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Teil 2

18  Die Erziehung des Kindes 

 

 

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Es gilt der eindrucksvollsten Tatsache ins Auge zu sehen, daß das Kind ein Seelenleben hat, dessen zarte Ausdrucksformen unbemerkt bleiben, und daß der Erwachsene, ohne es zu wollen, den Aufbauplan der Kinderseele zunichte machen kann.

Die Umgebung des Erwachsenen ist keine lebensbringende Umwelt für das Kind, sondern eher eine Anhäufung von Hindernissen, zwischen denen das Kind Abwehrkräfte entwickelt, zu verbildenden Anpassungen genötigt wird und allerlei Suggestionseinflüssen unterliegt. Von dieser äußeren Wirklichkeit her ist bis heute die kindliche Psyche studiert worden, und von da her hat man seine Eigenschaften abgeleitet, die zur Basis der Erziehung gemacht wurden. 

Somit erweist sich eine grundlegende Revision der Kinderpsychologie als Notwendigkeit. 

Soviel haben wir bereits erkannt: Hinter jeder überraschenden Antwort eines Kindes verbirgt sich ein Geheimnis, und jede kindliche Laune ist Ausdruck einer tiefsitzenden Ursache, die nicht bloß als oberflächlicher Zusammenstoß kindlicher Abwehr­kräfte mit einer ungeeigneten Umwelt gedeutet werden darf. Hier gibt sich vielmehr ein höherer, wesentlicher Charakterzug des Kindes kund, der um seine Ausdrucksform ringt. Es ist, als ob ein Unwetter die Seele des Kindes hindere, aus ihrem verborgenen Zufluchtsort hervorzutreten und sich nach außen zu zeigen.

Nun ist es jedoch klar, daß alle diese Episoden, unter denen sich die Bemühungen der Kinderseele um ihre Selbstverwirklichung verbergen — alle diese Launen, Kämpfe und Verbildungen — nicht geeignet sind, uns die Idee einer Persönlichkeit zu geben. Sie stellen nichts weiter dar als eine Summe von Charakterzügen. Trotzdem muß diese Persönlichkeit vorhanden sein, da doch jener geistige Embryo, das Kind, in seiner Seelenentwicklung unverkennbar einem konstruktiven Aufbauplan folgt. 

So steckt also in dem Kind, wie wir es zu sehen vermögen, ein verborgener Mensch, ein unbekanntes Kind, ein lebendiges Wesen in einer Art Gefangen­schaft, das es zu befreien gilt. Hierin besteht die erste dringende Aufgabe der Erziehung, wobei befreien gleichbedeutend ist mit kennenlernen, entdecken von etwas Unbekanntem.

 

Wenn zwischen den Forschungen der Psychoanalyse und dieser Psychologie des "unbekannten Kindes" ein wesentlicher Unterschied besteht, so liegt er in folgendem: was im Erwachsenen verborgen liegt, wurde vom Individuum selbst verdrängt; somit muß sich der Arzt an das Individuum wenden und ihm helfen, ein Geflecht zu entwirren, das unter komplizierten Anpassungen, unter Symbolen und Verstellungen, wie sie sich während eines ganzen Lebens herausgebildet haben, begraben liegt. Das Verborgene im Kinde hingegen wird nur durch die Umwelt verdeckt, und daher gilt es auf diese Umwelt einzuwirken, um dem Kind einen freien Ausdruck seines Wesens zu ermöglichen. Das Kind befindet sich in einer Periode der Schöpfung und Ausweitung, und man braucht nichts anderes zu tun, als ihm die Tür zu offnen. Was hier sich schafft, was aus dem Nichtsein ins Dasein tritt, aus dem Stand des Potentiellen in den des Aktuellen übergeht, kann in diesem Augenblick noch keine Komplikationen haben; und die expansive Energie, die hier am Werk ist, kann selbst in ihrer Kundgebung keine Schwierigkeiten bieten.

Bereiten wir also dem Kind eine offene, seinem Lebensmoment angepaßte Umwelt, so wird sich die kindliche Seele spontan offenbaren; das Geheimnis des Kindes muß sich enthüllen. Wäre dem nicht so, alle Anstrengungen der Erziehung müßten in einem ausweglosen Labyrinth steckenbleiben.

Hierin also besteht die wahre neue Erziehung: in der Entdeckung zuerst und dann in der Befreiung des Kindes. Hierin besteht ja das Problem der Existenz schlechthin: im Existieren. Dann erst folgt das zweite Kapitel, das so lang ist wie die Entwicklung bis zum Erwachsenendasein: das Problem der Hilfen, die dem Kinde geboten werden müssen.

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Für beide Kapitel aber bildet die Grundlage eine Umwelt, die das Wachstum des Kindes begünstigt, indem sie alle Hindernisse auf ein Mindestmaß reduziert. Gerade auf diese Umwelt wirken sich die kindlichen Energien aus, und sie liefert alle die Mittel, deren diese Energien zu ihrer Betätigung bedürfen. Zu dieser Umwelt aber gehört auch der Erwachsene. Er muß sich den Bedürfnissen des Kindes anpassen, muß ihm zu seiner Unabhängigkeit verhelfen, darf ihm nicht zum Hindernis werden und darf sich ihm nicht bei den für sein Heranreifen wesentlichen Tätigkeiten substituieren.

So ist denn auch unsere Erziehungsmethode durch die zentrale Stellung gekennzeichnet, die ihr in der Umgebung eingeräumt wird.

