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24   Die Würde  

 

 

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Einmal kam es mir in den Sinn, eine Art humoristischer Unterrichtsstunde darüber abzuhalten, wie man sich die Nase putzt. Nachdem ich verschiedene Arten der Benutzung des Taschentuches nachgeahmt hatte, zeigte ich den Kindern zuletzt, wie man es anzustellen habe, um möglichst wenig Lärm zu verursachen und das Taschentuch unauffällig zur Nase zu führen. Die Kinder hörten und sahen mir mit größter Aufmerksamkeit zu und lachten nicht; ich aber fragte mich, warum ich mit dieser seltsamen Lektion solchen Erfolg gehabt hatte. Kaum war ich am Ende angelangt, da brach ein Applaus los, der an ein begeistertes Theaterpublikum denken ließ. 

Noch nie hatte ich davon sprechen gehört, daß eine Anzahl so kleiner Kinder sich in eine applaudierende Menge verwandeln könne, noch daß diese winzigen Hände solche Kraft des Ausdrucks entwickeln könnten. Vielleicht, so sagte ich mir, hatte ich einen empfindlichen Punkt im sozialen Leben dieser kleinen Menschenschar berührt. Die Kinder befinden sich, was die erwähnte Frage des Naseputzens angeht, in einem erniedrigenden Zustand und sind gewissermaßen dauernder Geringschätzung ausgesetzt. Unablässig werden sie wegen ihrer schmutzigen Nasen ausgezankt und, besonders in den unteren Volksschichten, mit hierauf bezüglichen Schimpfworten bedacht. Jeder schreit sie an, jeder beleidigt sie, niemand aber lehrt sie, wie sie es eigentlich richtig machen sollen. Man muß verstehen, daß Kinder für die verächtliche Weise, in der die Erwachsenen sie behandeln, ungemein empfindlich sind. Meine Lektion ließ den Schülern Gerechtigkeit zuteil werden und ermöglichte ihnen einen Schritt aufwärts in der Gesellschaft.

Diese Deutung mußte sich mir aufdrängen, als ich mir in langer Erfahrung darüber klar wurde, daß Kinder einen tiefen Sinn für persönliche Würde besitzen und daß ihr Gemüt in einem Maße verletzt und eiterig werden kann, wie der Erwachsene sich dies nie vorzustellen vermöchte.

An jenem Tag war noch nicht alles zu Ende. Als ich nämlich fortgehen wollte, riefen die Kinder wie auf Verabredung-"Danke, danke für den Unterricht!" und auf der Straße folgten sie mir längs des Gehsteiges in schweigender Prozession, bis ich ihnen sagte: "Auf dem Weg zurück lauft auf den Zehenspitzen und achtet darauf, an der Mauerecke nicht anzustoßen." Da kehrten sie bereitwillig um und verschwanden im Tor des Hauses, als ob sie Flügel hätten. Ich hatte diese armen kleinen Kinder wirklich in ihrer sozialen Würde angerührt.

Wann immer wir in der Schule Besuch erhielten, betrugen sich die Kinder mit Würde und Selbstachtung und verstanden es, ihre Arbeiten zu verrichten und die Gäste mit herzlicher Begeisterung zu empfangen.

Einmal wurde uns der Besuch einer wichtigen Persönlichkeit angekündigt, die mit den Kindern allein zu bleiben und ihre eigenen Beobachtungen anzustellen wünschte. Ich sagte zu der Lehrerin:  "Lassen Sie die Kinder ganz aus eigenem Antrieb handeln." Und zu den Kindern selbst gewendet, fügte ich hinzu: "Morgen bekommt ihr Besuch. Ich möchte, daß er sich denkt: Das sind die nettesten Kinder der Welt." 

Später erkundigte ich mich nach dem Ausgang der Sache. "Ein großer Erfolg", berichtete die Lehrerin, 
"Ein paar Kinder ergriffen einen Sessel und sagten liebenswürdig zu dem Besucher: 'Bitte nehmen Sie Platz'. Andere sagten 'Guten Tag' zu ihm. Und als er wegging, standen sie alle am Fenster und riefen ihm nach: 'Vielen Dank für den Besuch, auf Wiedersehn!'" 

"Aber warum haben Sie sich solche Mühe gegeben, den Kindern alles das beizubringen?" fragte ich. "Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten nichts Ungewöhnliches unternehmen und den Dingen ihren Lauf lassen!"
"Ich habe den Kindern kein Wort gesagt", erwiderte die Lehrerin. Und sie erzählte mir auch, die Kinder hätten mit größerem Eifer als sonst gearbeitet, jedes an einem anderen Gegenstand, und alles sei wunderbar gut abgegangen, zum großen Staunen des sichtlich ergriffenen Besuchers.

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Ich zweifelte lange Zeit und quälte in meinem Unglauben die Lehrerin mit Vorhaltungen, weil ich stets befürchtete, sie veranstalte sozusagen Paraden mit den Kindern und bereite sie auf Besuche vor. Schließlich aber erkannte ich die Wahrheit: Die Kinder hatten ihre Würde, ehrten ihre Gäste und waren stolz darauf, sich von ihrer besten Seite zeigen zu können. Hatte ich nicht zu ihnen gesagt: "Ich möchte, daß er sich denkt: Das sind die nettesten Kinder der Welt"? Aber dieser meiner Ermahnung hätte es gar nicht bedurft. Es genügte zu sagen: "Wir bekommen Besuch", so wie man einen Ankömmling in einem Salon ankündigt, und schon war das ganze kleine Volk bereit — voll Würde und Anmut und der Situation völlig gewachsen. Ich begriff, daß diese Kinder nicht schüchtern waren. Zwischen ihrem Gemüt und ihrer Umwelt gab es keine Hindernisse. Frei und natürlich konnten sie aus sich herausgehen, gleich einer Lotosblume, die ihre weißen Blütenblätter bis zu den Staubgefäßen öffnet, um die Sonnenstrahlen aufzunehmen, und dabei einen zarten Duft ausströmt. 

Kein Hindernis: Das war der entscheidende Punkt. Sie brauchten nichts zu verheimlichen, nichts zu verschließen, nichts zu befürchten. Das war alles. Die Unbefangenheit ergab sich sozusagen aus einer unmittelbaren und vollkommenen Anpassung der Kinder an die Umgebung.

In ihnen wirkte eine lebhafte, tätige Seele, die sich behaglich fühlte und ein warmes, geistiges Licht ausströmte. Dieses Licht löste alle Wirrnisse, die auf den Seelen der Erwachsenen lasteten, sobald diese Erwachsenen mit den Kindern in Berührung kamen. Die Kinder nahmen jedermann liebevoll auf. So wurde es allmählich üblich, daß sie besuchte, wer Sehnsucht nach einem neuen, belebenden Eindruck empfand.

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Es war seltsam zu beobachten, wie diese Begegnungen in den Gemütern der Besucher ganz ungewohnte Gefühle auslösten. So genossen hochelegant gekleidete, mit kostbaren Juwelen geschmückte Damen, die aussahen, als gingen sie zu einem Empfang, die unschuldige, völlig neidlose Bewunderung, mit der die Kinder sie ansahen, und waren beglückt darüber, wie die Kleinen ihr Staunen äußerten.

Sie streichelten die schönen Stoffe und die feinen, parfümierten Hände der Damen. Einmal trat ein kleiner Junge auf eine Dame in Trauer zu, lehnte sein Köpfchen an ihre Brust, ergriff ihre Hand und hielt sie zwischen den seinen. Ergriffen sagte jene Dame später, noch niemand habe ihr einen solchen Trost gewährt wie diese Kleinen.

