzen, dessen Teile in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen.

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In einer solchen, in ihren Zusammenhängen bekannten Umwelt vermag das Kind sich zu orientieren, sich zu bewegen und seine Zwecke zu erreichen. Ohne diese Fähigkeit, Beziehungen herzustellen, würde ihm jede Grundlage fehlen, und es befände sich gleichsam in der Lage eines Menschen, der zwar Möbel besitzt, aber keine Wohnung, um sie darin aufzustellen. Wozu diente dem Kind eine Menge angehäufter Bildeindrücke ohne jene Ordnung, wodurch diese erst zu einem sinnvollen Ganzen werden?

Würde der Mensch nur die ihn umgebenden Dinge kennen, nicht aber die Beziehungen zwischen ihnen, so fände er sich in einem ausweglosen Chaos. Das Kind leistet somit jene Vorbereitungsarbeit, auf Grund deren der Erwachsene dann imstande sein wird, sich im Leben zurechtzufinden und seinen Weg zu suchen. Während der sensiblen Perioden für Ordnung erteilt die Natur dem Menschen gleichsam eine erste Lektion; und sie verfährt dabei ähnlich wie der Lehrer, der den Schüler dazu anhält, einen Plan des Schulzimmers zu zeichnen, und ihn damit auf das Studium jener Landkarten vorbereitet, die die ganze Erdoberfläche darstellen. 

Man könnte auch sagen, die Natur händige dem Kind in dieser Periode einen Kompaß ein, mit dessen Hilfe es sich in der Welt zurechtfinden kann. Es ist dies kaum weniger wichtig als jenes andere Geschenk — die Fähigkeit des kleinen Kindes, die Laute genau nachzuahmen, aus denen sich die Sprache zusammensetzt, jene Sprache mit ihren unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten, die der Erwachsene im Laufe der Jahrhunderte immer weiter ausbaut. Die Intelligenz des Menschen taucht nicht plötzlich aus dem Nichts empor; sie baut auf Grundlagen auf, die das Kind während seiner sensiblen Perioden gelegt hat.

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  Die innere Ordnung  

 

Die Sensibilität für Ordnung tritt im Kinde gleichzeitig unter zwei Gesichtspunkten in Erscheinung: als Sinn für äußere Ordnung, welche die Beziehungen zwischen den Bestandteilen der Umwelt betrifft, und als Sinn für die innere Ordnung, die man auch den inneren Orientierungssinn nennen könnte. Er besteht im Innewerden und in der Lokalisierung der körperlichen Funktionen, die bei dem Entstehen der Körper­bewegungen zusammen­wirken.

Der innere Orientierungssinn ist von der Experimentalpsychologie studiert worden, und man hat dabei das Bestehen eines "Muskel­sinnes" festgestellt, der es uns gestattet, uns stets über die Lage unserer verschiedenen Gliedmaßen Rechenschaft abzulegen. Mit ihm geht eine besondere Art des Gedächtnisses Hand in Hand, das sogenannte Muskelgedächtnis.

Man ist auf diesem Weg zu einer völlig mechanischen Theorie gelangt, die sich auf Versuche mit bewußt ausgeführten Bewegungen gründet. Hat das Individuum etwa einen Arm bewegt, um einen Gegenstand zu ergreifen, so wird diese Bewegung vom Muskelsinn aufgenommen, geht in das Muskelgedächtnis über und kann jederzeit reproduziert werden. Der Mensch erarbeitet sich auf diese Weise schließlich jene vollständige innere Orientierung, die es ihm ermöglicht, nach Belieben den rechten oder den linken Arm zu bewegen, sich dahin oder dorthin zu wenden -»- alles auf Grund von Erfahrungen, die er mit der Zeit bei vemunft- und willensgemäß vorgenommenen Einzelbewegungen angesammelt hat.

Mit dieser Erklärung steht jedoch die Tatsache im Widerspruch, daß sich beim Kinde das Vorhandensein einer sehr entwickelten sensiblen Periode für die Lagen seines Körpers nachweisen läßt, noch ehe das Kind sich frei bewegen und somit Erfahrungen sammeln kann. Das heißt, die Natur bereitet eine besondere Sensibilität für die Haltungen und Stellungen des Körpers vor.

Die alten Theorien betrafen rein mechanische Zusammenhänge im Nervensystem; hingegen handelt es sich bei den sensiblen Perioden um seelische Vorgänge, das heißt um geistige Erleuchtungen und Schwingungen, die das Bewußtsein vorbereiten.

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Es sind die Energien, die vom Nicht-Existierenden ausgehen, um die grundlegenden Elemente zur Existenz zu bringen, mit deren Hilfe sich der zukünftige seelische Aufbau vollziehen wird. Den Anfang bildet somit ein Geschenk der Natur, und die bewußten Erfahrungen können diesen Anfang nur weiter entwickeln. Den negativen Beweis, nicht nur für das Vorhandensein, sondern auch für die Heftigkeit dieser sensiblen Perioden liefern jene Fälle, in denen sich in der Umwelt des Kindes Hindernisse der ruhigen Entfaltung seiner schöpferischen Eroberungen in den Weg stellen. Dann tritt eine oft sehr heftige Erregung auf, die nicht nur alle Kennzeichen der wohlbekannten unverbesserlichen "Laune" aufweist, sondern den Anschein einer Krankheit erwecken kann. Diese Krankheit widersetzt sich jeder Kur, solange die sie verursachenden Umstände andauern.