Auch die Figur des Lehrers in unserer Methode stellte eine Neuerung dar, die viel Interesse und Diskussionen hervorgerufen hat: Wir sprechen von dem passiven Lehrer, der sich bemüht, das Hindernis beiseite zu räumen, das seine eigene Tätigkeit und Autorität darstellen könnte, und der somit bewirkt, daß das Kind von sich aus tätig werden kann. Wir meinen den Lehrer, der erst dann zufrieden ist, wenn er sieht, wie das Kind ganz aus sich heraus handelt und Fortschritte macht und der nicht selbst das Verdienst dafür in Anspruch nimmt. Dieser Lehrer soll sich die Haltung Johannes des Täufers zum Vorbild nehmen, der sagte: "Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen." Bekannt ist auch ein anderer von den Hauptgrundsätzen unserer Methode: die Achtung vor der Persönlichkeit des Kindes, die nie zuvor so entschieden gefordert worden ist.

Diese drei Hauptpunkte fanden ihre Verwirklichung in besonderen Erziehungsanstalten, die zunächst "Kinderhäuser" genannt wurden, welche Bezeichnung unsere Vorstellung von einem Familienmilieu gut ausdrückte.

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Wer diese Erziehungsbewegung verfolgt hat, weiß, daß sie stets umstritten war und es noch heute ist. Was daran besonders zum Widerspruch reizte, war die Umwälzung im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern: der Lehrer ohne Katheder, ohne die gewohnte Autorität, fast ohne Unterrichtsfunktion, und das Kind als Mittelpunkt des ganzen Betriebes, das allein lernt, das frei ist in der Wahl seiner Beschäftigung und Bewegung. Wenn man dergleichen schon nicht für utopisch hielt, so sah man darin doch vielfach eine tolle Übertreibung.

Allgemeinen Beifall hingegen fand jene andere Idee, die darin bestand, die materielle Umwelt der kindlichen Körpergröße anzupassen. Unsere hellen, lichtdurchfluteten Räume mit niedrigen, blumengeschmückten Fenstern, mit ihren kleinen Möbeln jeglicher Form, die ganz der Einrichtung eines modernen Wohnhauses glichen, die Tischchen, die Sesselchen, die bunten. Vorhänge, die niedrigen Schränke in Reichweite der Kinder, die dort nach Belieben Dinge aufstellen oder fortnehmen konnten — all das erschien wirklich als eine praktisch bedeutsame Verbesserung des Kinderdaseins. Und ich glaube, der größte Teil der "Kinderhäuser" hat dieses äußerliche Merkmal bis heute als Hauptkennzeichen beibehalten.

Nach langen Jahren und Jahrzehnten der Forschungen und Erfahrungen empfinden wir das Bedürfnis, nochmals auf das ganze Anliegen zurückzukommen und insbesondere von den Ursprüngen unserer Methode zu erzählen.

Es wäre ein großer Irrtum, anzunehmen, die mögliche Beobachtung von Kindern hätte uns zu der kühnen Idee geführt, im Kinde eine geheime Natur zu vermuten, und aus dieser Intuition sei dann der Gedanke einer neuen Schule und Erziehungsmethode hervorgewachsen. Unbekanntes läßt sich nicht beobachten. Unmöglich konnte jemand aus einer unklaren Ahnung heraus auf den Gedanken kommen, das Kind habe zwei Naturen, und sagen: "Jetzt will ich versuchen, das auch experimentell zu beweisen."

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Das Neue muß sozusagen kraft seiner eigenen Energie zum Vorschein kommen, und oft genug ist gerade der, vor dessen Augen es sich kundgibt, ungläubiger als ein Blinder. Er lehnt das Neue einfach ab, wie es die übrige Welt auch tut, und dieses Neue muß sich beharrlich immer wieder in sein Blickfeld drängen, bis er es endlich sieht, erkennt und stürmisch begrüßt. Aber wie gewaltig ist die Freude dessen, dem das neue Licht schließlich doch aufgegangen ist! Mit welcher Beglückung nimmt er es in sich auf und widmet ihm sein Leben! Sein Enthusiasmus läßt vermuten, er selbst habe jenes neue Licht geschaffen, während er doch nichts anderes getan hat, als für seine Manifestationen offen zu sein. Er wird dann an den Punkt gelangen, zu erkennen und zu tun, wie es im Evangelium geschrieben steht: "Das Himmelreich ist einem Kaufmann gleich, der auszog, schöne Perlen zu suchen. Und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er besaß, und kaufte sie." Das Schwierigste ist für uns stets, das Neue zu bemerken und sich davon zu überzeugen; denn gerade vor dem Neuen verschließen sich die Pforten unserer Wahrnehmung.

Das Reich des Geistes gleicht einem vornehmen Salon, der dem Unbekannten verschlossen ist. Wer ihn betreten will, muß durch jemanden eingeführt sein, der dort schon bekannt ist, muß "vom Bekannten zum Unbekannten gehen". Das Neue hingegen muß entweder die Türen einrennen oder sich heimlich einschleichen. Dann verursacht es in jenem Salon Überraschung und Verwirrung. Nicht ohne Erregung und Ungläubigkeit dürfte Volta beobachtet haben, wie ein toter, abgehäuteter Froschschenkel zu zucken begann; aber er hielt diese Tatsache fest und isolierte aus ihr die Elektrizität. Mitunter genügt eine winzige Kleinigkeit, um unbegrenzte Ausblicke aufzureißen, denn der Mensch ist seiner Natur nach ein Sucher, ein Forscher. Aber kein Fortschritt wäre möglich ohne die Entdeckung und Kenntnisnahme jener winzigen Kleinigkeiten.