Eines Tages wollte die Tochter unseres Ministerpräsidenten den Botschafter der Argentinischen Republik bei einem Besuch unseres "Kinderhauses" begleiten. Der Botschafter hatte sich ausgebeten, daß der Besuch nicht vorher angekündigt werde, damit er die vielgerühmte Unbefangenheit der Kinder aus eigenem Augenschein kennenlernen könne. Als er jedoch an Ort und Stelle ankam, mußte er hören, daß gerade ein schulfreier Tag und die Schule geschlossen sei. Im Hof des Hauses standen einige Kinder, die sogleich näherkamen. "Das macht nichts, daß schulfrei ist", sagte ein kleiner Junge mit größter Natürlichkeit, "wir wohnen ja alle hier im Haus, und die Schlüssel hat der Portier."

Sogleich machten sie sich zu schaffen, riefen ihre Kameraden zusammen, ließen das Schulzimmer aufschließen und fingen allesamt zu arbeiten an. So wurde die wunderbare Spontaneität ihres Verhaltens bei dieser Gelegenheit in unbestreitbarer Weise offenbar.

Auch die Mütter der Kinder empfanden dies alles und begannen ihrerseits, mir allerlei aus der Intimität ihres Familienlebens zu erzählen.

"Diese kleinen Drei- und Vierjährigen", berichteten sie, "sagen Dinge zu uns, die uns beleidigen müßten, wenn es sich nicht um unsere eigenen Kinder handelte. Zum Beispiel sagen sie: Ihr habt schmutzige Hände, ihr müßt euch waschen — oder: Putz doch die Flecken aus dem Kleid! Wenn wir diese Dinge aus dem Mund unserer Kinder hören, kränkt uns das nicht." 

Es kam dahin, daß diese einfachen Leute ordentlicher und sauberer wurden. Die zerbrochenen Kochtöpfe verschwanden von den Fensterbrettern, nach und nach begannen die Fensterscheiben zu glänzen, und an den Hoffenstern erschienen da und dort Geranienstöcke.

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25  Die Disziplin

 

 

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So gelöst und unbefangen sich unsere Kinder auch betrugen, so machten sie zusammen doch den Eindruck außerordentlicher Diszipliniertheit. Sie arbeiteten ruhig, jedes ganz mit seiner eigenen Aufgabe beschäftigt. Leichten Schrittes gingen sie hin und her, um ihr Material auszutauschen und ihre Arbeiten in Ordnung zu bringen. Sie verließen das Klassenzimmer, warfen einen Blick in den Hof und kamen sogleich wieder. Die Wünsche der Lehrerin wurden mit erstaunlicher Schnelligkeit ausgeführt. Die Lehrerin erklärte: "Die Kinder tun alles, was ich sage, so daß ich bei jedem Wort, das ich ausspreche, bereits ein Gefühl der Verantwortung habe."

Wenn die Lehrerin die Übung der Stille anordnete, so war sie noch nicht mit dem Satz zu Ende, und schon erstarrten die Kinder zur Reglosigkeit.

Diese scheinbare Abhängigkeit von den Worten der Lehrerin hinderte sie aber in keiner Weise daran, aus eigenem zu handeln, über ihre Zeit und ihren Tag nach eigenem Ermessen zu verfügen. Sie nahmen sich selber die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigen wollten, brachten das Schulzimmer in Ordnung, und wenn die Lehrerin sich verspätete oder fortging und die Kinder allein ließ, ging alles ebenso gut vor sich. Auf alle Beobachter übte gerade dies die hauptsächlichste Anziehung aus: das gleichzeitige Zusammenbestehen von Ordnung, Disziplin und Spontaneität. Woher stammte diese vollkommene Disziplin, die noch im tiefen Schweigen vibrierte, dieser Gehorsam, der im voraus erriet, was er ausführen sollte?

Die Ruhe in den Klassen, in denen die Kinder an der Arbeit waren, wirkte erstaunlich und ergreifend. Niemand hatte sie angeordnet, ja es wäre nie möglich gewesen, sie von außen her zu erzielen.

Hatten diese Kinder etwa die ihnen angemessene Bahn gefunden, gleich den Sternen, die unermüdlich umlaufen, dabei nie aus ihrer Ordnung heraustreten und in alle Ewigkeit weiterstrahlen? Von diesen Sternen spricht die Bibel in einer Sprache, die auf diese Kundgebungen der Kinder angewandt werden kann: "Und die Sterne sagten, als man sie rief: ,Hier sind wir'. Und mit Fröhlichkeit leuchteten sie Ihm, der sie schuf." 

Eine natürliche Disziplin dieser Art scheint über die naheliegenden Dinge hinauszugehen und erscheint als Bestandteil einer großen Universaldisziplin, die die Welt zusammenhält. Es handelt sich um jene Disziplin, von der die alten biblischen Psalmen singen und die, nach jenen Worten, den Menschen verlorengegangen ist. Und man gewinnt den Eindruck, als müsse auf dieser natürlichen Disziplin jede andere, äußerlich motivierte Disziplin wie die des geselligen Beisammenlebens sich aufbauen.

Das war es ja gerade, was bei unseren Kindern am meisten Verwunderung erregte, zur Nachdenklichkeit herausforderte und etwas Geheimnisvolles zu enthalten schien: In diesem ihrem engen Zusammenwirken führten Ordnung und Disziplin zur Freiheit

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26  Der Beginn des Unterrichts / Schreiben und Lesen

 

 

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Einmal kam eine Abordnung von zwei oder drei Müttern mit der Bitte zu mir, ich möge ihren Kindern Lesen und Schreiben beibringen. Diese Mütter waren Analphabetinnen; und als ich ablehnte (dergleichen lag zu weit von meinem Aufgabenkreis ab), beschworen sie mich beharrlich weiter.

Von da an ereigneten sich die überraschendsten Dinge. Ich beschränkte mich darauf, den Kindern von vier und fünf Jahren ein paar Buchstaben des Alphabets zu zeigen, die ich von der Lehrerin in Karton ausschneiden ließ.*  Ferner ließ ich diese Buchstaben auch aus Schmirgelpapier schneiden, damit die Kinder ihre Form mit den Fingerspitzen befühlen konnten, und schließlich legte ich einige Tabellen an, auf denen ich die Lettern nach ihrer Ähnlichkeit gruppierte, damit die Bewegung der sie abtastenden Kinderhände möglichst gleichförmig erfolge. Die Lehrerin war mit diesen primitiven Anfängen durchaus zufrieden und hielt sich daran.

Was wir nicht begriffen, war die Begeisterung der Kinder. Sie veranstalteten richtige Prozessionen, trugen dabei die ausgeschnittenen Buchstaben wie Standarten voran und stießen Freudenschreie aus. Warum?

Einmal überraschte ich einen kleinen Jungen dabei, wie er im Gehen vor sich hinsprach: "Für Sofia braucht man ein S, ein O, ein F, ein I und ein A", womit er also die Buchstaben des Wortes einzeln aufzählte. Offenbar war er damit beschäftigt, im Geiste ein Wort in seine Bestandteile zu zerlegen: Mit dem tiefen Interesse eines Menschen, der eine wichtige Entdeckung gemacht hat, hatte er festgestellt, daß jeder dieser Laute einem Buchstaben des Alphabets entsprach.

* Ich nannte dabei den phonetischen Laut des Buchstabens, nicht seinen alphabetischen Namen.


