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30  Die innere Vorbereitung des Lehrers

 

 

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Der Lehrer wäre im Irrtum, der meinte, er könne sich auf seine Aufgabe ausschließlich durch Studium und Anhäufung von Wissen vorbereiten: in allererster Linie ist für ihn eine klare innere Haltung erforderlich.

Kern des Problems ist die Frage, wie das Kind beobachtet sein will, und die Tatsache, daß man sich nicht auf äußere Beobachtungen beschränken kann, wie dies möglich wäre, wenn es um die theoretische Erkenntnis einer Unterrichts- und Erziehungsweise ginge. Wir bestehen mit Nachdruck darauf, daß der Lehrer sich innerlich vorbereiten muß: er muß mit Beharrlichkeit und Methode sich selber studieren, damit es ihm gelingt, seine hartnäckigsten Mängel zu beseitigen, eben die, die seiner Beziehung zum Kinde hinderlich sind. Um diese verborgenen Mängel zum Bewußtsein zu bringen, haben wir Hilfe von außen nötig, bedarf es einer gewissen Weisung; es ist unumgänglich, daß jemand uns auf das hinweist, was wir in uns erkennen sollen.

In diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß der Lehrer einer "Einweihung" bedarf. Er kümmert sich zu sehr um die "Neigungen des Kindes", um die Frage, wie man bei diesem gewisse Fehlerhaftigkeiten ausgleicht, um die "Belastung durch die Erbsünde", wo er doch zunächst einmal den eigenen Fehlern und üblen Neigungen nachgehen müßte.

Nimm erst den Balken aus dem eigenen Auge, und du vermagst auch den Splitter aus den Augen des Kindes zu nehmen.

Die innere Vorbereitung ist allgemeiner Art. Sie ist nicht dasselbe wie das "Streben nach Selbstvervollkommnung" von Mitgliedern eines religiösen Ordens. Um Erzieher zu werden, braucht man nicht "vollkommen" und von Schwächen frei zu sein. Einer, der unablässig nach dem Weg zur Hebung seines inneren Lebens sucht, braucht noch lange nicht der Fehler innezuwerden, die im ein rechtes Verstehen des Kindes unmöglich machen.

Es muß jemand dasein, der uns anweist, und wir müssen uns leiten lassen. Wir müssen erzogen sein, wenn wir erziehen wollen. Die Unterweisung, die wir den Lehrern geben, besteht darin, daß wir ihnen zeigen, welche innere Haltung ihrer Aufgabe am angemessensten ist, wie der Arzt dem Kranken angibt, an welchem Übel sein Organismus leidet. 
Hier eine eindringliche Mahnung:
"Die Haupt- und Todsünde, die uns beherrscht und uns den Weg zum Verständnis des Kindes versperrt, ist der Zorn."

Und da ein Übel nie allein auftritt, sondern immer andere nach sich zieht, verbindet sich mit dem Zorn eine weitere Sünde, die auf den ersten Blick edel erscheinen mag, in Wirklichkeit aber teuflisch ist: der Hochmut.

Unsere üblen Neigungen können auf zweifache Weise korrigiert werden: innerlich dadurch, daß der Mensch seine Fehler klar erkennt und sie bekämpft; von außen her aber dadurch, daß die Äußerung unserer üblen Neigungen auf Widerstand stößt. Die Reaktion der äußeren Dinge ist von großer Wichtigkeit; denn sie deckt die vorhandenen inneren Mängel auf und regt damit zur Besinnung an. Die Meinung der Mitmenschen siegt über den Stolz des einzelnen; die Lebensumstände zwingen den Geiz ins Joch; die Antwort des Starken bricht den Zorn; der Zwang zu arbeiten, um leben zu können, besiegt die Vorurteile; die gesell­schaf­tliche Konvention steuert der Gier; die Schwierigkeit, zum Überfluß zu gelangen, beschwichtigt die Verschwendungs­sucht; das Bedürfnis nach persönlicher Würde schlägt den Neid nieder, kurz, all diese äußeren Umstände wirken unablässig als heilsame Warnung. Die sozialen Beziehungen dienen der Aufrechterhaltung unseres inneren Gleichgewichts.

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Allerdings beugen wir uns sozialen Widerständen nicht mit der Reinheit, mit der wir Gott gehorchen. Wir finden uns zwar leicht und gutwillig dazu herbei, die selbst erkannten Fehler zu beseitigen, weniger leicht aber nehmen wir die demütigende Lehre der Mitmenschen an; es demütigt uns mehr, einen Fehler zuzugeben, als einen zu begehen. Müssen wir einmal unser Verhalten korrigieren, so treibt uns das Bedürfnis, die äußere Würde zu wahren, zu dem Vorwand, wir hätten selbst das Unvermeidliche gewollt. Zu den häufigsten Verstellungen zählt z.B., daß wir von Dingen, die wir nicht bekommen können, sagen, sie gefielen uns nicht. Indem wir diese kleine Verstellung dem äußeren Widerstand entgegensetzen, nehmen wir den Kampf auf, statt ein Leben der Vollkommenheit zu beginnen. Und da bei jeder Art Kampf der Mensch das Bedürfnis hat, sich zu organisieren, findet die Sache des einzelnen im Kampf des Kollektivs ihre Verstärkung.

Haben einige den gleichen Fehler, so neigen sie instinktiv zu gegenseitiger Unterstützung; sie suchen die Kraft in der Vereinigung.

Wir verbergen unsere Fehler unter dem Vorwand hoher, unabdringlicher Pflichten, wie man im Krieg die Mittel der Zerstörung hinter harmloser Landschaftskulisse tarnt. Und je schwächere Kräfte von außen her unseren Fehlem begegnen, um so leichter können wir die schützende Vorstellung ins Werk setzen.

Wird einer von uns seiner Fehler wegen angegriffen, so wird die ganze Geschicklichkeit sichtbar, mit der das Übel sich unseren eigenen Blicken zu entziehen sucht. Was wir zu verteidigen Laben, ist zwar noch nicht unser Leben, aber es sind unsere Fehler: und wir sind bereit, sie mit Tarnkappen zu versehen, die wir "Notwendigkeit", "Pflicht" u. ä. nennen. Und nach und nach reden wir uns ein, was unser Gewissen als falsch erkannt hat, sei wahr, so daß eine Richtigstellung von Tag zu Tag schwieriger wird.

Der Lehrer und überhaupt alle, die Kinder erziehen möchten, müssen sich von diesem Zustand der Fehlerhaftigkeit befreien, der ihre Stellung den Kindern gegenüber beeinträchtigt. Der Grundfehler, die Kombination von Stolz und Zorn, muß dem Lehrer offen zum Bewußtsein kommen. Der Zorn ist das Grundübel, und ihm setzt der Stolz eine verführerische Maske auf, ja legt ihm eine Honoratiorenrobe an, die Ehrerbietung fordert.

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Der Zorn aber ist auch eine von den Sündern, die beim Mitmenschen am ehesten auf Widerstand stoßen. Darum muß er gezügelt werden; wer die Demütigung erlebt, daß er den Zorn verbergen muß, der schämt sich seiner schließlich.

Der Weg ist keineswegs schwierig, er ist klar und gangbar: Wir haben in den Kindern Geschöpfe vor uns, die unfähig sind, sich zu verteidigen und uns zu verstehen, und die alles hinnehmen, was ihnen gesagt wird. Nicht allein, daß sie Beleidigungen hinnehmen, sie fühlen sich auch in allem schuldig, was wir ihnen vorwerfen.

Der Lehrer sollte sich genauestens überlegen, was für Folgerungen aus dieser seelischen Lage des Kindes zu ziehen sind. Das Kind faßt eine Ungerechtigkeit nicht mit dem Verstand auf, aber es fühlt sie im Geist und wird niedergedrückt und innerlich verbogen. Reaktionen wie Schüchternheit, Lüge, Launenhaftigkeit, Weinen ohne sichtbaren Grund, Schlaflosigkeit, übertriebene Furcht stellen einen unbewußten Abwehrzustand des Kindes dar, dessen Verstand die tieferen Ursachen dafür in seinen Beziehungen zum Erwachsenen noch nicht zu durchblicken vermag.

Zorn bedeutet nicht äußere Gewalttätigkeit. Aus der rohen ursprünglichen Impulsivität sind andere Formen hervorgegangen, unter denen der seelisch verfeinerte Mensch seinen Affektzustand verbirgt.

In seinen einfacheren Formen ist der Zorn eine Reaktion auf den Widerstand des Kindes, aber angesichts der undurchsichtigen Äußerungen der Kinderseele verbindet er sich mit dem Stolz und bildet mit diesem zusammen ein komplexes Ganzes, wobei dann genau das entsteht, was man Tyrannei nennt. Diese verdient keine Erörterung: sie versetzt den Erwachsenen in die uneinnehmbare Festung der anerkannten Autorität, die er ganz einfach deswegen besitzt, weil er Erwachsener ist.

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Dieses Recht in Zweifel ziehen, hieße, gegen eine feststehende und geheiligte Vormacht angehen wollen. Wenn im primitiven Gemeinwesen der Tyrann ein Vertreter Gottes ist, so stellt für das kleine Kind der Erwachsene die Gottheit selbst dar, die über jede Diskussion erhaben ist. Wer ungehorsam sein könnte, nämlich das Kind, hat zu schweigen und sich allem zu fügen.

Gelingt es ihm einmal aufzubegehren, so wird dies schwerlich eine unmittelbare und beabsichtigte Antwort auf die Handlung des Erwachsenen sein, vielmehr eine vitale Verteidigung des seelischen Eigenbereichs oder eine unbewußte Reaktion seines unter­drückten Geistes.

Wächst das Kind heran, so lernt es, die Reaktion unmittelbar gegen den Tyrannen zu richten; der Erwachsene versteht es dann, das Kind mit einer Art Rechenexempel, mit noch komplizierteren und gewundeneren Rechtfertigungen außer Gefecht zu setzen, er redet ihm nämlich ein, die Tyrannei wolle nur sein Bestes.

Auf einer Seite Ehrerbietung, auf der andern Recht zur Beleidigung: der Erwachsene hat das Recht, das Kind abzuurteilen und zu beleidigen. Er kann je nach eigenem Gutdünken die Forderungen des Kindes lenken oder unterdrücken, und dessen Aufbegehren kann als Ungehorsam, als bedenkliches und unzulässiges Verhalten ausgelegt werden.

Damit haben wir ein echtes Abbild primitiver Regierungsform, bei der der Untertan ohne das geringste Einspruchsrecht seinen Tribut entrichtet. Es gab Völker, die in dem Glauben lebten, jedes Ding sei ein Gnadengeschenk ihres Souveräns, und genau so geht es in der Welt der Kinder zu, die alles den Erwachsenen zu verdanken vermeinen. War es nicht der Erwachsene selbst, der diesen Glauben aufkommen ließ? Er hat sich die Rolle des Schöpfers angemaßt, und sein überlegener Stolz oktroyiert dem Kind die Meinung auf, er habe alles geschaffen, was im Kind vorhanden ist. Er allein mache es intelligent, gut und fromm, er allein verschaffe ihm die Möglichkeit, mit Umwelt, Menschen und Gott in Fühlung zu kommen.