Kaum ist hingegen das Hindernis beseitigt, so verschwinden sofort "Laune" wie Krankheit, womit deren wirklicher Grund überzeugend klargestellt erscheint.

Interessant durch seine besondere Klarheit ist der Fall, den eine englische Kinderpflegerin berichtete, die für einige Zeit die Familie des ihr anvertrauten Jungen verlassen mußte und sich durch eine andere, ebenso fähige Pflegerin vertreten ließ. Diese stieß auf keinerlei Schwierigkeiten, bis es sich darum handelte, das Kind zu baden. Da nämlich geriet es in Aufregung und Verzweiflung. Es schrie nicht nur; es wehrte sich mit Händen und Füßen und suchte der Pflegerin zu entweichen, die sich vergebens bemühte, das Bad in jeder Beziehung einwandfrei zu bereiten. Schließlich begann der Kleine die Aushilfspflegerin zu hassen; er wurde erst wieder sanft und freundlich, als die erste Pflegerin zurückkehrte. Von dieser ließ er sich sogleich anstandslos baden und legte dabei sogar Freude an den Tag. Die Pflegerin gehörte unserer Schule an und bemühte sich, den seelischen Umstand ausfindig zu machen, der dem seltsamen Verhalten des Kindes zugrunde liegen mochte. Mit großer Geduld suchte sie aus den dürftigen Erklärungen klug zu werden, die das kleine Kind von sich gab.

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Auf diese Weise vermochte sie zwei Dinge herauszubekommen: Der Kleine sah die Aushilfspflegerin als "böse" an, und zwar warum? Weil sie ihn "verkehrt" gebadet habe. Als die beiden Pflegerinnen sich besprachen, mußten sie feststellen, daß die eine das Kind beim Baden mit der rechten Hand am Kopf und mit der linken an den Füßen gehalten hatte, während die zweite gewohnt war, es umgekehrt zu machen.

In einem anderen Fall, von dem ich erzählen will, kam es zu ernsteren Erregungszuständen, die krankhafte Formen annahmen und deren Ursache nicht so leicht herauszufinden war. Ich hatte mit der Sache zwar nicht als Ärztin zu tun, konnte jedoch zur Lösung des Konflikts beitragen. Das Kind, um das es sich dabei handelte, war noch nicht anderthalb Jahre alt. Seine Familie war von einer sehr weiten Reise zurückgekehrt, deren Strapazen nach der allgemeinen Ansicht für das kleine Kind zu groß gewesen waren. Die Eltern berichteten jedoch, daß es während der Reise keine Zwischenfälle gegeben habe. Die Familie hatte Nacht für Nacht in erstklassigen Hotels mit vorausbestellten Zimmern gewohnte und überall war ein richtiges Bettchen und Nahrung für das Kind vorbereitet gewesen. Jetzt befand sich die Familie in einer bequemen möblierten Wohnung. Es gab hier kein Kinderbett, das Kind schlief zusammen mit der Mutter in einem großen Bett. Die Krankheit des Kleinen hatte mit nächtlichen Aufregungszuständen und Verdauungsstörungen begonnen. Man mußte ihn des Nachts herumtragen, und sein Weinen wurde Leibschmerzen zugeschrieben. Einige Kinderärzte waren hinzugezogen worden, von denen einer eine mit größter Sorgfalt zubereitete Vitamin-Kost verschrieben hatte. Doch weder dies noch Sonnenbäder, Spazierfahrten und die modernsten Behandlungsmethoden hatten den mindesten Erfolg gezeitigt. Der Zustand des Kindes verschlechterte sich weiter, und jede Nacht wurde für die Familie zu einer aufreibenden Wache.

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Schließlich traten noch Konvulsionen hinzu, und das Kind wand sich im Bett in besorgniserregenden Krämpfen. Solche Anfälle stellten sich manchmal zwei- bis dreimal täglich ein. Es wurde daher beschlossen, den berühmtesten Facharzt für nervöse Kinderkrankheiten zu konsultieren. An diesem Punkte griff ich ein. Das Kind machte einen gesunden Eindruck, und nach der Erzählung der Eltern war es während der ganzen Reise gesund und ruhig gewesen. Es konnte sich also bei den Symptomen sehr wohl um eine seelische Ursache handeln. Als ich zu dieser Überzeugung gelangte, lag das Kind auf dem Bett und hatte eben wieder einen seiner Erregungszustände. Ich nahm zwei Lehnsessel und stellte sie so gegeneinander, daß sie zusammen eine Art von gepolstertem Bettchen bildeten. Darauf stattete ich dieses Bettchen mit Wäsche und Decken aus und stellte das Ganze wortlos neben das große Bett. Das Kind schaute, hörte auf zu schreien, rollte sich bis an den Bettrand, ließ sich in die improvisierte Wiege fallen und schlief augenblicklich ein. Die Krankheitssymptome kehrten nicht wieder.