Und in der Tat, was ist denn die Buchstabenschrift anderes als die Herstellung einer Korrespondenz zwischen Zeichen und Lauten? Die Sprache an sich ist die gesprochene, und die geschriebene ist nichts weiter als eine wahrhaft "buchstäbliche" Übersetzung. Jeder wesentliche Fortschritt in der Kunst des Schreibens beruht darauf, daß sich diese beiden "Sprachen" von einem bestimmten Punkt an parallel entwickeln. Die geschriebene Sprache träufelt zunächst gleichsam in einzelnen Tropfen aus der gesprochenen, bis sich schließlich ein zusammenhängender Wasserlauf von Worten und Sätzen bildet.

Schreiben ist ein geheimnisvoller Schlüssel, der, einmal entdeckt, doppelten Reichtum gewährt: es erlaubt der Hand, eine fast unbewußte vitale Arbeit zu meistern, die der gesprochenen Sprache, und eine neue Sprache zu schaffen, die jene in allen Einzelheiten spiegelt. Hand und Geist werden so in gleichem Maße bereichert. Die Hand gibt einen kräftigen Anstoß, und jene Tropfen werden zum Wasserfall. Das ganze Sprachvermögen nimmt dann eine geradezu überstürzte Entwicklung, es ist wie ein Wasserlauf, ja ein Wasserfall von Worten.

Steht erst einmal ein Alphabet fest, so ergibt sich so die geschriebene Sprache logisch daraus als eine natürliche Folge. Daher muß die Hand lernen, die Schriftzeichen nachzuziehen. Da die Buchstaben des Alphabets einfache Symbole sind und nie Figürliches darstellen, sind sie sehr leicht zu zeichnen. Ober dies alles hatte ich jedoch nicht nachgedacht, als sich in unserem "Kinderhaus" das größte Ereignis seiner Geschichte abspielte.

Eines Tages nämlich begann ein Kind zu schreiben. Es war darüber selber dermaßen erstaunt, daß es laut zu rufen begann: "Ich hab' geschrieben! Ich hab' geschrieben!" Und die anderen Kinder liefen herbei, umdrängten das erste und bestaunten die Worte, die dieses mit einem Stückchen weißer Kreide auf den Fußboden geschrieben hatte. "Ich auch! Ich auch!" riefen andere und liefen davon. Sie suchten nach Schreibmaterial, einige drängten sich um die Klassentafel, andere streckten sich der Länge nach auf dem Boden aus, und so brach die geschriebene Sprache in einer Art Explosion hervor.

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Die unermüdliche Tätigkeit dieser Kinder ließ wirklich an einen Wasserfall denken. Sie schrieben überall, auf die Türen, auf die Mauern und sogar daheim auf die Brotlaibe. Sie waren etwa vier Jahre alt. Dieses Aufbrechen des Schreibvermögens vollzog sich als unerwartetes Ereignis. Die Lehrerin sagte mir etwa: "Dieser Junge hat gestern um drei Uhr zu schreiben begonnen."

Wir standen betroffen wie vor einem Wunder. Als wir den Kindern jedoch Bücher in die Hand gaben (und viele Leute, die von der Sache gehört hatten, brachten wunderschöne illustrierte Bücher), wurden diese mit Kälte aufgenommen. Gewiß, die Bilder darin waren schön, aber sie lenkten von der begeisternden Beschäftigung ab, auf die sich die Seelen dieser Kinder völlig konzentriert hatten: der Schrift. Vielleicht hatten sie nie zuvor Bücher gesehen, und wir bemühten uns lange Zeit, ihr Interesse darauf zu lenken. Es war nicht einmal möglich, ihnen begreiflich zu machen, was Lesen sei. So räumten wir alle Bücher wieder weg und warteten auf günstigere Zeiten. Die Kinder lasen nicht einmal Handgeschriebenes. Nur selten interessierte eines sich dafür, zu lesen, was ein anderes geschrieben hatte, ja es hatte den Anschein, als könnten sie dies gar nicht. Viele Kinder wandten sich erstaunt nach mir um, wenn ich laut die Worte las, die sie geschrieben hatten, so als wollten sie fragen: "Woher weißt du denn das?"

Erst etwa sechs Monate später begannen sie zu begreifen, was Lesen bedeutete, und auch dann nur in Verbindung mit dem Schreiben. Die Kinder mußten mit den Augen die Bewegung meiner Hand verfolgen, wenn ich Zeichen auf das weiße Papier schrieb, um sich die Vorstellung anzueignen, daß ich auf diese Weise meine Gedanken ausdrückte, ganz so als ob ich spräche. Kaum aber war ihnen dies klar geworden, da bemächtigten sie

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sich der Blätter, auf denen ich geschrieben hatte, zogen sich damit in irgendeinen stillen Winkel zurück und versuchten zu lesen — im Geist, ohne einen einzigen Laut hervorzubringen. Wenn sie begriffen hatten, so sah man das an dem Lächeln, das sich über ihre vor Anstrengung verkrampften Gesichtchen breitete, und man sah es an dem kleinen Sprung, mit dem sie sich in Bewegung setzten und der durch eine verborgene Feder veranlaßt zu sein schien. Denn jeder der von mir geschriebenen Sätze war ein Befehl, etwa "Mach das Fenster auf oder "Komm zu mir". So nahm das Lesen seinen Anfang, und es entwickelte sich in der Folge bis zum Aufnehmen langer Sätze, die Befehle zu komplizierten Handlungen enthielten. Offenbar verstanden die Kinder jedoch die geschriebene Sprache lediglich als eine andere Art, sich auszudrücken, als eine andere Form der gesprochenen Sprache von Person zu Person.

Tatsächlich geschah es, wenn Besuche bei uns erschienen, daß viele von den Kindern, die früher mit gesprochenen Begrüßungen beinahe des Guten zuviel getan hatten, jetzt kein Wort sprachen. Dafür erhoben sie sich, gingen zur Tafel und schrieben darauf Sätze wie: "Bitte nehmen Sie Platz! Danke für den Besuch!" und dergleichen.

Einmal war in der Schule von der Erdbebenkatastrophe die Rede, die soeben die ganze Stadt Messina zerstört und Hundert­tausende von Opfern gefordert hatte. Ein etwa fünfjähriger Junge erhob sich, trat an die Tafel und begann zu schreiben. Er fing mit den Worten an: "Ich bin traurig ...", und wir vermuteten, er wolle seiner Betrübnis über das Unglück Ausdruck geben. Aber was er schließlich schrieb, war folgendes: "Ich bin traurig, daß ich so klein bin." Seltsamer Gedanke! Wie überrascht waren wir jedoch, als er fortfuhr: "Wenn ich groß wäre, würde ich hingehen und mithelfen." Dieser kleine Junge hatte einen richtigen kleinen Aufsatz geschrieben und zugleich sein gutes Herz offenbart. Er war der Sohn einer Frau, die ihn unterhielt, indem sie mit einem Korb den Tag über auf der Straße herumzog und Kräuter verkaufte.

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Später ereignete sich wieder etwas Überraschendes. Während wir noch dabei waren, Unterrichtsmaterial zur Einführung der Druckbuchstaben herzustellen und es nochmals mit den Büchern zu versuchen, fingen die Kinder an, alles Gedruckte zu lesen, was sie in der Schule finden konnten, darunter ein paar wirklich schwierige Texte, wie etwa den eines Kalenders in gotischen Lettern. Gleichzeitig kamen die Eltern zu uns und berichteten, die Kinder blieben auf der Straße stehen, um die Ladenschilder zu lesen, und man könne überhaupt nicht mehr mit ihnen spazieren gehen. Dabei interessierten sich die Kinder offenbar nur für das Entziffern der Schriftzeichen als solcher, nicht aber für die Worte. Sobald sie eine ihnen neue Schriftart sahen, wollten sie sie kennenlernen, indem sie den Sinn der Worte errieten. Es war dies eine Anstrengung der Intuition, vergleichbar der des Forschers, der in Stein gehauene prähistorische Schriftzeichen so lange studiert, bis ihm eine sinnvolle Textdeutung beweist, daß er die unbekannten Zeichen richtig verstanden hat. Damit zu vergleichen war wohl die Leidenschaft, die in unseren Kindern aufgebrochen war.

