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10. Die Kämpfe auf dem Weg des Wachstums, Schlafen 

 

 

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Der Konflikt zwischen dem Erwachsenen und dem Kind beginnt, sobald sich das Kind so weit entwickelt hat, daß es sich zu betätigen vermag. Bis dahin konnte niemand es völlig daran hindern, zu sehen und zu hören, also seine Welt mit seinen Sinnen zu erobern.

Sobald das Kind jedoch anfängt, sich zu betätigen, zu gehen, nach Gegenständen zu greifen, verändert sich das Bild. Mag der Erwachsene das Kind noch so sehr lieben, in ihm wird doch ein unwiderstehlicher Instinkt erwachen, der ihn dazu treibt, sich gegen das Kind zu verteidigen. Die beiden Seelenzustände — der des Kindes und der des Erwachsenen — sind von einander so verschieden, daß ein Zusammenleben des Erwachsenen mit dem Kinde so gut wie unmöglich wird, wenn man nicht zu Anpassungen seine Zuflucht nimmt.

Es ist nicht schwer einzusehen, wie sehr diese Anpassungen zum Nachteil des Kindes ausfallen werden, das ja eine sozial völlig untergeordnete Stellung einnimmt. Diese Unterdrückung der dem Erwachsenen unbequemen Tätigkeiten des Kindes ist in einer Umgebung, wo der Erwachsene herrscht, um so unausbleiblicher, als der Erwachsene sich seiner eigenen Abwehrhaltung keineswegs bewußt wird, sondern ehrlich von seiner Liebe und Opferbereitschaft überzeugt ist. Der unbewußte Abwehrinstinkt bedient sich einer Maske, und so wandelt sich der Geiz, der jeden dem Erwachsenen nützlichen oder teuren Gegenstand vor dem Zugriff des Kindes zu schützen sucht, alsbald zu der "Pflicht, das Kind so zu erziehen, daß es lernt, sich ordentlich zu betragen". Aus der Angst vor dem kleinen Störenfried des eigenen Behagens wird "die Notwendigkeit, das Kind im Interesse seiner Gesundheit viel ruhen zu lassen".

Die Mutter aus dem Volk verteidigt sich in ihrer Einfachheit offen gegen ihr Kind mit Ohrfeigen, Geschrei und Beschimpfungen und indem sie es aus dem Haus auf die Straße jagt. Zwischendurch überhäuft sie es dann wieder mit Küssen und Liebkosungen, womit sie ihre Zärtlichkeitsbedürfnisse befriedigt. In den höheren Gesellschaftsschichten hingegen verdeckt man solche Instinkte unter der Maske einer gewissen Förmlichkeit, und man hält hier ganz bestimmte Gefühle für gegeben und schätzbar: Liebe, Opfer, Pflicht, Selbstbeherrschung. Desungeachtet wissen sich die Mütter aus solchen Schichten ihre unbequemen Kinder ebenso, ja noch gründlicher vom Halse zu schaffen als die Frauen aus dem Volk, indem sie sie einer Kinderpflegerin über­antworten, die sie spazierenführen und recht viel schlafen lassen muß.

Die Geduld, Liebenswürdigkeit, ja Unterwürfigkeit der Mutter aus den gehobenen Ständen gegenüber den Kinderfrauen sind der Ausdruck eines stillschweigenden Übereinkommens, allerlei zu dulden und zu vergeben, wenn nur der Störenfried Kind weit genug von den Eltern und deren Besitztümern ferngehalten wird.

Sobald das Kind aus dem Gefängnis eines hilflosen Leibes tritt und den Sieg des eigenen Ichs zu genießen beginnt, das sich die Bewegungsorgane, diese wunderbaren Werkzeuge seines Tatendranges, unterworfen hat, tritt ihm auch schon eine Schar von Riesen entgegen, die ihm den Eintritt in die Welt verwehren wollen. Die Situation erinnert in ihrer Dramatik an den Auszug früher Urvölker, die der, Sklaverei entfliehen wollten und in ungastliche, unbekannte Gegenden vordrangen, wie es das jüdische Volk unter Moses tat. Eröffnete sich dann endlich nach den Leiden der Wüstenwanderschaft der Ausblick auf eine Oase des Wohlstandes, in der andere Völker friedlich hausten, so wurden die Irrenden nicht mit Gastfreundschaft, sondern mit blanken Waffen empfangen.

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Es liegt in der menschlichen Natur, daß jeder seine eigene Umwelt gegen Eindringlinge zu verteidigen sucht. Sobald es sich um ganze Völker handelt, ist dies augenfällig und vollzieht sich in kriegerischen Formen; aber der Beweggrund zu solchen Phänomenen liegt in den unbekannten Tiefen jedes einzelnen verborgen, und die erste, am wenigsten beachtete Erscheinung solchen Kampfes ist der des Erwachsenenvolkes, das seine Ordnung, seine Ruhe und seinen Besitz gegen das Invasorenvolk der neuen Generationen zu verteidigen sucht. Das Invasorenvolk wiederum läßt sich dadurch nicht aufhalten. Es kämpft mit dem Mute der Verzweiflung, denn es kämpft um sein Dasein.

Unter der Maske und dem Schirm der Unbewußtheit vollzieht sich dieser Kampf zwischen liebenden Eltern und unschuldigen Kindern.

