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13. Der Rhythmus 

 

 

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Der Erwachsene, der noch nicht begriffen hat, daß für das Kind die Tätigkeit der Hand ein Lebensbedürfnis, die erste Kund­gebung seines Arbeitstriebes darstellt, verhindert es am Arbeiten. Dabei müssen wir nicht immer an den Abwehrinstinkt des Erwachsenen denken; es gibt auch andere Gründe für ein solches Verhalten. Einer dieser Gründe besteht darin, daß der Erwachsene den äußeren Zweck aller Handlungen im Auge hat und sein eigenes Tun seiner geistigen Konstitution anpaßt. Daß es gelte, ein Ziel auf dem direktesten Wege und somit in der kürzest möglichen Zeit zu erreichen, bedeutet für ihn eine Art Naturgesetz, für das er denn auch den Ausdruck vom "Gesetz des geringsten Aufwandes" geprägt hat. Wenn er also sieht, wie das Kind große Anstrengungen macht, um eine nutzlose Handlung auszuführen, die er selber in einem Augenblick viel vollkommener ausführen könnte, ist er versucht, dem Kind zu Hilfe zu kommen und damit einem Schauspiel ein Ende zu bereiten, das ihm unerträglich ist.

Die Begeisterung des Kindes für unbedeutende Dinge wirkt auf den Erwachsenen grotesk und unverständlich. Sieht das Kind, daß eine Tischdecke anders aufgelegt ist als gewöhnlich, so empfindet es den Wunsch, sie so zu legen, wie es sie immer gesehen hat; und wenn irgend möglich, wird es dies auch tun, langsam zwar, doch immer mit dem Aufwand aller Energie und Begeisterung, deren es fähig ist, einzig aus dem Grunde, weil "sich erinnern" die Hauptleistung seines Geistes ist. Einen Gegenstand in die Lage zu bringen, die er früher bereits eingenommen hat, bedeutet somit für sein Entwicklungsstadium eine triumphale Tat. Dazu wird es allerdings meist nur dann Gelegenheit finden, wenn kein Erwachsener in der Nähe ist und auf sein Tun achtet.

Versucht das Kind, sich zu kämmen, so sieht der Erwachsene diesem bewundernswerten Bemühen nicht etwa beglückt zu, sondern er empfindet es als einen Angriff auf seine eigenen Wesensgesetze. Er sieht, daß das Kind sich weder gut noch schnell kämmt und nie eine ordentliche Frisur zuwegebringen wird, während er, der Erwachsene, das alles viel rascher und besser besorgen kann. Das Kind, das freudig eine für den Aufbau seiner Persönlichkeit wichtige Handlung vollführt, muß also erleben, wie der Erwachsene, dieser fast bis an die Decke reichende, über jeden Begriff mächtige Riese, gegen den jeder Widerstand vergebens ist, herankommt, ihm den Kamm aus den Händen windet und erklärt, er werde das Kind kämmen. Ähnliches spielt sich ab, sobald das Kind sich bemüht, sich anzukleiden oder seine Schuhe zuzuschnüren. Jeder Versuch des Kindes wird vorzeitig unterbrochen. Was den Erwachsenen nervös macht, ist nicht nur das Unnütze der kindlichen Versuche, sondern auch der Rhythmus, die von der seinen verschiedene Art, in der die Bewegungen des Kindes sich vollziehen.

Man kann seinen persönlichen Rhythmus nicht einfach ablegen wie ein unmodern gewordenes Kleid und durch einen neuen ersetzen. Der Bewegungsrhythmus ist ein Teil der Persönlichkeit, einer ihrer Charakterzüge, fast wie die Form des Körpers, und der Zwang, sich einem fremden Rhythmus anpassen zu müssen, ist sehr einschneidend.

Müssen wir etwa neben einem Gelähmten einhergehen, so empfinden wir alsbald eine Art Beklemmung; und wenn wir zusehen, wie ein Gelähmter langsam ein Glas zum Munde führt und dabei die darin enthaltene Flüssigkeit zu verschütten droht, verursacht uns der unerträgliche Zusammenstoß zweier Bewegungsrhythmen ein Unbehagen, das wir abzuschütteln suchen, indem wir unseren eigenen Rhythmus einschalten, was man dann "ihm zu Hilfe kommen" nennt.

Nicht viel anders verhält sich der Erwachsene gegenüber dem Kind. Unbewußt sucht er zu verhindern, daß das Kind die ihm eigenen langsamen Bewegungen ausführt, ganz so wie er instinktiv ein lästiges, wenn auch völlig harmloses Insekt verscheuchen würde.

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Hingegen vermag der Erwachsene schnelle Bewegungen des Kindes zu ertragen, und in diesem Falle ist er sogar bereit, sich mit der Unordnung und Verwirrung abzufinden, die ein lebhaftes Kind in seine Umwelt bringt. Das sind die Fälle, in denen der Erwachsene es fertig bringt, "sich mit Geduld zu wappnen", denn es handelt sich hier um klare, äußere Störungen, und was bewußt ist, kann vom Willen beherrscht werden. Vollführt das Kind aber langsame Bewegungen, dann kann der Erwachsene gar nicht anders als einzugreifen und sich an die Stelle des Kindes zu setzen. 

Statt dem Kinde also bei seinen wichtigsten seelischen Bedürfnissen zu Hilfe zu kommen, ersetzt der Erwachsene die kindlichen Übungen durch seine eigene Fertigkeit, wann immer das Kind versucht, Handlungen zu erlernen. Er versperrt damit dem Kind jeden Weg zur Betätigung und wird selbst zum gewichtigsten Hindernis für dessen innere Entwicklung. Das verzweifelte Weinen des "launenhaften" Kindes, das sich nicht waschen, kämmen, ankleiden lassen will, legt Zeugnis ab von einem der ersten dramatischen Kämpfe des werdenden Menschen. Wer Glätte je vermutet, daß jenes törichte "dem Kind zu Hilfe kommen" die erste Wurzel aller Verdrängungen und damit der gefährlichsten Schädigungen ist, die der Erwachsene dem Kinde zufügen kann?

Das japanische Volk hat eine eigentümliche Vorstellung von der Kinderhölle.