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In der Physik und in der Medizin haben wir strenge Regeln dafür, was als ein neues Phänomen anzusehen ist. Ein neues Phänomen ist die Entdeckung einer Tatsache, die bis dahin unbekannt gewesen und nicht vermutet worden ist, die also für uns nicht existiert hat. Eine Tatsache ist immer objektiv und hängt daher nicht von Eingebungen ab. Wenn es sich darum handelt, die Existenz einer neuen Tatsache zu beweisen, so muß bewiesen werden, daß sie für sich besteht, d.h. sie muß isoliert werden. Der zweite Schritt besteht dann in der Erforschung der Umstände, unter denen das Phänomen in die Erscheinung tritt. Erst nach der Lösung dieses grundlegenden Problems kann man darangehen, mit dem Studium des Phänomens, mit seiner eigentlichen Erforschung, zu beginnen. Das Auftreten des Phänomens ist somit) das Vorzimmer seiner Erforschung. 

So gibt es denn eine Form des Studiums, die sich ausschließlich darauf beschränkt, ein Phänomene wieder und wieder hervorzubringen, es festzuhalten, sich seiner zu bemächtigen, damit es sich nicht, gleich einer Vision, wiederum in nichts auflöse, sondern zu einer greifbaren Wirklichkeit, zu einem festen Besitz und damit zu einem realen Wert werde. Unser erstes "Kinderhaus" liefert das Beispiel einer Entdeckung, die ursprünglich von winzigen Tatsachen ihren Ausgang nahm, jedoch alsbald ungeahnte Horizonte eröffnen.

 

   Die Ursprünge unserer Methode   

 

Gewisse Aufzeichnungen, die ich unter meinen alten Papieren gefunden habe, beschreiben die Ursprünge unserer Methode in folgender Weise: Wer seid ihr?

Es war der sechste Januar 1907, als unsere erste Schule für geistig normale Kinder von drei bis sechs Jahren eröffnet wurde. Ich kann nicht sagen, dies sei die erste nach meiner Methode geführte Schule gewesen, denn es gab diese Methode damals noch nicht;

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doch sollte sie sich sehr bald daraus entwickeln. An jenem Tag war nicht viel mehr zu sehen als ein halbes Hundert allerärmster, ungepflegter, sichtlich verschüchterter Kinder, viele von ihnen heulend, fast alle von analphabetischen Eltern. Sie waren nun also meiner Obhut anvertraut.

Ursprünglich hatte man nichts weiter beabsichtigt als die kleineren Kinder der Arbeiter in einem Volkswohnhaus in einem Raum beisammenzuhalten, damit sie nicht auf den Treppen sich selbst überlassen blieben, die Wände beschmutzten und überhaupt Unfug stifteten. Zu diesem Zweck wurde in dem Gebäude ein Zimmer bereitgestellt, und mir wurde die Sorge für diese Einrichtung übertragen, der man "eine vielversprechende Zukunft" voraussagte.

Ein undefinierbares Gefühl sagte mir, daß hier ein großartiges Werk im Entstehen war.

Die Worte der Liturgie, die an jenem Dreikönigstag in der Kirche gelesen wurden, schienen mir von prophetischer Vorbedeutung: "Finsternis liegt über der Erde ... aber der Herr wird über dir aufgehen ... und Völker werden in deinem Lichte wandeln." 

Alle Teilnehmer an der Eröffnungszeremonie wunderten sich und fragten sich: "Warum übertreibt nur die Montessori dermaßen die Bedeutung eines einfachen Armenasyls?" Ich begann meine Arbeit wie ein Bauer, der brauchbares Saatgut besitzt und dem man einen fruchtbaren Acker zur Verfügung gestellt hat, auf dem er nun nach Belieben säen kann. Aber so war es nicht: sobald ich an die Schollen jenes Ackers rührte, fand ich Gold statt Korn: diese Schollen verbargen einen kostbaren Schatz. Es zeigte sich, daß ich gar nicht der Bauer war, der ich zu sein vermeint hatte: ich war Aladin und hielt, ohne es zu wissen, die Wunder­lampe in den Händen, die mir den Zugang zu verborgenen Schätzen erschloß.

Kaum hatte ich meine Arbeit mit geistig normalen Kindern begonnen, als mir eine Reihe von Überraschungen zuteil wurde.

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Es war nur logisch, anzunehmen, daß die Hilfsmittel, die bei der Erziehung von geistig zurückgebliebenen Kindern bedeutende Ergebnisse geliefert hatten, sich als wahrer Schlüssel für die Erziehung normaler Kinder erweisen würden und daß alles, was dazu gedient hatte, schwache Geisteskräfte zu stärken und fehlgeleitete Intelligenzen auf den rechten Weg zu führen, Grundsätze einer Geisteshygiene enthalten müsse, die auch normalen Geistern zu einem gesunden und richtigen Wachstum verhelfen würden. An alledem ist nichts Wunderbares, und die Erziehungstheorie, die schließlich aus unseren Erfahrungen hervorgegangen ist, hat denn auch durchaus positiven und wissenschaftlichen Charakter und vermag ausgeglichene und kluge Geister zu überzeugen. Das ändert jedoch nichts daran, daß die ersten Ergebnisse mich mit größtem Staunen und oft mit Ungläubigkeit erfüllten.