Es ist für den Erwachsenen sehr bequem zu sagen: "Das Kind darf sich nicht bewegen, es darf unsere Gegenstände nicht anrühren, es darf nicht reden und nicht schreien, es muß viel ausgestreckt liegen, essen und schlafen. Oder es muß aus dem Hause gehen, sogar in Begleitung von Personen, die nicht zur Familie gehören und die es nicht wirklich lieben." Aus Trägheit wählt der Erwachsene mit Vorliebe den für ihn einfachsten Weg, sich des lästigen Kindes zu entledigen, indem er es nötigt, dann zu schlafen, wenn es die "Großen" wollen.

Wer wollte daran zweifeln, daß Schlafen eine Notwendigkeit für das Kind darstellt?

Aber das Kind ist ein ungemein waches, scharf beobachtendes Wesen und seiner Natur nach alles andere als schläfrig. Es braucht gewiß normalen Schlaf, und wir müssen ihm dazu verhelfen, daß es ihn findet. Doch dieser normale Schlaf ist etwas durchaus anderes als der künstliche, den wir selber hervorrufen wollen. Es ist bekannt, daß das willensstärkere Wesen das schwächere beeinflussen kann und daß die Suggestion in der Regel mit der Einschläferung des Versuchsobjekts beginnt. So bringt der Erwachsene das Kind durch Suggestion zum Schlafen, wenn er dies auch unbewußt tut.

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Der Erwachsene, sei er nun durch unwissende oder durch gebildete Mütter oder gar durch geschulte Kinderpflegerinnen vertreten, verurteilt dieses durch und durch lebendige Wesen zu dauerndem Schlaf. Nicht nur der Säugling von etlichen Monaten, nein, auch das bereits herangewachsene Kind von zwei, drei oder vier Jahren und mehr ist dazu verdammt, dauernd über sein Bedürfnis hinaus zu schlafen. Für die Kinder aus dem Volk gilt das freilich nicht, denn die treiben sich den ganzen Tag auf der Straße herum, belästigen daher ihre Mütter nicht und entgehen so dieser Gefahr. 

Nun ist es wohlbekannt, daß die Kinder aus dem Volk weniger nervös sind als die aus "feinen Häusern". Trotzdem empfiehlt die Kinderhygiene noch immer den überlangen Schlaf als wichtiges Mittel zur Erhaltung der Gesundheit. Ich entsinne mich eines siebenjährigen Jungen, der mir gestand, er habe nie die Sterne gesehen, weil man ihn immer ins Bett steckte, bevor die Nacht angebrochen war. Er sagte mir: "Ich mochte einmal bei Nacht auf einen Berg steigen und mich dort niederlegen, um die Sterne anzuschauen!"

Viele Eltern rühmen sich geradezu dessen, daß sie ihre Kinder an das frühe Einschlafen am Abend gewöhnt haben und so stets nach Belieben ausgehen können.

Schon das moderne Kinderbett, in dem die Kleinen untergebracht werden, ist eine bezeichnende Erfindung! Es ist verschieden von der Wiege, die in ihrer Art formschön und weich ist, und es ist verschieden von dem Bett des Erwachsenen, in dem man sich bequem ausstrecken und schlafen kann. Was sich Kinderbett nennt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als das erste grausame Gefängnis, das die Familie dem um sein seelisches Dasein ringenden Wesen zu bieten weiß. Diese Kinder sind Gefangene in einem hohen Eisenkäfig, in den sie von den Eltern gesteckt werden, und ihr Zwangslager ist eine Realität und ein Symbol zugleich. 

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Sie sind die Gefangenen einer Zivilisation, die in ihrer Entwicklung ausschließlich von Erwachsenen und für Erwachsene geschaffen worden ist, die sich immer mehr einengt und dem Kinde immer weniger Raum für seine freie Entwicklung übrigläßt.

Das Kinderbett ist ein Käfig, so hoch, daß der Erwachsene sich nicht nach dem Kinde zu bücken braucht, und so eingerichtet, daß er es darin seinem Schicksal überlassen kann. Mag es weinen! Es kann sich ja nicht wehtun!

Und rings um das Kind wird alles verdunkelt, damit das Licht des neuen Tages nicht bis zu ihm dringen und es aufwecken kann.

Wollen wir dem Seelenleben des Kindes zu Hilfe kommen, so heißt es vor allem, das Kinderbett und den Brauch des erzwungenen unnatürlich langen Schlafes abzuschaffen. Das Kind muß das Recht haben, zu schlafen, wenn es schläfrig ist, aufzuwachen, wenn es ausgeschlafen ist, und aufzustehen, wenn es will. Wir empfehlen daher — und viele Familien sind diesem Rate bereits gefolgt — die Abschaffung des klassischen Kinderbettes; es soll durch ein sehr niedriges Lager, fast in der Höhe des Fußbodens, ersetzt werden, auf dem das Kind sich nach Belieben niederlegen und aufstehen kann.

Ein solches kleines, niedriges Bett ist billig wie alle Reformen, die dem Seelenleben des Kindes nützen; denn was das Kind braucht, sind einfache Dinge. Die wenigen Gegenstände aber, die das Kind überhaupt besitzt, sind häufig so kompliziert, daß sie es schwer behindern. In zahlreichen Familien ist diese Reform verwirklicht worden, indem man eine kleine Matratze mit einer Decke darüber auf den Fußboden legte. Die Kinder gehen dann vergnügt des Abends ganz von selbst schlafen und stehen in der Frühe ebenso vergnügt auf, ohne irgendwen zu stören. Dies zeigt, wie grundfalsch wir das kindliche Leben einzurichten pflegen und wie der Erwachsene, in dem Bemühen, dem Kind Gutes zu tun, in Wirklichkeit gegen dessen Bedürfnisse handelt, wobei er unbewußt seinen Abwehrinstinkten folgt, statt sie mit einiger Anstrengung zu überwinden.