Es gehört zu den japanischen Totenriten, in die Gräber der Kinder eine Menge Steinchen oder ähnlicher kleiner Gegenstände zu legen, die dazu dienen sollen, die Qualen abzuwenden, welche die bösen Geister im Jenseits den kleinen Abgeschiedenen zuzufügen trachten. Jedesmal, wenn das Kind etwas aufgebaut hat, kommt ein Dämon, stürzt sich darauf und reißt es wieder ein. Die Steinchen, welche die Angehörigen ihm mitgeben, sollen es ihm gestatten, wieder neu aufzubauen. Es ist das eines der eindrucksvollsten Beispiele für die Projektion des Unbewußten in ein jenseitiges Leben.

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14  Die Substitution der Persönlichkeit

 

 

 

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Der Erwachsene substituiert sich dem Kinde nicht nur dadurch, daß er Tätigkeiten an seiner Stelle ausführt, sondern oft auch, indem er dem Kind seinen Willen einflößt und diesen an die Stelle des kindlichen Willens setzt. Es ist dann nicht mehr das Kind, das handelt, sondern der Erwachsene handelt durch dieses hindurch.

Als Charcot in seinem berühmten psychiatrischen Institut die Substitution der Persönlichkeit bei Hysterikern mittels Suggestion vorführte, erzielte er damit einen außerordentlich starken Eindruck, weil seine Versuche eine der grundlegenden Anschauungen erschütterten, die bis dahin für völlig gesichert gegolten hatten, nämlich, daß der Mensch Herr seiner Handlungen sei. Demgegenüber ließ sich jetzt experimentell nachweisen, daß eine Versuchsperson durch Suggestion dahingebracht werden konnte, ihre eigene Persönlichkeit zu unterdrücken und eine fremde an deren Stelle treten zu lassen — die Persönlichkeit des Hypnotiseurs.

Obwohl auf das klinische Feld und auf sehr eng begrenzte Versuche beschränkt, öffneten diese Experimente doch den Weg zu völlig neuen Forschungen und Entdeckungen. Von ihnen nahmen die Studien über die Doppelpersönlichkeit, über das Unter­bewußtsein, über die höheren psychischen Zustände und schließlich die vertieften Erkenntnisse der Psychoanalyse in bezug auf das Unbewußte ihren Ausgang.

Nun gibt es aber einen für die Suggestion besonders zugänglichen Lebensabschnitt: jene Kindheit, in der das Bewußtsein in Formung begriffen ist und in ihm eine schöpferische Empfänglichkeit gegenüber den von außen kommenden Eindrücken vorherrscht. In diesem Stadium kann der Erwachsene sich in die Kinderseele einschleichen und mit seinem Willen den noch in Formung befindlichen kindlichen Willen beeinflussen.

Es ist in unseren Schulen vorgekommen, daß dem Kinde die Ausführung einer Übung zu temperamentvoll erklärt wurde, daß die Lehrerin dabei übertrieben energische Bewegungen vollführte oder alles zu genau machte. Dann sahen wir, wie in dem Kinde die Fähigkeit erlosch, gemäß seiner eigenen Persönlichkeit zu urteilen und zu handeln. Es führte dann Bewegungen aus, die sichtlich von seinem eigenen Ich abgelöst waren; dieses Ich wurde aus seiner Herrscherrolle verdrängt durch die Persönlichkeit der Lehrerin, deren Handlungsweise eine solche suggestive Kraft ausübte, daß die zarte Persönlichkeit des Kindes dadurch gewissermaßen ihrer ausführenden Organe beraubt wurde. Der Erwachsene nötigt dem Kind nicht nur bewußt, sondern auch unwillentlich und unwissentlich, ja, ohne daß er sich überhaupt des Problems bewußt wird, seinen eigenen Willen auf. 

Das nachstehende Beispiel erlebte ich selbst: Ich sah, wie ein etwa zweijähriges Kind ein Paar gebrauchte Schuhe auf die weiße Decke eines frischgemachten Bettes stellte. Mit einer spontanen, ich möchte sagen zufälligen und unbeabsichtigten Bewegung ergriff ich die Schuhe, stellte sie in einer Ecke auf den Boden und sagte: "Die sind schmutzig." Hierauf putzte ich mit der Hand die Bettdecke dort ab, wo die Schuhe gestanden hatten. Seit diesem Zwischenfall lief der kleine Junge auf jedes Paar Schuhe zu, dessen er ansichtig wurde, stellte es fort, sagte: "Die sind schmutzig" und strich mit der Hand über das Bett, obgleich die Schuhe es nie berührt hatten.

Ein anderes Beispiel: Eine Mutter erhielt zu ihrer Freude ein Paket, öffnete es und fand darin ein Stück Seide, das sie ihrem Töchterchen reichte, und eine Spielzeugtrompete, die sie selber zum Mund führte und ertönen ließ. Das Kind rief fröhlich: "Musik!" Und noch geraume Zeit nachher strahlte das Kind vor Glück und rief "Musik!", so oft es Gelegenheit hatte, ein Stück Stoff zu berühren. 

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Verbote stellen einen besonders günstigen Boden für das Eindringen eines fremden Willens in die Handlungen des Kinde» dar, wenn das Verhalten des Erwachsenen nicht so heftig ist, daß es eine Reaktion des Widerstandes auslöst. Dergleichen ereignet sich häufig in gebildeten Familien, in denen Selbstbeherrschung geübt wird, und bei kultivierten Kinderpflegerinnen. Recht bezeichnend ist der Fall eines etwa vierjährigen Mädchens, das mit seiner Großmutter in der Villa seiner Eltern allein zurückgeblieben war. Die Kleine wollte offensichtlich den Hahn eines Wasserbeckens im Garten öffnen und den Springbrunnen in Tätigkeit setzen, doch im letzten Moment zog sie die Hand wieder zurück. 

Die Großmutter gestattete ihr, den Hahn zu öffnen, das Kind jedoch antwortete: "Nein, das Fräulein hat's verboten." Nun versuchte die Großmutter, das Kind davon zu überzeugen, daß sie nichts dagegen habe, und erinnerte es daran. daß man sich ja in der eigenen Villa befinde. Das kleine Mädchen lächelte, war sichtlich erfreut und befriedigt und hatte unverkennbar den Wunsch, den Springbrunnen zu sehen. Aber obwohl es erneut die Hand nach dem Hahn ausstreckte, zog es sie unverrichteter Dinge wieder zurück. Sein Gehorsam gegenüber dem Verbot des abwesenden Fräuleins war in ihm so mächtig, daß das Zureden der Großmutter dagegen nichts vermochte.

