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Teil 3

42  Der Kampf zwischen Kind und Erwachsenem 

 

255-301

Der Konflikt zwischen Kindern und Erwachsenen hat Folgen, die sich endlos über das ganze menschliche Leben hin ausbreiten, den Wellen vergleichbar, die von der Einwurfstelle eines Steins sich bis an die äußersten Ränder des Wasserspiegels fortpflanzen. Im einen wie im anderen Fall handelt es sich um Schwingungen, die konzentrisch nach allen Richtungen hin auslauten.

Das gleiche haben Medizin und Psychoanalyse entdeckt, als sie dem Ursprung seelischer und geistiger Störungen nachgingen. Die Psychoanalytiker wagen sich beim Forschen nach den entferntesten Ursachen geistiger Störungen oftmals weit hinaus; auch die Forscher, die nach der Nilquelle suchten, mußten ungeheure Entfernungen durchmessen und stießen auf phantastische Wasser­fälle, bevor sie sich der urväterlichen Ruhe der großen Seen gegenüber sahen. Als die Wissenschaft der inneren Schwäche und dem Mangel an Widerstandskraft auf den Grund gehen wollte und deshalb über die unmittelbaren Ursachen hinaus in die Tiefe dringen mußte, gelangte sie schließlich durch das Reich der bewußten Ursachen hindurch zu den Ursprüngen, zu jenen heiteren Seen, denen Leib und Seele des Kindes gleichen.

Wollen wir die Straße zurückverfolgen, weil uns jene neue Geschichte des menschlichen Daseins interessiert, die im geheimnis­vollen Aufbau seiner einzelnen Elemente zum Ausdruck kommt, so können wir ausgehen von den großen Seen der frühen Kindheit. müssen dann dem dramatischen Strom des Lebens entlangwandern, der rasch zwischen Bergen und Hemmnissen hindurchfließt, der Windungen und Umwege macht, wenn Schwierigkeiten auftreten, der in kühnem Wasserfall zur Tiefe stürzt, dem alles zu tun freisteht, nur dieses nicht: haltzumachen, nicht länger Abzug zu sein für die drängenden Wasser des Daseins.

Ja, die sattsam bekannten Übel des Erwachsenen — physische Krankheit ebenso wie nervöse und geistige Störungen — spiegeln sich im Kinde wider, und im Kindesleben können deren erste Symptome sich ankündigen.

Darüber hinaus ist es angebracht, sich einer anderen Tatsache bewußt zu werden: ein jegliches größeres und sichtbares Übel geht Hand in Hand mit einer Anzahl von kleineren. Bei einer Krankheit sind die Todesfälle selten im Verhältnis zu den Heilungen. Bedeutet Krankheit auch einen Zusammenbruch bestimmter physischer Widerstände, so sind doch noch viele andere schwache Stellen da, die nicht unmittelbar von ihr befallen sind.

Die anfällig machenden abnormen Voraussetzungen sind wie Wellen, die sich ins Unendliche fortpflanzen, sind wie Äther­schwingungen. Genau so, wie man aus dem Untersuchungsbefund eines einzigen Wassertropfens Rückschlüsse auf die Trinkbarkeit aller übrigen Tropfen desselben Wassers ziehen kann, läßt sich auch, wenn viele Leute an einer Krankheit sterben oder irgendwelchen Irrtümern erliegen, daraus unabdingbar folgern, daß die ganze Menschheit auf falscher Bahn ist.

Diese Überlegung ist nicht neu. Schon zu Zeiten des Moses hat man erkannt, daß am Ursprung eine Sünde steht, die die ganze Menschheit zu einer verdorbenen und verlorenen macht. Die Auffassung von der Erbsünde mutet unlogisch und ungerecht an; denn sie hält die grausame Verdammung unzähliger Unschuldiger, die dazu bestimmt sind, die Menschheit zu bilden, für möglich.

Wir aber sehen ja mit eigenen Augen, daß unschuldige Kinder dazu verurteilt sind, die verhängnisvollen Folgen einer auf jahrhundertealten Irrtümern beruhenden Fehlentwicklung zu tragen.

Die Ursachen, von denen wir hier sprechen, gehen auf einen folgenschweren Grundkonflikt im menschlichen Leben zurück, der bis jetzt noch nicht hinreichend ins Licht gerückt worden ist.

Der Erwachsene und das Kind, die einander lieben und miteinander leben sollen, befinden sich durch Mißverständnis in einem Konflikt, der die Wurzeln des Lebens zerstört und sich in undurchdringlichem Geheimnis vollzieht.

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43  Der Arbeitsinstinkt  

 

 

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Vor diesen Neuentdeckungen hinsichtlich des Kindesalters waren die Gesetze, denen der Aufbau des Seelenlebens unterworfen ist, unerforschtes Gebiet. Fürderhin wird das Studium der "sensiblen Perioden" als Faktoren, von denen die Bildung des menschlichen Wesens abhängig ist, zu den wissenschaftlichen Aufgaben zählen, die für die Menschheit von größter Wichtigkeit sind.