Aus alledem geht hervor, daß der Erwachsene versuchen soll, die Bedürfnisse des Kindes zu verstehen und ihnen durch entsprechende Vorkehrungen in einer wirklich geeigneten Umgebung behilflich zu sein. Nur so können wir zu jener neuen Erziehung gelangen, die darin bestehen sollte, dem Kinde zu seinem Leben zu helfen. Das wäre gleichbedeutend mit dem Ende einer Epoche, in der der Erwachsene das Kind als einen Gegenstand ansah, den man, solange er noch sehr klein ist, nimmt und nach Belieben dahin und dorthin trägt und der später nur gehorchen und sich dem Erwachsenen anpassen darf. 

Der Erwachsene muß endlich einsehen, daß er selber eine zweite Stelle einnehmen muß und lernen, das Kind zu verstehen und sich zu seinem Helfer zu machen. Diese erzieherische Orientierung gilt für die Mütter wie für alle anderen Erziehungspersonen, die sich dem Kinde nähern. Die kindliche Persönlichkeit, die in ihrer Entwicklung gefördert werden soll, ist die schwächere; daher muß die überlegene Persönlichkeit, die des Erwachsenen, zurücktreten, sich der Führung durch das Kind überlassen und seine Ehre darein setzen, das Kind zu verstehen und ihm zu folgen.

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11   Das Gehen

 

 

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Den Bedürfnissen des unreifen Wesens entgegenkommen, sich dessen Notwendigkeiten anpassen, auf die eigenen Wünsche verzichten: das sollte das Verhalten des Erwachsenen dem Kinde gegenüber bestimmen.

Etwas dieser Art tun die höheren Tiere aus Instinkt: Sie passen sich den Lebensbedingungen ihrer Jungen an. Höchst interessant ist, was geschieht, wenn eine Elefantenmutter ihr Junges der Herde zuführt. Die ganze Masse der riesigen Dickhäuter verlangsamt sofort ihre Marschgeschwindigkeit, so daß das Junge mühelos mitkommen kann, und wenn es müde wird und stehen bleibt, hält die ganze Herde an.

Es gibt auch menschliche Kulturen, in die etwas von dieser Opferbereitschaft dem Kinde gegenüber eingedrungen ist. So konnte ich eines Tages einen japanischen Vater beobachten, der seinen anderthalb- bis zweijährigen Jungen spazieren führte. Plötzlich umklammerte der Kleine das Bein des Vaters. Dieser hielt inne und sah ruhig zu, wie das Kind eine Weile rings um sein Bein im Kreis zu laufen begann. Als das Kind davon genug hatte, setzten die beiden ihren langsamen Spaziergang fort. Nach einer Weile ließ sich der Junge auf den Rand des Gehsteiges nieder. Der Vater blieb mit ernstem, ruhigem Gesicht neben ihm stehen. Was er tat, war nichts Besonderes; er war einfach ein Vater, der seinen Jungen spazieren führte.

So sollte man sich verhalten, um dem Kinde die höchst wichtige Übung des Gehens zu ermöglichen, in einem Entwicklungs­abschnitt, in dem der Organismus die vielen komplizierten Muskelkoordinierungen festlegen muß, auf denen das Gleichgewicht beim aufrechten Gang beruht. Auf nur zwei Beinen aufrecht zu gehen, ist ja eine höchst schwierige Aufgabe, die die Natur dem Menschen vorbehalten hat.

Zwar besteht der menschliche Körper aus Gliedern, die denen der Säugetiere entsprechen, aber er muß auf zwei, statt auf vier Gliedmaßen gehen. Selbst die Affen haben noch sehr lange Vordergliedmaßen, mit denen sie nach Bedarf auf dem Boden einen Halt finden können. Nur der Mensch ist genötigt, alle Funktionen eines "Ganges im Gleichgewicht" ausschließlich zwei Gliedmaßen anzuvertrauen und auf das Gehen mit Unterstützung endgültig zu verzichten. Die Säugetiere heben außerdem im Gehen stets zwei Beine diagonal zu gleicher Zeit, so daß ihr Körper stets auf zwei Stützen ruht. Dagegen stützt der gehende Mensch sich abwechselnd immer nur auf einen einzigen Fuß. Die Natur vermag diese Schwierigkeit zu lösen, doch nur durch zwei Hilfsmittel: Das eine ist der Instinkt, das andere ein individueller Willensaufwand.

Das Kind entwickelt die Fähigkeit aufrecht zu gehen nicht, indem es darauf wartet, sondern indem es geht. Der berühmte, von der Familie mit solcher Freude begrüßte "erste Schritt" stellt tatsächlich einen Triumph dar und kennzeichnet den Übergang vom ersten zum zweiten Lebensjahr. Er bedeutet sozusagen die Geburt des aktiven Menschen, der an die Stelle des untätigen tritt. Mit ihm hebt für das Kind ein neues Leben an. Die Physiologie zählt das Eintreten dieser Gehfunktion unter die wichtigsten Merkmale einer normalen Entwicklung. Doch mit diesem Augenblick tritt die Übung in ihre Rechte. 