In einem ähnlichen Fall handelte es sich um ein älteres Kind von ungefähr sieben Jahren. Wenn dieser Junge saß und aufspringen wollte, um auf etwas zuzueilen, das ihn aus der Ferne lockte, mußte er umkehren und sich wieder niedersetzen, als werde er von unüberwindlichen Schwankungen der Willensrichtung beherrscht. Welcher "Herr" solchermaßen in seinem Inneren befahl, war nicht herauszubekommen, denn dessen Gestalt hatte sich in der Erinnerung des Kindes bereits völlig verwischt

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   Die Liebe zur Umwelt   

 

Man kann sagen, die leichte Beeinflußbarkeit der Kinder sei eine Übersteigerung einer bestimmten aufbauenden Seelenfunktion, und zwar jener charakteristischen inneren Empfänglichkeit, für die wir die Bezeichnung "Liebe zur Umwelt" geprägt haben. Das Kind beobachtet die Dinge seiner Umgebung mit leidenschaftlichem Eifer und wird von ihnen angezogen; ganz besonders aber wird es von den Handlungen der Erwachsenen fasziniert, die es kennenlernen und nachahmen möchte. 

Nun könnte dem Erwachsenen in dieser Beziehung eine Art Mission zufallen, nämlich die, das Kind bei seinem Tun anzuregen und wie ein offenes Buch zu sein, aus welchem das Kind Führung für seine eigenen Bewegungen gewinnen und lernen könne, was es lernen muß, um richtig zu handeln. Um jedoch dieser Rolle gerecht zu werden, müßte der Erwachsene stets ruhig sein und seine Handlungen langsam ausführen, damit jede Bewegung dem beobachtenden Kinde in allen Einzelheiten klar werde.

Gibt sich der Erwachsene hingegen seinen eigenen, schnellen und gewaltsamen Rhythmen hin, so hat dies leicht zur Folge, daß er auf dem Wege der Suggestion seinen eigenen Willen an die Stelle des kindlichen setzt.

Auch die Gegenstände selbst können durch ihren sinnlichen Anreiz eine Art suggestiver Gewalt über das Kind gewinnen und dessen Tätigkeit magnetisch anziehen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein interessantes Experiment anführen, das Professor Lewin durchgeführt und auf einem Filmstreifen festgehalten hat. Zweck dieses Experimentes war es, das unterschiedliche Verhalten normaler und geistesschwacher Kinder in unseren Schulen (bei gleichem Alter und gleichen äußeren Bedingungen) vor denselben Gegenständen aufzuzeigen.

Auf einem langen Tisch befinden sich die verschiedensten Dinge, darunter einiges von unserem Lehrmaterial. Zuerst tritt eine Gruppe von Kindern ein. Sie werden sichtlich von den Gegenständen angezogen und interessieren sich dafür. Sie sind lebhaft, lächeln und scheinen glücklich über die Fülle der vor ihnen ausgebreiteten Dinge.

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Jedes von ihnen sucht sich einen Gegenstand aus, tut etwas damit, greift dann nach einem anderen und so fort. Der erste Teil des Films ist damit zu Ende.

Dann erscheint auf der Leinwand eine zweite Kindergruppe. Diesmal handelt es sich um Kinder, die sich langsam bewegen, stehenbleiben, schauen, kaum nach einem Gegenstand greifen und in scheinbarer Trägheit verharren. Die zweite Aufnahme ist zu Ende.

Welche von den beiden Gruppen bestand aus geistesschwachen und welche aus normalen Kindern? Die geistesschwachen waren die lebhaften, fröhlichen Kinder, die sich viel bewegten, die von einem Gegenstand zum ändern übergingen und alles ausprobieren wollten. Auf das Publikum, das den Film ansieht, machen sie den Eindruck der größeren Intelligenz, weil jedermann gewohnt ist, lebhafte, fröhliche, von einem Gegenstand zum anderen eilende Kinder für intelligent zu halten.

In Wirklichkeit aber bewegen sich normale Kinder ruhig, sie stehen gern lange an einer Stelle und starren ein Objekt an, so als ob sie tiefe Betrachtungen darüber anstellten. Ruhe, sparsame, gemessene Bewegungen, Neigung zur Nachdenklichkeit — das sind also die wahren Kennzeichen eines normalen Kindes.

Das eben zitierte Experiment scheint im Gegensatz zu allen vorherrschenden Ansichten zu stehen, denn in der gewöhnlichen Umwelt benehmen sich die intelligenten Kinder so, wie in jenem Film die geistesschwachen. Das normale Kind, das langsam und nachdenklich ist, stellt einen neuen Typus dar; aber es ist sogleich zu erkennen, daß bei diesem Kind die langsamen, kontrollierten Bewegungen wirklich vom eigenen Ich beherrscht werden und der Vernunft unterworfen sind. Es ist Herr über die Suggestion, die von den Dingen ausgeht, und verfährt mit diesen Dingen nach freiem Ermessen. Worauf es ankommt, ist also nicht die Lebhaftigkeit der Bewegungen, sondern die Beherrschung seiner selbst. 

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Es ist nicht wichtig, daß das Individuum sich auf irgendwelche Art und in irgendwelcher Richtung bewegt, sondern daß es dahin gelangt ist, die eigenen motorischen Organe zu beherrschen. Die Fähigkeit, sich gemäß der Leitung durch sein Ich zu bewegen und nicht nur gemäß der von den äußeren Dingen ausgehenden Anziehungskraft, führt das Kind dazu, sich auf ein einziges Ding zu konzentrieren, und diese Konzentration hat ihren Ursprung in seinem Innenleben.

Wahrhaft normal ist eine vorsichtige, nachdenkliche Art, Bewegungen auszuführen, und in ihr drückt sich eine Ordnung aus, die man innere Disziplin nennen darf. Die Diszipliniertheit der äußeren Handlung ist der Ausdruck einer inneren Disziplin, die sich rings um ein Ordnungsgefühl gebildet hat. Fehlt diese innere Disziplin, dann entgleiten die Bewegungen den von der Persönlichkeit gesetzten Richtlinien, sie werden zum Spielball jedes fremden Willens und aller äußeren Eindrücke, gleich einem steuerlos dahintreibenden Boot.