Entwicklung und Wachstum gleichen einer schichtenweise vorgenommenen Grundlegung, bei der die Beziehungen zwischen Individuum und Umwelt immer inniger werden; denn die Persönlichkeitsbildung oder das, was man die Freiheit des Kindes nennt, kann nichts anderes sein als eine fortschreitende Lösung vom Erwachsenen, ermöglicht durch eine dem Kinde angemessene Umwelt, in der es finden kann, was ihm zur Entwicklung der eigenen Funktionen erforderlich ist. Dies alles ist ebenso einfach und klar, wie wenn man etwa sagt, daß ein Kind entwöhnt wird, indem man seine Ernährung auf Brei und Fruchtsäfte umstellt, d.h. die Erzeugnisse der Umwelt an die Stelle der Muttermilch treten läßt.

Der Irrtum, der in der Erziehung immer wieder hinsichtlich der Befreiung des Kindes begangen wurde, besteht darin, daß man meinte, mit einer hypothetischen Unabhängigkeit dem Erwachsenen gegenüber sei es getan, und nicht an die entsprechende Vorbereitung der Umwelt dachte. Für letzteres bedarf es einer wissenschaftlichen Pädagogik, mit der man auf dem Gebiet der Kinderernährung das Erforschen bestimmter hygienischer Vorschriften vergleichen könnte. Und doch ist schon vom Kinde selbst die innere Vorbereitung der Umwelt in ihren Grundrissen als Ausgangspunkt einer neuen Erziehung so klar und deutlich vorgezeichnet, daß sie ohne weiteres zur praktischen Wirklichkeit werden könnte.


Unter den Erscheinungen des Seelenlebens, wie sie sich beim Kinde kundtun, ist eine von ganz besonderer Bedeutung: die Normalisierung durch Arbeit. Tausende von Beobachtungen, angestellt bei Kindern aller Völkerschichten der Erde, beweisen, daß es sich bei dieser Erscheinung um die sicherste Erfahrung handelt, die jemals auf dem Gebiet der Psychologie und der Pädagogik gewonnen worden ist. 

Es steht außer Zweifel, daß beim Kind die Haltung der Arbeit gegenüber von einem Naturtrieb bestimmt ist; denn ohne Arbeit kann sich die Persönlichkeit nicht bilden, es sei denn, sie entwickelte sich abwegig: der Mensch bildet sich durch Arbeit. Und die Arbeit ist durch nichts anderes zu ersetzen: weder durch Wohlergehen noch durch zärtliche Liebe. Andererseits aber ist es nicht möglich, Abwegigkeiten mit Bestrafung oder mit gutem Beispiel zu beheben. Der Mensch bildet sich durch Arbeit, indem er Handarbeit ausführt, Arbeiten, bei denen eben die Hand das Instrument der Persönlichkeit ist, das Werkzeug des individuellen Verstandes und Willens, das der Umwelt gegenüber die eigene Existenz aufbaut. Der Instinkt der Kinder beweist, daß die Arbeit eine innere Neigung der menschlichen Natur ist, ein für das Menschengeschlecht eigentümlicher Instinkt.

Aus welchem Grund aber wird nun die Arbeit, welche die höchste Befriedigung und zugleich die wichtigste Grundlage für Gesundheit und innere Erholung sein müßte (wie dies für die Kinder zutrifft), vom Erwachsenen, der niemals an die von der Umwelt ihm auferlegte harte Notwendigkeit glauben will, innerlich abgelehnt? Weil die Arbeit der menschlichen Gesellschaft auf falschen Grundlagen ruht und weil jener tiefe Instinkt — in Besitzgier, Machthunger, Heuchlertum und Monopolstreben entartet — verborgen bleibt, als sei er ein zum Aussterben verurteilter Charakterzug. Unter diesen Bedingungen natürlich wird die Arbeit, da sie nur von äußeren Umständen oder vom Kampfe zwischen entgleisten Charakteren bestimmt ist, zur Zwangsarbeit und ruft stärkste innere Hemmungen hervor. Und darum ist die Arbeit hart und widerwärtig.

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Geht aber die Arbeit ausnahmsweise einmal Hand in Hand mit einem instinktiven inneren Impuls, dann nimmt sie selbst beim Erwachsenen ganz andere Merkmale an. In einem solchen Fall wird die Arbeit reizvoll und unwiderstehlich und hebt den Menschen über alle Irrungen und Abwegigkeiten empor. So sieht etwa die Arbeit des Erfinders aus, die Arbeit des Künstlers und die Arbeit dessen, der unter heldenhaften Anstrengungen ein unbekanntes Gebiet der Erde erforscht. In solchen Fällen ist der Mensch von einer ungewöhnlichen Kraft erfüllt, die ihn den Instinkt seiner Gattung in der Anlage der eigenen Individualität wiederfinden läßt. Diese ist dann zu vergleichen mit einem mächtigen Wasserstrahl, der die harte Oberfläche der Erde sprengt, mit ungestümem Druck zum Himmel emporschnellt und dann als wohltätig erfrischender Regen auf die Menschheit herabrieselt.