Eine allzu große Eile unsererseits im Erklären der Druckbuchstaben hätte dieses Interesse und diesen Eifer im Erraten nur dämpfen können. Auch unzeitgemäßes Bestehen auf Üben des Lesens von Wörtern in Büchern hätte eine negative Hilfe bedeutet und um eines nebensächlichen Zweckes willen die Energie dieser tatendurstigen Gemüter herabgemindert. So blieben die Bücher noch eine Zeit in den Schränken. Erst später traten die Kinder in Beziehung zu Büchern, und zwar begann dies mit einem interessanten Vorkommnis. Einmal erschien ein Kind sehr aufgeregt in der Schule und hielt in der Hand ein zerknittertes Stück Papier. "Rate einmal, was in diesem Stück Papier ist!" sagte es zu einem Kameraden. "Nichts. Das ist ein Fetzen Papier." —

"Nein, das ist eine Geschichte!" — "Eine Geschichte? Da drin?" Diese Behauptung zog eine Schar von Kindern an. Der kleine Junge hatte das Blatt auf einem Abfallhaufen gefunden. Und er begann zu lesen, las die Erzählung vor... 

Damit begriffen die Kinder plötzlich die Bedeutung von Büchern, und von jetzt an herrschte stürmische Nachfrage nach solchen. Viele Kinder freilich, die eine interessante Lektüre gefunden hatten, rissen das betreffende Blatt heraus, um es sich heimzutragen. Diese Bücher! Die Entdeckung ihres Wertes übte eine überwältigende Wirkung aus, die sogar die gewohnte friedliche Ordnung unseres Zusammenlebens zu gefährden drohte. Es war nicht ganz leicht, diese bebenden Händchen, die aus Liebe Zerstörungen anrichteten, wieder zu disziplinieren. Noch ehe sie dahin gelangten, Bücher zu lesen und zu respektieren, hatten es unsere Kinder mit einiger Nachhilfe bereits in der Rechtschreibung und im Schönschreiben so weit gebracht, daß sie mit Schülern der dritten Elementarschulklasse auf dieselbe Stufe gestellt wurden.

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27  Körperliche Parallelentwicklungen 

 

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Während der gesamten, bis dahin im Kinderhaus verbrachten Zeit war nichts getan worden, um die körperlichen Lebens­bedingungen der Kinder zu verbessern. Dennoch hätte jetzt niemand mehr in ihren leuchtenden Gesichtchen, in ihrem lebhaften Wesen die kleinen unterernährten und blutarmen Geschöpfe wiedererkannt, von denen man geglaubt hätte, sie brauchten dringend ärztliche Hilfe, Nahrung und stärkende Medizin. Sie waren gesund, so als hätten sie eine Sonnen- und Luftkur hinter sich.

In der Tat: Wenn niederdrückende seelische Faktoren einen Einfluß auf den Stoffwechsel haben und die Lebenskraft herab­mindern können, so gilt auch der umgekehrte Fall, das heißt, freudige Seelenregungen beeinflussen den Stoffwechsel und alle übrigen Körperfunktionen in günstigem Sinne. Dafür hatten wir nun einen greifbaren Beweis. Heutzutage, da derlei körperlich-seelische Zusammenhänge weitgehend erforscht sind, würde dies keinen sonderlichen Eindruck mehr machen, damals aber rief das Phänomen allgemeines Staunen hervor.

Man sprach von einem "Wunder", und die Kunde von diesen "Wunderkindern" verbreitete sich mit Windeseile. Die Presse entwickelte bei diesem Anlaß große Beredsamkeit. Ganze Bücher wurden über meine Kinder geschrieben, ja sogar Roman­autoren ließen sich von ihnen anregen und erzielten mit der genauen Beschreibung des bei uns Gesehenen eine Wirkung, als schilderten sie eine unbekannte Welt. Man sprach von der Entdeckung der menschlichen Seele, von Wundern, man beschrieb die Wandlung, die mit diesen Kindern vor sich gegangen war, und ein englisches Buch, das sich mit ihnen beschäftigte, betitelte sich geradezu "New Children" (Neue Kinder). Aus fernen Ländern, vornehmlich aus Amerika, kamen viele Personen, um diese überraschenden Tatsachen selbst festzustellen. Unsere Kinder hätten sehr wohl die Bibelworte sprechen können, die am Dreikönigstag, dem Tage unserer Schuleröffnung, in den Kirchen gelesen wurden: 

"Blicke auf und sieh um dich. Diese alle sind zu dir gekommen... 
An dich wendet sich die Menge von jenseits des Meeres."

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28  Folgerungen 

 

 

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Die vorstehende kurze Aufzählung von Tatsachen und Eindrücken läßt die Frage nach der "Methode" unbeantwortet. Der Leser wird nicht recht begreifen, mit welcher Methode jene Ergebnisse erzielt worden sind.

Gerade das ist der springende Punkt. Man sieht nicht die Methode: was man sieht, ist das Kind. Man sieht die Seele des Kindes, die, von allen Hindernissen befreit, sich gemäß ihrer eigenen Natur kundgibt. Die kindlichen Eigenschaften, die hierbei zutage treten, gehören schlechthin dem Leben an, gleich den Farben der Vögel und den Gerüchen der Blumen;

sie sind in keiner Weise die Folge einer "Erziehungsmethode". Es ist jedoch klar, daß solche Naturtatsachen durch eine Erziehung beeinflußt werden können, deren Ziel es ist, sie in ihrer Entwicklung zu fördern und zu schützen.

Der Mensch vermag ja auch durch Pflege auf die Blumen, auf deren natürliche Farben und Düfte einzuwirken, das Auftreten gewisser Merkmale zu fördern und es dahin zu bringen, daß die ursprünglichen, von der Natur dargebotenen Eigenschaften sich in erhöhter Kraft und Schönheit weiterentwickeln.

Nun handelt es sich bei den in unserem "Kinderhaus" aufgetretenen Phänomenen um natürliche seelische Erscheinungen. Wenn diese für gewöhnlich nicht so klar zu bemerken sind wie die Vorgänge in der vegetativen Natur, so hat dies seinen Grund darin. daß das Seelenleben außerordentlich wandelbar ist. Seine Kennzeichen können unter ungünstigen Umweltbedingungen geradezu verschwinden und durch andere ersetzt werden. Für eine erfolgreiche Erziehungsarbeit ist es daher erforderlich, zunächst einmal Umweltbedingungen herzustellen, die das Aufblühen der verborgenen normalen seelischen Eigenschaften begünstigen. Zu diesem Zweck genügt es, Hindernisse hinwegzuräumen, und dies muß denn auch der erste Schritt und das Fundament der Erziehung sein. Deshalb handelt es nicht darum, die vorhandenen Eigenschaften zu entwickeln, sondern zuerst die Natur zu entdecken, und dann erst die Entwicklung der Normalität zu fördern.

Untersucht man die Bedingungen näher, unter denen durchaus zufällig die normalen Charakterzüge der Kinder so überraschend aufblühten, so lassen sich einige Umstände von besonderer Wichtigkeit feststellen.

Da war zunächst einmal eine angenehme Umgebung, in der die Kinder keine Beschränkungen empfanden. Sie mußte besonders erfreulich auf jene Kinder wirken, die in elenden Behausungen aufgewachsen waren; fanden sie doch hier einen weißen, sauberen Raum mit neuen Tischchen, eigens für sie gezimmerte kleine Sessel und Stühle und im Hof sonnige Rasenflächen. 