Das Unterrichtsmaterial, das ich den normalen Kindern darbot, hatte auf sie nicht dieselbe Wirkung, die es auf geistesschwache Kinder ausgeübt hatte. Wenn der betreffende Gegenstand das normale Kind anzog, so heftete es sogleich seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Es arbeitete damit und arbeitete pausenlos, in einer bewunderungswürdigen Konzentration. Nachdem es gearbeitet hatte, dann erst schien das Kind befriedigt, ausgeruht und glücklich. Ausgeruhtsein war in diesen kleinen, heiteren Gesichtern, in diesen zufrieden leuchtenden Kinderaugen zu lesen, nachdem eine freiwillig übernommene Arbeit verrichtet war. Mein Unterrichtsmaterial schien dem Schlüssel zum Aufziehen einer Uhr zu gleichen: Man dreht ihn ein paarmal, und die Uhr läuft lange Zeit von selber; hier aber war das Kind, das, nachdem es gearbeitet hatte, stärker und geistig gesunder war als vorher. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich mich davon überzeugte, daß dies keine Illusion war. Vor jeder neuen Erfahrung dieser Art verharrte ich lange ungläubig, zugleich aber betroffen, ergriffen, bebend. Wie oft geschah es, daß ich der Lehrerin Vorwürfe machte, wenn sie mir erzählte, was die Kleinen getan hatten:

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"Erzählen Sie mir doch nicht solche Hirngespinste!" sagte ich streng. Und ich entsinne mich noch, wie sie, ohne gekränkt zu sein, mit Tränen der Rührung in den Augen antwortete: "Sie haben recht. Manchmal, wenn ich diese Dinge sehe, ist mir, als gäben die Engel den Kindern das alles ein."

Eines Tages endlich legte ich tief bewegt die Hand aufs Herz, um es in seinem Glauben zu bestärken, und bei dem ehrfürchtigen Gedanken an jene Kinder stellte ich mir die Frage: "Wer seid ihr?" War ich am Ende jenen Kleinen begegnet, die Christus auf den Arm genommen und die ihn zu den göttlichen Worten begeistert hatten: "Wer eines dieser Kinder aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf" — "Wenn ihr nicht werdet wie die Kleinen, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen"?

 

So führte der Zufall mich mit ihnen zusammen. Es waren weinende, angsterfüllte Kinder, so verschüchtert, daß sie nicht zum Sprechen zu bringen waren; ihre Gesichter waren ausdruckslos, ihre Augen leer, so als hätten sie noch nie im Leben etwas gesehen. Es waren in der Tat arme, sich selbst überlassene Kinder, auf gewachsen in elenden, finsteren Häusern, ohne jede seelische Anregung, ohne Fürsorge. Schon für den Laienblick waren sie unterernährt; man mußte nicht Arzt sein, um zu erkennen, daß sie dringend der Nahrung, der Sonne und frischen Luft bedurften. Geschlossene Knospen waren sie alle, doch ohne deren Frische —, Seelen, die sich in einer engen Umhüllung verborgen hielten.

Diese Kinder nun machten alsbald eine eindrucksvolle Verwandlung durch, so daß man hätte meinen können, ganz andere Kinder vor sich zu haben, und ihre Seelen gaben sich in Kürze dermaßen strahlend kund, daß gleichsam ihre ganze Umgebung dadurch erhellt wurde.

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Welche Umstände bewirkten eine so wunderbare Veränderung? Es mußten besonders günstige Umstände, sein, die zu dieser "Befreiung der kindlichen Seele" führten. Alle Hemmnisse, die das Aufblühen ihrer Seelen bis dahin behindert hatten, waren offenbar jetzt weggefallen. Aber wer hätte je vermutet, um welche Hemmnisse es sich dabei handelte, welche günstigen Gegebenheiten erforderlich seien, damit eine verschüttete Seele nach außen hin aufblühen konnte? Es handelte sich vielfach um Faktoren, denen man zunächst eine gegenteilige Wirkung zugeschrieben hätte.

Beginnen wir mit den Familienverhältnissen dieser Kinder. Sie alle gehörten den niedrigsten Gesellschaftsschichten an, denn ihre Eltern waren nicht einmal richtige Arbeiter, sondern Leute, die von Tag zu Tag auf der Suche nach irgendeiner Augenblicks­beschäftigung waren und sich daher nicht um ihre Kinder kümmern konnten. Nahezu alle diese Eltern waren Analphabeten.

Eine richtige Lehrerin für diese wenig versprechende Stellung zu finden, war nicht möglich gewesen. Es wurde also eine Person genommen, die zwar eine Zeitlang eine Lehrerbildungsschule besucht hatte, dann aber Arbeiterin geworden war. Sie hatte daher weder die Schulung noch die Vorurteile, die bei jeder wirklichen Lehrerin zweifellos zur Geltung gekommen wären. Die besondere Situation unseres ganzen Unternehmens bestand darin, daß es sich hier nicht um ein soziales Hilfswerk im eigentlichen Sinne handelte, sondern um die Schöpfung einer Baugesellschaft, die die Unkosten der Schule als einen Teil der Ausgaben zur Erhaltung des Gebäudekomplexes ansah. Man nahm die Kinder in diese Schule auf, damit die Wände des Hauses unbeschädigt blieben und der ganze Bau nicht dauernd frisch getüncht werden mußte. An Hilfsmaßregeln wie Heilbehandlung kranker Kinder und kostenlose Schulspeisung war unter solchen Umständen nicht zu denken. Die einzigen möglichen Ausgaben waren die wie für ein gewöhnliches Büro, d. h. für Möbel und Zubehör. Das war der Grund, warum die Möbel eigens angefertigt werden konnten und wir nicht einfach Schulbänke zugewiesen bekamen.

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Ohne diese eigenartigen Voraussetzungen wäre es nicht möglich gewesen, den psychologischen Faktor rein zu isolieren und seinen Einfluß auf die Verwandlung der Kinder nachzuweisen. Dieses "Kinderhaus" war somit keine Schule, sondern ein Art Meßapparat, der zu Beginn der Arbeit auf Null eingestellt war. Statt der Schulbänke, des Katheders und der übrigen in Schulen gebräuchlichen Dinge wurde ein Mobiliar angefertigt, das dem eines Büros oder einer Wohnung glich. Zugleich ließ ich wissenschaftliches Material anfertigen, das völlig dem von mir bereits in einem Schwachsinnigen-Institut benützten glich und von dem niemand gedacht hätte, daß man es auch für normale Schulzwecke verwenden könnte.