Von außen kommende Willenseinflüsse werden schwerlich zu einer Disziplin der Handlungen führen, denn sie schaffen keine innere Organisation. Man kann dann von einer Spaltung der Individualität sprechen. Das Kind hat in einem solchen Falle die Gelegenheit versäumt, sich gemäß seiner eigenen Natur zu entwickeln, und man könnte es mit einem Menschen vergleichen, der mit einem Luftballon inmitten einer Wüste gelandet ist. Er sieht, wie der Wind den Ballon fortträgt und wie er allein zurückbleibt. Er kann nichts tun, um den Ballon wieder in seine Gewalt zu bringen, und er findet rings um sich nichts, das ihn ersetzen könnte. So sieht der Mensch aus, der aus dem Kampf zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde hervorgehen kann. Seine Intelligenz ist verdunkelt, ungenügend entwickelt und von ihren Ausdrucksmitteln getrennt, die ihrerseits regellos umherschweifen und den Elementen preisgegeben sind.

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15  Die Bewegung

 

 

 

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Immer wieder muß auf die Wichtigkeit hingewiesen werden, die der Bewegung beim Aufbau der Seele zukommt. Man hat einen schweren Irrtum begangen, die Bewegung einfach den verschiedenen Körperfunktionen zuzurechnen, ohne hinlänglich zwischen dem Wesentlichen dieser einen Funktion und allen anderen — wie Verdauung, Atmung usw. — zu unterscheiden. In der Praxis pflegt man in der Bewegung nichts anderes zu sehen als eine Betätigung, die zum normalen Funktionieren des Körpers beiträgt, indem sie die Atmung, die Verdauung und den Blutkreislauf fördert.

Nun ist aber die Bewegung eine wichtige und charakteristische Eigenschaft des animalischen Daseins und übt als solche auch einen Einfluß auf das vegetative Leben aus. Es handelt sich sozusagen um ein Charakteristikum, das früher da ist als alle anderen Funktionen und sie an Bedeutsamkeit überragt. Wie falsch es wäre, die Bewegung lediglich von körperlichen Gesichtspunkten aus zu beurteilen, zeigt uns der Sport: Dieser hat nicht nur eine günstige Wirkung auf den körperlichen Zustand, sondern erfüllt seine Anhänger auch mit Mut und Selbstvertrauen, hebt ihre Moral und weckt enorme Begeisterung bei den Massen. Das jedoch bedeutet, daß seine seelischen Auswirkungen weit bedeutsamer sind als die rein körperlichen.

Die Entwicklung des Kindes, bestimmt durch individuelle Anstrengung und Übung, ist nicht nur das Ergebnis einer einfachen vom Lebensalter abhängigen Naturerscheinung sondern sie hängt ebensosehr von seelischen Kundgebungen ab. Es ist sehr wichtig, daß das Kind in die Lage kommt, Eindrücke zu sammeln und klar und geordnet zu behalten, denn das Ich baut die eigene Intelligenz mittels der sensitiven Kräfte auf, die seine Energie leiten. Diese dauernde innere und verborgene Bemühung führt zur Herausbildung der Vernunft, das heißt jenes Vermögens, das letztlich den Menschen als vernunftbegabtes, denkendes, urteilendes, wollendes und gemäß seinem Willen sich bewegendes Wesen auszeichnet.

Der Erwachsene wartet einfach, daß sich die Vernunft des Kindes mit der Zeit, das heißt mit zunehmendem Alter, entwickle. Er bemerkt die Anstrengungen des Kindes, das kraft seiner eigenen Bemühungen wächst, unternimmt aber nichts, um ihm dabei zu Hilfe zu kommen. Sobald dann das vernunftbegabte Wesen im Kinde zutagetritt, stellt er der kindlichen seine eigene Vernunft entgegen. Vor allem aber hindert er das Kind immer dann an der Betätigung seines Willens, wenn dieser sich in Bewegungen auszudrücken sucht. 

Um den Wesenskern der kindlichen Bewegung zu begreifen, müssen wir diese als Verkörperung der schöpferischen Kraft auffassen, die den Menschen auf die Höhe seiner Gattung bringt. Erst der von der Seele beherrschte Bewegungsapparat stellt das Werkzeug dar, mit dessen Hilfe der Mensch auf eine äußere Umwelt einzuwirken, seine Persönlichkeit auszudrücken und seine Mission zu erfüllen vermag. Die Bewegung ist nicht nur Ausdruck des Ichs, sondern ein unerläßlicher Faktor für den Aufbau des Bewußtseins; bildet sie doch das einzige greifbare Mittel zur Herstellung klar bestimmter Beziehungen zwischen Ich und äußerer Realität. Die Bewegung ist somit ein wesentlicher Faktor beim Aufbau der Intelligenz, die zu ihrer Nahrung und Erhaltung der Eindrücke aus der Umwelt bedarf. 

Sogar die abstrakten Vorstellungen reifen ja aus den Kontakten mit der Wirklichkeit, und die Wirklichkeit kann nur durch Bewegung aufgenommen werden. Abstrakteste Vorstellungen, wie die des Raumes und der Zeit, erwachsen aus der Bewegung, die den Geist mit der Außenwelt verbindet. Aber das geistige Organ vollführt seine Tätigkeit in zweifachem Sinne, als innere Wahrnehmung und als äußere Ausführung. Nichts ist komplizierter als der Aufbau der menschlichen Bewegungsorgane. 

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Die Zahl der hierfür vorgesehenen Muskeln ist so groß, daß wir gar nicht alle gebrauchen können, so daß man sagen kann, der Mensch verfüge jederzeit über eine Reserve nicht betätigter Organe. Wer berufsmäßig schwierige Handarbeiten auszuführen hat, betätigt und gebraucht gewisse Muskeln, die etwa bei einem Tänzer nie in Aktion treten, und umgekehrt. Man kann sagen, daß die Persönlichkeit bei ihrer Entwicklung stets nur einen Teil ihrer selbst verwendet.