Offenbar war das Kind daran gewohnt, in einem kleinen Bett zu schlafen, das seinen Körper von allen Seiten umschloß und an dem seine Glieder eine Stütze fanden. Das große Bett bot ihm keine solche Stütze, und die hieraus sich ergebende Verwirrung seiner inneren Orientierung war die Ursache eines leidvollen Konfliktes, gegen den so viele Ärzte vergeblich ein Mittel gesucht hatten. Man ersieht daraus, wie mächtig die sensiblen Perioden sind. In ihnen schießt die schöpferische Natur ihre Pfeile nach ganz bestimmten Zielen ab.

Das Kind empfindet die Ordnung nicht so, wie wir sie empfinden. Wir sind bereits reich an Eindrücken und daher abgestumpft; das Kind aber kommt aus dem Nichts und ist noch arm. Alles, was es schafft, schafft es aus dem Nichts; ganz allein nimmt es die Mühsal dieser Schöpfung auf sich und macht uns zu seinen Erben.

Wir gleichen den Kindern eines Mannes, der im Schweiße seines Angesichts Reichtümer erworben hat und von dessen Mühen und Kämpfen wir nichts mehr wissen und verstehen. Wir sind kalt und undankbar und gefallen uns in einer Haltung der Überlegenheit, weil wir mit allem bereits wohl versorgt sind. Wir brauchen ja nichts weiter zu tun, als den Verstand zu gebrauchen, den das Kind uns vorbereitet hat, den Willen zu gebrauchen, den es uns aufgebaut hat, die Muskeln, die es mit Leben erfüllt hat, auf daß wir sie gebrauchen können; und wir finden uns in der Welt zurecht, weil das Kind uns die hierfür erforderliche Fähigkeit auf den Weg mitgegeben hat. 

Wir sind uns unserer selbst bewußt, weil das Kind diese Sensibilität vorbereitete. Wir sind darum reich, weil wir die Erben des Kindes sind, das alle Grundlagen unseres Daseins aus dem Nichts hervorgebracht hat. Das Kind vollzieht den ungeheuren ersten Schritt — den Schritt vom Nichts zum Anfang. So nahe ist es den Urquellen des Lebens, daß es handelt, um zu handeln, und so geschieht, was es nach dem Schöpfungsplan vollbringen soll, ohne Aufhebens davon zu machen, ja ohne daß auch nur eine Erinnerung daran im Gehirn des Erwachsenen verbliebe.

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9  Die Intelligenz

 

 

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Die Beobachtung des Kindes lehrt uns, daß es sich seine Intelligenz nicht langsam und von außen her aufbaut, wie dies eine mechanistische Psychologie annimmt, die noch immer in der reinen Wissenschaft wie auch in der Erziehung und demgemäß in der Behandlung der Kinder die vorherrschende Rolle spielt. Nach dieser mechanistischen Lehre pochen die Bilder der Außenwelt gleichsam an die Tore der Sinne, rennen diese gewissermaßen ein, dringen hierauf in das Innere der Psyche, setzen sich dort fest, verknüpfen sich miteinander und führen so allmählich zur Organisation und zum Aufbau der Intelligenz.

Dieser Sachverhalt läßt sich mehr oder weniger in den uralten Satz zusammenfassen: "Nihil est in intellectu quod prius non fuerit in sensu." Nach dieser Auffassung ist die Seele des Kindes passiv, den von außen kommenden Einflüssen preisgegeben und daher völlig von der Leitung durch die Erwachsenen abhängig. Hierzu kommt noch die andere, weitverbreitete Ansicht, die Seele des Kindes sei nicht nur passiv, sondern, nach der Ausdrucksweise der alten Erzieher, ein leeres Gefäß, also ein Gegenstand, der erst mit einem Inhalt erfüllt werden muß. 

Unsere eigenen Erfahrungen sind gewiß nicht danach angetan, die Wichtigkeit der Umwelt für den Aufbau des Geistes gering zuachten. Man weiß ja, daß gerade unsere Erziehungsmethode die Umwelteinflüsse zum Angelpunkt des ganzen pädagogischen Aufbaus macht, und es ist auch bekannt, daß wir die Sinneseindrücke in einer so grundlegenden und systematischen Weise berücksichtigt haben, wie dies in keinem anderen Erziehungssystem der Fall ist. Der Unterschied zwischen den veralteten Vorstellungen von der Passivität des Kindes und dem wahren Sachverhalt liegt jedoch in der inneren Empfänglichkeit des Kindes.

Eine sehr lange, fast bis zum fünften Lebensjahr reichende sensible Periode verleiht dem Kind eine wahrhaft wunderbare Fähigkeit, sich Bilder aus der Umwelt anzueignen. Das Kind ist ein aktiver Beobachter und nimmt mittels seiner Sinne Eindrücke von außen in sich auf. Das aber ist etwas wesentlich anderes als die Behauptung, es empfange diese Eindrücke teilnahmslos wie ein Spiegel. Wer beobachtet, tut dies aus einem inneren Antrieb, aus einem Gefühl, auf Grund einer besonderen Vorliebe, und er wählt somit unter zahllosen Eindrücken ganz bestimmte aus. Von James stammt der Satz, wonach niemand jemals ein Ding in allen seinen Einzelheiten sehe. Jedes Individuum sieht immer nur einen Teil davon, je nach seinen eigenen Gefühlen und Interessen. Daher kommt es, daß verschiedene Personen, die eine und dieselbe Sache gesehen haben, sie auf völlig verschiedene Weise beschreiben. James hat hierfür einige überzeugende Beispiele gegeben, etwa indem er schrieb: "Wenn Sie einen neuen Anzug tragen, der Ihnen sehr gefällt, werden Sie auf der Straße ganz besonders auf die Kleidung der eleganten Leute achten, und Sie laufen dabei Gefahr, unter einem Auto zu enden."