Schwieriges Unterfangen! Und um das Bild zu vervollständigen bestreitet der Erwachsene, daß er eine Tyrannei ausübt. Im übrigen hat es ja nie einen Tyrannen gegeben, der eingestanden hätte, daß er die eigenen Untertanen opferte.

Die Vorbereitung, die unsere Methode vom Lehrer verlangt, besteht in Selbstprüfung und im Verzicht auf die Tyrannei. Er muß aus seinem Herzen Zorn und Stolz verbannen, muß lernen, demütig zu sein, und sich in Liebe kleiden. Das ist die innere Haltung, die er einnehmen muß, die Grundlage, auf der es sich zur Ausgewogenheit gelangen läßt, der unentbehrliche Stützpunkt für sein Gleichgewicht. Darin besteht die innere Vorbereitung: ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel.

Dies soll andererseits natürlich nicht heißen, daß alle Handlungen des Kindes zu billigen seien, noch daß man jede Beurteilung unterlassen solle, und auch nicht, daß die Entwicklung von Verstand und Gefühl zu vernachlässigen sei: im Gegenteil, der Lehrer soll nie vergessen, daß er Lehrer ist und daß seine Aufgabe eben ist, das Kind zu erziehen. Doch ist ein Akt der Demut notwendig, es ist notwendig, daß wir ein Vorurteil ausrotten, das sich in unserem Herzen eingenistet hat.

Wir sollen in uns nicht das auslöschen, was bei der Erziehung helfen kann und muß, wohl aber jene innere Haltung des Erwachsenen überwinden, die uns am Verstehen der Kinder hindert.

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31   Abwegigkeiten  

 

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Beobachtet man, welche Eigentümlichkeiten bei der Normalisierung verschwinden, so überrascht es einen, daß es fast sämtliche anerkannten Kindereigentümlichkeiten sind. Also nicht allein die, welche man als kindliche Charakterfehler ansprechen könnte, sondern auch die, welche für wertvoll gelten. Also nicht nur Unordentlichkeit, Ungehorsamkeit, Naschhaftigkeit, Egoismus, Streitsucht, Launenhaftigkeit, sondern auch die sogenannte schöpferische Einbildungskraft, die Freude am Erzählten, die Anhänglichkeit an Personen, die Unterwürfigkeit, der Spieltrieb usw. - Ja, sogar solche Eigentümlichkeiten gehen verloren, die wissenschaftlich erforscht und bezeichnend für das Kindesalter erkannt wurden, etwa die Nachahmung, die Neugierde, die Unbeständigkeit, das Fluktuieren der Aufmerksamkeit. 

Das heißt: die Natur des Kindes, wie man sie zunächst gekannt hatte, ist nur etwas Scheinbares, das eine andere ursprüngliche und normale Natur überlagert. Und diese Feststellung ist um so eindrucksvoller, weil sie überall auf der Welt gemacht wurde, aber sie ist im Grunde nichts Neues, erkannte man doch schon in den frühesten Zeiten die Doppelnatur des Menschen: die des Menschen der Schöpfung und die des gefallenen Menschen; und die Entartung wurde einem Sündenfall zugeschrieben, von dem die ganze Menschheit betroffen wurde, und man erkannte auch, daß dieser Sündenfall an und für sich unbedeutend ist im Verhältnis zum unendlichen Ausmaß seiner Folgen. Aber er bedeutet Entfernung vom Schöpfungsgeist, von den Gesetzen, die bei der Schöpfung angelegt wurden. Seitdem ist der Mensch zum Boot geworden, das flußabwärts treibt, vom Zufall gelenkt und schutzlos gegenüber den Hindernissen der Umgebung und den Trugbildern des Verstandes: und darum ist er verloren.

Diese lebensphilosophische Ansicht bestätigt sich eigentümlich und einleuchtend im Leben des Kindes.

Klein ist die Ursache, die die Kreatur vom rechten Weg abbringt: etwas Verborgenes, Subtiles, im verlockenden Gewand der Liebe oder Hilfe, aber im Grunde von seelischer Blindheit der Erwachsenen herrührend, von einer maskierten und unbewußten Eigensucht, die tatsächlich dem Kind gegenüber eine diabolische Macht darstellt. Aber das Kind wird stets aufs neue geboren, trägt unangetastet in sich den Plan, nach dem der Mensch sich entwickeln sollte.

Wenn die Normalisierung von einem einzigen und bestimmten Sachverhalt ihren Ausgang nimmt, d. h. von der Konzentration in einer bewegungsreichen Aktivität, die eine Beziehung zur äußeren Wirklichkeit schafft, so ist anzunehmen, daß auch ein einziges Faktum am Anfang der sämtlichen Abwege steht, nämlich dieses: das Kind konnte nicht den ursprünglichen Plan seiner Entwicklung verwirklichen, da die Umwelt auf das Kind in dem Alter einwirkte, das für die Persönlichkeitsbildung entscheidend ist, also zu der Zeit, in der sich seine potentielle Energie durch die Fleischwerdung entwickeln sollte. Wenn man aber ein Vielfaches von Folgen auf ein einziges, einfaches und klares Faktum zurückführen kann, so zeigt dies bereits, daß dieses einer Periode des primitiven Lebens angehört, in der der Mensch noch geistiger Embryo ist und eine einzige und nicht wahrnehmbare Ursache alles spätere Wesen entstellen kann.

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32   Fluchterscheinungen  

 

 

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Bei der Erklärung der abwegigen Charakterzüge vermag einen also der Begriff der Fleischwerdung zu leiten: die psychische Energie muß sich in der Bewegung inkarnieren und die Einheit der handelnden Persönlichkeit bewirken. Ist solche Einigung nicht gelungen (weil ein Erwachsener eingriff oder weil es in der Umwelt an Anlässen zur Aktivität fehlte), dann entwickeln sich psychische Energie und Bewegung getrennt, und das Ergebnis ist der "gespaltene Mensch". 

Weil in der Natur nichts neugeschaffen und nichts vernichtet wird und das sonderlich für die Energien zutrifft, so werden sich diese, wenn sie sich außerhalb der von der Natur vorgezeichneten Richtung entwickeln müssen, abwegig entwickeln; und zwar vor allem deshalb, weil sie ihr Objekt verloren haben und im Leeren, Vagen, im Chaos sich auswirken. Der Geist, der sich hätte durch die Erfahrungen der Bewegung aufbauen müssen, flüchtet sich in den Bereich der Phantasie.

Er hat gesucht, aber nicht gefunden, und nun vagabundiert er zwischen Bildern und Symbolen umher. Solche lebhaften Kinder sind in ständiger, ununterdrückbarer, zielloser, ungeordneter Bewegung; sie fangen viel an, führen aber nichts zu Ende, weil ihre Energie durch die Dinge hindurchgeht, ohne irgendwo haftenzubleiben. Der Erwachsene bestraft zwar die Kinder ihrer zerfahrenen, zusammenhanglosen Handlungswelse wegen, bewundert und fördert aber ihre Phantasietätigkeit, die er als Anfang einer schöpferisch-fruchtbaren kindlichen Intelligenz ansieht. Bekanntlich hat z. B. Fröbel viele seiner Spiele gerade auf die Entwicklung dieses Symbolismus abgestimmt. Er verhilft dem Kind dazu, in unterschiedlich angeordneten Würfeln und Quadern bald Pferde, bald Burgen, bald Eisenbahnzüge zu sehen. 

Tatsächlich ermöglicht diese Neigung zum Symbolhaften dem Kind, irgendeinen Gegenstand zu benutzen, als sei er ein elektrischer Schalter, um die phantastischen Bilder seines Geistes zu beleuchten. Ein Stock wird zum Pferd, der Stuhl zum Thron, der Bleistift zum Flugzeug. So versteht man wohl, warum dem Kind Spielsachen gegeben werden, die zwar Tätigkeit ermöglichen, aber vor allem Illusion erzeugen und nur unvollkommene und unfruchtbare Abbilder der Wirklichkeit sind.

In der Tat scheinen die Spielsachen das Abbild einer nutzlosen Welt zu sein, die zu keiner geistigen Konzentration hinführt und kein Ziel in sich trägt: einem das Reich der Illusion durchschweifenden Geist wird ein Geschenk gemacht: Spielsachen. Um sie entwickelt sich plötzlich die Aktivität des Kindes, wie wenn in einem Kohlenbecken der Wind unter der Asche eine kleine Flamme entfacht, aber mit einmal verlischt die kleine Flamme, und das Spielzeug wird fortgeworfen. Die Spielsachen sind jedoch das einzige, was der Erwachsene für das Kind als seelisches Wesen geschaffen hat. Damit schenkte er ihm ein Material, an dem es in freier Weise seine Aktivität entfalten kann. Tatsächlich läßt ja der Erwachsene dem Kind nur im Spiel, besser gesagt, nur im Zusammenhang mit seinem Spielzeug die Freiheit, und er ist der Überzeugung, die Welt des Spielzeugs sei für das Kind die Welt des Glücks.

Aus solcher Überzeugung, die niemals ins Wanken geriet, obschon das Kind so schnell der Spielsachen überdrüssig wird und sie nur gar zu oft in Stücke schlägt, ist der Erwachsene in diesem Punkt großmütig geblieben und hat aus dem Spielzeugschenken geradezu einen Ritus gemacht. Hier liegt die einzige Freiheit, die die Welt dem Menschen in der Kindheit zugesteht, in jener wundersamen Zeit, in der höheres Leben Wurzeln schlagen sollte.

Diese zwiespältigen Kinder hält man, namentlich in der Schule, für besonders intelligent, aber für unordentlich und disziplinlos.

Bei uns jedoch stellen wir fest, daß sie plötzlich einmal bei einer Arbeit bleiben und daß dann Träumerei und Unordentlichkeit zugleich aufhören und ein ruhiges, gelassenes, der Wirklichkeit zugewandtes Kind sich durch Arbeit emporläutert. Die Normalisierung ist eingetreten. Die Organe der Bewegung sind in dem Augenblick dem Chaos entkommen, da es ihnen gelingt, sich einer inneren Führung anzuschließen: von nun an sind es Werkzeuge eines Verstandes, den es danach dürstet, die umgebende Wirklichkeit zu erkennen und zu durchdringen. So wird, was schweifende Neugierde war, Kraft zur Eroberung der Wirklichkeit. Die Psychoanalyse hat die abnorme Seite der Phantasie und des Spiels erkannt und beide mit einleuchtender Erklärung unter die "psychischen Fluchterscheinungen" eingereiht.

Flucht heißt weglaufen, eine innere Kraft hat ihren natürlichen Ort verlassen, flieht, verbirgt sich; Flucht kann aber auch unbewußten Selbstschutz des Ichs bedeuten, das einem Schmerz oder einer Gefahr aus dem Weg geht oder sich hinter einer Maske versteckt.