Eine gewisse Muskeltätigkeit ist erforderlich, damit der Mensch sich in normalem Zustand erhalte. Diese bei jedem Menschen funktionierenden Muskeln stellen die Grundlage dar, worauf sich dann die ungezählten individuellen Möglichkeiten aufbauen. Bleibt diese normale Anzahl von Muskeln nicht regelmäßig in Tätigkeit, so führt das zu einer Herabminderung der individuellen Energien.

Bleiben in unserem Körper solche Muskeln unbenutzt, die normalerweise in Funktion sein sollten, so bewirkt dies nicht nur eine körperliche, sondern auch eine moralische Niedergeschlagenheit. So sind bei der Muskeltätigkeit immer auch geistige Energien mit im Spiel.

Am besten lernen wir die Bedeutung der Bewegung verstehen, wenn wir die direkte Verbindung ins Auge fassen, die zwischen den Bewegungsfunktionen und dem Willen besteht. Alle vegetativen Funktionen des Körpers hängen wohl mit dem Nervensystem zusammen, unterstehen aber nicht der Einwirkung des Willens. Jedes Organ hat seine eigene, festgelegte Funktion, die es dauernd erfüllt, und die Gewebe weisen die ihren Funktionen entsprechende Struktur auf, ähnlich den spezialisierten Fachleuten und Arbeitern, die schließlich nichts mehr tun können, was nicht in ihr Fach fällt. Der grundlegende Unterschied zwischen diesen Geweben und den Muskelfibern besteht darin, daß die Muskelzellen zwar auch für ihre spezialisierte Aufgabe bestens geeignet sind, jedoch nicht dauernd und selbsttätig arbeiten. 

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Sie brauchen einen Befehl, um in Aktion zu treten und tun nichts ohne einen solchen. Man könnte sie mit Soldaten vergleichen, die den Befehl ihrer Vorgesetzten erwarten und sich einstweilen nur mit Disziplin und eifriger Zucht auf die ihnen bevorstehende Aufgabe vorbereiten.

Die vegetativen Körperzellen haben festumrissene Funktionen, wie etwa die, Milch oder Speichel zu erzeugen, Sauerstoff zu binden, schädliche Stoffe auszuscheiden oder Mikroorganismen zu bekämpfen. In ihrer Gesamtheit erhalten sie durch beständige Arbeit die Ökonomie des Körpers aufrecht, nicht viel anders als die Arbeitsorganisationen im Gefüge der menschlichen Gesellschaft. Ihre Eignung für eine bestimmte Arbeit ist wesentlich für das Funktionieren des Ganzen.

Die große Menge der Muskelzellen hingegen muß frei, beweglich und schnell sein, um jederzeit einem gegebenen Befehl gehorchen zu können.

Hierzu jedoch bedarf es der Schulung, und da diese nur durch lange Betätigung erworben werden kann, ist es unerläßlich, daß es zu einer solchen auch wirklich komme. Nur so kann die Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen erzielt werden, die gemeinsam in Tätigkeit treten und die empfangenen Befehle genauestens ausführen sollen.

Diese vollkommene Organisation gründet sich auf eine Disziplin, die es möglich macht, daß ein vom Mittelpunkt ausgehender Befehl an jeden beliebigen Punkt der Peripherie und zu jedem betroffenen Individuum gelangt. Nur in solcher Verfassung ist der Organismus in seiner Gesamtheit imstande, wunderbare Leistungen zu vollbringen.

Wozu wäre der Wille nütze ohne sein Werkzeug? Die Bewegung ist das Mittel, wodurch der Wille alle Fibern zu durchdringen und sich selbst zu verwirklichen vermag. Wir können beobachten, welche Anstrengung das Kind aufwendet und welche Kämpfe es besteht, um dieses Ziel zu erreichen. 

Sein Wunsch, besser gesagt sein Impuls, treibt es dazu an, die Beherrschung des Organs immer weiter zu vervollkommnen, ohne die es nichts weiter wäre als das Schattenbild eines Menschen ohne Willen. Es wäre in solchem Falle nicht nur unfähig, die Früchte seiner Intelligenz nach außen hin kundzugeben, sondern diese Intelligenz würde gar keine Früchte tragen. Das Organ der Willensfunktion ist nicht bloß ein ausführendes Werkzeug, sondern auch ein Werkzeug des Aufbaus.

Eine der am wenigsten erwarteten und daher überraschendsten Kundgebungen der Kinder, die in unseren Schulen die Möglichkeit fanden, sich frei zu betätigen, bestand in der liebevollen Genauigkeit, mit der sie ihre Arbeiten ausführten. Bei dem Kinde, das ein freies Leben führen darf, beobachten wir Handlungen, aus denen nicht nur das Bestreben spricht. Außeneindrücke in sich aufzunehmen, sondern auch die Liebe zur Genauigkeit in der Auffassung seiner Handlungen. Man erhält von solchen Kindern den Eindruck, als treibe eine innere Kraft ihren Geist der Verwirklichung seiner selbst entgegen. Das Kind ist ein Entdecker: ein Mensch, geboren aus einem gestaltlosen Nebel, auf der Suche nach seiner eigenen, strahlenden Form begriffen.

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16  Die Verständnislosigkeit

 

 

 

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Der Erwachsene, der von der Wichtigkeit der Bewegungstätigkeit beim Kinde keine Ahnung hat, sucht diese Aktivität einzuschränken, als könnte sie Störungen verursachen.

Sogar den Männern der Wissenschaft und den Erziehern war die große Bedeutung der Tätigkeit für den Aufbau des Menschen entgangen. Dabei enthält doch bereits das Wort "animalisch" in sich den Begriff animatio, Bewegung, und der Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren besteht darin, daß die ersteren an ihren Standort gebunden sind, während die letzteren sich bewegen können. Wie kann man da daran denken, der Bewegung des Kindes Beschränkungen aufzuerlegen?

Aus dem Unterbewußtsein des Erwachsenen kommen Ausdrücke wie: "Das Kind ist eine Pflanze, eine Blume", was soviel bedeutet wie: "Es hat still zu bleiben". Man sagt auch: "Ein Engel!" Das heißt, man macht aus dem Kind ein Wesen, das sich zwar bewegen und sogar fliegen kann, aber außerhalb der Welt, in der die Menschen leben.

Man sieht, die menschliche Seele ist in geheimnisvoller Weise mit Blindheit geschlagen, und zwar in einem Ausmaß, das über die engen Grenzen dessen hinausgeht, was die Psychoanalyse als "Teilblindheit" im Unbewußten des Menschengeschlechtes bezeichnet.