Nun könnte man fragen: Was veranlaßt das kleine Kind, unter den ungezählten und gemischten Eindrücken, auf die es in seiner Umwelt trifft, gerade diese oder jene Auswahl zu treffen? Der Anstoß zu dieser Wahl kann nicht, wie dies in den Beispielen von James der Fall ist, von außen her kommen, denn noch fehlen ihm alle Erfahrungen. Der Ausgangspunkt des Kindes ist das Nichts; es ist ein aktives Wesen, das ganz allein vorwärtsschreitet. Die Mitte, um die seine sensitive Periode ihre innere Wirkung entfaltet, ist die Vernunft. Das vernünftige Denken keimt und entfaltet sich in ihm als eine natürliche schöpferische Funktion, es wächst und nährt sich von den Sinneseindrücken, die es der Umwelt entnimmt.

Hier ist die unwiderstehliche Kraft, die ursprüngliche Energie des Kindes. Bilder ordnen sich sogleich im Dienst der Vernunft, und im Dienst des vernünftigen Denkens nimmt das Kind von allem Anfang gierig, ja geradezu unersättlich Bilder in sich auf.

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Man hat immer beachtet, wie stark Kinder von Licht, Farben und Tönen angezogen werden und welchen sichtlichen Genuß sie daran finden. Wir aber wollen hierbei auf den inneren Vorgang achten, das heißt auf die Rolle der Vernunft als erster Ursache, einer Vernunft freilich, die sich erst im Zustande des Keimens befindet. Es braucht nicht gesagt zu werden, welche Bewunderung dies in uns wecken muß: Indem das Kind den Schritt vom Nichts zum Anfang tut, verwirklicht es bereits jene erhabene Gabe, auf der die Überlegenheit des Menschengeschlechts über die Natur beruht — die Vernunft. Und auf diesem Wege beginnt es voranzuschreiten, noch lange bevor seine kleinen Beine die ersten Schritte tun und den Körper vorwärtsbewegen.

Besser als jede Darlegung mag ein Beispiel begreiflich machen, was wir meinen, und ich möchte zu diesem Zweck einen besonders eindrucksvollen Fall zitieren. Es handelte sich um einen Jungen von vier Wochen, der noch nie das Haus verlassen hatte. Die Pflegerin hielt ihn im Arm, als der Vater zusammen mit einem im Hause lebenden Onkel vor ihn hintrat. Die beiden Männer waren ungefähr von gleichem Wuchs und gleichem Alter. Der Kleine vollführte eine Bewegung heftigen Erstaunens, beinahe des Schreckens. Die beiden Herren, die etwas von unserer Kinderpsychologie wußten, bemühten sich hierauf, dem Kleinen zu Hilfe zu kommen und ihn zu beruhigen. Sie blieben in seinem Gesichtsfeld, traten jedoch auseinander, der eine nach rechts, der andere nach links. Sichtlich beruhigt, wandte sich das Kind einem von beiden zu, starrte ihn an und begann hierauf zu lächeln. Plötzlich aber zeigte es von neuem den früheren beängstigten Gesichtsausdruck, und mit einem Ruck des Kopfes sah es zu dem anderen Herrn hinüber. Es fixierte ihn längere Zeit, um schließlich auch ihm zuzulächeln.

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Etwa zehnmal wiederholte sich der Wechsel von Beängstigung und Lächeln, stets begleitet von Kopfbewegungen nach links und rechts, bis das Kind begriffen hatte, daß es sich hier um zwei Männer handelte. Es waren die einzigen Männer, die es bisher überhaupt gesehen hatte, und jeder von ihnen hatte es bereits des öfteren auf den Arm genommen und mit Liebkosungen und zärtlichen Worten bedacht. So hatte der Kleine begriffen, daß es ein von der Mutter, der Pflegerin und den anderen ihm bekannten Frauen verschiedenes Wesen gab; doch da er die beiden Männer noch nie gleichzeitig vor sich gehabt hatte, hatte er gemeint, es gebe nur einen einzigen Mann. Daher sein Schreck, als er sehen mußte, daß dieses Wesen, das er mit soviel Mühe aus dem Chaos herausgelöst und in seine Welt eingeordnet hatte, plötzlich in verdoppelter Gestalt auftrat.

Das Kind hatte zum ersten Mal entdeckt, daß es einen Irrtum begangen hatte. Im Alter von vier Wochen hatte sich vor seinem um die Menschwerdung kämpfenden Geist die Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft gezeigt.

Hätten die Erwachsenen in jenem Hause nicht gewisse Kenntnisse davon besessen, daß auch ein vier Wochen altes Kind ein Seelenleben hat, so wäre diesem Kleinen nicht die ungeheure Hilfe zuteil geworden, die Vater und Onkel ihm durch ihr Verhalten leisteten und die es dabei unterstützte, einen wichtigen Schritt zu der so notwendigen Bewußtheit zu tun.