217-218

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33  Hemmungen  

 

 

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In der Schule stellen die Lehrerinnen fest, daß phantasiebegabte Kinder beim Lernen wider Erwarten keineswegs die Besten sind. Ja, sie kommen nur wenig oder gar nicht vorwärts. Doch denkt niemand daran, daß hier gerade der Verstand auf Abwege geraten ist, man ist vielmehr der Ansicht, daß eben eine bedeutende schöpferische Intelligenz sich nicht praktischen Dingen zuwenden kann. Aber gerade daran zeigt es sich am deutlichsten, daß beim abwegigen Kind eine Intelligenzverminderung vorliegt, weil es nicht Herr seines Verstandes ist und ihn nicht zur vollen Entfaltung bringen kann. Dies kann sich nicht nur in den Fällen wiederholen, in denen der Verstand sich ins Reich der Illusion geflüchtet hat, sondern auch in den vielen anderen, in denen ganz im Gegenteil der Verstand durch Entmutigung mehr oder minder unterdrückt und ausgelöscht wurde: wo er also, statt sich nach außen zu flüchten, sich im Inneren eingekapselt hat. 

Intelligenzdurchschnitt ist bei den gewöhnlichen Kindern niedrig im Verhältnis zu normalisierten Kindern, und dies leitet sich von Abwegigkeitsfaktoren her, die man — vielleicht etwas unzulänglich — mit Gliederverrenkungen vergleichen könnte. Man begreift, welche Behutsamkeit nötig wäre, um das Kind zum Normalzustand zurückzuführen. Statt dessen geht man bei der intellektuellen Belehrung wie auch beim Beheben der Störungen gewöhnlich mit unvermitteltem Angriff zu Werke. Einen abwegigen Verstand kann man nicht mit Zwang zur Arbeit treiben, wenn man nicht eine als psychisches Phänomen recht interessante seelische Abwehrerscheinung feststellen oder, besser gesagt, hervorrufen will.

Es handelt sich dabei nicht um jene in der gewöhnlichen Psychologie bekannte Abwehrerscheinung, die mit äußeren Verhaltens­weisen wie Ungehorsam oder Trotz in Zusammenhang gebracht wird.

Es ist vielmehr eine seelische Abwehr ganz außerhalb des Bereiches des Willens, und eine Hemmung, die sich unbewußt dem Aufnehmen und Verstehen von Gedanken widersetzt, die von außen her aufgedrängt werden.

Es ist jene Erscheinung, der die Psychoanalytiker den bezeichnenden Namen "Hemmung" gegeben haben. Die Lehrerinnen sollten diese ernstzunehmenden Vorgänge erkennen. Über den kindlichen Verstand senkt sich eine Art Schleier herab und läßt in wachsendem Maße seelische Blindheit und Taubheit aufkommen. Bei dieser inneren Abwehr ist es, als sagte die Seele, im Unterbewußtsein: Ihr redet, aber ich achte nicht darauf; ihr sagt es ein zweites Mal, ich aber höre euch nicht. Ich kann mir nicht meine Welt aufbauen, weil ich dabei bin, eine Schutzmauer zu errichten, damit ihr nicht hereinkommen könnt.

Diese langsame, sich hinziehende Abwehrtätigkeit führt schließlich dazu, daß das Kind handelt, als seien die natürlichen Funktionen verlorengegangen, und es geht dann nicht mehr um guten oder bösen Willen. Die Lehrerinnen, die es mit psychisch gehemmten Schülern zu tun haben, glauben, diese seien wenig intelligent oder von Natur aus unfähig, gewisse Dinge zu begreifen, z. B. die Mathematik, oder es sei ihnen einfach unmöglich, etwa sich ihre Orthographiefehler abzugewöhnen. Sind diese Hemmungen oder "Schranken" vielen Lehrfächern oder vielleicht sogar dem ganzen Lernstoff gegenüber wirksam, so kann es vorkommen, daß intelligente Kinder mit geistesschwachen verwechselt und, nachdem sie jahrelang sitzengeblieben sind, endgültig in die Hilfsschule verwiesen werden. Zumeist eignet der Hemmung nicht nur Undurchdringlichkeit, sie verbindet sich auch mit Faktoren, die aus einem Abstand heraus wirken und die der Psychoanalytiker als Abneigung bezeichnet: Abneigung gegen ein bestimmtes Lehrfach, dann Abneigung gegen das Lernen überhaupt, gegen die Schule, gegen die Lehrerin, gegen die Kameraden. Da gibt es keine Liebe und keine Herzlichkeit mehr, bis das Kind schließlich dahin gelangt, daß es Angst vor der Schule bekommt; und dann hat es sich seelisch völlig abgesondert.

Nichts ist häufiger, als daß jemand sein Lebtag lang eine seelische Hemmung mit sich herumschleppt, die während der Kindheit zustande kam. Ein Beispiel dafür ist die charakteristische Abscheu vor der Mathematik, die vielen das ganze Leben hindurch bleibt: es handelt sich da nicht bloß um die Unfähigkeit zu begreifen, nein, schon wenn das betreffende Wort fällt, wird eine innere Hemmung wirksam, sperrt jeden Zugang ab und schafft Müdigkeit, noch bevor man irgend tätig war. Genau so geht es mit der Sprachlehre. Ich kannte ein hochintelligentes italienisches Mädchen, das Sprach- und Schreibfehler machte, die bei seinem Alter und seiner Bildung einfach unbegreiflich waren. Und jeder Versuch einer Abhilfe war vergebens: ja die Fehler schienen sich nur zu vervielfachen, je mehr geübt wurde. Auch durch Klassikerlektüre erzielte sie keinen Erfolg. Eines Tages jedoch sah ich sie gutes und reines Italienisch schreiben. Wie das kam, kann ich hier nicht weiter ausführen; gewiß ist aber das eine: daß die Fähigkeit zum rechten Ausdruck da war, aber eine verborgene Macht hielt sie tyrannisch in Haft, und zum Vorschein kam nur eine wahre Flut von Fehlern.

220-221

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34  Heilungen  

 

 

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Man könnte fragen, welche von den beiden Abwegigkeiten nun die schwerere sei, die Flucht oder die Hemmung. In unseren normalisierenden Schulen hat sich erwiesen, daß jenes oben beschriebene Ausweichen in die Phantasie oder ins Spiel verhältnismäßig leicht zu heilen ist. Das läßt sich durch einen Vergleich erläutern. Wenn einer einen Ort verläßt, weil er dort nicht fand, was er brauchte, so kann man sich immerhin vorstellen, daß er sich zurückrufen läßt, wenn sich dort die Voraussetzungen geändert haben.

Tatsächlich ist eine der häufigen Beobachtungen, die wir in unseren Schulen machen, die, daß unordentliche und heftige Kinder sich mit einem Mal ändern, als seien sie aus einer entlegenen Welt zurückgekehrt. Ihre Wandlung besteht nicht nur im äußeren Übergang von der Unordentlichkeit zur Arbeit, es ist vielmehr eine viel tiefer gehende Veränderung, die sich in Seelenruhe und Zufriedenheit dartut. Die Abwegigkeit verschwindet spontan; es vollzieht sich eine natürliche Wandlung: und doch bestand eine Abwegigkeit, die, in der Jugend nicht behoben, einen Menschen sein ganzes Leben lang begleiten kann. Viele Erwachsene, denen man reiche Phantasie zuspricht, haben in Wirklichkeit ihrer Umwelt gegenüber nur sehr vage Empfindungen und kommen nur durch die Sinneswahrnehmungen mit ihr in Berührung. Es sind die Menschen, die man Phantasten heißt: sie sind unordentlich, schnell begeisterte Bewunderer der Gestirne, der Farben, der Blumen, der Landschaften, der Musik, und alle Dinge des Lebens nehmen sie empfindsam auf wie einen Roman. 

Aber sie lieben nicht das bewunderte Licht, sie wären nicht imstande, bei ihm zu verweilen, um es genauer kennenzulernen. Die Sterne, von denen sie so begeistert sind, könnten in ihnen niemals die geringste Aufmerksamkeit für astronomisches Wissen aufkommen lassen.

Sie haben künstlerische Neigungen, aber sie produzieren nichts, weil sie keiner technischen Vervollkommnung fähig sind. Sie wissen nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollen. Sie können sie nicht stillhalten, aber auch nicht betätigen. Sie fassen alles mit Nervosität an, leicht passiert es, daß sie etwas zerschlagen, daß sie vor lauter Zerstreuung die Blume zerstören, die sie so bewundern. Sie vermögen nichts Schönes hervorzubringen, sie vermögen nicht, ihr Leben glücklich zu gestalten, nicht die wirkliche Poesie der Welt zu entdecken. Sie sind verloren, wenn sie nicht jemand rettet; denn sie verwechseln ihre Schwäche und Unfähigkeit mit einem höheren Zustand. Nun, diese innere Verfassung, die zu ausgesprochenen Seelen­krankheiten führen kann, hat ihren Ursprung in den Wurzeln des Lebens, in jenem Alter, da es infolge eines versperrten Weges zu Abwegigkeiten kommt, die anfangs nicht wahrzunehmen sind.

Die Hemmungen hingegen sind selbst bei Kleinkindern äußerst schwer zu beseitigen. Da ist eine wahre Apparatur, die das Innere abschließt und es verbirgt, um es vor der Welt zu schützen. Und ein geheimes Drama spielt sich hinter den mannigfaltigen Barrieren ab, die oft von allem Schönen, was es draußen gibt und was glücklich machen könnte, absperren. Das Lernen, die Geheimnisse der Mathematik und der Naturwissenschaft, die verlockenden Feinheiten einer unsterblichen Sprache, die Musik, all das gehört nur ins feindliche Lager, dem gegenüber man sich verschließen muß. Diese merkwürdige Energieumwandlung bringt Finsternis hervor, die alles bedeckt und verbirgt, was Liebes- und Lebensziel sein könnte. Das Lernen ist zur Plage geworden und hat zur Abneigung gegen die Welt geführt, statt Vorbereitung auf aktive Teilnahme am Leben dieser Welt zu sein.

Hemmungen — innere Schranken ... Erinnerungen werden wach an jene Absperrung, in welcher der Mensch seinen Körper gefangenhielt, bevor ihn die Hygiene auf eine gesündere Lebensweise hinwies. Die Menschen verteidigten sich gegen Sonne, Luft und Wasser; sie kapselten sich ein in ihre lichtundurchlässigen Wände; sie hielten bei Tag und Nacht die paar Fenster geschlossen, die ohnehin schon allzu wenig Luft hereinließen. Sie steckten sich in schwere Kleidungsstücke, die sich wie Zwiebelschalen übereinanderschichteten und den Hautporen die heilsame Atmung unmöglich machten. Die Körperwelt des Menschen war gegen das Leben abgeschirmt. Aber auch im Sozialleben gibt es Erscheinungen, die an Schranken erinnern. 