Ein weiterer Faktor bestand in gewissen negativen Eigenschaften der Erwachsenen: die Eltern dieser Kinder konnten nicht lesen und schreiben, die Lehrerin war eine Arbeiterin ohne Ehrgeiz und Vorurteile. Man könnte diese Situation als einen Zustand von "intellektueller Ruhe" bezeichnen. 

Es ist von jeher bekannt, daß ein Erzieher ruhig sein soll. Dabei aber hat man immer mehr an eine Ruhe des Charakters, der nervösen Impulse gedacht, während es sich hier um eine Ruhe in einem viel tieferen Sinn handelte — um einen Zustand der Leere, besser gesagt, der geistigen Befreiung, der eine innere Klarheit zur Folge hat. Diese "geistige Demut", die sich der geistigen Reinheit nähert, bereitet auf das Verstehen des Kindes vor und sollte daher die wesentliche Vorbereitung des Lehrers sein. 

Bemerkenswert war schließlich die Tatsache, daß den Kindern hier ein geeignetes, anziehendes, für die Erziehung der Sinne förderliches Material zur Verfügung gestellt werden konnte, das ihnen eine Analyse und Verfeinerung ihrer Bewegungen gestattete und eine Konzentration der Aufmerksamkeit bewirkte, die niemals erzielt werden kann, wenn ein mündlicher Unterricht sich bemüht, von außen her die Energie der Kinder wachzurufen.

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Wir fassen zusammen: Eine geeignete Umgebung, eine demütige Lehrperson und wissenschaftliches Material — das waren die drei wichtigsten äußeren Gegebenheiten. Wir wollen nun auf einige Äußerungen der Kinder selbst hinweisen.

Die wichtigste, die wie mit einem Zauberschlag den normalen Wesenszügen des Kindes zum Durchbruch verhilft, ist eine Tätigkeit, die sich mit vom Geiste geleiteten Bewegungen der Hände in Konzentration auf eine Arbeit an einem beliebigen äußeren Objekt vollzieht. Hierbei treten einige charakteristische Erscheinungen auf, deren Beweggründe unverkennbar innerer Art sind, wie etwa die Wiederholung der Übungen und die freie Wahl der Objekte. Dann erscheint das wahre Kind: vor Freude strahlend in unermüdlicher Tätigkeit begriffen, denn in seinem Leben ist Tätigkeit gleichbedeutend mit einer Art seelischen Stoffwechsels, womit alle Entwicklung eng zusammenhängt. Von jetzt an verläuft alles gemäß seiner eigenen Wahl: es spricht stürmisch auf bestimmte Übungen an, wie etwa auf die der Stille, es begeistert sich für gewisse Anleitungen, die ihm den Weg zur Gerechtigkeit und Würde weisen. 

Eifrig nimmt es alles in sich auf, was der Entwicklung seines Denkens förderlich ist. Hingegen weist es andere Dinge zurück: Belohnung, Süßigkeiten, Spielsachen. Ferner gibt es zu erkennen, daß Ordnung und Disziplin ihm lebenswichtige Bedürfnisse und Kundgebungen sind. Zugleich bleibt es ein Kind: frisch, aufrichtig, heiter, ein Kind, das hüpft, das schreit, wenn es von etwas beglückt ist, das in die Hände klatscht, läuft, laut grüßt, überschwenglich dankt, zu allen zärtlich ist, sich allen nähert, alles bewundert, sich allem anpaßt.

Wir wollen also die Dinge wählen, die das Kind gewählt hat, berücksichtigen wir seine spontanen Äußerungen, stellen wir eine Art Liste auf und verzeichnen wir darin, um Zeitverlust zu vermeiden, was das Kind will und was es nicht will.

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I. Individuelle Arbeit:

Wiederholung der Übung
Freie Wahl
Kontrolle des Irrtums
Analyse der Bewegungen
Übungen der Stille
Gute Manieren im gesellschaftlichen Umgang
Ordnung in der Umwelt
Peinliche Sauberkeit der Person
Erziehung der Sinne
Schreiben, unabhängig vom Lesen
Schreiben als Vorstufe des Lesens
Lesen ohne Bücher
Disziplin in freier Tätigkeit

Ferner:

2. Abschaffung der Belohnungen und Strafen:

Abschaffung der Fibeln
Abschaffung der gemeinsamen Lektionen1 
Abschaffung der Lehrpläne und Prüfungen 
Abschaffung der Spielsachen und Leckereien 
Abschaffung des Katheders der unterrichtenden Lehrerin

 

Aus dieser Liste zeichnet sich unzweifelhaft bereits eine Erziehungsmethode ab. Mit einem Wort, das Kind selbst hat uns positive praktische Hinweise für den Aufbau einer Lehrmethode gegeben, bei der seine Wahl uns leitet und seine lebendige Kraft Fehlerkontrolle ist.

 

1  Das bedeutet nicht, daß in unseren Schulen überhaupt keine gemeinsamen Lektionen erteilt werden Diese aber stellen weder das einzige noch auch nur das hauptsächlichste Unterrichtsmittel dar Sie dienen lediglich zu besonderen Darlegungen und Tätigkeiten.

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Es ist erstaunlich, wie weitgehend diese ursprünglichen, aus dem Nichts hervorgegangenen Richtlinien bei dem späteren, auf langen Erfahrungen beruhenden Ausbau einer richtiggehenden Erziehungsmethode beibehalten werden konnten. Man könnte dabei an den Embryo eines Wirbeltieres denken, bei dem zuerst eine Linie, die sogenannte Urlinie in Erscheinung tritt, eine Zeichnung ohne Substanz, aus der sich späterhin die Wirbelsäule bilden wird. Bei näherer Untersuchung dieses Vergleichsobjektes würden wir feststellen, daß das Ganze in drei Teile zerfällt: Kopf, Brustabschnitt, Bauchabschnitt; ferner bildet sich allmählich eine Anzahl bestimmter Knoten heraus, die schließlich zu Wirbeln erstarren. In ähnlicher Weise haben wir es bei unserer ersten Skizze einer Erziehungsmethode mit einem Ganzen, einer grundlegenden Linie zu tun. An ihr sind drei große Faktoren feststellbar — Umgebung, Lehrer und Material — und außerdem zeichnen sich mit der Zeit zahlreiche feste Punkte ab, ganz wie bei den Wirbeln.

Es wäre interessant, Schritt für Schritt zu verfolgen, wie dieses erste Werk, das in der menschlichen Gesellschaft unter Leitung des Kindes entstanden ist, sich entwickelt hat. So könnte man eine Idee von der Evolution jener Grundsätze erhalten, die sich zunächst als unerwartete Enthüllung darboten. Evolution ist in der Tat der Ausdruck, mit dem man die aufeinanderfolgenden Entwicklungen dieser eigentümlichen Methode bezeichnen möchte, denn alle neuen Einzelheiten gingen aus einem Leben hervor, das sich auf Kosten der Umwelt abspielt. Diese Umwelt aber ist ihrerseits eine durchaus besondere, stellt sie doch eine aktive und lebendige Antwort des Erwachsenen auf die neuen Entwürfe dar, die das kindliche Leben kundgibt, indem es sich entwickelt.

Die wunderbare Schnelligkeit, mit der unsere Methode in zahlreichen Schulen für Kinder jeder sozialen Stellung und jeder

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Rasse angewendet worden ist, hat zu einer solchen Erweiterung unserer Erfahrungen geführt, daß wir mit unbezweifelbarer Sicherheit gewisse feststehende Punkte und allgemein gültige Tendenzen herausarbeiten konnten — gewissermaßen Naturgesetze, auf die sich die Erziehung aufbauen muß. 