Aus solchen Impulsen gehen die Fortschritte der menschlichen Kultur hervor, der es zu danken ist, wenn die charakteristischen Eigenschaften des normalen Arbeitsinstinktes, der ja dem Bau eines der Fundamente der menschlichen Gesellschaft dient, wieder zum Vorschein kommen.

Die Arbeit ist sicher das merkwürdigste Kennzeichen des Menschen: der Fortschritt der Zivilisation ist gebunden an einen in unzähligen Formen sich äußernden Tätigkeitsdrang, der darauf abzielt, Umwelt zu schaffen und dem Menschen sein Dasein zu erleichtern.

Doch ist es seltsam, daß der Mensch ausschließlich in dieser Umwelt zu leben vermag und sich dabei immer weiter vom rein natürlichen Leben entfernt. Diese Welt des Menschen kann man nicht einfach als künstlich bezeichnen; sie ist vielmehr ein über der Natur errichteter Bau, den man "super-natürlich" nennen könnte, und der Mensch gewöhnt sich allmählich so innig an sie, daß sie zu seinem Lebenselement wird.

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Man könnte die Geschichte der Menschheit einer jener langsamen Entwicklungen vergleichen, die zum Entstehen einer neuen und endgültigen Gattung führen wie etwa in der Geschichte des Tierreichs jener Übergang vom Wasserleben zum Landleben, der durch das Amphibium repräsentiert wird. Der Amphibium-Mensch hat, von der Natur lebend, sich nach und nach eine "Super-Natur" geschaffen und nimmt nun an beiden Lebensarten teil, zeigt aber die Tendenz, schließlich daraus eine einzige zu schaffen. Schon heute lebt der Mensch nicht mehr natürlich, denn er hat die ganze Natur seinen Zwecken dienstbar gemacht, die sichtbare und die unsichtbare, jene, die offenbar ist, und jene, die sich in den Geheimnissen kosmischen Lebens verbirgt. 

Der Mensch ist jedoch nicht einfach von einem Lebenskreis zum ändern übergegangen: er hat sich seinen eigenen Lebenskreis geschaffen, und darin lebt er mit solcher Ausschließlichkeit, daß er nun außerhalb seiner wunderbaren Schöpfung nicht mehr zu existieren vermöchte. Der Mensch lebt also vom Menschen. Die Natur kommt dem Menschen nicht zu Hilfe, wie sie dies bei den anderen Lebewesen tut, der Mensch findet in ihr keineswegs die fertige Nahrung, wie der Vogel sie findet, und ebenso wenig die Mittel zum Bau eines Nestes; der Mensch muß alles, was er braucht, beim Menschen suchen. Darum ist ein Individuum auf das andere angewiesen, und jedes trägt durch seine Arbeit zu jenem Gebäude bei, in dem die Menschheit lebt, zur "super-naturalen" Welt.

Da aber der Mensch vom Menschen lebt, ist er Herr und Meister seiner eigenen Existenz und kann sie einrichten und über sie verfügen, wie es ihm behagt. Er ist den Wechselfällen der Natur nicht unmittelbar unterworfen, ist von ihnen getrennt und ausschließlich denen des menschlichen Bereiches Untertan. Gerät darum die menschliche Persönlichkeit auf Abwege, so ist ihr gesamtes Leben bedroht, weil dann die Gefahr für den Menschen an sich besteht.

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Es ist reizvoll, bei den Kindern zu beobachten, wie mächtig der Arbeitsinstinkt ist und welch einen Einfluß der innige Zusammenhang, der zwischen Normalität und Arbeit besteht, auf die gesamte Persönlichkeitsbildung ausübt.

Dies ist der beste Beweis dafür, daß der Mensch eine auf Arbeit gerichtete innere Strebung mit auf die Welt bringt, ist es doch die Natur, die ihn dazu treibt, etwas zu bauen, das ihm Untertan sei und sich mit der Existenz und mit den Zwecken der Schöpfung vereinbare. Es ist unlogisch zu denken, daß der Mensch nicht an der universellen Harmonie teilnimmt, zu der alle Lebewesen beitragen, jedes der Aktivität des Instinktes entsprechend, der in seine Art gelegt ist. 