Warum nur kapseln sich die Menschen gegeneinander ab, warum isoliert sich jede Familiengemeinschaft voll Widerwillen und Partikularismus den anderen Gruppen gegenüber? Die Familie schließt sich nicht ab, um sich ihrer selbst zu erfreuen, sondern um sich von den anderen abzusondern. Das sind keine Schranken, die die Liebe schützen sollen. Die Familienschranken sind undurchdringlich und unübersteigbar, sie sind mächtiger als die Mauern der Häuser, und ebenso ist es mit den Schranken, die Stände und Nationen voneinander trennen. Die Schranken zwischen den Völkern sind nicht geschaffen, um eine einheitliche Gruppe abzusondern, sie frei zu machen und vor Bedrohung zu schützen. Ein Drang nach Isolierung und Verteidigung verstärkt die zwischenvölkischen Schranken und behindert die Zirkulation der Individuen und dessen, was sie hervorbringen. Und warum dies, wo doch alle Kultur auf Austausch beruht? Vielleicht sind diese Schranken im Völkerleben eben auch eine seelische Erscheinung, hervorgerufen durch große Leiden und die vielen erfahrenen Gewalttaten. Der Schmerz hat sich organisiert, und er war so ungeheuer, daß sich das Leben der Nationen hinter immer härtere und festere Schranken zurückzog.

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35  Die Abhängigen  

 

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Es gibt folgsame Kinder, die nicht über so viel seelische Energie verfügen, daß sie dem Einfluß des Erwachsenen auszuweichen vermögen. Deshalb hängen sie sich ohne Unterlaß an ihn, der die Stelle ihrer eigenen Aktivität einzunehmen trachtet, und werden von ihm außergewöhnlich abhängig. Der Mangel an Lebensenergie macht sie wehleidig, obschon sie sich dessen nicht bewußt sind. 

Es sind Kinder, die immer über etwas jammern, die wie kleine Märtyrer anmuten und für gefühlszarte, affekt-empfindliche Wesen gelten. Sie sind, ohne dies zu wissen, ständig gelangweilt und suchen bei den anderen, namentlich bei den Erwachsenen, Hilfe, weil sie allein aus der bedrückenden Langeweile nicht herauskommen. Sie hängen sich immer an irgend jemanden, wie wenn sie in ihrer Lebensfähigkeit auf die anderen angewiesen wären. Sie verlangen, daß der Erwachsene ihnen helfe, daß er mit ihnen spiele, daß er ihnen Geschichten erzähle, daß er immer bei ihnen bleibe. Bei diesen Kindern wird der Erwachsene zum Sklaven. Eine verborgene Wechselbeziehung läßt beide nicht froh werden; aber dem Anschein nach könnte man glauben, es verbinde sie Liebe und tiefes Verstehen. Das sind die Kinder, die unablässig nach dem Warum fragen, als seien sie voll ungeduldigen Erkenntnisdrangs: hört man aber genau hin, so merkt man, daß sie, noch ehe sie die Antwort zu Ende gehört haben, schon eine neue Frage stellen. Was wie Wißbegierde aussieht, ist in Wahrheit nur das Mittel, die Person in Atem zu halten, die ihnen als Stütze notwendig ist.

Sie verzichten gern auf ihre eigenen Regungen und gehorchen einem jeden Einhalt gebietenden Wort, das vom Erwachsenen kommt; diesem wird es sehr leicht, seinen eigenen Willen an die Stelle treten zu lassen, die zuvor der Wille des unschwer nachgebenden Kindes eingenommen hat.

So entsteht die große Gefahr, daß das Kind der Apathie anheimfällt, und diese Apathie nennt man dann Trägheit und Faulenzerei. Diese seelische Lage, die dem Erwachsenen willkommen ist, weil sie seine eigene Aktivität nicht hemmt, stellt in Wirklichkeit das letzte Extrem dar, bei dem die Abwegigkeit anlangen kann.

Was ist diese Trägheit? Sie ist Depression des geistig-seelischen Organismus, im körperlichen Bereich ist ihr der Kräfteverfall bei schwerer Krankheit zu vergleichen, im seelischen ist sie das Darniederliegen der vitalen und schöpferischen Kräfte. Die christliche Religion rechnet die Trägheit (lateinisch acidia) zu den sieben Hauptsünden, d. h. zu jenen Sünden, die die Seele in Lebensgefahr bringen.

Der Erwachsene hat die Seele des Kindes verdrängt, hat sich an deren Stelle gesetzt, hat seine unnötige Hilfe und seine Suggestionen über die Seele des Kindes ausgeschüttet und sie erdrückt; und er hat dies nicht bemerkt.

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36  Der Besitztrieb   

 

 

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Beim ganz kleinen Kind und beim normalisierten gibt es einen Drang, die inneren Kräfte zu entfalten, um mit ihnen wirken zu können. Die Bewegung auf die Umwelt zu geschieht keineswegs gleichgültig: im Gegenteil, es handelt sich da um eine intensive Liebe, um eine Lebensäußerung, die sich mit dem Hunger vergleichen läßt. Der Hungrige hat in sich einen Trieb, der ihn dazu anstachelt, nach Nahrung zu suchen. Eine Verbindung zu logischem Denken besteht dabei nicht. Man hört einen Hungrigen wohl kaum sagen: Ich habe schon seit langem nichts mehr gegessen; wenn man aber nicht ißt, kann man auch nicht kräftig werden und kann nicht leben; darum muß ich midi nach Eßbarem umsehen und es verzehren. Nein, der Hunger ist ein Leiden, das unwiderstehlich zum Essen hintreibt. Das Kind aber hat eine Art Hunger, der es zur Umwelt hintreibt, damit es dort Dinge suche, die seinem Geist Nahrung zu geben vermögen, und damit es sich nähre durch Tätigkeit.

"Neugeborenen Kindern gleich laßt uns die Milch des Geistes lieben." In diesem Impuls, d. h. in der Liebe zur Umwelt, besteht das Charakteristikum des Menschen. Es wäre unrichtig zu behaupten, es sei eine Leidenschaft, die das Kind zur Umwelt hinzieht; denn das Wort Leidenschaft deutet auf etwas Impulsives und Vorübergehendes hin, auf einen Impuls, der nur zu einer Episode hindrängt. Der innere Drang hingegen, der das Kind dazu bringt, die Umwelt zu lieben, treibt es zu unablässiger Aktivität, unterhält in ihm ein ständiges Feuer, vergleichbar jenem Verbrennungsprozeß, der sich unter der Einwirkung des Sauerstoffs fortwährend im menschlichen und tierischen Körper abspielt und dessen natürliche Wärme erzeugt. Das aktive Kind zeigt die Lebensäußerungen eines Geschöpfes, das in der geeigneten Umwelt lebt, d.h. in der einzigen, in der dieses Geschöpf es selbst werden kann.

 Muß das Seelenleben diese Umwelt entbehren, so bleibt im Kind alle^ schwächlich, abwegig, verschlossen; es wird zum undurchdringlichen, rätselhaften, leeren, launischen, gelangweilten, außerhalb der Gesellschaft stehenden Wesen. Wenn nun das Kind jene Motive für seine Entfaltung nicht findet, sieht es nur "Sachen" und will sie besitzen. Nehmen, besitzen: das ist etwas Leichtes, und Einsicht und Liebe werden dabei überflüssig. Die Energie schafft sich auf anderem Wege Luft. "Die möchte ich", sagt das Kind, wenn es eine goldene Uhr sieht, von der es nicht einmal die Zeit abzulesen versteht; "nein, ich möchte sie!" sagt ein anderes Kind, das im übrigen durchaus bereit ist, die Uhr zu beschädigen und unbrauchbar zu machen, wenn es sie nur besitzt. Und so beginnt die Rivalität zwischen den Menschen und der zerstörerische Kampf um die Dinge.

Fast sämtliche seelischen Abwege sind Folgen dieses ersten Schrittes, der zwischen Liebe und Besitz entscheidet und auf dem einen oder auf dem ändern Wege mit allen Lebensenergien vorwärtsführen kann. Die aktive Wesenskomponente des Kindes drängt nach außen wie die Fangarme einer Qualle und umschlingt und erdrückt alle Dinge, die sie mit Leidenschaft ergriffen hat. Der Eigentumstrieb bewirkt, daß das Kind sich aufs heftigste zu den Dingen hingezogen fühlt und sie verteidigt, wie es sich selbst verteidigen würde.

So verteidigen ja auch die stärkeren und aktiveren Kinder in regelrechtem Kampf ihre Dinge den ändern gegenüber, die sie gerne in Besitz nähmen; sie liegen ständig miteinander im Streit, weil sie denselben Gegenstand wollen und weil der eine den des ändern will. Und so kommt es zu Handlungsweisen, die alles andere als liebevoll sind: vielmehr der Ausbruch nichtbrüderlicher Gefühle, Beginn von Streit und Krieg um irgendeine Nichtigkeit. Aber in Wirklichkeit steht durchaus kein Nichts im Hintergrund, sondern etwas recht Ernstes: es ist eine Verrückung,

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eine Verdunkelung dessen eingetreten, was eigentlich hätte sein sollen, und zwar darum, weil eine innere Kraft auf Abwege geraten ist. So ist denn nicht der Gegenstand, sondern ein inneres Übel der eigentliche Motor des Besitzanspruches.

Bekanntlich bemüht man sich, die Kinder moralisch zu erziehen, indem man sie ermahnt, nicht an den äußeren Dingen zu hängen:  Grundlage dieser Unterweisung ist die Achtung vor dem Eigentum des ändern. Ist aber das Kind schon einmal so weit gekommen, so ist bereits eine Grenze überschritten, über die hinweg der Mensch sich von der Würde seines inneren Lebens entfernt, und darum wendet sich das Kind mit seinen Wünschen den äußeren Dingen zu. Der Keim hat sich so tief in die Seele des Kindes eingesenkt, daß man dies als eine Eigenart der menschlichen Natur anspricht.

Auch die Kinder mit nachgiebigem Charakter lenken ihre Aufmerksamkeit auf Äußeres, Materielles, Wertloses. Doch haben diese Kinder eine andere Art von Besitztrieb: es fehlt das streitsüchtige Element und damit unter anderem auch der Rivalitätskampf. Sie neigen vielmehr dazu, Gegenstände zu sammeln und zu verstecken, so daß man sie gern für Sammlertypen hält. Und doch unterscheiden sie sich von den echten Sammlern, die Dinge auf Grund einer bestimmten Erkenntnis ordnen. Es handelt sich hier vielmehr um Kinder, die die verschiedensten Gegenstände aufstapeln, die gar nichts miteinander zu tun haben und an sich keinerlei Reiz ausüben. Die Ärzte kennen ein leeres, sinnloses Sammlertum; es beruht auf seelischer Anomalie, und man findet es nicht nur bei Geisteskranken, sondern auch bei kindlichen Delinquenten, die oftmals die Taschen wahllos mit den verschiedensten gänzlich unnötigen Gegenständen vollgestopft haben. Ähnlich ist das Sammlertum jener charakterschwachen, nachgiebigen Kinder, die man jedoch als völlig normal anspricht. Nimmt ihnen einer die zusammengetragenen Gegenstände, so ergreifen sie jede nur mögliche Abwehr.

Der Psychologe Alfred Adler hat zu diesen Symptomen eine interessante Erklärung gegeben. Er hat sie mit dem Geiz verglichen, mit jener Eigenschaft, die man bei den Erwachsenen antrifft und deren Keime man schon im Kindesalter erkennen kann, jener Eigenschaft, die den Menschen an die Dinge kettet und nicht zugibt, daß er von ihnen läßt, selbst, wenn sie ihm gar nichts nützen, jener tödlich giftigen Blüte, die aufsprießt aus einem fundamentalen Mangel an Gleichgewicht. Den Eltern gefällt es, daß ihre Kinder das Eigentum zu verteidigen verstehen:  sie sehen darin etwas in der menschlichen Natur Liegendes und eine Verbindung zum sozialen Leben. Auch die Besitz anhäufenden und bewahrenden Kinder sind Menschentypen, die in der Gesellschaft Verständnis finden.