Man darf nicht glauben, dieses erste "Kinderhaus" sei so freundlich und heiter gewesen wie die heute bestehenden. Die wichtigsten Möbel waren: ein fester Tisch für die Lehrerin, mehr oder weniger wie ein Katheder, und ein riesiger, hoher und massiver Schrank, in dem alle möglichen Dinge untergebracht werden konnten. Seine soliden Flügeltüren waren versperrt, und der Schlüssel befand sich in der Verwahrung der Lehrerin. Die Tische für die Kinder waren nach dem Gesichtspunkt der Solidität und Dauerhaftigkeit angefertigt worden. Sie waren so lang, daß je drei Kinder daran nebeneinander sitzen konnten, und wir stellten sie hintereinander auf gleich Schulbänken. Das einzig Neuartige waren die sehr einfachen Stühlchen und Sesselchen — eines für jedes Kind. Sogar die Blumen fehlen dort, die doch später zu einem Kennzeichen unserer Schulen geworden sind; denn in dem Gartenhof gab es nur Bäumchen und Rasenflächen. In ihrer Gesamtheit konnte mich diese Schule also nicht mit dem schmeichelhaften Bewußtsein erfüllen, als hätte ich hier ein wichtiges Experiment begonnen. Was ich mir vorgenommen hatte, war einfach dies: eine systematische Erziehung der Sinne zu versuchen und die allfälligen verschiedenen Reaktionen normaler und schwachsinniger Kinder zu studieren; vor allem aber schien es mir interessant, mögliche Übereinstimmungen zwischen den Reaktionen jüngerer Normaler und älterer Schwachsinniger festzustellen. Ich legte der Lehrerin keinerlei Beschränkungen noch sonderliche Verpflichtungen auf. Ich unterwies sie lediglich im Gebrauch einiger der von mir ausgearbeiteten Unterrichtsmaterialien, damit sie imstande sei, diese den Kindern richtig vorzuführen. Dies schien ihr einfach und interessant und ließ im übrigen ihrer eigenen Initiative genug Spielraum.

In der Tat fand ich bald, daß sie selbst andere Dinge hergestellt hatte: es waren vergoldete, mit Papierornamenten verzierte Kreuze, die ihrer Absicht nach dazu dienen sollten, die fleißigsten Kinder zu belohnen; und ich sah auch öfters Kinder mit diesen harmlosen Anhängern auf der Brust. Die Lehrerin war auch auf den Gedanken verfallen, den Kindern militärisches Salutieren beizubringen, obwohl der älteste unserer Schüler bloß fünf Jahre zählte. Ihr schien dies Genugtuung zu bereiten, und ich fand die Sache ebenso komisch wie harmlos. So begann unser Leben des Friedens und der Abgeschlossenheit. Lange Zeit wurde niemand auf uns aufmerksam. Ich möchte im folgenden die wichtigsten Ereignisse jener Zeitspanne zusammenfassen, obwohl es sich durchweg um Kleinigkeiten handelt, würdig jener Kindergeschichtchen, die mit den Worten beginnen: "Es war einmal ..." 

Nichts, was großartig genug gewesen wäre, feierlich dargestellt zu werden. Auch meine eigenen Eingriffe waren dermaßen einfach und sogar kindlich, daß niemand sie nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bewertet hätte. Und doch würde eine vollständige Aufzählung dieser Kleinigkeiten einen Band voll von Beobachtungen oder, besser gesagt, von psychologischen Entdeckungen füllen.

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19  Die Wiederholung der Übungen

 

 

 

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Die erste Erscheinung, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte sich bei einem etwa dreijährigen Mädchen, das damit beschäftigt war, die Serie unserer Holzzylinder in die entsprechenden Öffnungen zu stecken und wieder herauszunehmen. Diese Zylinder ähneln Flaschenkorken, nur haben sie genau abgestufte Größen, und jedem von ihnen entspricht eine passende Öffnung in einem Block. Ich erstaunte, als ich ein so kleines Kind eine Übung wieder und wieder mit tiefem Interesse wiederholen sah. Dabei war keinerlei Fortschritt in der Schnelligkeit und Genauigkeit der Ausführung feststellbar. Alles ging in einer Art unablässiger, gleichmäßiger Bewegung vor sich. 

Gewohnt, derlei Dinge zu beobachten, begann ich die Übungen des kleinen Mädchens zu zählen. Auch wollte ich feststellen, bis zu welchem Punkt die eigentümliche Konzentration der Kleinen gehe, und ich ersuchte daher die Lehrerin, alle übrigen Kinder singen und herumlaufen zu lassen. Das geschah auch, ohne daß das kleine Mädchen sich in seiner Tätigkeit hätte stören lassen. Darauf ergriff ich vorsichtig das Sesselchen, auf dem die Kleine saß, und stellte es mitsamt dem Kinde auf einen Tisch. Die Kleine hatte mit rascher Bewegung ihre Zylinder an sich genommen und machte nun, das Material auf den Knien, ihre Übung unbeirrt weiter. Seit ich zu zählen begonnen hatte, hatte die Kleine ihre Übung zweiundvierzigmal wiederholt. Jetzt hielt sie inne, so als erwachte sie aus einem Traum, und lächelte mit dem Ausdruck eines glücklichen Menschen. Ihre leuchtenden Augen sahen vergnügt in die Runde. Offenbar hatte sie alle jene Manöver, die sie hätten ablenken sollen, überhaupt nicht bemerkt. Jetzt aber, ohne jeden äußeren Grund, war ihre Arbeit beendet. Was war beendet, und warum?