Die Schulen, die unmittelbar auf das erste "Kinderhaus" folgten, waren darum besonders interessant, weil in ihnen unsere ursprüngliche Haltung beibehalten wurde. Diese Haltung bestand darin, spontane Äußerungen der Kinder abzuwarten, ohne daß sich bereits bestimmte Methoden und äußere Vorbereitungen genauer abgezeichnet hätten.

Ein eindrucksvolles Beispiel hatten wir an einem der ersten in Rom gegründeten "Kinderhäuser". Die Umstände waren hier noch ungewöhnlicher als bei der ersten Schule, denn es handelte sich durchwegs um Waisenkinder, die eine gewaltige Katastrophe überlebt hatten: das Erdbeben von Messina. Es waren im ganzen rund sechzig Kinder, die man unter den Trümmern gefunden hatte und von denen man weder wußte, wie sie hießen noch welcher sozialen Schicht sie entstammten. Ein ungeheurer Schock hatte sie alle nahezu ganz einförmig werden lassen: niedergeschlagen, stumm, geistesabwesend. Es war schwierig, ihnen Nahrung beizubringen und sie zum Schlafen zu veranlassen. Des Nachts gab es Geschrei und Wehklagen. Für diese Kinder wurde ein entzückender Aufenthaltsort geschaffen, und die Königin von Italien beschäftigte sich in großherziger Weise mit ihnen. Man fertigte kleine, helle, leuchtende Möbel an, kleine Schränke mit Türen und farbigen Bespannungen, sehr niedrige, in lebhaften Farben gestrichene kreisrunde Tische neben anderen rechteckigen, höheren, weißen Tischen, Stühlen und Sesselchen. Überdies aber bekamen die Kinder reizendes Geschirr, kleine Teller und Bestecke, Servietten und sogar Seifenstücke und Handtücher, die Kinderhänden angepaßt waren. Allenthalben gab es eine liebevolle Ausschmückung: Bilder an

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den Wänden und gefüllte Blumenvasen. Die Schule befand sich in einem Kloster der Franziskanerinnen mit großen Gärten, breiten Wegen und vorzüglich gehaltenen Blumenbeeten. Es gab darin Goldfischteiche, Tauben ... In dieser Umgebung bewegten sich schweigend und geräuschlos die Schwestern in ihrer beinahe ganz weißen Tracht mit dem großen Schleier, der majestätisch anzusehen war.

Sie lehrten die Kinder gute Manieren mit einer Sorgfalt, die sich von Tag zu Tag vervollkommnete. Diesem Orden gehörten viele Schwestern aus der aristokratischen Gesellschaft an, und sie übten mit den Kindern jede kleinste Regel des mondänen Lebens, das sie hinter sich gelassen hatten, wobei ihnen die Erinnerung an ihre früheren Gewohnheiten zugute kam. Die Kinder aber schienen unersättlich nach immer neuen Feinheiten dieser Art. Sie hatten gelernt, sich bei Tisch wie Prinzen zu betragen, hatten aber auch gelernt, bei Tisch zu bedienen wie Kammerdiener von hohem Rang. Die Mahlzeiten, die nicht mehr um der Nahrung willen anziehend wirkten, interessierten die Kinder, weil sie ihnen Gelegenheit gaben, sich in der Beherrschung ihrer Bewegungen und in allerlei Kenntnissen zu üben; und allmählich kam dann auch der richtige kindliche Appetit wieder und mit ihm der ruhige Schlaf. Die Veränderung, die sich mit diesen Kindern vollzog, war geeignet, tiefen Eindruck hervorzurufen. Man konnte ihnen jetzt zusehen, wie sie fröhlich Dinge in den Garten trugen, die Möbel aus dem Zimmer ins Freie unter die Bäume beförderten, dabei nichts zerbrachen, nirgends anstießen und vergnügte, lebensvolle Mienen zur Schau trugen.

Bei dieser Gelegenheit wurde zum ersten Mal der Ausdruck "Bekehrung" laut. "Diese Kinder machen mir den Eindruck von Bekehrten", sagte eine der hervorragendsten italienischen Schriftstellerinnen der Zeit. "Es gibt keine wunderbarere Bekehrung als die, bei der Kummer und Bedrücktheit überwunden werden und das Leben sich auf eine höhere Ebene erhebt."

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Diese Auffassung, die in den Augen aller eine unerklärliche und eindrucksvolle Erscheinung mit einer Art von religiösem Gehalt erfüllte, machte damals auf viele Menschen tiefen Eindruck, obwohl das Wort "Bekehrung" eigentlich etwas ganz anderes bedeutet. Scheint doch der damit ausgedrückte Vorgang im Gegensatz zu dem Stande der Unschuld zu stehen, in dem Kinder sich befinden. Aber es handelt sich in der Tat hier um eine Verwandlung, die diese Kinder von ihrem seelischen Schmerz und ihrer Verlassenheit befreite, um eine Wiedergeburt zur Freude.

Traurigkeit und Schuldgefühle sind beides Zustände, die auf eine Entfernung von den Quellen der Lebensenergien hinweisen, und unter diesem Gesichtspunkt bedeutet das Wiederfinden dieser Lebensenergien tatsächlich eine Art Bekehrung; verschwinden doch Traurigkeit und Schuldgefühle in der Freude einer seelischen Reinigung.

Das war es, was in unseren Kindern vor sich ging: Da gab es eine Art Auferstehung von der Traurigkeit zur Freude, und da verschwanden zugleich eine Menge von Charakterfehlem, von denen wir befürchtet hatten, sie würden sich als unverbesserlich erweisen. Zugleich aber verschwanden auch solche Eigenschaften, die gemeinhin als Vorzüge gelten, und damit verschafften uns diese Kinder wirklich eine Erleuchtung. Alles am Menschen ist verkehrt, und alles muß von vorn begonnen werden; und dazu führt nur ein Weg, die Rückkehr zu den Quellen der schöpferischen Energien. Ohne die komplexen Vorgänge, die wir in unseren Schulen an Kindern aus den abnormsten Lebensbedingungen beobachten konnten, wäre es nicht möglich gewesen, zwischen dem Guten und dem Bösen in den kindlichen Charakteren zu unterscheiden; denn der Erwachsene hat sich nun einmal sein Urteil gebildet und läßt im Kinde alles das als gut gelten, was in seinen Augen für die Anpassung des Kindes an die Lebensweise des Erwachsenen zeugt und umgekehrt. Unter dieser Art der Beurteilung pflegen die natürlichen Charakterzüge des Kindes zu erloschen. So ist das Kind hinter der Welt der Erwachsenen verschwunden und zu einem unbekannten Wesen geworden; und Gut wie Böse begraben es gleicherweise unter sich.

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29  Kinder aus bevorzugten Gesellschaftsschichten

 

 

 

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Unter sozialen Sonderbedingungen wachsen auch die Kinder der Reichen auf. Es hat den Anschein, als müßten sie eigentlich viel leichter zu erziehen sein als die ganz armen Kinder der Volksschule oder die Waisen vom Erdbeben in Messina. Worin hätte wohl ihre Bekehrung zu bestehen? Die Kinder aus reichem Haus sind ja die wahren Privilegierten, sie erfreuen sich der erlesensten Fürsorge, die die Gesellschaft zu vergeben hat. Ich will aber, um diesem Vorurteil zu begegnen, hier ein paar Seiten aus einem meiner Bücher anführen, in welchem Leiterinnen unserer Schulen in Europa und Amerika ihre ersten Eindrücke von den hier auftretenden Schwierigkeiten aufrichtig dartun.