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37  Die Begierde nach Macht  

 

 

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Eine andere Abwegigkeit, die mit Besitz verbunden ist, ist der Machthunger. Es gibt einerseits die instinktive Macht dessen, der Herr seiner Umwelt ist: die Macht, die über die Liebe zur Umwelt zur Besitznahme der äußeren Welt führt. Eine Entgleisung aber ist jener andere Machthunger, der nichts mit einer persönlichkeitsbildenden Umwelteroberung zu tun hat, sondern lediglich auf das Erraffen von Dingen ausgeht.

Nun steht das abwegige Kind dem Erwachsenen gegenüber, der in seinen Augen das Machtwesen schlechthin ist und über alle Dinge gebieten kann. Das Kind begreift, wie groß seine eigene Macht wäre, konnte sie durch den Erwachsenen wirksam werden. So leitet das Kind eine Ausnutzungsaktion ein, um durch den Erwachsenen viel mehr zu erreichen, als es jemals innerhalb seiner begrenzten Möglichkeiten erreichen könnte. Dieser Vorgang ist durchaus begreiflich; und fatalerweise werden nach und nach sämtliche Kinder von ihm ergriffen, so daß man ihn als eine sehr verbreitete, aber auch als eine sehr schwer korrigierbare Erscheinung ansprechen muß: klassische Kinderlaune, und nur zu logisch und natürlich; ein schwaches, unentwickeltes und unfreies Wesen, das weiß, daß es eine stets in seiner Nähe befindliche starke und freie Person dazu bringen kann, ihm Vorteile zu verschaffen, nützt diese Möglichkeit aus. Das Kind macht den Versuch, es beginnt etwas zu wollen und über die Grenzen hinaus zu wollen, die der Erwachsene für logisch richtig hält. Und doch kennt das Kind keine Grenzen: es sieht in seiner Phantasterei den Erwachsenen als das allmächtige Wesen an, das seinen Wunschträumen Erfüllung verschaffen könnte. Und diese Erfüllung gibt es ja auch: in den Märchen, die man den Roman der kindlichen Seele nennen könnte. Darin findet das Kind seine unklaren Wünsche in der verlockendsten Form verwirklicht.

Wer zur Fee kommt, dem lacht so viel Glück, so viel phantastischer Reichtum, wie sich durch Menschenmacht niemals erlangen läßt. Es gibt gute und böse Feen, schone und häßliche, sie können das Aussehen von bösen und von reichen Leuten annehmen: sie können in den Wäldern, aber auch in verwunschenen Palästen wohnen. Sie scheinen wirklich die idealisierte Projektion des Kindes zu sein, das zwischen Erwachsenen lebt.

Es gibt Feen, die alt sind wie Großmütter, und solche, die jung und schön sind wie Mama; es gibt solche, die sich in Goldgewänder, und solche, die sich in Lumpen kleiden, wie es ja auch arme Mütter gibt und reiche mit herrlichen Kleidern, alle aber verwöhnen die Kinder.

Der Erwachsene, mag er nun Bettler oder König sein, ist für das Kind immer ein mächtiges Wesen; so beginnt das Kind innerhalb der Lebenswirklichkeit jene Ausnutzung des Erwachsenen, die in einen Kampf ausmündet, zunächst aber in keinen erbitterten, denn der Erwachsene läßt sich besiegen und gibt nach, weil es ihm Freude bereitet, sein Kind glücklich zu sehen. So wird etwa der Erwachsene das Kind zwar daran hindern, sich allein die Hände zu waschen, er wird aber ganz gewiß dem Machthunger des Kindes Genüge tun. Das Kind aber will nach dem ersten Triumph einen zweiten; und je mehr der Erwachsene gewährt, desto mehr wünscht das Kind; und über die Illusion des Erwachsenen, er könne sein Kind zufrieden sehen, breitet sich Bitternis. Da es in der Wirklichkeit unerbittliche Schranken gibt, während die Phantasie in der Unendlichkeit zu wandern vermag, kommt der Augenblick des Zusammenstoßes, des heftigen Kampfes. Und die Laune des Kindes wird zu einer Strafe für den Erwachsenen. Denn der erkennt sich plötzlich schuldig und sagt: Ich habe mein Kind verwöhnt.

Auch das unterwürfige Kind hat seine Erfolgsmethode: Schmeicheln, Weinen, Betteln, Traurigsein, Schmollen. Der Erwachsene gibt nach, bis er nicht mehr kann, und es kommt schließlich zu jenem Unglück, das jedes Abweichen vom normalen Zustand im Leben mit sich bringt. Der Erwachsene denkt nach, und schließlich merkt er, er hat das Kind falsch behandelt, hat das Aufkommen übler Charakterzüge gefördert, und er fragt sich, wie man das wiedergutmachen kann.

Aber es ist bekannt, daß sich da wenig tun läßt: keine Ermahnung, keine Strafe fruchtet etwas; denn das wäre etwa so, wie wenn man einem delirierenden Fieberkranken einen langen Vortrag darüber hielte, wie gut ihm das Gesundsein täte, und ihm dann für den Fall, daß er nicht augenblicklich seine Temperatur herabdrückt, Prügel androht. Nein, der Erwachsene hat sein Kind nicht verdorben, als er ihm nachgab, sondern als er es daran hinderte, sein Leben zu leben, und es dadurch aus der natürlichen Entwicklung in die Abwegigkeit drängte.

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38  Der Minderwertigkeitskomplex  

 

 

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Dem Kind gegenüber hat der Erwachsene eine Art Geringschätzung, deren er sich selbst nicht bewußt wird; denn er glaubt an die Schönheit und Vollkommenheit seines Kindes und setzt in dieses all seinen Stolz und seine Zukunftshoffnung. Eine geheime dunkle Neigung aber wirkt in ihm, die mehr noch ist als die Überzeugung, das Kind sei inhaltlos, das Kind sei unartig, er müsse ihm Inhalt geben, es bessern. Es ist vielmehr ganz einfach die Geringschätzung des Kindes überhaupt. 

Das erklärt sich daraus, daß das schwache Wesen, das ihm gegenübersteht, ja das eigene Kind ist, und dem Kinde gegenüber ist der Erwachsene allmächtig; er hat hier sogar das Recht, unedle Gefühle zu äußern, die er anderen Erwachsenen gegenüber schamhaft verbergen würde. Dazu zählen Geiz und Herrschsucht; so kommt es in den vier Wänden des Elternhauses unter dem Deckmantel der väterlichen Autorität zur langsamen, aber stetigen Zerstörung des kindlichen Ichs. Sieht z. B. ein Erwachsener, daß ein Kind sich an einem Trinkglas zu schaffen macht, so denkt er gleich daran, daß das Glas in Scherben gehen könnte; in diesem Augenblick läßt der Geiz ihn in jenem Glas einen kostbaren Besitz erblicken, und um ihn zu retten, verbietet er dem Kind, daran zu rühren. Vielleicht ist der Erwachsene ein steinreicher Mann, der im Sinn hat, seinen Besitz zu verzehnfachen, damit sein Kind einmal noch reicher sei als er selbst: eben in jenem bewußten Augenblick aber denkt er an nichts anderes als an den ungeheuren Wert, der in dem Glas steckt, und sucht ihn zu erhalten. Außerdem denkt er: was hat das Kind dieses Glas von der Stelle zu entfernen, an die ich es gestellt habe? Besitze ich nicht die Autorität, die Dinge so aufzustellen, wie ich will? Andererseits wäre der nämliche Erwachsene im Grunde seines Herzens durchaus glücklich, seinem Kind zuliebe irgendeinen Verzicht zu leisten: er träumt davon, es eines Tages triumphieren zu sehen; er möchte, daß es zu einem berühmten, einflußreichen Mann wird, aber in jenem bewußten Augenblick steigt in ihm das Tyrannische empor, und er verliert sich an die Verteidigung eines ordinären Trinkglases. Würde etwa ein Dienstbote das Glas von der Stelle rücken, so würde dieser Vater nur lächeln, und zerbräche es irgendein Besucher, so würde er diesem schleunigst versichern, daß das wirklich nichts ausmache: das Glas sei völlig wertlos.

Das Kind hingegen muß mit niederschmetternder Regelmäßigkeit feststellen, daß es und nur es allein als eine Gefahr für die Gegenstände angesehen wird und daß deswegen ihm allein die Berechtigung abgesprochen wird, sie anzurühren, und daß es darum ein Wesen minderen Wertes ist, ein Wesen, dessen Wert fast noch unter dem der Gegenstände steht.

Noch ein anderer Gedankengang muß im Zusammenhang mit dem Aufbau der kindlichen Persönlichkeit beachtet werden. Das Kind hat nicht nur das Bedürfnis, die Dinge zu berühren und mit ihnen zu arbeiten, es will auch die Reihenfolge der einzelnen Handlungen einhalten: das ist von größter Wichtigkeit für den inneren Aufbau der Persönlichkeit. Der Erwachsene verfolgt nicht mehr bewußt den Ablauf der gewohnten täglichen Verrichtungen, denn er besitzt sie ja bereits als Teil seines Daseins, als fraglose Seinswelsen. Wenn der Erwachsene morgens aufsteht, weiß er, das und das ist zu tun, und er tut es, als sei es das Einfachste von der Welt. Die Handlungen folgen fast automatisch aufeinander, und man achtet nicht mehr darauf, wie man ja auch auf Atmung und Herzschlag nicht achtet. Das Kind dagegen muß sich diese Grundlage erst schaffen. Aber es kann niemals nach einem Plan verfahren; denn wenn es beim Spielen ist, kommt der Erwachsene, denkt, man könnte Spazierengehen, zieht das Kind an und nimmt es mit sich; oder: das Kind macht eine kleine Arbeit, füllt etwa Kiesel in ein Eimerchen, da kommt eine Freundin der Mutter, und die Mutter holt das Kind von der Arbeit weg, um es der Besucherin zu zeigen.

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 In die Welt des Kindes greift fortwährend der machtvolle Erwachsene ein: er verfügt über sein Leben, ohne es zu fragen, ohne irgendwelche Rücksicht zu nehmen, und beweist, daß die Handlungen des Kindes keinerlei Bedeutung haben; andererseits aber muß das Kind mitansehen, daß es zwischen Erwachsenen, und seien sie Herr und Diener, niemals ein unverhofftes An- oder Einsprechen oder gar ein Unterbrechen gibt ohne ein "Bitte!" oder ein "Gestatten Sie!". Das Kind fühlt daher, daß es ein von andern verschiedenes Geschöpf ist und daß eine besondere Minderwertigkeit es hinter alle andern zurücksetzt.