Die Korallen bauen Inseln und Kontinente und stellen Küstenlinien wieder her, die die unablässige Brandung zerstückelt hat; die Insekten übertragen Blütenstaub und erhalten damit einen wesentlichen Teil des vegetativen Lebens aufrecht; der Kondor und die Hyäne sorgen für die Beseitigung offen herumliegenden Aases; andere Lebewesen hinwiederum vernichten Müll und Abfälle, wieder andere stellen Honig und Wachs her, wieder andere erzeugen Seide und so fort. Die Aufgabe des Lebens ist so unermeßlich und wesentlich, daß die Erde ihre Erhaltung dem Leben verdankt, das sich einer atmosphärischen Schicht gleich um den Land-Wasserglobus legt. Man sieht ja heute das Leben auf der Erde als eine Biosphäre an. Für sich selbst zu sorgen, ist nicht der letzte Zweck der Lebewesen, vielmehr nehmen sie, indem sie es tun, einen so wesentlichen Anteil an der Erhaltung der Erde, daß sie zu notwendigen Bestandteilen der Erdenharmonie werden. 

Die Lebewesen erzeugen mehr, als die Notwendigkeit erfordert; bei ihrer Aktivität ergibt sich stets ein Überschuß, der unendlich weit über die unmittelbaren Erfordernisse der Selbst- und Arterhaltung hinausgeht. So sind sie denn sämtlich Werkleute des Universums und gehorchen dessen Gesetzen. Auch der Mensch, dieser Arbeiter par excellence, kann sich diesen Gesetzen nicht entziehen: er baut die Über-Natur, die in der ganzen Reichhaltigkeit ihrer Produktion doch augenscheinlich weit über die einfachen Erfordernisse der Existenz hinausreicht und eine Aufgabe kosmischer Art erfüllt.

Soll diese Produktion eine vollkommene sein, so darf sie nicht von den Notwendigkeiten des Menschen selbst inspiriert sein, sondern muß den geheimnisvollen Planungen des Arbeitsinstinktes folgen. Eine verhängnisvolle Entgleisung hat sichtlich den Menschen von seinem kosmischen Zentrum, vom Zweck seines Daseins, getrennt. Beim Kind muß sich die Persönlich­keitsbildung, die seine eigentliche Aufgabe ist — soll sie sich in normaler Weise vollziehen —, aufs engste an die Instinkte anschließen, die den Aufbau des Individuums lenken. Das große Geheimnis liegt in der Erziehung zur Normalität. Von ihr hängt die Über-Natur des Menschlichen ab.

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   44   Die beiden Arbeitsarten   

 

 

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Kind und Erwachsene, die dazu geschaffen sind, in Liebe miteinander zu leben, liegen in Wirklichkeit fortwährend im Kampf, weil an den Grundfesten des Lebens Verständnislosigkeit rüttelt und einen wahren Knäuel von Wirkungen und Gegenwirkungen schafft. Mit diesem Konflikt hängen die verschiedensten Probleme zusammen, und einige, die besonders klar greifbar sind, haben äußerlich mit den sozialen Verhältnissen zu tun. Der Erwachsene hat eine Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die so kompliziert ist und ihn dermaßen in Anspruch nimmt, daß es ihm immer schwieriger wird, sie einmal beiseite zu legen und sich dem Lebens­rhythmus des Kindes und den Erfordernissen seiner seelischen Entfaltung anzupassen. 

Für das Kind wiederum ist die Welt des Erwachsenen mit ihrer fortwährend sich steigernden Dynamik und Kompliziertheit etwas, in das es sich niemals hineinfinden wird. Wir vermögen uns allerdings vorzustellen, daß auf einer urtümlichen Lebensstufe das Kind durchaus noch beim Erwachsenen Zuflucht finden konnte, der eben damals noch mit einfacheren und in ruhigerem Rhythmus verlaufenden Arbeiten beschäftigt war, und daß es in dieser Umgebung, zu der auch die Haustiere zählten, mit der Welt der Gegenstände zwanglos in Berührung kommen und mit ihnen arbeiten konnte, ohne einen Einspruch befürchten zu müssen. Und wenn es müde war, konnte es sich unter einem dichtbelaubten Baum zur Ruhe begeben.

Allmählich aber hat die Zivilisation dem Kind seinen sozialen Lebensbereich entzogen. Alles ist nun übertrieben geregelt, alles ist eingeengt, alles geht viel zu hastig. Der beschleunigte Lebensrhythmus des Erwachsenen ist für das Kind zu einem Hemmnis geworden, vor allem aber hat ihm die stürmisch um sich greifende Herrschaft der Maschine die letzten schützenden Zufluchtsstätten genommen. So kann das Kind kein aktives Leben führen.

Die Sorge, die man ihm angedeihen läßt, besteht im Schutz seines Lebens vor den stets sich mehrenden äußeren Gefahren. In Wirklichkeit aber ist in der Welt von heute das Kind unfrei und zur Inaktivität verurteilt. Niemand denkt an die Notwendigkeit, ihm einen geeigneten Lebensbereich zu schaffen, niemand überlegt sich, daß auch das Kind einen Anspruch auf Tätigkeit, auf Arbeit stellt.