Diese Blindheit hat sehr tiefe Wurzeln, denn nur so kann es erklärt werden, daß sogar die Wissenschaft mit ihren präzisen Methoden zur Entdeckung des Unbekannten an einer so augenfälligen Erscheinung achtlos vorbeigegangen ist. Niemand bestreitet die Wichtigkeit der Sinnesorgane für den Aufbau der Intelligenz, und da der Wert der Intelligenz selbst allgemein anerkannt wird, ist es allen klar, daß Taubstumme und Blinde in ihrer Entwicklung auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen müssen; sind doch Gehör und Gesicht die Pforten der Intelligenz, intellektive Sinne. Allgemein ist man der Ansicht, daß unter sonst gleichen Bedingungen Taubstumme und Blinde an Intelligenz hinter Vollsinnigen zurückbleiben. Da die Leiden, denen Taubstumme und Blinde unterworfen sind, nach allgemeiner Auffassung besonderer Art sein müssen, sind sie mit perfekter körperlicher Gesundheit durchaus vereinbar. Nun würde wohl niemand auf den absurden Gedanken verfallen, ein Kind dadurch zur rascheren Aufnahme intellektueller Kultur und gesellschaftlicher Moral zu veranlassen, daß man es der Sehkraft und des Gehörs beraubt. Nie würde man auch daran denken, zur Verbesserung der Kultur auf Blinde und Taubstumme zurückzugreifen.

Dagegen ist es äußerst schwierig, der großen Menge der Menschen begreiflich zu machen, wie wichtig die Bewegung für den geistigen und moralischen Aufbau des Menschen ist. Ein Mensch, dessen Tätigkeitsorgane in der Zeit seines Aufbaues künstlich verkrüppelt würden, wäre dazu verurteilt, unweigerlich zurückzubleiben und in einen Zustand der Minderwertigkeit zu verfallen, schlimmer als der durch das Fehlen eines intellektiven Sinnes verursachte.

Der Mensch, der "Gefangener seines Fleisches" bleibt, leidet anders, tragischer und tiefer als der Blinde oder der Taubstumme. Denn diesem fehlen zwar einige Elemente der Umwelt und somit bestimmte äußere Entwicklungsmöglichkeiten, aber ihr Geist besitzt eine solche Anpassungsfähigkeit, daß die gesteigerte Empfindlichkeit eines ihrer Sinne den Ausfall des anderen wenigstens bis zu einem erheblichen Grade wettmachen kann. Die Bewegung aber ist mit der Persönlichkeit selbst verknüpft und kann durch nichts ersetzt werden. Der Mensch, der sich nicht bewegt, verletzt sich selbst in seinem tiefsten Wesen, verzichtet auf sein Leben, stürzt in einen ausweglosen Abgrund, verwandelt sich lebenslang in einen Gefangenen und gleicht den biblischen Gestalten der ersten Menschen nach der Vertreibung aus dem Paradies, die voll Scham und Schmerz den unbekannten Leiden einer unbekannten Welt entgegenwandern.

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Wenn von "Muskeln" die Rede ist, denkt man meist an etwas Mechanisches, an eine Art Bewegungsmaschinerie. So könnte es scheinen, als entfernten wir uns von dem Begriff, den wir uns vom Geist als Gegensatz der Materie und somit aller Mechanismen gemacht hatten.

Indem wir der Bewegung größere Bedeutung für die Entwicklung der Intelligenz und damit des ganzen Menschen beimessen als den intellektiven Sinnen, stürzen wir scheinbar grundlegende Ideen um.

Auch im Auge und im Ohr gibt es Mechanismen. Nichts könnte vollkommener sein als der "lebende Fotoapparat", das Auge; und die Konstruktion des Ohres ist ein bewunderungswürdiges Ganzes aus schwingenden Bändern und Membranen, eine Jazzkapelle, in der nicht einmal die Trommel fehlt.

Aber wenn wir von der Bedeutung dieser großartigen Instrumente für den Aufbau der menschlichen Intelligenz sprechen, denken wir an sie nicht in ihrer Eigenschaft als mechanische Apparate, sondern an den Gebrauch, den der Mensch von ihnen macht. Durch diese Apparate setzt er sich mit der Welt in Verbindung, und er benutzt sie gemäß seinen seelischen Notwendigkeiten. Der Anblick der Natur und ihrer Schauspiele, eines Sonnenunterganges oder eines Kunstwerkes, die äußeren Klangeindrücke, die Stimme sprechender Menschen, Musik — alle diese vielfältigen, unablässigen Wahrnehmungen verschaffen dem inneren Ich den Genuß seelischen Lebens und die erforderliche Nahrung für die Seele. Das Ich ist es, das allein aus den Sinneseindrücken Gewinn zu ziehen vermag, sie beurteilt und bewertet.

Welchen Zweck hätten die Mechanismen unserer Sinnesorgane, gäbe es nicht das Ich, das fähig ist, zu sehen und zu genießen? An und für sich bleiben Sehen und Hören ganz unwichtig, aber die Persönlichkeit des Ichs bildet und erhält sich, genießt und wächst während des Sehens und Hörens.

Analoge Überlegungen lassen sich für die Bewegung anstellen. Zweifellos erfolgt auch sie mittels mechanischer Organe, wenngleich sie nicht starre und feste Mechanismen sind wie die Membran des Trommelfelles oder die Linse des Auges. Aber das Grundproblem des menschlichen Lebens, und folglich der Erziehung, besteht auch hier darin, daß es dem Ich gelinge, seine Bewegungsorgane zu beleben und zu besitzen, um in seinen Handlungen jenem Element gehorchen zu können, das über alle gemeinen Wirklichkeiten und Funktionen des vegetativen Daseins erhaben ist. Jenem Element, das im allgemeinen der Instinkt ist, beim Menschen aber die Intelligenz und in dieser Form der Schöpfergeist selbst.

Das Ich, das nicht imstande ist, diese grundlegenden Bedingungen zu erfüllen, zerfällt, gleich einem Instinkt, der, losgelöst von dem Körper, den er beleben sollte, in der Welt kein Ziel mehr hätte.