Wie wir schon sagten: die Reihenfolge der Handlungen in Verbindung mit einem vorgefaßten Plan ist äußerst wichtig. Eines Tages wird der Erwachsene dem Kind erklären, daß man für seine Handlungen einzustehen hat. Grundvoraussetzung solcher Verantwortlichkeit ist aber das Vorhandensein eines planmäßigen Zusammenhangs der Handlungen untereinander und eines Urteils über deren Bedeutung. Aber das Kind bekommt nur zu fühlen, daß seine Handlungen unbedeutend sind. Der Erwachsene, etwa der Vater, der sich darüber ärgert, daß es ihm nicht gelingen will, in seinem Kind dieses Gefühl der Verantwortung und der Herrschaft über die eigenen Handlungen wachzurufen, dieser Erwachsene und kein anderer war es, der Stück um Stück im Kind den Sinn für Reihenfolge und Zusammenhang und das Gefühl für die eigene Würde abgetragen hat. Das Kind trägt nun die dunkle Überzeugung von seiner Ohnmacht und Minderwertigkeit in sich. Um aber irgendeine Verantwortung auf sich nehmen zu können, muß man der Überzeugung sein, daß man Herr seiner Handlungen ist, und man muß Selbstvertrauen haben.

Die tiefste Entmutigung entspringt der Überzeugung, daß man "nicht kann". Nehmen wir an, ein lahmes Kind und ein sehr bewegliches wären zu einem Wettrennen aufgefordert: natürlich wird das lahme nicht laufen wollen.

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Tritt im Boxring einem unbeholfenen Zwerg ein wendiger Riese gegenüber, so wird eben der unbeholfene Zwerg nicht boxen wollen. Die Möglichkeit, eine Anstrengung, einen Versuch zu unternehmen, verlischt, bevor überhaupt von ihr Gebrauch gemacht ist, und zurück bleibt ein Gefühl völliger Ohnmacht. Der Erwachsene nun bringt im Kinde fortwährend jede Initiative zum Erliegen, indem er es in seinem Kraftgefühl erniedrigt und von seiner Unfähigkeit überzeugt. Dem Erwachsenen genügt es nicht, dem Kind eine Handlung zu verbieten, er muß ihm auch noch sagen: Du kannst das nicht; jeder Versuch ist vergebens. Gröbere sagen vielleicht sogar: Dummkopf, warum willst du das tun? Du siehst doch, daß du dazu nicht fähig bist. Und das greift nicht nur Arbeit und Handlungsablauf an, sondern die Persönlichkeit des Kindes überhaupt.

Diese Verhaltensweise des Erwachsenen pflanzt dem Kind die Oberzeugung ein, daß seine Handlungen ohne allen Wert sind und — was noch bedenklicher ist — daß seine Persönlichkeit zu nichts taugt, daß sie unfähig ist zu handeln. So kommt es zur Verzagtheit, zum Mangel an Selbstvertrauen. Denn wenn irgendein Stärkerer eine von uns beabsichtigte Handlung verhindert, so denken wir daran, daß vielleicht ein Schwächerer kommen wird, angesichts dessen wir sie ausführen können. Aber wenn der Erwachsene dem Kind einredet, daß die Unmöglichkeit in ihm, im Kind, liege, so senkt sich in dessen Innern eine Wolke herab, Schüchternheit stellt sich ein, Furcht und eine Art Apathie, und diese drei werden schließlich Bestandteile der inneren Konstitution und bilden jene Hemmung, die der Psychoanalytiker den Minderwertigkeitskomplex nennt. Diese Hemmung wie auch das Gefühl, untauglich und den anderen unterlegen zu sein, kann dauernd bestehen bleiben. Sie macht es unmöglich, daß man soziale Prüfungen auf sich nimmt, wie es das Leben auf Schritt und Tritt verlangt.

Zu diesem Komplex gehören Schüchternheit, Unentschlossenheit, plötzlicher Rückzug, wenn Hindernisse auftreten oder Kritik geübt wird. Ventil der Verzweiflung aber ist das Weinen. 

Der "normalen" kindlichen Natur hingegen eignet das Selbstvertrauen als einer der wunderbarsten Züge, die Sicherheit in den eigenen Handlungen.

Wenn das Kind von S. Lorenzo den Besuchern, die enttäuscht sind, an einem Ferientag gekommen zu sein, sagt, daß sie, die Kinder, auch in Abwesenheit der Lehrerin das Schulzimmer öffnen und dort arbeiten können, so deutet dies auf völlig ausgeglichene charakterliche Energie, die zwar keineswegs mit sich selber prahlt, aber ihrer selbst bewußt ist und sich in der Gewalt hat. Das Kind weiß, was es unternimmt, und beherrscht die Reihenfolge der dafür nötigen Handlungen so gut, daß es diese mit Leichtigkeit auszuführen vermag und keineswegs das Gefühl hat, irgend etwas Besonderes getan zu haben. 

Der Kleine, der mit dem beweglichen Alphabet Worte zusammenfügte, ließ sich nicht im geringsten stören, als die Königin vor ihm stehenblieb und ihn aufforderte, "Viva l'Italia" zu legen. Nein, er räumte zuallererst die eben ausgelegten Lettern wieder zusammen, und dies mit ebensolcher Ruhe, wie wenn er allein gewesen wäre. Erwartet hätte man, daß er der Königin zu Ehren sogleich die Arbeit, an der er war, abgebrochen und sich der zugewandt hätte, die man von ihm verlangte. Er aber konnte seinem gewohnten Arbeitsgang nicht untreu werden: bevor man mit den Buchstaben neue Wörter zusammensetzte, mußten die schon ausgelegten aufgeräumt sein. Erst als das geschehen war, legte der kleine Knabe die Worte "Viva l'Italia". 

In ihm haben wir" einen vor uns, der seiner Erregungen und seiner Handlungen Herr ist, ein Kerlchen von vier Jahren, das sich mit völliger Sicherheit in dem zurechtfindet, was sich um ihn abspielt.

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39  Die Angst  

 

 

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Ein anderer Abweg ist die Angst, die man für eine natürliche Eigenart des Kindes hält. Sagt man "ängstliches Kind", so denkt man dabei an jene Angst, die, mit tiefer Verstörung verbunden, von Umwelteinflüssen fast unabhängig ist und wie die Schüchternheit einen Teil des Charakters ausmacht. Es gibt unter den fügsamen Kindern solche, die gleichsam in eine beklemmende Atmosphäre von Angst gehüllt sind. Andere, charakterstärkere und aktivere, können, wenn sie sich in der Gefahr oft noch so mutig zeigen, geheimnisvolle, unlogische und unüberwindliche Angst an den Tag legen. 

Solche Seelenhaltung läßt sich von starken Eindrücken her erklären, die das Kind früher einmal empfing: wie etwa die Furcht beim Überqueren einer Straße, die Furcht, es könnten Katzen unterm Bett sein, die Furcht, sich einem Huhn gegenüberzusehen, d. h. also Zustände, die der Angstpsychose gleichen, die die Psychiatrie bei den Erwachsenen untersucht hat. Alle diese Formen der Angst treten besonders bei Kindern auf, die unter der Gewalt von Erwachsenen stehen, wobei der Erwachsene, um Gehorsam zu erzwingen, die unklare Bewußtseinsstufe des Kindes dazu ausnützt, um ihm etwa die Angst vor unbestimmten Wesen einzuimpfen, die in der Dämmerung umgehen; das ist eine der gemeinsten Abwehrmaßnahmen, die der Erwachsene dem Kind gegenüber trifft: er steigert damit die Furcht, die das Kind von Natur aus der Nacht gegenüber empfindet, in die nun grauenerregende Erscheinungen hineinphantasiert werden.

Alles, was Beziehung zur Wirklichkeit herstellt, eine Erfahrung mit den Dingen der Umwelt ermöglicht und damit deren Kenntnis fördert, wirkt dem verstörenden Angstzustand entgegen. In unseren normalisierenden Schulen stellten wir immer wieder fest, daß die unbewußte Angst entweder sehr bald spurlos verschwand oder sich überhaupt gar nicht erst zeigte.

Zu einer spanischen Familie zählten drei junge Mädchen und ein kleineres, das in eine unserer Schulen ging. Kam nachts ein Gewitter, so war es unter den drei Schwestern diejenige, die keine Angst hatte, und sie führte die größeren durchs Haus zum Zimmer der Eltern. Diese Kleine, die allen unerklärlichen Angstzuständen gegenüber immun war, war ein wirklicher Rückhalt für die größeren Schwestern. So rannten diese z.B., wenn sie einmal nachts die Angst vor der Dunkelheit packte, zu der jüngsten, um bei ihr das qualvolle Gefühl loszuwerden.

Die zuständliche Angst unterscheidet sich von jener, die bei Gefahr im Gefolge des normalen Selbsterhaltungstriebes auftritt. Doch ist diese normale Angst bei Kindern seltener als bei Erwachsenen, und zwar nicht allein deshalb, weil die Kinder weniger äußere Gefahren erlebt haben als die Erwachsenen. Man könnte geradezu behaupten, daß beim Kind die Bereitschaft, einer Gefahr die Stirn zu bieten, sehr groß ist und entwickelter als beim Erwachsenen. Kinder setzen sich sogar immer wieder derselben Gefahr aus, etwa in der Stadt, wenn sie sich auf der Straße an ein Fahrzeug anhängen, oder auf dem Land, wenn sie auf hohe Bäume steigen oder einen Abhang hinunterklettern; ja sie springen sogar ins Meer oder in einen Fluß und lernen oft ohne jede Hilfestellung schwimmen; unzählig sind die Fälle, in denen Kinder ihre Kameraden retteten oder zu retten versuchten. In der Blindenabteilung eines kalifornischen Kinderheims war ein Brand ausgebrochen: unter den Leichen fanden sich auch die einiger nichtblinder Kinder, die, obsdhon sie in einem ganz anderen Teil des Gebäudes wohnten, im Augenblick der Gefahr den Blinden zu Hilfe geeilt waren. In Kinderorganisationen von der Art der Pfadfinder sind täglich Beispiele von kindlichem Heldentum zu verzeichnen.

Man könnte sich fragen, ob durch die Normalisierung jene Anlage zum Heroismus, die sich recht oft bei Kindern findet, entwickelt wird. Wir haben in diesem Zusammenhang keine Erfahrung anzuführen, wenn man absieht von einigen Äußerungen edlen Begehrens, das jedoch noch weit von wirklichem Heldentum entfernt ist. Was wir bei unseren Kindern aber allgemein feststellen können, ist, daß hinter ihren Handlungen eine Umsicht steht, die es ihnen möglich macht, Gefahren zu meiden und doch in deren Mitte zu leben. Hierher gehört die Handhabung von Messern bei Tisch und in der Küche, der Umgang mit Streichhölzern und Beleuchtungskörpern, der unbeaufsichtigte Aufenthalt an Gartenteichen, das Überschreiten einer Straße in der Stadt. 

Kurzum, unsere Kinder haben ihre Handlungen und zugleich ihren Wagemut in der Kontrolle, und so gelangen sie zu Ruhe und Überlegenheit. Normalisierung heißt also keineswegs, sich in Gefahr begeben, heißt vielmehr Entwicklung einer Umsicht, die das Handeln unter Gefahren ermöglicht, weil man diese kennt und in seiner Gewalt hat.