Nur durch lange Übung kann die Sicherheit des Ganges und der Gleichgewichtserhaltung gewonnen werden, und so kommt es hier auf das individuelle Bemühen des Kindes an. Man weiß, mit welchem unwiderstehlichen Schwung und Mut sich das Kind in seine Gehversuche stürzt. Es will gehen, kühn, um jeden Preis, und es gleicht darin dem Soldaten, der ohne Rücksicht auf die Gefahr dem Sieg entgegeneilt. Der Erwachsene sucht das Kind vor der Gefahr zu beschützen und umgibt es daher mit Schutzvorrichtungen, die richtige Hindernisse darstellen. Da wird das Kind ins Laufställchen eingeschlossen oder im Kinderwagen festgeschnallt und herumgefahren, obwohl es schon längst stramme Beine hat.

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Das geschieht deshalb, weil der Schritt des Kindes kürzer ist als der des Erwachsenen und weil es auf längeren Spaziergängen weniger Ausdauer besitzt. Der Erwachsene aber ist nicht imstande, auf seinen eigenen Gehrhythmus zu verzichten. Selbst wenn es sich um eine Kinderpflegerin handelt, also um eine Person, die dazu ausgebildet ist, sich ausschließlich dem Wohl des Kindes zu widmen, muß sich das Kind der Gangart der Pflegerin anpassen und nicht umgekehrt. Die Pflegerin wird mit ihrem gewohnten Schritt geradewegs dem Ziel zustreben, das sie sich für den Spaziergang gesetzt hat und dabei den Kinderwagen vor sich her schieben, als ob sie ein Handwägelchen mit Obst zum Markt brächte. Erst wenn die Pflegerin ihr Ziel — etwa einen schönen Park — erreicht hat, wird sie sich niedersetzen, das Kind aus dem Wagen nehmen und auf der Wiese herumlaufen lassen. Diese ganze Behandlungsweise hat den Körper des Kindes, sein vegetatives Dasein, im Auge und sucht dieses vor allen möglichen Gefahren zu behüten, vernachlässigt jedoch völlig die lebenswichtigen Bedürfnisse der psychophysischen kindlichen Entwicklung.

Im Alter von anderthalb bis drei Jahren vermag ein Kind kilometerweit zu Fuß zu laufen und dabei schwierige Strecken, Steigungen und Treppen zu überwinden. Nur ist der Zweck seines Gehens von dem unseren völlig verschieden. Der Erwachsene geht, um ein äußeres Ziel zu erreichen und strebt diesem unentwegt zu. Überdies hat er bei seinem Schritt einen feststehenden Rhythmus, der ihn nahezu mechanisch vorwärtsbewegt. Hingegen geht das Kind, um seine Gehfunktion zu entwickeln, und sein Zweck liegt somit im Gehen selber. Es ist langsam, es hat weder einen Schrittrhythmus, noch ein Ziel. Die Dinge ringsum ziehen es von Fall zu Fall an und treiben es weiter. Die Hilfe, die ihm der Erwachsene zu gewähren hat, besteht darin, daß er auf den eigenen Rhythmus, auf die gewohnte Zielstrebigkeit ein für allemal verzichtet.

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In Neapel kannte ich eine kleine Familie, deren Jüngster anderthalb Jahre alt war. Um im Sommer den Meeresstrand zu erreichen, mußten diese Leute einen Weg von etwa anderthalb Kilometern auf einer abschüssigen, für Wagen und Kinderwagen nahezu unbefahrbaren Straße zurücklegen. Die jungen Eltern wollten das Kind bei sich haben, aber es wäre zu mühsam gewesen, es den ganzen Weg auf dem Arm zu tragen. Da kam ihnen das Kind selbst zu Hilfe, indem es die lange Strecke zu Fuß zurücklegte. Da und dort hielt der Kleine bei einer Blume an, setzte sich auf einen Wiesenrand oder blieb, in die Betrachtung eines Tieres versunken, stehen. Einmal verbrachte er eine volle Viertelstunde damit, einem grasenden Esel zuzusehen. So lief das Kind täglich den langen und mühsamen Weg hinunter und wieder hinauf, ohne zu sehr zu ermüden.

In Spanien kannte ich zwei Kinder im Alter zwischen zwei und drei Jahren, die Spaziergänge von zwei Kilometern Länge unternahmen, und viele andere, die mehr als eine Stunde damit verbrachten, steile Treppen mit sehr schmalen Stufen zu erklimmen und wieder hinabzusteigen.

Es gibt Mütter, die auch in diesem Zusammenhang von "Launen" ihrer Kinder sprechen.

So fragte mich einmal eine Dame wegen gewisser "Launen" ihres Töchterchens um Rat. Die Kleine konnte erst seit einigen Tagen ohne fremde Hilfe gehen. Jedesmal wenn sie auf den Arm genommen und eine Treppe hinauf- oder hinuntergetragen wurde, bekam sie richtige Tobsuchtsanfälle.

Die Mutter fürchtete, falsch beobachtet zu haben, denn es erschien ihr unlogisch, daß das Kind gerade dann in Aufregung geraten und weinen sollte, wenn es über eine Treppe getragen wurde. Sie war geneigt, dies für ein zufälliges Zusammentreffen zu halten. Aber es war klar, daß die Kleine "allein" die Treppe hinauf- und hinuntersteigen wollte.

Dieser interessante Weg voll von Gelegenheiten, sich festzuhalten und niederzusetzen, lockte sie offenbar mehr als die Wiese des Parks, in der ihre Füßchen in dem hohen Gras versanken und ihre Hände keinen Stützpunkt fanden. Doch die Wiese war der einzige Ort, wo sie sich aufhalten durfte, ohne sich in den Armen eines Erwachsenen oder im Innern eines Kinderwagens zu finden.