So müssen wir uns denn vergewissern, daß es nicht nur eine soziale Frage gibt, sondern zwei, wie ja auch zwei Lebensformen bestehen: die soziale Frage des Erwachsenen und die soziale Frage des Kindes; und wir müssen erkennen, daß es zwei Haupttypen von Arbeit gibt, die Arbeit des Erwachsenen und die des Kindes, beide notwendig für das Leben der Menschheit.

 

   Die Arbeit des Erwachsenen   

 

Die dem Erwachsenen zukommende Tätigkeit ist das Mitwirken am Aufbau eines Lebensbereiches, der über der Sphäre des Natürlichen liegt. Es handelt sich hier um eine äußere Arbeit, getragen von vernunftbestimmter Willensanstrengung und auch als produktive Arbeit bezeichnet, ihrer Anlage nach sozial, kollektiv und organisiert.

Um das Ziel seiner Arbeit zu erreichen, ist der Mensch gezwungen, sie nach der Norm der sozialen Gesetze auszurichten. Und diese verlangen eine Gemeinschaftsdisziplin, der sich die Menschen freiwillig unterwerfen, haben sie doch selbst eingesehen, daß diese Disziplin zur Ordnung des sozialen Lebens unentbehrlich ist. Aber außer diesen Gesetzen, die lokalen Notwendigkeiten entsprechen und von einem Teil der Menschheit zum ändern verschieden sind, setzen sich im Laufe der Jahrhunderte auch noch andere durch, fundamentale und in der Natur selbst verwurzelte Regeln, die sich auf die Arbeit als solche beziehen: und diese Gesetze sind allen Menschen und allen Zeiten gemeinsam.

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Eines von ihnen ist das der Arbeitsteilung; es wird bei allen Lebewesen des Universums eingehalten und ist unerläßlich, differenzieren sich doch die Menschen je nach ihrer Arbeitsleistung. Ein anderes natürliches Gesetz betrifft das arbeitende Individuum selbst: es ist das Gesetz des geringsten Kraftaufwandes, wonach der Mensch mit möglichst wenig Mühe möglichst viel erreichen will. Dies Gesetz ist von allergrößter Bedeutung, nicht etwa, weil der Wunsch bestünde, möglichst wenig zu arbeiten, sondern weil in Befolgung dieses Gesetzes mit geringerem Kräfteverschleiß größere Leistung erzielt wird. Dieser Grundsatz ist von solchem Nutzen, daß man ihn auch auf die Maschine anwendet, die an die Stelle der menschlichen Arbeit gesetzt wird oder diese ergänzt.

Dies sind die guten Natur- und Sozialgesetze der Anpassung an die Arbeit. Nicht alles aber entwickelt sich nach diesen guten Gesetzen; denn die Materie, die der Mensch bearbeitet und aus der er seinen Reichtum bezieht, hat ihre Grenzen, und dadurch entsteht der Wettbewerb, der Kampf ums Dasein, wie er ja auch bei den Tieren zu beobachten ist. Über alledem aber steht die Wirkung von allerlei konfliktschaffenden individuellen Abwegigkeiten. Der Besitztrieb etwa, der keine Beziehung mehr hat zu der Selbst- oder Arterhaltung, entwickelt sich außerhalb dieser Gesetze und hat darum auch keine Grenzen. Die Besitzgier siegt über die Liebe und läßt an ihre Stelle den Haß treten; wo immer sie in einen organisierten Lebensbereich einbricht, behindert sie die Entwicklung der Arbeit, und zwar nicht nur in den Grenzen des individuellen Bereichs, sondern auch in jenen der sozialen Organisationen. 

So wird die Arbeitsteilung abgelöst von der Ausbeutung fremden Fleißes, wie sie durch die Gesetze der Konvention geregelt ist, die als Rechtsgrundsätze bemäntelte Folgeerscheinungen menschlicher Abwegigkeit zu sozialen Grundregeln erhebt. Der Irrtum feiert in der menschlichen Gesellschaft seinen Triumph und verdankt ihn der Überzeugungskraft gewisser Prinzipien, die sich in Gestalt sittlicher Ordnungen und vitaler Notwendigkeiten präsentieren.

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In jener tragischen und düsteren Atmosphäre, die das als Wohltat maskierte Übel um sich verbreitet, verlieren alle Dinge ihr Gesicht, und doch nimmt ein jeder die Leiden, die dabei entstehen, als eine Notwendigkeit hin.

Das Kind, das der Inbegriff eines natürlichen Wesens ist, lebt, äußerlich betrachtet, an der Seite des Erwachsenen und ist je nach seinem Elternhaus in die mannigfaltigsten Lebensbedingungen hineingestellt. Der sozialen Aktivität des Erwachsenen wird es jedoch stets fremd gegenüberstehen; denn für die Tätigkeit des Kindes ist innerhalb des sozialen Produktionsprozesses keine Verwendung vorhanden. Wir müssen uns wirklich ins Gewissen rufen, daß das Kind grundsätzlich außerhalb der Möglichkeit steht, an der sozialen Aktivität des Erwachsenen teilzunehmen. 