Als Gegenbeispiel könnte folgender kleiner Vorfall dienen, bei dem es sich um ein etwas älteres Kind handelte, nämlich um ein Mädchen von sieben Monaten, das auf dem Fußboden saß und mit einem Kissen spielte. Der Stoff des Kissens war mit Blumen und Kindern bedruckt, und die Kleine küßte mit sichtlicher Begeisterung die Kinder und roch an den Blumen. Eine unwissende Dienstperson, der die Kleine anvertraut war, schloß aus diesem Verhalten, daß es dem Kinde Freude mache, an allen möglichen Dingen zu riechen und sie zu küssen. Sie beeilte sich also, die verschiedensten Gegenstände herbeizuschleppen und dabei auf das Kind einzureden: "Küsse das, rieche daran!"

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Die Folge war, daß dieser Kindergeist, der damit beschäftigt war, sich zu organisieren, indem er Bilder erkannte und durch Bewegung seinem Gedächtnis aneignete, der heiter und ruhig eine innere Arbeit vollzog, in Verwirrung geriet. Sein geheimnisvolles Bemühen um eine innere Ordnung wurde von einer verständnislosen Erwachsenenseele zunichte gemacht, wie Meereswellen die Sandburgen und Zeichnungen auf dem Strand fortspülen.

Die Erwachsenen können die innere Arbeit schon dadurch behindern und geradezu unmöglich machen, daß sie die Kinder aus ihren Gedankengängen reißen und sie in verständnisloser Weise zu "zerstreuen" suchen. Da wird ein Händchen des Kindes ergriffen und geküßt, oder man verlangt, das Kind solle schlafen, ohne auf die innere Arbeit Rücksicht zu nehmen, die sich vielleicht in diesem Augenblick in der kleinen Seele vollzieht.

Es ist unbedingt erforderlich, daß das Kind die Bilder, deren es habhaft geworden ist, in voller Klarheit bewahren kann, denn nur in solcher Klarheit vermag es Eindruck von Eindruck zu unterscheiden und seine Intelligenz auszuformen.

Ein Kinderarzt, der Fachmann für Kinderernährung im ersten Lebensjahr war, machte einmal eine sehr interessante Erfahrung. Er hatte eine berühmte und bedeutende Klinik gegründet, und seine Studien hatten ihn zu der Erkenntnis geführt, daß außer der Ernährung im allgemeinen auch gewisse individuelle Faktoren berücksichtigt werden müssen. 

So kann man beispielsweise keines der vielen im Handel befindlichen Milchpräparate schlechthin als "ausgezeichnete" Kindernahrung empfehlen, wenigstens unterhalb einer gewissen Altersgrenze, denn jede Nahrung kann für das eine Kind geeignet, für ein anderes aber ungeeignet sein. Die Klinik dieses Facharztes war vom medizinischen wie vom ästhetischen Gesichtspunkt vorbildlich, doch der Erfolg seiner Methoden befriedigte nur, soweit es sich um Säuglinge bis zum Alter von einem halben Jahre handelte.

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Danach hingegen gediehen die Kinder trotz aller Diätfürsorge nicht mehr recht, was um so rätselhafter war, als es im allgemeinen viel leichter ist, ein Kind nach den ersten sechs Monaten zu ernähren als vorher. Der Professor hatte in seiner Klinik eine Beratungsstelle für arme Mütter eingerichtet, die ihre Kinder nicht selbst stillen konnten. Bald stellte sich heraus, daß die Kinder dieser armen Frauen auch nach den ersten sechs Monaten keine von den Störungen aufwiesen, die sich bei den Pfleglingen der Klinik einzustellen pflegten. Allmählich gelangte der Professor zu der Erkenntnis, daß bei dieser unerklärlichen Erscheinung seelische Umstände im Spiel sein müßten, und nachdem er einmal diesen Gedanken gefaßt hatte, vermochte er in der Tat festzustellen, daß die über sechs Monate alten Patienten seiner Klinik an "Langeweile mangels seelischer Nahrung" litten. Er sorgte also dafür, daß die Kinder Zerstreuung und Unterhaltung erhielten, indem er sie nicht mehr bloß auf der Terrasse der Klinik spazierenfahren ließ, sondern an anderen, für sie neuen Orten, und tatsächlich gesundeten sie sogleich.

Durch sehr zahlreiche Versuche ist mit völliger Sicherheit nachgewiesen worden, daß alle Kinder während des ersten Lebensjahres bereits die Sinneseindrücke aus ihrer Umwelt mit solcher Deutlichkeit in sich aufnehmen, daß sie diese auch in flächenhaften wie perspektivischen bildlichen Darstellungen ohne weiteres wiedererkennen. Darüber hinaus läßt sich sogar behaupten, diese Eindrücke seien mit dem Ende des ersten Jahres bereits überwunden, das heißt, sie interessieren das Kind nicht mehr sehr lebhaft.

Vom Beginn des zweiten Lebensjahres an wird das Kind nicht mehr von den augenfälligen, lebhaft gefärbten Dingen in der für sensible Perioden charakteristischen Weise angezogen, sondern eher von solchen Kleinigkeiten, die uns Erwachsenen meist entgehen. Man könnte sagen, das kindliche Interesse habe sich den kaum mehr sichtbaren Dingen an den Grenzen der Wahr­nehmung zugewendet.