Es ist leicht zu beobachten, daß die Kinder immer eine Gelegenheit suchen, sich zu bewegen und zu gehen; und eine allgemein zugängliche Treppe wird stets mit Kindern angefüllt sein, die hinaufklettern, herunterhüpfen, sich auf die Stufen setzen, wieder aufstehen, sich heruntergleiten lassen. Die Geschicklichkeit eines Gassenjungen im Sich-Bewegen zwischen Hindernissen, im Vermeiden von Gefahren, im Laufen, im Sich-Anhängen an fahrende Vehikel, verrät, welche gewaltigen Möglichkeiten in jedem kleinen Kinde beschlossen liegen; wie anders wirken solche Kinder als die verängstigten und zuguterletzt faul gewordenen Kinder der begüterten Klassen! 

Weder den einen noch den anderen ist eine wirkliche Entwicklungshilfe zuteil geworden. Die einen blieben der für sie wenig geeigneten und gefahrenreichen Umwelt ausgeliefert, in der die Erwachsenen leben, und die anderen wurden vor dieser Umwelt behütet, indem man sie unterdrückte und sie zwischen schützenden Hindernissen einschloß.

Das Kind, dieses wesentlichste Element der Erhaltung und des Aufbaus des Menschen, gleicht dem Messias, von dem die Propheten berichten, daß er "nicht hat, wohin sein Haupt zu betten".

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12  Die Hand

 

 

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Es ist ein bemerkenswerter Umstand, daß von den drei großen Etappen, die die Physiologie in der normalen Entwicklung des Kindes als einschneidend ansieht, zwei sich auf die Bewegung beziehen. Es sind dies der Beginn des Gehens und der des Sprechens. Die Wissenschaft erkennt somit in diesen beiden Bewegungsfunktionen eine Art von Horoskop, das die Zukunft des Menschen vorausahnen läßt. Tatsächlich zeigen diese zwei komplizierten Errungenschaften an, daß der Mensch (das Kind) den ersten Sieg seines Ichs über die Werkzeuge des Ausdrucks oder der Tätigkeit davongetragen hat. Nun ist wohl die Sprache ein wirkliches Kennzeichen des Menschen, stellt sie doch den Ausdruck von Gedanken dar, nicht aber ebenso das Gehen, das ja allen Tieren gemeinsam ist.

Zum Unterschied von der Pflanze nimmt das Tier "Ortsveränderungen in seiner Umwelt" vor, und wenn diese Ortsveränderungen mit Hilfe besonderer Organe, der Gliedmaßen, vorgenommen werden, so ergibt sich das charakteristische Kennzeichen des Gehvermögens. Der Mensch hingegen ist zwar dank seiner Fähigkeit, "Ortsveränderungen in seiner Umwelt" zu vollziehen, zum Eroberer der gesamten Erde geworden, aber für ihn als denkendes Wesen ist nicht der Gang das eigentlich charakteristische Merkmal.

Was ihn vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, ist vielmehr neben der Sprache die Fähigkeit, die Hand als ausführendes Werkzeug seiner Intelligenz zu gebrauchen. Wie man weiß, verrät sich das früheste Auftreten des Menschen in prähistorischen Epochen durch Funde von geglätteten und zersplitterten Steinen, die ihm als erste Arbeitswerkzeuge gedient haben. Diese Steine sind es, die eine neue Spur in der biologischen Geschichte der irdischen Lebewesen zeichnen. 

Und jedesmal, wenn die frühe Geschichte des Menschengeschlechtes sich aus verwehendem Lauf in bleibende, dem Stein eingemeißelte Denkmäler verwandelt, haben wir es mit Leistungen der Hand zu tun. Schon in der Morphologie des menschlichen Körpers und in der Eigentümlichkeit des aufrechten Ganges liegt die Tendenz, die Hand freizumachen, damit sie sich ändern Tätigkeiten zuwenden könne als bloß der Fortbewegung und zum Ausführungsorgan der Intelligenz werde. So nimmt der Mensch in der Entwicklungsreihe der Lebewesen eine neue Stellung ein und zeigt die funktionale Einheit zwischen Psyche und Bewegung auf.

Die Hand ist jenes feine, komplizierte Organ, das es der Intelligenz gestattet, sich nicht bloß kundzugeben, sondern in ganz bestimmte Beziehungen zur Umwelt zu treten. Man kann sagen der Mensch "ergreife" mit seiner Hand Besitz von dieser Umwelt. Indem er sie dazu unter der Leitung seiner Intelligenz umwandelt, vollzieht er seine Mission im großen Weltenplan.

Es wäre somit logisch, bei der Beurteilung der seelischen Entwicklung des Kindes den Beginn jener Ausdrucksbewegungen ins Auge zu fassen, die man als die "intellektuellen" bezeichnen könnte: das Auftreten des Sprechvermögens und das Auftreten einer nach sinnvoller Tätigkeit strebenden Bewegung der Hand.

Aus einem unbewußten Instinkt haben die Menschen seit uralten Zeiten Sprache und Handbewegungen als zusammengehörig empfunden und diesen beiden ausschließlich menschlichen Kundgebungen der Intelligenz eine besondere Bedeutung zugeschrieben, freilich nur bei bestimmten, mit dem Leben der Erwachsenen zusammenhängenden Symbolhandlungen. Wenn etwa ein Mann und eine Frau sich vermählen, so reichen sie einander die Hände und sprechen ein Wort. Man sagt von der Braut, sie sei "versprochen", der Bewerber "hält um ihre Hand an". Wer einen Eid leistet, spricht ein Wort und vollführt eine Handbewegung. Auch in jenen Riten, in denen das Ich stark zum Ausdruck kommt, tritt die Hand in Erscheinung. 