Nehmen wir als Symbol körperlicher Arbeit die eines Schmiedes, der seinen Hammer auf einen wuchtigen Amboß niedersausen läßt, so wird uns klar, daß das Kind niemals zu einer solchen Leistung imstande wäre. Und wenn wir andererseits uns als Symbol der geistigen Arbeit die eines Gelehrten vorstellen, der mit Hilfe empfindlichster Instrumente schwierigste Untersuchungen vornimmt, so erkennen wir, daß wir auch hier vom Kinde keinen Arbeitsbeitrag erwarten können. Und denken wir schließlich an den Juristen, der sich den Kopf darüber zerbricht, wie man die Gesetze verbessern könnte, so werden wir sicher nicht bezweifeln, daß auch ihn das Kind bei der Erfüllung seiner Aufgabe nicht vertreten kann.

Das Kind steht dieser menschlichen Gesellschaft völlig fremd gegenüber, und man könnte seine Stellung mit dem Bibelwort kennzeichnen: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Es ist also ein Wesen, das ganz und gar abseits der von den Menschen geschaffenen sozialen Organisation lebt, ein Fremdling in der künstlichen Welt, die der Mensch neben der Natur und von ihr getrennt sich aufgebaut hat.

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In der Welt, in die es hineingeboren wird, ist das Kind vorzüglich ein außergesellschaftliches Wesen, sofern man darunter eine Person versteht, die nicht in der Lage ist, sich an die menschliche Gesellschaft anzupassen, am Produktionsprozeß und an der Regelung der Organisation teilzunehmen und darum das zustande gebrachte Gleichgewicht stört. Das Kind ist in der Tat überall dort, wo Erwachsene beisammen sind, ein Außenseiter, der immer störend wirkt, selbst im eigenen Elternhaus, Zu seinem Mangel an Anpassungsvermögen kommt erschwerend hinzu, daß das Kind ein aktives Wesen ist und unfähig, auf seine Tätigkeit zu verzichten. Darum muß man diese bekämpfen, mufi man das Kind dazu zwingen, sich zurückzuhalten, keinen Ärger zu erregen, muß es in die Passivität drängen.

Also sperrt man es in besondere Räume, die zwar keine Gefängnisse sind, wie man sie für gewisse asoziale Erwachsene vorgesehen hat, aber etwas recht Ähnliches, und die man als Spiel- und Kinderzimmer bezeichnet; oder man verbannt es in die Schule, in jenes Exil, in dem der Erwachsene das Kind solange hält, bis es imstande ist, in der Erwachsenenwelt zu leben, ohne zu stören. Dann erst kann es zur menschlichen Gesellschaft zugelassen werden. Zunächst muß es sich dem Erwachsenen unterwerfen wie eine Person ohne bürgerliche Rechte, da sie ja, sozial gesehen, nicht existiert. Dar Erwachsene ist Herr und Meister, und das Kind muß sich jederzeit seinen Befehlen unterwerfen, denen gegenüber es keinen Einspruch gibt und die somit von vornherein gerechtfertigt sind.

Aus dem Nichts heraus bricht das kleine Kind in die Familie des Erwachsenen ein. Der ist, mit dem Kind verglichen, groß und mächtig wie ein Gott, und er ist der einzige, der dem Kind da« Lebensnotwendige zu verschaffen vermag. Der Erwachsene ist sein Schöpfer, seine Vorsehung, sein Herrscher, sein Richter. Noch nie hing einer so vollständig und unbedingt von einem ändern ab wie das Kind vom Erwachsenen.

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  Die Arbeit des Kindes   

 

Aber auch das Kind ist ein Arbeiter und ein Erzeuger. Kann es auch nicht an der Arbeit des Erwachsenen teilnehmen, so hat es doch seine ganz eigene große, wichtige und schwere Aufgabe zu erfüllen: die Aufgabe, den Menschen zu bilden. Ist aus dem untätigen, stummen, unbeweglichen und des Bewußtseins entbehrenden Neugeborenen ein fertiger Erwachsener geworden, mit einer Intelligenz, die sich mit den Errungenschaften des seelischen Lebens bereichert und mit dem strahlenden Licht des Geistes, so ist dies alles dem Kind zu verdanken.