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Ich konnte diese Empfänglichkeit zum ersten Mal bei einem Mädchen von fünfzehn Monaten feststellen. Ich hörte es vom Garten her lachen, so laut, wie dies bei Kindern dieses Alters eher ungewohnt ist. Die Kleine war allein hinausgelaufen und saß auf den Steinplatten der Terrasse. In der Nähe befand sich ein Spalier herrlicher, unter einer fast tropischen Sonne erblühter Geranien. Doch die Kleine sah nicht die Blumen an, sondern hielt den Blick starr auf den Boden geheftet, auf dem nichts zu sehen war. Hier zeigte sich also ein anderes von den Geheimnissen kindlichen Lebens.

Angezogen von ihrem rätselhaften Verhalten, trat ich vorsichtig näher und schaute, ohne das mindeste bemerken zu können. Da erklärte mir das Kind mit stark betonten Worten: "Hier bewegt sich etwas Kleines." Erst auf Grund dieses Hinweises vermochte ich ein winziges, nahezu unsichtbares Insekt von der Farbe der Steinplatten zu erkennen, das mit großer Geschwindigkeit hin- und herlief. Was auf das Kind Eindruck gemacht hatte, war gerade dies: daß es ein so kleines Wesen gab, daß es sich bewegte, daß es umherlief! Das Staunen hierüber erfüllte die Kleine mit einer Freude, die sich lärmend äußerte und die größer war, als man sie gemeiniglich bei Kindern findet; und es war nicht die Freude über den Sonnenschein, die Blumen und Farben.

Einen ähnlichen Eindruck verdankte ich einem etwa ebenso alten Jungen. Seine Mutter hatte für ihn eine Sammlung farbiger Ansichtskarten angelegt. Der Junge wollte mir diese Sammlung zeigen und brachte das ganze, umfangreiche Paket. "Das Auto", sagte er, wobei er in seiner Kindersprache den Ausdruck "Bamban" gebrauchte. Ich begriff, daß er die Absicht hatte, mir die Abbildung eines Autos zu zeigen.

Es gab da eine Vielfalt hübscher Abbildungen, so daß die Absicht der Mutter deutlich erkennbar wurde, den Jungen mit dieser Sammlung nicht nur zu unterhalten, sondern auch zu belehren. Auf den Karten waren exotische Tiere, Giraffen, Löwen, Bären, Affen, Vögel dargestellt, Haustiere, die ein kleines Kind interessieren konnten, wie Schafe, Katzen, Esel, Pferde, Kühe und kleine Szenen und Landschaften mit Tieren, Häusern und Personen.

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Das Sonderbare aber war, daß in dieser reichen Sammlung gerade ein Auto fehlte. "Ich sehe kein Auto", sagte ich zu dem Jungen. Da suchte er eine Karte hervor und erwiderte triumphierend: "Da ist es doch!" Es handelte sich um eine Jagdszene, deren Mittelpunkt ein wunderschöner Hund war. Weiter im Hintergrund stand der Jäger mit dem Gewehr auf der Schulter. In einer Ecke, ganz in der Ferne, waren ein Häuschen und eine geschwungene Linie gezeichnet, die wohl eine Straße andeuten sollte, und auf dieser Linie gab es einen kleinen Punkt. Das Kind deutete auf diesen Punkt und sagte: "Auto!" Wirklich ergab sich bei genauem Zusehen, daß dieser scheinbare Punkt nichts anderes war als ein winziges Auto. Was diese Darstellung für das Kind interessant machte und weshalb es sie für würdig befand, vorgezeigt zu werden, war somit gerade die Schwierigkeit, das Auto zu erkennen und die Tatsache, daß es sich in so winzigen Proportionen abbilden ließ.

Ich dachte mir: "Vielleicht hat noch niemand dem Kleinen diese reiche Vielfalt schöner und nützlicher Dinge richtig erklärt." Ich wählte also die Karte mit dem überlangen Hals und Kopf einer Giraffe und begann zu erklären: "Sieh doch was für ein komischer Hals! So lang!" "Affa", erwiderte der Junge ernsthaft. Er wußte also sehr genau, daß dies eine Giraffe war, und ich gab es auf, ihn weiter belehren zu wollen.

Man könnte sagen, während des zweiten Lebensjahres entwickle die Natur durch aufeinanderfolgende Stadien die Intelligenz des Kindes dahin weiter, daß es seine Umwelt vollständig bis in alle Einzelheiten zur Kenntnis nimmt.

Einmal zeigte ich einem etwa zwanzig Monate alten Jungen ein schönes Buch, ein Buch für Erwachsene. Es handelte sich um ein Evangelium, illustriert von Gustav Doré, der hierbei Reproduktionen von klassischen Gemälden wie der "Transfiguration" des Raffael herangezogen hatte.

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 Ich wähle eine Darstellung von Jesus, der die Kindlein zu sich kommen läßt, und beginne zu erklären:  "Jesus trägt ein Kind im Arm, andere Kinder lehnen ihre Köpfe an ihn, sehen ihn an, und er liebt sie ..." Die Miene des Kleinen verriet nicht das geringste Interesse.

Ich tat so, als bemerkte ich das nicht, und blätterte auf der Suche nach anderen Darstellungen weiter in dem Buche. Plötzlich sagte der Junge: "Er schläft." Wieder einmal trat mir die Rätselhaftigkeit der kindlichen Seele in fast bestürzender Weise entgegen. "Wer schläft?" fragte ich. "Jesus!" erwiderte der Kleine energisch. "Jesus schläft!" Und er versuchte zurückzublättern, um mir zu zeigen, daß dem wirklich so sei.