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40  Die Lüge  

 

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Obschon die seelischen Abwegigkeiten in unzähligen Einzelformen auftreten, vergleichbar den Zweigen einer üppig aufge­schossenen Pflanze, so gehen sie doch stets von ein und derselben Wurzel aus. Diese letztere gilt es zu betrachten, will man hinter das Geheimnis der Normalisierung kommen. In der landläufigen Psychologie und Pädagogik sieht man jedoch die einzelnen Zweige als etwas Selbständiges an, und man untersucht die Problematik eines jeden von ihnen getrennt.

Zu den wichtigsten seelischen Abwegigkeiten zählt die Lüge. Man könnte sie eine Verkleidung der Seele nennen, und so viele Arten von Kleidern zur persönlichen Ausstattung zählen könnten, so viele Arten von Lügen gibt es, und deren jede hat ihre besondere Bedeutung. Es gibt durchaus normale und es gibt krankhafte Lügen. Die alte Psychiatrie kannte das mendacium vesanum, das hemmungslose, hysterisch bedingte Lügen, das zu einer solchen Überdeckung der eigentlichen Seele führt, daß die Sprache nurmehr ein Gewirr von Unwahrheiten ist. Die Psychiatrie war es auch, die auf die Lügen der Kinder bei Jugend­gerichts­verfahren hinwies und ganz allgemein auf das unbewußte Lügen bei Kindern, die als Zeugen geladen sind. Großen Eindruck machte hierbei die Feststellung, daß das Kind, dessen "unschuldiges Gemüt" geradezu als Inbegriff der Wahrhaftigkeit gilt ("die Wahrheit spricht aus Kindesmund"), aller ehrlichen Bemühung zum Trotz unwahre Aussagen zu machen vermöge. Die Kriminalpsychologie wurde auf diese überraschenden Tatsachen aufmerksam, und man erkannte, daß solche Kinder im Grunde ehrlich sind und die Lüge nichts ist als Äußerung geistiger Verworrenheit, gefördert durch die Erregung des Augenblick».

Diese Unterschiebung des Falschen an die Stelle des Wahren, mag sie nun ständig oder periodisch auftreten, unterscheidet sich zweifellos ganz erheblich von jener Lüge, hinter der das Kind aus Gründen der Selbsterhaltung Deckung nimmt. Doch begegnet man andererseits bei normalen Kindern und im gewöhnlichen Leben auch solchen Lügen, die mit Selbstschutz nicht das geringste zu tun haben. Die Lüge kann ein reines Phantasieprodukt sein, das Zusammenfabeln von Sachverhalten, die bei alledem einen Schimmer von Glaubwürdigkeit an sich haben und keineswegs um des Betrugs oder um persönlicher Vorteile willen vorgebracht werden. Man kann hier geradezu von einer Art Künstlertum sprechen, wie beim Schauspieler, der irgendeine Persönlichkeit verkörpert. 

Ich bringe ein Beispiel: einmal erzählten mir Kinder, ihre Mutter habe für einen Gast eine Mahlzeit zubereitet, die aus vitaminösen Pflanzensäften bestand und den Besucher vom Wert der Rohkost überzeugen sollte; dabei sei ihr die Herstellung eines solch hervorragenden Saftes geglückt, daß jener Herr überall sich lobend und empfehlend darüber geäußert habe. Diese Erzählung ging so sehr ins einzelne und war so interessant, daß ich die Mutter der Kinder bat, mir ihr Rezept mitzuteilen. Die Dame aber sagte mir darauf, sie habe noch nie daran gedacht, derartige Säfte zuzubereiten. Da haben wir denn einen typischen Fall von kindlicher Phantasielüge, die zu nichts weiter dienen soll als zum Ausschmücken einer Romanhandlung.

Diesen Lügen stehen solche gegenüber, die der Bequemlichkeit entspringen: das Kind möchte nicht darüber nachdenken, was nun eigentlich wahr sei.

Manchmal ist Lüge aber die Ausgeburt listiger Überlegung. Ich kannte einmal ein Kind von fünf Jahren, das von seiner Mutter zeitweise in eine Heimschule gegeben wurde. Die Leiterin der Gruppe, in die das Kind aufgenommen wurde, war besonders geeignet für ihr Amt, und sie war voller Begeisterung für dieses eigenartige Kind.

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Nach einiger Zeit aber beklagte sich das Kind bei seiner Mutter gerade über diese Dame und stellte sie als übertrieben streng hin. Die Mutter bat die Direktorin des Heimes um Aufklärung, und diese bewies ihr überzeugend, daß jene Erzieherin ihr Kind stets nur mit der allerliebevollsten Sorge umgeben hatte. Da stellte die Mutter ihren lügnerischen Sohn zur Rede. Ergebnis: "Ich durfte ja nicht sagen, daß die Direktorin die böse Person ist." Dabei schien es dem Kind nicht an Mut zur Beschwerde über die Direktorin zu mangeln, sondern es empfand anscheinend die Macht der Konvention. Es ließe sich noch vieles sagen über all die Formen von schlauer Anpassung an die Umwelt, wie sie einem bei Kindern begegnen.

Eine Eigenheit der Kinder von schwachem, nachgiebigem Charakter sind dagegen jene eilig zurechtgezimmerten Lügen, in denen sich eine Art Schutzbedürfnis äußern dürfte und denen es an verstandesmäßig durchgearbeitetem Inhalt gebricht. Es sind harmlose, schlecht angelegte, improvisierte Lügen, die sich leicht durchschauen lassen. Die Erzieher kämpfen gegen sie an, übersehen jedoch, daß diese Lügen alle Merkmale eines Abwehrreflexes den Angriffen des Erwachsenen gegenüber an sich tragen. Der Vorwurf der Charakterschwäche, der schändlichen Minderwertigkeit und Unwürdigkeit, den der Erwachsene anläßlich solcher Lügen dem Kinde macht, bestätigt ihm, daß diese auf ein Wesen minderen Wertes hindeuten.

Die Lüge zählt zu denjenigen Erscheinungen des Verstandeslebens, die in der Kindheit sich erst herausbilden, mit fort­schreitendem Alter festere Formen annehmen und schließlich in der menschlichen Gesellschaft zu so großer Bedeutung gelangen, daß sie ein unumgängliches Gebot des Anstands und der Ästhetik werden wie die Kleider für den Leib. In unseren normalisierenden Schulen legt das Kind die Auswüchse der bloßen Konvention ab und zeigt sich in aller Ehrlichkeit, wie es von Natur aus ist. Allerdings zählt die Lüge nicht zu jenen Abwegigkeiten, die wie durch ein Wunder verschwinden.

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Da ist eher innerer Umbau als Bekehrung erforderlich. Gedankliche Klarheit, Verbindung mit der Wirklichkeit, geistige Freiheit und lebendige Anteilnahme an wertvollen Gegenständen schaffen die Atmosphäre, in der die Seele wieder ehrlich werden kann.

Betrachtet man aber die menschliche Gesellschaft des näheren, so entdeckt man, sie lebt so tief in der Lüge, daß man kaum Abhilfe schaffen könnte, ohne alles Bestehende von Grund auf zu erschüttern. So wurden viele unserer Kinder, als sie in die allgemeine Sekundärschule übergingen, als unverschämt und widersetzlich getadelt, nur weil sie viel ehrlicher waren als die anderen und gewisse Formen notgedrungener Anpassung sich bei ihnen noch nicht entwickelt hatten. Die Lehrer überlegten sich dabei gar nicht, daß die Disziplin und die sozialen Beziehungen sich bereits auf der Voraussetzung der Lüge aufbauten, und die ungewohnte Aufrichtigkeit unserer Kinder schien ihnen den moralischen Unterbau über den Haufen zu werfen, der nun einmal der Erziehung zugrunde gelegt war.

Zum Hervorragendsten, das die Psychoanalyse zu der Geschichte der menschlichen Seele beitrug, gehört es, daß sie erstmals die Verstellung als einen Anpassungsvorgang des Unterbewußten gedeutet hat. Die Verstellungen des Erwachsenen, nicht die Lügen des Kindes, könnte man als einen mit dem wahren Leben nach und nach zusammengewachsenen schrecklichen Überzug bezeichnen, der dem Fell oder Gefieder der Tiere nicht unähnlich ist: eine Hülle, die den darunter sich verbergenden Lebens­mechanismus verschönen und zugleich schützen soll. Und dieser Schutz besteht eben darin, daß man sich Empfindungen vorlügt, die man nicht hat: eine Lüge, die der Mensch im eigenen Inneren großzüchtet, um leben zu können oder, besser gesagt, um am Leben zu bleiben inmitten einer Welt, mit der seine unverfälschten und natürlichen Gefühle in Konflikt geraten müßten.

Einzigartig ist im übrigen die Heuchelei, die der Erwachsene dem Kind gegenüber an den Tag legt. Er opfert die Belange des Kindes dem eigenen Vorteil auf, wird sich hierüber aber niemals Rechenschaft geben; denn das wäre ja unerträglich. Er redet sich ein, er übe ein naturgegebenes Recht aus und was er tue, werde später einmal dem Kind von Nutzen sein. Wehrt sich das Kind, so ist der Erwachsene keineswegs bemüht, den wahren Sachverhalt zu erkennen, sondern nennt alles, was das Kind zur Rettung seines Eigenlebens unternimmt, Ungehorsam und üble Absicht. Nach und nach erstirbt die ohnehin schon schwache Stimme der Wahrheit und der Gerechtigkeit, und sie wird ersetzt durch einen äußerst dauerhaften Bestand an schillernden Phrasen wie Pflicht, Gerechtigkeit, Autorität, Vernunft usw. 

Ja, es gibt für die Seele wie für das Wasser einen flüssigen und einen festen Aggregatzustand, und Dante verlegt nicht von ungefähr in jenen untersten Abgrund der Hölle, wo alle Liebe erloschen ist und nur Haß bleibt, eine Zone ewigen Eises. Die vorgeschützte Konvention ist die Lüge des menschlichen Geistes, die dem Individuum die Anpassung an die organisierten Abwegigkeiten der Gesellschaft ermöglicht und, was Liebe war, allmählich zu Haß erstarren läßt. Solcher Art ist die ungeheuerliche Lüge, die in den verborgenen Schlupfwinkeln des Unterbewußten haust.

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41  Seelenleben und Körper  

 

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Es gibt ein in der heutigen Medizin viel beachtetes Kapitel, nämlich das der vielen physischen Krankheiten, die ihre Ursache im Seelischen haben. Selbst bei gewissen Übeln, deren Körpergebundenheit über jeden Zweifel erhaben scheint, liegen die entfernteren Ursachen auf dem Gebiet des Psychischen. Zu diesen Übeln, soweit sie das Kindesalter betreffen, gehören die Ernährungsanomalien. Kräftige, aktive Kinder neigen zu einer Art Gefräßigkeit, der sich mit erzieherischen und hygienischen Maßnahmen schwerlich beikommen läßt. Diese Kinder essen mehr als nötig, und zwar aus einer unwiderstehlichen Gier, die oftmals aus Gutmütigkeit als gesunder Appetit ausgelegt wird, aber zu Verdauungsstörungen und Vergiftungszuständen führt, die fortgesetzte ärztliche Behandlung erfordern können.