Denn ausschließlich durch das Kind wird der Mensch aufgebaut. Der Erwachsene vermag in diese Arbeit nicht einzugreifen; er ist aus der Welt des Kindes in einer viel augenfälligeren Weise ausgeschlossen als das Kind von jener Arbeit des Erwachsenen, die eine dem Natürlichen überlegene gesellschaftliche Welt erzeugt. Die Arbeit des Kindes gehört einer andern Ordnung an und hat eine andere Mächtigkeit als die Arbeit des Erwachsenen, ja ist dieser geradezu entgegengesetzt: es ist eine unbewußte Arbeit, verwirklicht durch eine in der Entwicklung befindliche geistige Energie, eine Schöpfungsarbeit, die an jene biblische Darstellung erinnert, in der es vom Menschen nur heißt, er wurde geschaffen. Aber wie wurde er geschaffen? Wie erhielt er, das lebendige Geschöpf, die Gabe des Verstandes und der Macht über alle Dinge der Schöpfung, obschon er aus dem Nichts hervorgegangen ist? Dieses Wunder können wir in all seinen einzelnen Zügen beim Kind, bei sämtlichen Kindern betrachten. Alltäglich dürfen wir es da bestaunen.

Was geschaffen wurde, wurde geschaffen, um in allen menschlichen Geschöpfen sich neu zu vollziehen, wenn sie zur Welt des Lebendigen gelangen: das Leben ist Frucht der Unsterblichkeit; denn alles, was stirbt, erneuert sich. Angesichts dessen, was uns die alltägliche Wirklichkeit offenbart, können wir nur immer wiederholen:

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Das Kind ist der Erzeuger des Menschen. Die gesamten Möglichkeiten des Erwachsenen hangen davon ab, inwieweit das Kind diese ihm anvertraute geheime Aufgabe erfüllen konnte. Dem Kind kommt die Stellung eines wirklichen Schaffenden vor allem deshalb zu, weil es sein Ziel, die Bildung des Menschen, nicht durch bloßes Ruhen und Nachdenken erreicht. Nein, seine Arbeit ist Aktivität, ist fortgesetztes Schöpfertum. Und wir müssen uns vor Augen halten, daß es bei dieser Arbeit sich auch die äußere Umgebung nutzbar macht, eben die nämliche Umwelt, die der Erwachsene seinen Zwecken entsprechend verwandelt. Das Kind wächst mit der Übung, seine aufbauende Aktivität besteht in einer wirklichen Arbeit, die materiell in die Umgebung hineinreicht. 

Durch die Erfahrungen, die es macht, übt sich das Kind und kommt in Bewegung; es stimmt seine Bewegungen aufeinander ab, die Gefühlseindrücke, die es aus der Außenwelt aufnimmt, formen seinen Verstand; es vollbringt beim Erwerb der Sprache wahre Wunder an Aufmerksamkeit und Auffassungskraft, Wunder, die nur ihm allein möglich sind; und unaufhaltsam versucht es, sich auf die Füße zu stellen und zu gehen, bis ihm dies eines Tages gelingt. Bei alledem richtet es sich ebenso nach einem Programm und einem Plan wie der fleißigste Student und tut dies mit derselben Unwandelbarkeit, mit der die Gestirne ihre unsichtbare Bahn zurücklegen. 

Man mag die Körpergröße des Kindes in jedem beliebigen Altersabschnitt überprüfen, immer wird sie das vorgesehene Maß haben; auch wissen wir, daß das Kind mit fünf Jahren auf diesem, mit acht auf einem ändern Intelligenzniveau angelangt sein wird. Man kann voraussagen, welche Körpergröße und welche geistigen Fähigkeiten es mit zehn Jahren aufweisen wird; denn das Kind hält sich genau an das von der Natur aufgestellte Programm. Durch unermüdliche Aktivität, durch Kraft­anstrengungen, Erfahrungen, Eroberungen und Leiden, durch harte Proben und mühsame Kämpfe erfüllt das Kind Schritt für Schritt seine schwierige und wunderbare Aufgabe und erreicht immer neue Formen der Vollkommenheit.

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Der Erwachsene vervollkommnet die Umwelt, das Kind aber vervollkommnet sein eigenes Sein: sein Streben gleicht dem des Wanderers, der unablässig und rastlos dem Ziel entgegengeht. Darum hängt die Vollkommenheit des erwachsenen Menschen vom Kinde ab.

Wir Erwachsenen hängen vom Kinde ab. Auf dem Gebiet seiner Wirksamkeit sind wir seine Kinder und von ihm abhängig, so wie in der Welt unserer Arbeit es unser Kind und von uns abhängig ist. Der Erwachsene ist Herrscher auf dem einen, das Kind Herrscher auf dem anderen Gebiet, und beide sind aufeinander angewiesen: beide sind Könige, aber in verschiedenen Reichen. Dies ist die wesentliche Harmonie der ganzen Menschheit.

 

   Vergleich zwischen den beiden Arbeitsarten   

 

Da die Arbeit des Kindes aus Handlungen besteht, die sich auf reale Objektive der Außenwelt beziehen, können wir sie ohne weiters zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung machen, um ihre Gesetze und ihre Untergründe kennen zu lernen und sie schließlich mit der Arbeit des Erwachsenen zu vergleichen. Kind und Erwachsener entwickeln beide auf Kosten ihrer Umwelt eine unmittelbare, unbewußte und willkürliche Aktivität, die man als Arbeit im eigentlichen Sinn ansprechen kann. Aber außerdem haben sie beide ein Ziel zu erreichen, das nicht bewußt gewollt ist. 