Schönheit in seiner Umgebung, die Pracht der Blumen üben auf das reiche Kind keinen Reiz aus; es fühlt sich nicht hinausgelockt auf die Spazierwege eines Gartens, und es kommt kein Verhältnis zwischen ihm und dem Unterrichtsmaterial zustande. Der Lehrerin fällt auf, daß diese Kinder nicht, wie sie erwartet hat, sich auf die Gegenstände stürzen und diese dem eigenen Verlangen entsprechend auswählen.

Bei armen Kindern geschieht dies in unseren Schulen fast immer schon im ersten Augenblick, während Kinder aus reichen Familien, die schon mit seltenen Gegenständen und mit kostbarem Spielzeug bis zum Überdruß versehen sind, kaum noch auf derartige Reize ansprechen. Eine amerikanische Lehrerin, Miss G., berichtete aus Washington: "Die Kinder rissen einander die Gegenstände aus den Händen: wollte ich einem Schüler einen Gegenstand zeigen, so ließen die anderen fallen, was sie in der Hand hatten, und scharten sich lärmend und ziellos um uns. Hatte ich einen Gegenstand zu Ende erklärt, so balgten sich alle um seinen Besitz. Die Kinder zeigten keinerlei Interesse am Unterrichtsmaterial: sie gingen von einem Gegenstand zum andern ohne bei irgendeinem zu bleiben.

Ein Kind brachte es nicht einmal zustande, die wenigen Augenblicke stillzusitzen, die notwendig gewesen wären, um mit dem Finger einen der gezeigten Gegenstände zu umfahren. Oftmals war die Bewegung der Kinder völlig ziellos: sie rannten im Zimmer umher ohne jeden festen Richtungspunkt. Und dabei kümmerten sie sich nicht im geringsten um die vorhandenen Gegenstände: sie stießen gegen den Tisch, warfen Stühle um und traten rücksichtslos auf Lehrmitteln herum; manchmal begannen sie irgendwo die ihnen aufgegebene Arbeit, rannten aber dann wieder davon, nahmen einen anderen Gegenstand und ließen, wie es ihnen die Laune eingab, auch diesen bald wieder aus der Hand."

Mlle D. schrieb aus Paris: "Ich muß gestehen, meine Erfahrungen waren wahrhaft entmutigend. Die Kinder konnten bei keiner Arbeit länger als ein paar Augenblicke verweilen. Keine Beharrlichkeit, keine eigene Initiative. Manchmal liefen sie einander nach und benahmen sich wie eine Schafherde. Wenn eins von ihnen einen Gegenstand ergriff, so wollten die ändern dasselbe tun. Bisweilen wälzten sie sich auf dem Boden und warfen die Stühle um."

Aus einer römischen Schule mit reichen Kindern erhielten wir folgende lakonische Darstellung: "Hauptanliegen ist die Disziplin. Die Kinder sind ziellos in der Arbeit und widerspenstig, wenn man sie anweisen will."

Und nun ein paar Berichte über die Anfänge der Disziplin: Miss G. teilte aus Washington mit: 

"In wenigen Tagen begann die nebelhafte Masse wirbelnder Teilchen festere Form anzunehmen. Die Kinder gewannen allmählich innere Richtung: nach und nach bekamen sie Interesse an vielen Gegenständen, die sie anfänglich als dummen Spielkram zurückgewiesen hatten, und aus diesem Interesse heraus begannen sie als unabhängige, sehr ausgeprägte Einzelwesen zu handeln. So kam es vor, daß ein Gegenstand, der die ganze Aufmerksamkeit des einen Kindes in An-

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spruch nahm, auf das andere auch nicht den geringsten Reiz ausübte; die Kinder unterschieden sich stark in den Äußerungen ihrer Aufmerksamkeit. Das Spiel ist erst dann endgültig gewonnen, wenn das Kind irgendeinen besonderen Gegenstand entdeckt hat, der in ihm ein tiefes und spontanes Interesse erweckt. Bisweilen kommt diese Begeisterung unverhofft und verwunderlich schnell. Einmal versuchte ich mit fast sämtlichen Gegenständen unseres Materials, in einem Kind Interesse hervorzurufen, konnte aber auch nicht die geringste Aufmerksamkeit bewirken: zufällig zeigte ich ihm schließlich auch das rote und das blaue Täfelchen und lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Farbunterschiede. Das Kind griff hastig zu und lernte in einer einzigen Unterrichtsstunde die fünf Farben. An den folgenden Tagen griff es nach allen Gegenständen des Materials, die es zuerst zurückgewiesen hatte, und interessierte sich nach und nach für sämtliche.
Ein Kind, das anfangs nur ein geringes Konzentrationsvermögen hatte, gelangte aus diesem chaotischen Zustand dadurch heraus, daß es sich mit einem der schwierigsten Gegenstände beschäftigte: mit den sogenannten Längen. Es spielte eine Woche lang fortwährend damit und lernte dabei rechnen und einfache Additionen vornehmen. Dann kehrte es zu den einfacheren Gegenständen zurück: zu den Einsätzen und den Zylindern, und beschäftigte sich mit allen Teilen des Materials.
Kaum haben die Kinder einen Gegenstand gefunden, der sie interessiert, so verschwindet auch schon unversehens die Disziplin­losigkeit, und die geistige Untätigkeit hört auf." 

 

Dieselbe Lehrerin schildert das Erwachen einer Persönlichkeit:  "Wir hatten zwei Schwestern hier, die eine drei, die andere fünf Jahre alt. Die dreijährige existierte als Eigenwesen nicht, sie folgte in allem getreulich der älteren Schwester: die ältere hatte einen blauen Bleistift, also war die kleine nicht eher zufrieden, bis auch sie einen hatte; die ältere aß nur Butterbrot, also auch

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die jüngere usw. usw. Das kleine Mädchen nahm an nichts in der Schule Anteil, sondern ahmte nur in allem seine Schwester nach. Da interessierte sich die Kleine eines Tages plötzlich für die rosa Würfel: sie baut ihren Turm, nimmt lebhaftesten Anteil, wiederholt des öfteren diese Übung und vergißt völlig ihre Schwester. Die ältere ist darüber so verwundert, daß sie die jüngere ruft und sie fragt: .Wie kommt es, daß du den Turm baust, wenn ich einen Kreis ausfülle?' Von jenem Tag an wurde die Kleine zur Persönlichkeit, begann sich selbständig zu entwickeln und war nicht länger nur das Spiegelbild der Schwester."

 

Mlle D. erzählt von einer Vierjährigen, die es um keinen Preis zustande brachte, auch nur ein halbgefülltes Glas Wasser zu tragen, ohne etwas zu verschütten; so scheute sich das Mädchen schließlich davor, weil es ja wußte, daß es ihm nicht gelingen würde. Es interessierte sich aber für eine Übung mit anderem Material, und als es hier mehr Erfolg hatte, konnte es plötzlich auch ohne Schwierigkeit Gläser voll Wasser tragen. Einige Kameraden malten mit Wasserfarben, so wurde es für die Kleine zum Sport, ihnen Wasser zu bringen, ohne einen Tropfen zu vergießen."