Es war dies der erste Spalt, der sich aus den unerforschten Tiefen der Kinderseele auftat. Da saß ein kleines Mädchen in dem Alter, in dem die Aufmerksamkeit für gewöhnlich ruhelos von einem Gegenstand zum anderen abirrt, ohne sich auf etwas Bestimmtes konzentrieren zu können; und doch hatte sich bei ihm eine solche Konzentration ereignet, war sein Ich für jeden äußeren Reiz unzugänglich geworden. Diese Konzentration war begleitet von einer rhythmischen Bewegung der Hand im Spiel mit genau und wissenschaftlich abgestuften Gegenständen.

Ähnliche Vorfälle wiederholten sich, und jedesmal gingen die Kinder daraus wie erfrischt und ausgeruht, voll Lebenskraft und mit dem Gesichtsausdruck von Menschen hervor, die eine große Freude erlebt haben.

Die Fälle einer solchen beinahe bis zur völligen Abschließung von der Außenwelt gehenden Konzentration bildeten zwar nicht die Regel, doch bemerkte ich bald eine seltsame Verhaltensweise, die allen Kindern gemeinsam war und ungefähr gleichmäßig bei jeder Übung auftrat. Es handelte sich um jenen Wesenszug kindlicher Betätigung, den ich später "Wiederholung der Übungen" genannt habe.

Ich sah diese schmutzigen Händchen arbeiten und ich kam eines Tages auf den Gedanken, die Kinder etwas Nützliches zu lehren: das Händewaschen. Da beobachtete ich, daß sie sich unermüdlich weiterwuschen, auch wenn ihre Hände bereits rein waren. Sie verließen die Schule und wuschen sich sofort wieder die Hände. Einige Mütter erzählten mir, wie ihre Kinder des Morgens verschwunden waren und in der Waschküche beim Händewaschen gefunden wurden. So stolz waren sie auf ihre sauberen Hände, daß sie diese jedermann vorwiesen und sogar einmal mit Bettelkindern verwechselt wurden, weil sie die Hände einem Fremden entgegengestreckt hatten. Die Übung wurde immer von neuem wiederholt, obwohl sie längst keinen praktischen Zweck mehr hatte. Dasselbe ereignete sich bei vielen anderen Gelegenheiten; und je genauer eine Übung den Kindern in allen Einzelheiten der Ausführung erklärt wurde, desto mehr hatte es den Anschein, als würde sie zum Ansporn für unermüdliche Wiederholungen.

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20  Die freie Wahl

 

 

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Eine andere Beobachtung deckte zum ersten Mal eine höchst einfache Tatsache auf. Die Kinder benutzten das Unterrichts­material, aber die Lehrerin verteilte es und räumte es am Ende der Stunde wieder fort. Nun erzählte sie mir, daß bei dieser Verteilung die Kinder von ihren Plätzen aufsprangen und sich an sie herandrängten. So oft die Lehrerin sie auch zurück­schickte, sie näherten sich ihr immer wieder. Daraus hatte die Lehrerin den Schluß gezogen, die Kinder seien ungehorsam.

Als ich mir die Sache selbst ansah, begriff ich, daß die Kinder den Wunsch hatten, die Gegenstände selber wieder an ihren Platz zu bringen, und ich ließ sie gewähren. Das führte zu einer Art von neuem Leben: die Gegenstände in Ordnung zu bringen, Unordnung zu beheben, erwies sich als ungemein anziehende Beschäftigung. Wenn ein Kind ein Glas mit Wasser fallen ließ, eilten sogleich andere herbei, die Scherben aufzulesen und den Fußboden trockenzuwischen.

Eines Tages aber entglitt der Lehrerin eine Schachtel, in der sich etwa achtzig Täfelchen in verschieden abgestuften Farben­schattierungen befanden. Ich sehe noch ihre Verlegenheit vor mir, denn es war schwierig, diese vielen Abstufungen von Farben wieder in die richtige Reihenfolge zu bringen. Doch schon eilten die Kinder herbei und brachten zu unserem großen Staunen alle Täfelchen schleunigst wieder in Ordnung, wobei sie eine wunderbare, der unseren weit überlegenen Sensibilität für Farbennuancen bewiesen.

Eines Tages kam die Lehrerin verspätet zur Schule. Sie hatte vergessen, den Schrank mit den Lehrmitteln abzuschließen, und fand jetzt, daß die Kinder ihn geöffnet hatten und sich davor drängten. Einige von ihnen hatten bestimmte Gegenstände ergriffen und fortgetragen. Dieses Verhalten erschien der Lehrerin als Ausdruck diebischer Instinkte. Sie meinte, Kinder, die Dinge wegtragen, die es an Respekt gegenüber der Schule und der Lehrerin fehlen lassen, müßten mit Strenge und moralischen Ermahnungen behandelt werden. Ich hingegen glaubte die Sache so deuten zu sollen, daß die Kinder diese Gegenstände nun bereits gut genug kannten, um selber ihre Wahl unter ihnen treffen zu können. Und so war es auch.

Damit begann eine lebhafte und interessante Tätigkeit. Die Kinder legten verschiedene Wünsche an den Tag und wählten dementsprechend ihre Beschäftigungen. Seit damals sind wir zu den niedrigen Schränken übergegangen, in denen das Material in Reichweite der Kinder und zu deren Verfügung bleibt, so daß sie es gemäß ihren inneren Bedürfnissen selber wählen können. So fügte sich an den Grundsatz der Wiederholung der Übungen der weitere Grundsatz der freien Wahl. Aus dieser freien Wahl haben sich allerlei Beobachtungen über die Tendenzen und seelischen Bedürfnisse der Kinder ergeben. Eines der ersten interessanten Ergebnisse bestand darin, daß die Kinder sich nicht für das ganze von mir vorbereitete Material interessierten, sondern nur für einzelne Stücke daraus. Mehr oder weniger wählten sie alle dasselbe: einige Objekte wurden sichtlich bevorzugt, während andere unberührt liegen blieben und allmählich verstaubten.