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17  Die Schaukraft der Liebe

 

 

 

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Alle jene Strebungen des Lebens, die, nach ihren eigenen Gesetzen verlaufend, auf die Herstellung harmonischer Beziehungen zwischen den Lebewesen abzielen, gelangen unter der Form der Liebe zu unserem Bewußtsein. Man könnte sagen, die Liebe sei der Maßstab für das Heil und die Gesundheit der Seele.

Ohne Zweifel ist sie nicht selbst der bewegende Motor sondern eine Art Reflex, gleich dem Licht, das die Sterne von einem größeren Himmelskörper empfangen. Der Impuls ist der Instinkt, der den schöpferischen Anstoß zum Leben gibt. Bei dieser seiner Verwirklichung der Schöpfung aber sucht der Instinkt Liebe zu wecken. So kommt es, daß das Bewußtsein des Kindes von Liebe erfüllt ist, ja daß das Kind erst durch die Liebe zur Selbstverwirklichung findet.

Schon der unwiderstehliche Trieb, der während der "sensitiven Perioden" das Kind mit den Dingen seiner Umgebung verbindet, kann als Liebe zu seiner Umwelt angesprochen werden. Offenbar handelt es sich hier um etwas, das von den allgemein verbreiteten Vorstellungen von der Liebe abweicht. Man versteht darunter in der Regel ein Gefühl; doch die kindliche Liebe kommt aus der Intelligenz, und sie baut auf, indem sie liebevoll sieht und beobachtet. Die Eingebung, die das Kind dazu drängt zu beobachten, ließe sich mit einem Wort Dantes "intelletto d'amore" (Intelligenz, Schaukraft der Liebe) nennen.

Die Fähigkeit, lebhaft und genau solche Züge der Umwelt zu beobachten, die für uns Erwachsene, denen jene Lebendigkeit bereits abhanden gekommen ist, völlig unwichtig erscheinen, ist zweifellos eine Form von Liebe. Ist nicht gerade die Empfänglichkeit, die uns an einer Erscheinung Züge bemerken läßt, die andere nicht sehen, nicht schätzen, nicht entdecken, ein charakteristisches Kennzeichen der Liebe? Der Intelligenz des Kindes entgeht auch das Verborgene nicht, eben weil es mit Liebe beobachtet, nie aber mit Gleichgültigkeit. Dieses aktive, brennende, eingehende und dauernde Sichversenken in Liebe ist ein Merkmal des Kindesalters.

Der Erwachsene sieht in der Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit Kundgebungen eines intensiven Lebens und somit ein typisches Kennzeichen des Kindesalters; er läßt dabei die Liebe, das heißt die geistige Energie, außer acht und verwendet keinen Blick auf die moralische Schönheit, die das Schöpfungswerk des werdenden Menschen begleitet.

Im Kinde ist die Liebe noch frei von Widersprüchen. Es liebt, weil es die Welt in sich aufnimmt, weil die Natur ihm dies gebietet. Und es absorbiert alles, was es aufnimmt, um es dem eigenen Leben, der eigenen Persönlichkeit einzuverleiben.

Innerhalb der kindlichen Umwelt bildet der Erwachsene den wichtigsten Gegenstand der Liebe; von ihm erhält das Kind die materiellen Hilfen, von ihm nimmt es, mit intensiver Liebe, das, was es zur eigenen Formung benötigt. Für das Kind ist der Erwachsene ein verehrungswürdiges Wesen; von seinen Lippen strömen, wie aus einer unerschöpflichen Quelle, die Worte, deren das Kind für sein eigenes Sprechvermögen bedarf und die es bei seinem weiteren Tun leiten werden. Die Worte des Erwachsenen wirken auf das Kind gleich Anregungen aus einer höheren Welt.

Mit seinen Handlungen zeigt der Erwachsene dem aus dem Nichts gekommenen Kind, wie Menschen sich zu bewegen haben. Ihn nachahmen, bedeutet für das Kind ins Leben eintreten. Worte und Handlungen des Erwachsenen bezaubern und faszinieren das Kind dermaßen, daß sie suggestive Kraft über seine Seele erlangen. Die Sensibilität des Kindes dem Erwachsenen gegenüber ist so groß, daß der Erwachsene im Kinde selbst zu leben und zu handeln vermag. Die Episode des Jungen, der die Schuhe auf die Bettdecke gestellt hatte, verrät, bis zu welchem Punkt der Gehorsam des Kindes und die Suggestivkraft des Erwachsenen gehen kann.

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Was der Erwachsene dem Kind sagt, bleibt diesem eingeprägt, als wäre es mit einem Meißel in Marmor gehauen. Man erinnere sich an das Beispiel des kleinen Mädchens, dessen Mutter ein Paket mit Stoff und mit einer Trompete erhalten hatte. Darum sollte der Erwachsene jedes Wort, das er in Gegenwart von Kindern spricht, sorgfältig abwägen, denn das Kind dürstet danach, zu lernen und Liehe in sich aufzuspeichern.

Dem Erwachsenen gegenüber neigt das Kind zu einem Gehorsam, der bis an die Wurzeln seines Geistes reicht. Verlangt der Erwachsene jedoch, daß das Kind ihm zuliebe auf Betätigungen verzichte, die jedes Geschöpf nach unabänderlichen inneren Regeln und Gesetzen vollführen muß, dann kann das Kind einfach nicht gehorchen. Man könnte ihm ebensogut befehlen, mit dem Wachstum seiner Zähne innezuhalten. Die Launen und Anfälle von Ungehorsam beim Kinde sind nichts anderes als der Ausdruck eines vitalen Konfliktes zwischen schöpferischem Impuls und der Liebe zu dem Erwachsenen, der das Kind nicht versteht. Jedesmal, wenn der Erwachsene statt auf Gehorsam auf eine Laune des Kindes stößt, sollte er an diesen Konflikt denken und einsehen, daß das Kind etwas verteidigt, was für seine Entwicklung lebensnotwendig ist.

Nie dürfen wir vergessen, daß das Kind gehorchen möchte und daß es liebt. Das Kind liebt den Erwachsenen über alles, während wir für gewöhnlich bloß sagen: »Wie doch die Eltern das Kind lieben!" Auch von den Lehrern heißt es: "Wie sie die Kinder lieben!" Man glaubt gemeinhin, es sei nötig, den Kindern die Liebe zu den Eltern, zu Mutter, Vater, Lehrern, den Menschen im allgemeinen, den Tieren, den Pflanzen, den Dingen erst von außen her beizubringen.