Das unsinnige Verlangen des Körpers nach Nahrungsmengen, die ihm nicht notwendig sind, ja, ihm schädlich werden können, war bereits im Altertum bekannt und wurde als moralischer Defekt angesehen. In solcher Neigung ist wohl eine Entartung der normalen Sensibilität für die Nahrung zu erblicken, einer Sensibilität, die normalerweise nicht nur zur Suche nach Nahrung drängt, sondern auch zum Maßhalten, wie dies ja auch auf die Tiere zutrifft, deren Gesundheit dem Selbsterhaltungstrieb anvertraut ist. Die Selbsterhaltung des Individuums hat zwei Seiten: eine umweltbezogene, die im Vermeiden äußerer Gefahren besteht; und eine subjektbezogene, die die Ernährung angeht. Bei den Tieren aber macht sich ein Instinkt bemerkbar, der nicht nur zur Nahrungsaufnahme, sondern auch zu deren Begrenzung hinleitet, und dieser Instinkt ist sogar eines der vorzüglichsten Charakteristika sämtlicher Arten von Tieren. Mag sie nun viel oder wenig Nahrung zu sich nehmen, so hält sich doch eine jede Art jenes Maß, das die Natur ihr durch den Instinkt bestimmt.


Nur beim Menschen kommt das Laster vor, daß eine sinnlose Menge Nahrung verschlungen wird, ja, daß man sogar Giftiges konsumiert. Es läßt sich also behaupten, daß beim Auftreten seelischer Abwegigkeiten die schützenden Sensibilitäten verlorengehen, die der Gesunderhaltung dienen. Dafür hat man den deutlichsten Beweis beim seelisch abwegigen Kind, bei dem sich sogleich Ernährungsstörungen einstellen. An der Speise verlockt nurmehr das Äußere, sie wird bloß noch mit dem Geschmackssinn aufgenommen, der innere Faktor aber, der hinzukommen müßte, nämlich die Sensibilität für die Erfordernisse der Selbsterhaltung, ist abgeschwächt oder verlorengegangen. 

Eine der eindrucksvollsten Erfahrungen, die wir in unseren Normalisierungsschulen machten, bestand darin, daß Kinder, die einmal von der Abwegigkeit zur Normalität zurückgefunden hatten, auch ihre Gefräßigkeit ablegten und nun ihr Augenmerk auf ein einwandfrei manierliches Benehmen beim Essen richteten. Solche Wiederkehr des vitalen Empfindungsvermögens wurde, als der Begriff der Bekehrung sich bildete, mit ungläubigem Staunen beobachtet, und es entstanden minutiöse Berichte, um diese Erscheinung glaubhafter zu machen. Darin wurde etwa geschildert, daß Kinder angesichts einer einladenden Mahlzeit längere Zeit dabei verweilten, sich die Servietten richtig umzubinden oder durch eingehendes Beschauen des Eßbestecks sich dessen vorschriftsmäßige Handhabung wieder ins Gedächtnis zu rufen, oder daß sie einem kleineren Gefährten halfen und dies alles manchmal mit solcher Gründlichkeit, daß darüber das Essen kalt wurde. Andere Kinder wiederum waren verstimmt, weil man sie nicht zum Servieren bei Tisch ausersehen hatte und so für sie nur die leichteste Aufgabe übriggeblieben war: das Essen.

Gegenbeweis für den Zusammenhang zwischen Seelenleben und Ernährung ist ein Vorgang, der umgekehrt zu dem eben dargestellten verläuft: die charakterschwächeren Kinder haben eine merkwürdige und oftmals unüberwindliche Scheu vor der Nahrungsaufnahme.

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Manche von ihnen leisten so heftigen Widerstand, daß daraus zu Hause oder im Kinderheim ein richtiges Problem wird. Dieser Vorgang ist dann besonders aufsehenerregend, wenn er sich etwa in Anstalten abspielt, wo arme und schwächliche Kinder beisammen sind, die ja, sollte man denken, jede Gelegenheit zu reichlicher Nahrungsaufnahme ausnützen müßten. Solcher Mangel an Eßlust kann manchmal beim Kind zu einem Verfall der körperlichen Kräfte führen, der jeder ärztlichen Behandlung trotzt. Im übrigen darf diese Nahrungsverweigerung keineswegs mit jener Art Appetitlosigkeit verwechselt werden, die auf Dyspepsien, d. h. wirklichen Störungen des Verdauungsapparates, beruht. Nein, in unserem Fall will das Kind aus seelischen Gründen keine Nahrung zu sich nehmen

Manchmal handelt es sich um eine Abwehrhaltung: etwa dann, wenn sich das Kind dagegen sträubt, daß man ihm Bissen in den Mund schiebt, damit es Schritt halte mit dem Eßtempo der Erwachsenen. Dabei hat das Kind doch sein eigenes, von dem der Erwachsenen völlig verschiedenes Tempo, eine Tatsache, die von den Kinderärzten allgemein anerkannt wird; läßt es sich doch beobachten, daß kleine Kinder nie die ganze erforderliche Nahrungsmenge auf einmal verzehren; sie essen langsam und legen große Pausen ein. Schon die Säuglinge haben die Eigenart, nicht aus Sättigkeitsgefühl, sondern aus Ruhebedürfnis von der Mutterbrust abzulassen: ihre Nahrungsaufnahme vollzieht sich äußerst langsam und mit Unterbrechungen.

Werden Kinder gewaltsam dazu genötigt, in einer den natürlichen Gegebenheiten widersprechenden Weise Nahrung zu sich zu nehmen, so baut sich in ihnen etwas wie eine Schranke auf. Es gibt jedoch Fälle, für die diese innere Abwehr nicht in Frage kommt. Bei einem bestimmten Kind etwa ist die Appetitlosigkeit geradezu ein Konstitutionsmerkmal geworden: es ist unheilbar blaß, und mit keinem Mittel, ob Luftkur, ob Sonnen- und Seebäder, ist dem hartnäckigen Übel beizukommen. 

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Zur nächsten Umgebung des Kindes aber gehört ein Erwachsener, ein Gewaltherrscher, zu dem das Kind in einem selbstgewollten Hörigkeitsverhältnis steht. Da gibt es denn allerdings nur einen Weg, der zur Heilung führen kann: das Kind muß fort aus der Nähe dieses Erwachsenen, in eine Umgebung, in der die Seele frei atmen ihre Kräfte aktivieren und sich jener verbildenden Hörigkeit entledigen kann. Die Beziehung zwischen dem Seelenleben und gewissen ihm scheinbar sehr fern liegenden körperlichen Erscheinungen ist übrigens seit je bekannt. Man denke nur an jenen Esau des Alten Testaments, der aus Genußsucht seine Erstgeburt verkaufte, will sagen, sich gegen seine eigensten Anliegen verging und jegliche Vernunftgründe unbeachtet ließ. Die Theologie zählt diese Begierde zu den Lastern, die "den Verstand benebeln". Mit welcher Schärfe stellt doch Thomas von Aquin die Beziehungen zwischen Eßgier und Intellekt heraus. Er weist darauf hin, daß durch die Gefräßigkeit die Urteilskraft abgestumpft und somit im Menschen die Möglichkeit einer Erkenntnis der intelligiblen Realitäten herabgemindert wird. Beim Kind verläuft die Problemstellung umgekehrt: hier ist die psychische Abwegigkeit die primäre, die Gier die sekundäre Erscheinung.

Für die christliche Religion ist dieses Laster so innig mit einer geistigen Entartung verbunden, daß sie es unter die sieben Todsünden einreiht, das heißt unter diejenigen Verfehlungen, die den geistlichen Tod herbeiführen, ist doch den geheimnisvollen Gesetzen zuwidergehandelt worden, denen das Universum gehorcht. Von einem anderen Gesichtspunkt her, einem ganz modernen und wissenschaftlichen, gibt die Psychoanalyse unserer Auffassung vom Verlust des Leitinstinktes, also der Sensibilität den Geboten der Selbsterhaltung gegenüber, mittelbar recht. Sie nimmt aber eine Deutung vor, die sich von der unseren unterscheidet, und spricht von einem "Todestrieb". Das besagt, daß sie im Menschen eine natürliche Neigung erkennt, dem unvermeidlichen Tod die Bahn zu ebnen, seinen Schritt zu beschleunigen, ja ihm im Selbstmord zuvorzukommen.

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Der Mensch bekommt einen unüberwindlichen Hang zum Gift, mag es nun Alkohol, Opium oder Kokain heißen, und das bedeutet nichts anderes, als daß er sich an den Tod klammert, ihn herbeiruft, ihn zu sich hinführt, statt sich an das Leben und an die Erlösung zu halten. Aber scheint es denn nicht, daß dies alles gerade auf den Verlust einer vitalen, d. h. der Erhaltung des Individuums dienenden Sensibilität hindeute? Wäre die beschriebene Neigung in der Unvermeidlichkeit des Todes begründet, dann müßte sie bei sämtlichen Lebewesen festzustellen sein. Man wird also besser sagen: es ist seelische Abwegigkeit, was den Menschen zur Straße des Todes hinlenkt und an der Zerstörung des eigenen Lebens arbeiten läßt; und diese schreckliche Neigung tritt in milderer Form und fast unmerklich bereits im Kindesalter auf.

Körperliche Krankheiten können stets von psychischen Momenten mitbestimmt sein; denn seelisches und körperliches Leben hängen zusammen: die anomale Ernährung aber öffnet allen körperlichen Übeln die Tür. Manchmal ist die Krankheit nichts als eine äußere Erscheinung und ausschließlich seelisch bedingt und mutet eher als Bild denn als Wirklichkeit an. Mit der Darstellung der Flucht in die Krankheit hat die Psychoanalyse Aufschlüsse von größter Bedeutung gegeben. 

Die Flucht in die Krankheit ist keine Verstellung, vielmehr zeigen sich dabei echte Krankheitssymptome, und es treten fiebrige Temperaturerhöhungen und wirkliche Funktionsstörungen auf, die zuweilen ernsten Charakter zu haben scheinen. Und doch sind es keine körperliche Krankheiten, sie sind abhängig von gewissen Faktoren, die im Unterbewußten liegen und denen es gelingt, das Reich des Körperlichen in ihre Botmäßigkeit zu bringen. Das Ich vermag sich durch die Krankheit unangenehmen Situationen oder Obliegenheiten zu entziehen. Die Krankheit trotzt jeder Behandlung und verschwindet erst dann, wenn man das Ich aus der Lage erlöst, der es sich entziehen möchte.

Bei den Kindern können nicht nur moralische Mängel, sondern auch zahlreiche körperliche Leiden verschwinden, wenn man für befreiende Umgebung und normalisierende Tätigkeitsentfaltung Sorge trägt. Heute sehen viele Kinderärzte in den von uns unterhaltenen Schulen wirkliche Heilstätten, wohin man Kinder schickt, wenn sie an funktionellen Erkrankungen leiden, die jedem gewöhnlichen Heilverfahren trotzen, und wo überraschende Erfolge erzielt werden können.

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