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Pilatus lehnte jede Verantwortung für die Kreuzigung Christi ab, indem er die rituelle Redewendung gebrauchte, er wasche seine Hände, und dies auch wirklich vor versammeltem Volke tat. Ehe der katholische Priester den bedeutsamsten Teil der Messe zelebriert, verkündet er, er wasche seine Hände in Unschuld, und tut dies auch, obgleich er sich bereits gereinigt hat, ehe er sich überhaupt dem Altar näherte. Alles das zeigt, wie stark das Unbewußte im Menschen die Hand als Kundgebung des inneren Ichs empfindet. Was könnte es daher Heiligeres und Wunderbareres geben, als das Auftreten dieser "menschlichen Bewegung" beim Kinde! Mehr als jede andere Kundgebung sollte sie von selten der Erwachsenen feierlich erwartet und aufgenommen werden.

Zum ersten Mal streckt diese kleine Hand sich nach einem Ding aus, und diese Bewegung stellt die Kraft des kindlichen Ichs dar, in die Welt einzudringen. Der Erwachsene, statt dies zu bewundern und zu achten, fürchtet sich vor diesen Händchen, die nach den das Kind umgebenden, wertlosen und unwichtigen Dingen greifen, und alsbald wird er zum Verteidiger der Gegenstände wider das Kind. Er beeilt sich, dem Kinde einzuschärfen: "Rühr das nicht an!", so wie er ihm befiehlt, sich nicht zu bewegen und nicht zu sprechen. 

Diese Abwehrhaltung im Unterbewußtsein des Erwachsenen führt ihn dahin, bei anderen Menschen Hilfe zu suchen, als handle es sich darum, einen heimlichen Kampf gegen eine Macht zu führen, die sein Behagen und seinen Besitz bedroht. 

Das Kind, das seiner Umwelt die Elemente zu entnehmen sucht, die es zu seinem geistigen Aufbau braucht, muß diese Elemente in seinen Besitz bringen können. Wenn das Kind sich also in einer konstruktiven Art benehmen soll und seine Hände zu einer Arbeit gebraucht, so muß es rings um sich Gegenstände finden, die es zu solcher Arbeit anregen. Aber in der häuslichen Umgebung nimmt auf dieses sein Bedürfnis niemand Rücksicht. Die Dinge, die das Kind umgeben, gehören alle den Erwachsenen und sind für deren Gebrauch bestimmt; für das Kind sind sie verboten, "tabu".

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So versucht der Erwachsene, ein für die kindliche Entwicklung lebenswichtiges Problem durch Verbote zu lösen. Gelingt es dem Kinde dann, einen Gegenstand, der ihm in die Hände fällt, auch wirklich zu ergreifen, so benimmt es sich fast so wie ein verhungerter Hund, der einen Knochen findet und in einem Winkel benagt, in dem Bemühen, sich mit einem Ding zu nähren, das ihn nicht ausreichend nähren kann, und voll Angst, man könnte es ihm wieder entreißen.

Die Bewegungen, die das Kind vollführt, sind nicht etwa zufällig, sondern geschehen unter der Leitung seines Ichs und dienen dem Ausbau der für die Bewegung nötigen Muskelkoordinierungen. Dieses Ich ist der große Organisator und Koordinator, der mit Hilfe unausgesetzter Übung und Erfahrung die innere Einheit zwischen der seelischen Willensquelle und den körperlichen Ausdrucksorganen schafft. Es ist ungemein wichtig, daß es dem Kind überlassen bleibt, spontan die Handlungen zu wählen und auszuführen. Charakteristisch für diese Handlungen ist es, daß sie nicht nach ungeordneten, zufälligen Impulsen vor sich gehen. 

Wir haben es hierbei nicht mit planlosem Laufen, Springen und Ergreifen zu tun, das bloß Unordnung schafft und seine Objekte zerstört. Die konstruktive Bewegung nimmt ihren Ausgang von Handlungen, die das Kind in seiner Umgebung beobachtet hat. Immer sucht es solche Handlungen nachzuahmen, die sich auf den Gebrauch irgendeines Gegenstandes beziehen. Das Kind versucht, mit denselben Gegenständen dasselbe zu tun, was es bei den Erwachsenen gesehen hat. Daher hängen diese seine Tätigkeiten von den Gewohnheiten der Erwachsenen in seiner Umwelt ab. Das Kind will die Stube fegen, Geschirr oder Wäsche waschen, Wasser umgießen, sich waschen, sich frisieren, sich ankleiden usw. Diese Tatsache ist allgemein bekannt, man nennt sie in der Regel "Nachahmungstrieb" und erklärt: "Das Kind tut das, was es beobachtet hat." 