Ich zeigte den Kindern das gesamte Material und sorgte dafür, daß die Lehrerin ihnen den Gebrauch eines jeden Stückes genau erklärte; aber gewisse Gegenstände wurden von ihnen nicht wieder freiwillig zur Hand genommen. Mit der Zeit begriff ich dann, daß alles in der Umwelt des Kindes nicht nur Ordnung, sondern ein bestimmtes Maß haben muß, und daß Interesse und Konzentration in dem Grade wachsen, wie Verwirrendes und Überflüssiges ausgeschieden wird.

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21  Die Spielsachen

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Obwohl in unserer Schule den Kindern wahrhaftig prächtige Spielsachen zur Verfügung standen, kümmerte sich keines der Kinder darum. Das überraschte mich dermaßen, daß ich selber eingriff, die Spielsachen mit den Kindern benützte, ihnen zeigte, wie mit dem kleinen Küchengeschirr umzugehen sei, wie der Herd in der Puppenküche angezündet werden konnte. Die Kinder interessierten sich einen Augenblick lang, entfernten sich dann und wählten diese Dinge niemals spontan als Spielzeug. Das brachte mich auf den Gedanken, im Leben des Kindes sei Spielen vielleicht etwas Untergeordnetes, zu dem es nur dann seine Zuflucht nimmt, wenn ihm nichts Besseres, von ihm höher Bewertetes zur Verfügung steht. Uns selber ergeht es ja nicht viel anders: Schach oder Bridge spielen ist ein angenehmer Zeitvertreib für Mußestunden, aber es wäre das nicht mehr, wenn wir gezwungen wären, nichts anderes im Leben zu tun. Wer eine hohe und wichtige Beschäftigung hat, vergißt das Bridgespiel; und das Kind hat immer hohe und wichtige Aufgaben vor sich. Denn jede Minute, die verstreicht, ist kostbar für das Kind, indem sie den Übergang von einer niedrigen zu einer höheren Stufe darstellt. Das Kind ist ja in unausgesetztem Wachstum begriffen, und alles, was sich auf die Mittel seiner Entwicklung bezieht, fasziniert es und macht es unempfindlich für jede müßige Tändelei.

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22  Belohnungen und Strafen

 

 

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Als ich einmal die Schule betrat, sah ich einen kleinen Jungen mitten im Zimmer ganz allein und untätig auf seinem Stühlchen sitzen. Auf der Brust trug er das von der Lehrerin für Belohnungen angefertigte pompöse Goldkreuz. Von der Lehrerin erfuhr ich, daß der Junge zur Strafe dort sitze. Kurz vorher hatte die Lehrerin einen anderen Jungen belohnt und ihm die Dekoration umgehängt. Der also Ausgezeichnete aber hatte das Kreuz im Vorbeigehen dem Bestraften übergeben, so als handelte es sich um etwas Nutzloses und Hinderliches für ihn, der doch arbeiten wollte.

Der bestrafte Junge sah das Ding an seiner Brust gleichgültig an und blickte ruhig um sich, so als sei er sich der Strafe überhaupt nicht bewußt. Das ganze System der Belohnungen und Strafen war mit diesem einen Vorfall eigentlich bereits erledigt. Wir wollten jedoch noch längere Beobachtungen anstellen, und in sehr langer Erfahrung fanden wir eine so beharrliche Wiederholung derselben Reaktion, daß die Lehrerin sich schließlich geradezu schämte, Kinder belohnen oder strafen zu sollen, die gegen das eine genau so gleichgültig blieben wie gegen das andere.

Von da an gab es bei uns keine Belohnungen und keine Strafen mehr. Was uns aber bis dahin am meisten überraschte, war die Häufigkeit, mit der die Kinder Belohnungen zurückwiesen. Offenbar war in ihnen ein Bewußtsein und Gefühl der Würde erwacht, das sie vorher nicht gekannt hatten.

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23  Die Stille

 

 

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Eines Tages betrat ich das Schulzimmer, auf dem Arm ein vier Monate altes Mädchen, das ich der Mutter auf dem Hof aus den Armen genommen hatte. Nach dem Brauch des Volkes war die Kleine ganz in Windeln gewickelt, ihr Gesicht war dick und rosig, und sie weinte nicht. Die Stille dieses Geschöpfes machte mir großen Eindruck, und ich suchte mein Gefühl auch den Kindern mitzuteilen. "Es macht gar keinen Lärm", sagte ich, und scherzend fügte ich hinzu: "Niemand von euch könnte ebenso still sein." Verblüfft beobachtete ich, wie sich der Kinder rings umher eine intensive Spannung bemächtigte. Es war, als hingen sie an meinen Lippen und fühlten aufs tiefste, was ich sagte. "Sein Atem geht ganz leise", fuhr ich fort. "Niemand von euch könnte so leise atmen." Erstaunt und regungslos hielten die Kinder den Atem an. Eine eindrucksvolle Stille verbreitete sich in diesem Augenblick. Man hörte plötzlich das Ticktack der Uhr, das sonst nie vernehmbar war.

Es schien, als hätte der Säugling eine Atmosphäre von Stille in dieses Zimmer gebracht, wie sie im gewöhnlichen Leben sonst nie besteht.

Niemand machte auch nur die leiseste wahrnehmbare Bewegung, und als ich die Kinder später aufforderte, diese Übung der Stille zu wiederholen, gingen sie sogleich darauf ein — ich will nicht sagen mit Begeisterung, denn die Begeisterung hat etwas Impulsives an sich, das sich nach außen hin kundtut.