Der hochgewachsene Christus blickte auf die Kinder, daher waren seine Augenlider gesenkt, als wären die Augen im Schlaf geschlossen. Der kleine Junge hatte somit eine Einzelheit beachtet, die keinem Erwachsenen aufgefallen wäre. 

Ich setzte hierauf meine Erklärung fort und gelangte zur Darstellung der Himmelfahrt Christi. "Siehst du" sagte ich, "Jesus erhebt sich von der Erde, und die Leute, die das sehen, erschrecken. Hier verdreht ein Junge die Augen, diese Frau streckt die Arme aus ..." Natürlich war diese Erläuterung für ein so kleines Kind wenig geeignet und überhaupt das Bild schlecht gewählt. Aber was ich jetzt beabsichtigte, war, dem Kleinen noch eine rätselhafte Anmerkung zu entlocken und gewissermaßen einen Vergleich zwischen dem anzustellen, was ein Erwachsener auf einem komplizierten Gemälde sieht, und dem, was ein kleines Kind darauf bemerkt. Diesmal aber kam aus dem Naschen des Kleinen bloß eine Art Grunzen, das wohl besagen wollte: "Weiter, weiter!", und sein Gesicht zeigte keinerlei Interesse.

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Während ich die Seiten umwendete, berührte er ein kleines Spielzeug, das er am Halse trug und das ein Kaninchen darstellte. Kaninchen", sagte er schließlich. Ich glaubte natürlich, der Junge denke bloß an sein Spielzeug, er aber verlangte sofort und mit Energie, daß ich zurückblätterte. Und wirklich, auf dem Gemälde der "Transfiguration" befand sich in einer Ecke ein kleines Kaninchen. Wer hätte je darauf geachtet? Offenbar haben die Kinder und wir zwei verschiedene Arten der psychischen Persönlichkeit, und es handelt sich hier nicht um eine schrittweise vor sich gehende Entwicklung von einem Minimum zu einem Maximum.

Die Lehrkräfte in den Kindergärten und in den ersten Elementarschulklassen, die sich solche Mühe geben, Gegenstände zu erklären, mit denen ein drei- oder vierjähriges Kind bereits durchaus vertraut ist, die mit einem Wort ihre Schutzbefohlenen so behandeln, als hätten diese noch nie das mindeste gesehen und seien gerade erst zur Welt gekommen, müssen auf die Kinder einen ähnlichen Eindruck machen wie ein Mensch, der einen Vollsinnigen für schwerhörig hält. Der schreit auf diesen ein, betont jede Silbe und sagt ihm immer wieder Dinge, die jener bereits weiß. Schließlich wird der Betroffene, statt jeder anderen Antwort, protestieren: "Ich bin doch nicht taub!"

Lange Zeit haben die Erwachsenen geglaubt, Kinder reagierten nur auf auffallende, lebhaft gefärbte Gegenstände, auf laute Geräusche, und man suchte daher durch starke Reize auf sie einzuwirken. Wir alle haben ja Gelegenheit gehabt, festzustellen. welche Anziehungskraft singende Personen, läutende Glocken und Glöckchen, flatternde Fahnen, lebhafte Lichter usw. auf Kinder ausüben. Aber diese heftig wirkenden Anregungen von außen spielen nur eine vorübergehende Rolle. Sie lenken die Aufmerksamkeit ab, nötigen dem kindlichen Bewußtsein gewaltsam äußere Eindrücke auf und stören damit die feineren, auf die Sinne wirkenden Reize.

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Ein freilich nicht völlig zutreffender Vergleich wäre etwa dieser: Wenn wir in die Lektüre eines interessanten Buches vertieft sind und plötzlich tönt von der Straße lärmende Musik herauf, so werden wir uns erheben und neugierig zum Fenster eilen. Ein Beobachter, der zusieht, wie ein lesender Mensch plötzlich, von einem Geräusch angezogen, aufspringt und zum Fenster läuft, würde hieraus den Schluß ziehen, Geräusche übten eine ganz besondere Reizwirkung auf diesen Menschen aus. Ähnlich steht es mit unserem Urteil über die Kinder. Ein heftiger äußerer Reiz kann wohl die Aufmerksamkeit des Kindes auf sich ziehen, aber dies bleibt ein Zwischenfall ohne Beziehung zu dem tieferen, formenden Teil kindlichen Geistes, der zu seinem Innenleben gehört.

Wir können die Kundgebungen dieser inneren Formung sehen, wenn wir beobachten, wie die Kinder sich in die sorgfältige Betrachtung ganz kleiner, scheinbar völlig uninteressanter Dinge vertiefen. Wer die Winzigkeit eines Gegenstandes beachtet und sein ganzes Interesse in dessen Beobachtung versenkt, empfindet diesen Gegenstand nicht bloß als Sinneseindruck. Sein ganzes Verhalten beweist, daß es sich hier um ein Verstehen der Liebe handelt.