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Diese Deutung ist jedoch insofern nicht exakt, als sich die Nachahmung des Kindes wesentlich von jener unmittelbaren Nachahmung unterscheidet, wie man sie etwa bei Affen beobachtet. Die aufbauenden Bewegungen des Kindes gehen von einem psychischen Bild aus, das seinerseits auf einer Erkenntnis beruht. Das Seelenleben, dem eine Leitfunktion zufällt, geht immer den mit ihm zusammen­hängenden Ausdrucksbewegungen voraus. Wenn das Kind sich also bewegen will, weiß es zuerst, was es tun will; und es will etwas tun, was es kennt, das heißt, was es bereits hat ausführen sehen. Dasselbe läßt sich von der Sprache sagen. Das Kind nimmt die Sprache an, die es rings um sich sprechen hört und wenn es ein Wort sagt, so sagt es dieses Wort, weil es dieses im Hören gelernt und in seinem Gedächtnis bereit hat. Aber es gebraucht dieses Wort gemäß seinen eigenen augenblicklichen Bedürfnissen.

Dieses Erlernen und dieser Gebrauch des gehörten Wortes ist somit keineswegs Nachahmung in dem Sinne, wie ein redender Papagei Wörter nachplappert. Es handelt sich hierbei nicht um eine unmittelbare Imitation, sondern um den Gebrauch aufgespeicherter, zur Kenntnis genommener Beobachtungen. Der Akt des Sprechens ist von dem des Hörens völlig getrennt. Dieser Unterschied ist sehr wichtig, denn er führt zum besseren Verständnis des kindlichen Tuns, indem er eine wesentliche Seite der Beziehungen zwischen dem Erwachsenen und dem Kind erhellt.

 

   Elementare Handlungen   

 

Ehe noch das Kind so weit ist, daß es klar und logisch motivierte Handlungen auszuführen vermag, wie es solche bei den Erwachsenen beobachtet hat, beginnt es, gemäß seinen eigenen Zwecken zu handeln, und macht dabei von den Gegenständen einen Gebrauch, der den Erwachsenen oft unverständlich bleibt. Das geschieht häufig bei Kindern im Alter zwischen anderthalb und etwa drei Jahren. 

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So sah ich zum Beispiel einmal einen anderthalbjährigen Jungen, der in einem Zimmer einen Stoß frisch gebügelter, sorgfältig übereinandergelegter Servietten liegen sah. Er nahm eine von diesen, trug sie vorsichtig, um sie nicht zu zerknittern, in die schräg gegenüberliegende Zimmerecke, legte sie dort auf den Fußboden und sagte: "Eins!" Dann kehrte er in derselben schrägen Richtung zurück und bewies dabei ein besonderes fein entwickeltes Orientierungsvermögen. Er ergriff hierauf eine zweite Serviette, trug sie wieder denselben Weg hinüber, legte sie auf die erste und wiederholte das Wort "Eins!" 

Dieses Spiel setzte sich fort, bis sämtliche Servietten drüben gelandet waren. Hierauf beförderte er sie in gleicher Weise wieder an ihren ursprünglichen Ort. Der Serviettenstoß war zwar jetzt nicht mehr so genau geschichtet, wie das Dienstmädchen ihn zurück­gelassen hatte, aber alle waren noch halbwegs richtig gefaltet, und das Ganze sah wohl leicht havariert, aber keineswegs in seinen Grundfesten erschüttert aus. Zum Glück für das Kind hatte sich während dieser ganzen, lange währenden Operation kein Familienmitglied in der Nähe befunden. Wie oft hingegen taucht hinter dem Rücken des Kindes ein Erwachsener auf und ruft: "Halt! Halt! Laß das in Ruhe!" Und wie oft werden diese kleinen, verehrungswürdigen Händchen geschlagen, damit sie sich daran gewöhnen, nichts anzurühren!

Eine andere "elementare" Tätigkeit, die Kinder bezaubert, besteht darin, einen Korken aus einer Flasche zu ziehen und ihn dann wieder aufzusetzen; besonders beliebt ist dieses Spiel mit geschliffenen Glasstöpseln, die in allen Regenbogenfarben leuchten. Dieses Handhaben von Flaschenverschlüssen gehört zu den bevorzugtesten Beschäftigungen. Fast ebenso anziehend wirkt auf Kinder der Deckel eines Tintenfasses oder einer Schachtel, der abgenommen und aufgesetzt werden kann, oder das Offnen und Schließen einer Schranktür. 

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Oft kommt es über diesen Dingen, die das Kind begehrt, jedoch nicht berühren darf, weil sie der Mama gehören oder auf Papas Schreibtisch oder im Salon stehen, zum Krieg zwischen dem Kinde und den Erwachsenen, und das hat dann meist zur Folge, daß das Kind mit "Launen" reagiert. Dabei kommt es ihm gar nicht auf dieses Fläschchen, auf dieses Tintenfaß an; es wäre restlos glücklich, gäbe man ihm andere Gegenstände in die Hand, die ihm dieselben Übungen ermöglichten.

Solche und ähnliche Elementarhandlungen ohne logischen Zweck mögen als das erste Stammeln des arbeitenden Menschen angesehen werden. Einige der von uns ausgearbeiteten Materialien für ganz kleine Kinder sind für diese Vorbereitungsstadien gedacht, so zum Beispiel unsere Einsatzzylinder, die allenthalben solchen Erfolg erzielt haben.

Man sieht in der Theorie unschwer ein, daß das Kind sich betätigen muß; in der Praxis aber stößt dies auf komplizierte Hindernisse, deren Wurzeln tief in der Seele des Erwachsenen liegen. Oft ist der Erwachsene zwar besten Willens, das Kind nach Belieben Dinge berühren und hin- und herrücken zu lassen, bringt es jedoch auf die Dauer nicht fertig, gewisse unklare, in ihm aufsteigende Impulse zu unterdrücken.