Eine andere, sehr bemerkenswerte Begebenheit wurde uns von einer australischen Lehrerin, Miss B., mitgeteilt. Sie hatte im Kinderhaus ein kleines Mädchen, das noch nicht sprechen konnte und nur unartikulierte Laute von sich gab, so daß die Eltern es bereits hatten ärztlich untersuchen lassen. Diese Kleine interessierte sich eines Tages für die Einsatzzylinder und unterhielt sich lange damit, die Holzzylinderchen aus deren Öffnungen herauszuholen und wieder hineinzustecken. Als sie ihre Arbeit noch einmal mit besonderem Nachdruck vorgenommen hatte, lief sie zur Lehrerin und rief: 'Komm, schau!' "

Mlle D. erzählt: "Als nach den Weihnachtsfeiern die Schule wieder begann, ging in der Klasse eine große Veränderung vor sich. Die Ordnung schien ganz von selbst zustande zu kommen, ohne

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daß ich einzugreifen brauchte. Die Kinder schienen zu sehr von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, als daß bei ihnen die frühere Disziplinlosigkeit hätte wieder aufkommen können. Sie gingen nun von selbst zum Schrank und suchten sich dort Gegenstände heraus, die ihnen früher langweilig vorzukommen schienen. Es entstand eine richtige Arbeitsstimmung in der Klasse. Kinder, die bislang die Gegenstände nur aus momentaner Laune ergriffen hatten, hatten nun das Bedürfnis nach einer Art Regel, nach einer persönlichen und inneren Regel: sie konzentrierten ihre Kraft auf sorgfältige und methodische Arbeit und hatten eine wahre Freude am Überwinden von Schwierigkeiten. Diese wertvolle Arbeit wirkte sich unmittelbar auf ihren Charakter aus. Sie gelangten zur Herrschaft über sich selbst."

Mlle D. fiel ein vierjähriger Junge auf, bei dem die Einbildungskraft in außergewöhnlicher Weise entwickelt war: Zeigte man ihm einen Gegenstand, so beachtete er nicht dessen Form, sondern personifizierte ihn und führte mit ihm ein fortgesetztes Gespräch; dabei war es unmöglich, seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand selbst zu lenken. Seine Gedanken schweiften, und er war zu jeder konkreten Handlung unfähig, selbst zum Zuknöpfen seiner Schuhe. Da plötzlich vollzog sich in ihm ein Wunder: "Ich stellte mit Erstaunen fest, daß in ihm eine Veränderung vor sich ging; er machte zunächst eine unserer Übungen zu seiner Lieblings­beschäftigung, dann nahm er alle anderen vor. Auf diese Weise kam er zur Ruhe."

Diese Lehrerinnenberichte aus einer Zeit, da noch keine feste Methode sich herauskristallisiert hatte, ließen sich in unendlicher Gleichförmigkeit fortsetzen. Fast bei allen jenen glücklichen Kindern, für die eine intelligente, liebevolle Familie sorgt, treten ähnliche Tatsachen und ähnliche Schwierigkeiten, sei es auch in geringerem Grade, in Erscheinung. Mit dem, was wir Wohlstand heißen, sind geistige Schwierigkeiten verbunden: sie erklären uns, warum jene Worte der Bergpredigt solchen Widerhall in den Herzen fanden: "Selig sind die Armen im Geiste ..., selig, die da weinen."

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Aber alle sind aufgerufen, und alle gelangen zum Ziel, wenn sie mit den eigenen Schwierigkeiten fertig werden. Die Erscheinung, die wir Bekehrung nannten, ist daher eine Eigentümlichkeit des Kindesalters. Es handelt sich dabei um eine rasche Änderung, die manchmal von einem Augenblick zum anderen eintritt und der immer dieselbe Ursache zugrunde liegt. Es ließe sich kein einziges Beispiel von Bekehrung anführen, das nicht zusammenhinge mit der Konzentration der Aktivität auf eine interessante Arbeit. Und es sind die verschiedensten Bekehrungen, die auf diese Art zustande kommen: ob nun Erregte sich beruhigen oder Unterdrückte sich wieder aufrichten, immer geschieht dies auf demselben Weg der Arbeit und der Disziplin, und darauf folgt dann der spontane Fortschritt, getragen von einer inneren Kraft, die zum Vorschein kommt, sobald sie ein Ausfallstor gefunden hat.

Alle die unverhofften Ereignisse, die die verläßlichen Vorboten einer nachfolgenden Entwicklung sind, haben etwas Explosives an sich. Von einem Tag auf den ändern kommt beim Kind ein Zahn hervor, und von einem Tag auf den ändern tut es seinen ersten Schritt: und ist der erste Zahn durchgestoßen, so folgt das ganze Gebiß; ist das erste Wort gesprochen, so entwickelt sich auch die Sprache überhaupt; ist der erste Schritt getan, so wird auch für immer die Gehfähigkeit erworben. So war denn die Entwicklung aufgehalten worden, oder, besser gesagt, sie hatte einen falschen Weg genommen, und dies bei allen Kindern, bei den Kindern aller Gesellschaftsschichten.

Als unsere Schulen sich überall auf der Erde einbürgerten, zeigte es sich, daß die Bekehrung beim Kind eine Erscheinung ist, die der ganzen Menschheit angehört. Wir konnten unzählige Charakterzüge studieren, die verschwanden und immer wieder von derselben Lebensform ersetzt wurden.

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So gibt es schon am Anfang des Lebens, nämlich beim Kleinkind, ständig eine Art Irrung, die den natürlichen menschlichen Seelentyp entstellt und auf unbegrenzt viele »Abwege" führt. Das Einzigartige in der kindlichen Bekehrung ist eine seelische Heilung, eine Rückkehr zur Normallage. Das geistig frühreife Wunderkind, das heldenhafte Kind, das sich selbst überwindet und sich über den Schmerz zur Lebenskraft und zur Gelassenheit durchringt, das reiche Kind, das disziplinierte Arbeit oberflächlicheren Lebensformen vorzieht, sie alle sind Normalkinder.

Was wir, solange es nur das Zutagetreten einer überraschenden Tatsache war, Bekehrung nannten, das muß nach all unseren ausgedehnten Erfahrungen als eine Normalisierung angesehen werden. Im Menschen liegt eine verschüttete und darum unbekannte Natur verborgen, die dennoch einfach die wahre ist, die Natur, die er bei der Schöpfung erhielt und die Gesundheit und Heil in einem bedeutet.

Durch eine solche Auslegung soll aber die Eigentümlichkeit der Bekehrung nicht in Frage gestellt werden, vielleicht vermag sogar der Erwachsene zur Umkehr gerufen zu werden, aber doch mit solcher Schwierigkeit, daß man eine derartige Wandlung nicht einfach als Rückkehr zur menschlichen Natur erkennen kann.

Beim Kind können indessen die normalen seelischen Eigenschaften mit Leichtigkeit wieder zutage treten: dann verschwindet in einem alles von der Norm Abweichende, wie bei der Rückkehr der Gesundheit sämtliche Krankheitssymptome verschwinden.

Wenn wir Kinder im Lichte dieser Einsicht beobachten, so können wir öfter und öfter ein spontanes Zutagetreten normaler Charakterzüge feststellen, sogar wo die Umweltbedingungen ungünstig sind. Und selbst wenn solches Nach-oben-Drängen dadurch zurückgedämmt wird, daß man es nicht beachtet und nicht fördert, wird es dennoch so wiederkehren und sich durchzusetzen versuchen, wie eben Lebensenergien sich allen Hindernissen zum Trotz ihren Weg bahnen und zu überwiegen suchen.

Man könnte sagen, daß die normalen Kräfte des Kindes uns ein Beispiel der Verzeihung geben im Sinne des Christuswortes: "Nicht siebenmal sollt ihr vergeben, sondern siebenmal siebzigmal."

Auch die innerste Natur des Kindes vergibt und strebt trotz der Zurückdrängung durch Erwachsene erneut nach der Oberfläche. Es ist also keine vorübergehende Episode des kindlichen Lebens, daß die normalen Eigenschaften versenkt werden. Es handelt sich vielmehr um einen Kampf, der durch fortgesetzte Unterdrückung entfacht wird.

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