Der Geist des Kindes bleibt dem Erwachsenen im Grunde verborgen und rätselhaft, weil er nur nach seiner praktischen Ohnmacht in bezug auf Reaktion beurteilt wird, nicht aber nach der gewaltigen in ihm liegenden psychischen Energie. Man sollte bedenken, daß alles, was ein Kind tut, eine rationale Ursache hat, die entzifferbar ist. Es gibt kein Phänomen, das nicht seine Motive, seine Daseinsberechtigung besäße. Es ist sehr einfach, über jede unverständliche Reaktion, jedes schwierige Betragen des Kindes mit der Erklärung hinwegzugehen: "Launen!" Diese Laune sollte für uns die Wichtigkeit einer zu lösenden Aufgabe, eines zu entziffernden Rätsels annehmen. Das ist gewiß schwierig, aber auch äußerst interessant; vor allem aber bedeutet es eine neue und höhere sittliche Haltung des Erwachsenen und macht aus ihm einen Forscher anstelle des blinden Bändigers, des tyrannischen Richters, der er dem Kinde gegenüber für gewöhnlich ist.

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In diesem Zusammenhang entsinne ich mich einer Szene in einem Salon, in dem einige Damen plaudernd beisammen saßen. Die Hausfrau hatte ihren achtzehn Monate alten Jungen neben sich, der für sich allein und ganz still spielte. Man sprach von Kinderbüchern. "Es gibt viele dumme Bücher mit grotesken Illustrationen", sagte die junge Mutter. 

"Da habe ich eines mit dem Titel Sambo. Dieser Sambo ist ein kleiner Negerjunge, dem die Eltern zum Geburtstag verschiedene Geschenke bringen: ein Mützchen, Schuhe, Strümpfe, ein Kleidchen in hübschen Farben. Während sie ihm ein ausgezeichnetes Essen bereiten, läuft Sambo, von niemand bemerkt, aus dem Hause, weil er sich in seinen neuen Kleidern bewundern lassen möchte. Unterwegs trifft er mit etlichen wilden Tieren zusammen, und um sie zu besänftigen, muß er jedem ein Stück seiner Garderobe überlassen, der Giraffe das Mützchen, dem Tiger die Schuhe und so fort. So kehrt der arme Sambo schließlich nackt und in Tränen nach Hause zurück. Aber das Ganze endet in Freuden damit, daß die Eltern ihm verzeihen und daß Sambo sich vergnügt an die reich geschmückte Festtafel setzt, wie es das letzte Bild zeigt."

Und die Dame wies das Bilderbuch vor, das von Hand zu Hand ging. Mit einem Mal sagte der kleine Junge: "Nein, Lola!" Allgemeine Überraschung über diesen rätselhaften Ausspruch. Der Kleine wiederholte energisch seine Behauptung: "Nein, Lola!"

"Lola", sagte die Mutter, "ist der Name des neuen Fräuleins, das seit einigen Tagen bei dem Jungen ist." Aber das Kind rief mit stets zunehmender Energie sein "Lola!", so daß es den Anschein hatte, als handle es sich hier um eine völlig sinnlose Laune. Schließlich zeigten wir ihm das Bilderbuch, und sogleich deutete der Junge auf die letzte Zeichnung, nicht im Text, sondern auf dem Einbanddeckel, die den armen Sambo weinend darstellte. Jetzt endlich begriffen wir: "Lola" sollte in der kindlichen Ausdrucksweise des Jungen das spanische Wort llora bedeuten, das soviel heißt wie "er weint".

Der kleine Junge hatte recht, denn das letzte Bild des Buches war nicht das letzte Textblatt mit der Darstellung des fröhlichen Mahles, sondern jene Vignette auf der Außenseite des Einbandes, die den weinenden Sambo zeigte und der niemand Beachtung geschenkt hatte. Der Protest des Kindes erwies sich somit als völlig logisch, da die Mutter fälschlicherweise erklärt hatte: "Alles endet in Freuden."

Für ihn endete das Buch offenbar mit dem weinenden Sambo, denn er hatte das Buch genauer angesehen als die Mutter — bis zur letzten Zeichnung. Das Erstaunlichste an der ganzen Szene aber war, daß der Kleine eine so zutreffende Bemerkung machen konnte, ohne daß er imstande gewesen wäre, dem komplizierten Gespräch zu folgen. Ein neuer Beleg dafür, wie verschieden die psychische Persönlichkeit eines Kindes von der unseren ist und daß es sich hier nicht bloß um gradmäßige Unterschiede handelt.

Das Kind, das die kleinen, tatsächlichen Einzelheiten der Dinge beobachtet, muß uns Erwachsene in dieser Beziehung für minderwertig halten, denn wir sehen in bildlichen Darstellungen nur geistige Zusammen­fassungen, die wiederum dem Kinde unzugänglich bleiben; so muß es uns für unfähig halten, richtig zu sehen. Gemessen an seiner eigenen Art zu beobachten, fehlt uns jede Genauigkeit, und es stellt immer wieder fest, mit welcher Gleichgültigkeit wir uns höchst interessante Einzelheiten entgehen lassen. 

Wenn es sich richtig ausdrücken könnte, würde das Kind uns wohl erklären, daß es im Grunde seiner Seele keinerlei Zutrauen zu unseren Fähigkeiten hat — genau so wenig, wie wir zu den seinen —, denn unsere Art des Denkens ist ihm unbegreiflich. So kommt es, daß Erwachsener und Kind einander nicht verstehen können.

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