Eine junge Dame in New York, die mit meinen Ideen vertraut war, wollte diese bei ihrem hübschen, zweieinhalbjährigen Jungen in die Praxis umsetzen. Eines Tages sah sie, wie das Kind ohne jeden erkennbaren Grund einen gefüllten Wasserkrug aus dem Schlafzimmer in den Salon trug. Sie beobachtete, mit welch angespannter Anstrengung der Kleine sich mühsam vorwärtsbewegte und sagte sich selber unentwegt vor: "Be careful, be careful!" (Sei vorsichtig!) 

Der Krug war schwer, und schließlich hielt es die Mutter nicht länger aus. Sie eilte dem Kind zu Hilfe, nahm ihm den Krug ab und trug ihn dorthin, wo ihn das Kind haben wollte. Der Junge war sichtlich beschämt und begann zu heulen, Der Mutter tat es leid, das Kind gekränkt zu haben, doch rechtfertigte sie sich mit der Erklärung, sie hätte zwar verstanden, daß

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der Junge aus einer inneren Notwendigkeit gehandelt habe, doch habe sie es einfach nicht über sich gebracht zuzusehen, wie er sich abmühte und eine Menge Zeit mit etwas verlor, das sie in einem Augenblick besorgen konnte.

"Ich sehe ein, daß ich falsch gehandelt habe", sagte mir jene Dame und bat mich um einen Rat. Ich dachte an die andere Seite der Sache, an jenes typische Erwachsenengefühl, das man "Geiz gegenüber dem Kinde" nennen könnte. So sagte ich ihr: "Haben Sie ein feines Porzellanservice, wertvolle Tassen? Lassen Sie das Kind ein paar von diesen leichten Gegenständen tragen und sehen Sie, was geschieht." Die Dame folgte meinem Rat und erzählte mir später, ihr Junge habe diese zerbrechlichen Tassen eine nach der anderen mit größter Sorgfalt Schritt für Schritt heil und unversehrt an ihren Bestimmungsort gebracht. Die Mutter war dabei von zwei widerstreitenden Gefühlen erfüllt gewesen: von der Freude über die Geschicklichkeit des Kindes und von der Angst um ihre Tassen. Trotz dieser Angst ließ sie das Kind gewähren und gestattete von da ab, daß es die Arbeit verrichtete, für die es sich begeisterte — ein Umstand, der nicht ohne Einfluß auf seine seelische Gesundheit geblieben ist.

In einem anderen Fall gab ich einem Mädchen von vierzehn Monaten einen Staublappen in die Hände, und das Kind begann sofort mit größter Freude eine Anzahl leuchtender kleiner Gegenstände abzustauben. Aber in der Mutter der Kleinen erwachte eine Art Abwehrinstinkt, und sie brachte es nicht über sich, ihrem Töchterchen einen Gegenstand zu überlassen, der ihrer Ansicht nach nichts mit den Bedürfnissen eines so kleinen Kindes zu tun habe.

Für den Erwachsenen, der die Bedeutung des Vorganges richtig erfaßt, gibt es kaum eine überraschendere Enthüllung als die erste Kundgebung des kindlichen Arbeitstriebes. Er beginnt zu ahnen, daß er manchen großen Verzicht wird leisten müssen. Es ist, als müsse er seine Persönlichkeit abtöten, seine ganze bisherige Lebensweise aufgeben.

Dies aber ist unvereinbar mit dem sozialen Leben, wie es ist. Zweifellos steht das Kind außerhalb der Erwachsenen-Gesellschaft; es aber, wie dies bisher geschehen ist, einfach auszuschließen, bedeutet eine Unterdrückung seines Wachstums, nicht viel anders, als wenn man das Kind dazu verurteilte, für immer stumm zu bleiben.

Die Lösung dieses Konflikts besteht darin, daß man für die höheren Lebensäußerungen des Kindes eine geeignete Umwelt vorbereitet. Wenn das Kind das erste Wort ausspricht, bedarf es keinerlei Vorbereitung, erfüllt doch seine stammelnde Sprache das Haus als ein willkommenes Geräusch. Die Tätigkeit der Kinderhand hingegen, die man das Stammeln des arbeitenden Menschen nennen könnte, erfordert angepaßte Gegenstände, die das Kind zur Tätigkeit auffordern. Sind solche vorhanden, dann sieht man die Kinder Leistungen vollbringen, die oft weit über alles hinausgehen, was man ihren Kräften zumuten würde. Ich besitze die Fotografie eines kleinen englischen Mädchens, das eines der für dieses Land typischen Kastenbrote trägt. 

Das Brot ist so groß, daß die beiden Kinderhändchen nicht ausreichen, es zu umspannen, und daß die Kleine es gegen ihren Körper stützen muß. So ist sie genötigt, weit zurückgebeugt zu gehen, und sie kann nicht einmal sehen, wohin sie ihre Füße setzt. Die Aufnahme zeigt überdies den Hund, der das Kind begleitet, nicht einen Blick von ihm wendet und mit gespannten Muskeln darauf wartet, daß er seiner kleinen Herrin vielleicht zu Hilfe kommen muß. In größerer Entfernung verfolgten Erwachsene das Kind mit den Augen und mußten sich zurückhalten, um nicht hinzuzulaufen und ihm das Brot aus den Armen zu nehmen. So vollbringen oft ganz kleine Kinder, eine richtig bereitete Umwelt vorausgesetzt, Leistungen, die uns durch ihre Geschicklichkeit und frühreife Präzision in helles Erstaunen versetzen.

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