Was sich hingegen hier kundgab, war eine innere Übereinstimmung, geboren aus einem tiefinneren Wunsch. Die Kinder saßen still bis zur Regungslosigkeit, beherrschten sogar ihre Atemzüge und hatten dabei heiter-angespannte Züge, so als seien sie in Meditation versunken. Inmitten der eindrucksvollen Stille wurden allmählich selbst die schwächsten Geräusche vernehmbar: das ferne Tropfen von Wasser, das Zirpen eines Vogels draußen im Garten.

Auf diese Weise entstand unsere "Übung der Stille".

Eines Tages kam ich auf den Gedanken, diese Stille zu Versuchen über die Gehörschärfe der Kinder zu benützen. Ich rief die Kinder also aus größerer Entfernung mit Flüsterstimme beim Namen. Das jeweils aufgerufene Kind mußte zu mir kommen und sollte dabei unterwegs kein Geräusch machen. Bei vierzig Kindern erforderte diese Übung des geduldigen Wartens einen Aufwand an Selbstbeherrschung, den ich für unmöglich gehalten hätte. Deshalb hatte ich Süßigkeiten und Schokolade mitgebracht, um jedes Kind zu belohnen, das richtig bei mir anlangte. Aber die Kinder weigerten sich, diese Geschenke anzunehmen. Es war, als wollten sie sagen: "Verdirb doch nicht unsere schöne Erfahrung! Wir genießen noch unsere geistige Freude — lenke uns nicht ab!"

Ich begriff, daß die Kinder nicht nur für die Stille empfänglich waren, sondern auch für eine Stimme, die sie ganz leise aus dieser Stille rief. Sie kamen langsam auf mich zu, gingen dabei auf den Zehenspitzen und achteten sorgfältig darauf, nirgends anzustoßen und unhörbar aufzutreten.

Später ergab sich dann, wie sehr eine Bewegungsübung wie diese, bei der jeder Fehler sogleich durch das hierbei verursachte Geräusch festgestellt wird, dazu beiträgt, die Fähigkeiten der Kinder zu vervollkommnen. Die Wiederholung dieser Übung führt schließlich zu einer so feinen Beherrschung der Handlungen, wie sie durch rein äußerlichen Unterricht niemals erreicht werden könnte.

Unsere Kinder lernten, sich zwischen einer Menge von Gegenständen zu bewegen, ohne anzustoßen, leicht und geräuschlos zu laufen, und sie wurden dabei achtsam und geschickt. Sie genossen die Vollkommenheit ihrer Leistungen, waren lebhaft daran interessiert, ihre eigenen Möglichkeiten zu entdecken und zu üben.

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Viel Zeit mußte noch verstreichen, ehe ich mich davon überzeugte, daß die Zurückweisung der Süßigkeiten einen Grund für sich hatte. Diese als Belohnung ausgeteilten geringfügigen Leckereien stellten eine nicht notwendige und regelwidrige Speise dar. Mir schien dies alles so außergewöhnlich, daß ich das Experiment beharrlich immer aufs neue wiederholte, denn man weiß ja, wie gierig Kinder nach Süßigkeiten sind. Ich brachte also Bonbons mit, doch die Kinder wiesen sie entweder zurück oder steckten sie in ihre Schürzentaschen. Ich dachte mir, daß diese ganz armen Kinder wohl die Leckerbissen heimbringen wollten, und sagte daher: "Diese da sind für dich, und diese anderen kannst du nach Hause mitnehmen." 

Die Kinder nahmen die Bonbons, steckten sie jedoch alle in die Schürzen und aßen selber nichts davon. Daß sie die Gabe dennoch schätzten, erwies sich, als einmal die Lehrerin ein erkranktes Kind besuchte. Da öffnete es nämlich eine Schublade neben dem Bett, entnahm ihm ein großes Bonbon, das es in der Schule erhalten hatte, und bot es der Lehrerin aus Dankbarkeit für den Besuch an. Dieses Bonbon hatte Wochen hindurch als ständige Versuchung dort gelegen, und das Kind hatte es nicht angerührt. Dieses Verhalten wurde bei unseren Kindern so allgemein, daß in unseren späteren Schulen nicht wenige Besucher eigens zu dem Zweck kamen, dieses Phänomen, über das zu jener Zeit in vielen Büchern geschrieben wurde, mit eigenen Augen festzustellen. 

Es handelte sich um eine spontane und natürliche Erscheinung, denn niemandem wäre es je eingefallen, diesen Kindern irgendwelche Bußübungen und den Verzicht auf Süßigkeiten beibringen zu wollen, und niemand wäre auf den seltsamen Einfall gekommen zu erklären: "Die Kinder sollen nicht spielen und sollen keine Süßigkeiten essen!" Ganz von selber wiesen die Kinder unnütze äußere Annehmlichkeiten zurück, während sie im Begriff waren, in ihrer geistigen Entwicklung Fortschritte zu machen. 

Einmal verteilte eine bedeutende Persönlichkeit Biskuits in geometrischen Formen unter die Kinder. Statt sie zu essen, betrachteten die Kinder diese Biskuits mit großem Interesse und riefen: "Das ist ein Kreis! Das ist ein Rechteck!" Hübsch ist auch die Anekdote von dem Kind aus dem Volke, das seiner Mutter in der Küche zusah. Die Mutter ergriff ein Stück Butter, und das Kind sagte: "Das ist ein Rechteck!" Die Mutter schnitt eine Ecke davon ab, worauf das Kind sagte: "Jetzt hast du ein Dreieck weggenommen!" und hinzufügte: "Was übrig bleibt, ist ein Trapez!" Was das Kind jedoch nicht sagte, war der übliche Satz: "Gib mir ein Butterbrot!"

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