Wer aber lehrt die Kinder lieben? Etwa der Erwachsene, der alle Lebensäußerungen des Kindes Launen nennt und sich und all seine Habe gegen das Kind zu verteidigen sucht? Ein solcher Mensch kann nicht Lehrer der Liebe sein, denn er besitzt nicht jenes Feingefühl, das wir oben "Schaukraft der Liebe" genannt haben.

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Wer wirklich liebt, ist das Kind, das den Erwachsenen bei sich haben will und immer wieder seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen sucht: "Sieh mich an, bleib bei mir!"

Abends, wenn es zu Bett geht, ruft das Kind den geliebten Menschen zu sich und will nicht dulden, daß er es verlasse. Wenn wir uns zu Tisch setzen, will bereits der Säugling mit uns kommen, nicht um gleichfalls zu essen, sondern um uns zuzusehen und uns nahe zu sein. An dieser mystischen Liebe geht der Erwachsene meist achtlos vorbei. Doch wohlgemerkt: dieses kleine Wesen, das euch liebt, wird heranwachsen und wird eines Tages verschwunden sein. Wer wird euch dann beim Schlafengehen zu sich rufen und zärtlich sagen: "Bleib bei mir!" statt sich mit einem gleichgültigen "Gute Nacht" zu verabschieden? Wer wird noch einmal mit solcher Leidenschaft in eurer Nähe sein wollen, während ihr eßt, nur um euch zuzusehen? Wir wehren diese Liebe ab und werden doch nimmer ihresgleichen finden. Nervös sagen wir: "Ich habe keine Zeit, ich kann nicht, ich habe zu tun!" Und auf dem Grund unserer Seele denken wir: "Man muß diesen Kindern Manieren beibringen, sonst werden wir noch zu ihren Sklaven." Wir wollen uns von ihnen befreien, um nicht auf unsere Bequemlichkeit verzichten zu müssen.

Eine schreckliche Gewohnheit des Kindes besteht darin, daß es des Morgens Vater und Mutter aufweckt. Und das Fräulein sollte diese Missetat unbedingt verhindern und so den Schutzengel für den Morgenschlaf der Eltern spielen.

Was aber, wenn nicht die Liebe, treibt das Kind, alsbald nach seinem Erwachen zu den Eltern zu laufen?

Sobald es früh, bei Sonnenaufgang, gleich allen reinen Wesen, von seinem Lager aufspringt, macht das Kind sich auf die Suche nach den Eltern, als wolle es ihnen sagen: "Lernt doch, heilig zu leben! Es ist schon hell, der Morgen ist da!" Aber es kommt nicht als Lehrmeister, sondern einzig getrieben von dem Wunsch, die Wesen wiederzusehen, die es liebt.

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Das Zimmer ist vielleicht noch finster und gut abgeschlossen, damit kein störendes Licht von außen eindringt. Zögernd und voll Angst vor der Dunkelheit nähert sich das Kind; bald aber hat es diese Angst überwunden und berührt nun zärtlich die Eltern. Vater und Mutter schelten: "Haben wir dir denn nicht tausendmal gesagt, daß du uns nicht so früh wecken darfst?" "Ich wecke euch ja nicht", mag das Kind antworten, "ich wollte euch nur einen Kuß geben!"

Das bedeutet soviel, wie wenn es sagte: "Nicht körperlich wollte ich euch wecken — ich wollte euren Geist wachrufen!"

Ja, die Liebe des Kindes ist für uns von unermeßlicher Wichtigkeit. Vater und Mutter verschlafen ihr ganzes Leben, neigen dazu, über allem und jedem einzuschlafen, und brauchen ein junges Wesen, das sie weckt und mit der frischen, lebendigen Energie belebt, die sie selber nicht mehr besitzen — ein Wesen, das sich anders verhält als sie und ihnen Morgen für Morgen zuruft: "Erwacht zu einem anderen Leben! Lernt, besser zu leben!" Jawohl, besser zu leben: den Atemhauch der Liebe zu verspüren.

Ohne das Kind, das ihm hilft, sich ständig zu erneuern, würde der Mensch degenerieren. Wenn der Erwachsene sich nicht um Erneuerung bemüht, bildet sich rings um seinen Geist ein harter Panzer, der ihn gefühllos werden läßt, und damit verliert er schließlich sogar sein Herz. Man ist versucht, an die Worte des Jüngsten Gerichtes zu denken, mit denen Christus sich an die Verdammten wendet und sie verflucht — jene Verdammten, die nie von den Mitteln zur inneren Neugeburt, die das Leben ihnen bot, Gebrauch machen wollten! "Hinweg, ihr Verfluchten, denn ich bin krank gewesen, und ihr habt mich nicht gepflegt!"

Sie aber antworten:
"Herr, wann haben wir dich krank gesehen?"
Alles, was ihr einem von diesen, den Geringsten, getan habt, das habt ihr mir getan. Hinweg, ihr Verfluchten, denn ich lag im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht!"
"Oh Herr, wann lagst du im Gefängnis?"
"In jedem Gefangenen war ich selbst." 

Diese dramatische Szene des Evangeliums lehrt, daß es Pflicht des Menschen ist, dem in jedem Armen, in jedem Gefangenen, in jedem Leidenden verborgenen Christus beizustehen. Wollte man die wunderbare biblische Szene auf den Fall des Kindes anwenden, so käme man zu der Erkenntnis, daß Christus in Gestalt des Kindes zu allen Menschen kommt. 

"Ich habe dich geliebt, ich bin des Morgens zu dir gekommen, um dich zu erwecken, doch du hast mich zurückgestoßen!" 
"Wann, o Herr, bist du des Morgens in mein Haus gekommen, mich zu erwecken, und ich habe dich zurückgestoßen?" 
"Die Frucht deines Leibes, die kam und dich rief, war ich. Wer dich bat, ihn nicht allein zu lassen, war ich!" 

Wir Toren! Er war der Messias, der kam, uns zu erwecken und uns die Liebe zu lehren! Wir aber meinten, es mit einer Kinderlaune zu tun zu haben, und so überantworteten wir unser Herz der Verdammnis!

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