Nirgends, selbst nicht im Bereiche des Vegetativen, gibt es Leben, das sich nicht auf Kosten der Umwelt entwickelte. Ich weiß, daß die Richtigkeit dieses Satzes einer strengeren Überprüfung nicht standhalten wird, denn er enthält ein Urteil, das nur vom Nächsten und Unmittelbaren ausgeht. Aber das Leben selbst stellt ja eine Energie dar, die ständig die Schöpfung zu erhalten strebt, indem sie ohne Rast die Umwelt schafft und vervollkommnet, die ohne diese Aktivität sich auflösen würde.

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Unmittelbare Tätigkeit der Korallen z.B. ist es, aus dem Meerwasser kohlensauren Kalk aufzunehmen und daraus ihre Schutzwälle zu bauen;

bezüglich ihrer Umwelt aber besteht ihr Zweck darin, neue Kontinente zu schaffen. Doch weil dieser Zweck von der unmittelbaren Tätigkeit der Korallen ziemlich weit abliegt, kann man diese mit aller wissenschaftlichen Strenge untersuchen, ohne jemals auf einen neuen Kontinent zu stoßen. Ähnliches läßt sich von allen Lebewesen und namentlich vom Menschen sagen.

Eine mittelbare, aber doch deutlich zu erkennende Finalität liegt in der Tatsache, daß alles Erwachsene aus der Schöpfungs­tätigkeit des Kindlichen hervorgeht. Erforscht man das Kind oder vielmehr das kindliche Wesen in allen seinen Wesensteilen, so kann man vom materiebildenden Atom bis zur kleinsten Einzelheit einer jeden Funktion alles durchstudieren: das erwachsene Wesen wird man darin nicht finden. Und doch bedingen die beiden entlegenen Zwecke der unmittelbaren Handlung eine Arbeit auf Kosten der Umwelt.

Vielleicht enthüllt die Natur in ihren einfacheren Geschöpfen einen Teil ihrer Geheimnisse. Bei den Insekten z. B. können wir zwei wirkliche produktive Tätigkeiten feststellen: einerseits die Herstellung der Seide, jenes glitzernden Fadens, mit dem die Menschen kostbare Gewebe wirken, andererseits die des Spinnennetzes, eines Fadens ohne rechte Haltbarkeit, den die Menschen eilends vernichten. Nun ist die Seide das Erzeugnis eines kindlichen, das Spinnennetz das eines erwachsenen Wesens: zweifellos handelt es sich dabei um zwei Arbeiter. Spricht man also von der Arbeit des Kindes und stellt sie jener des Erwachsenen gegenüber, so spielt man auf zwei verschiedene Tätigkeiten an, die verschiedene Ziele haben, aber beide eine Realität sind.

Was es aber kennenzulernen gilt, ist die Arbeit des Kindes. Arbeitet ein Kind, so tut es dies nicht, um ein äußeres Ziel zu erreichen. Sein Ziel ist das Arbeiten, und wenn es bei der Wiederholung einer Übung seiner eigenen Tätigkeit ein Ende setzt, so hat das Ende nichts mit den äußeren Handlungen zu tun.

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 Das Abbrechen der Arbeit steht als Individualreaktion in keiner Verbindung mit etwaiger Müdigkeit; denn es ist gerade eine Eigenheit des Kindes, daß es erfrischt und energiegefüllt von seiner Arbeit aufsteht. Damit ist auf einen der Unterschiede hingewiesen, wodurch sich beim Kind und beim Erwachsenen die natürlichen Gesetze der Arbeit voneinander abheben: das Kind folgt nicht dem Gesetz des geringsten Kraftaufwandes, sondern eher einem gegenteiligen Gesetz; denn es verbraucht für eine zwecklose Arbeit eine ungeheure Energiemenge, und zwar nicht nur propulsive Energie, sondern auch potentielle bei der Ausführung der Einzelheiten. Ziele und äußere Handlung sind in allen Fällen nur Dinge von zufälliger Bedeutung. Diese Beziehung zwischen Umwelt und innerer Vervollkommnung ist äußerst eindrucksvoll, und an ihr bildet sich nach Ansicht des Erwachsenen das geistige Leben.

Der Mensch, der in einer Sphäre der Sublimierung lebt, kümmert sich nicht um die äußeren Dinge, er benutzt sie nur im gegebenen Augenblick für seine innere Vervollkommnung. Wer sich hingegen in einem gewöhnlichen oder, besser gesagt, in seinem eigenen Lebenskreis befindet, der sorgt sich um die äußere Zielsetzung bis zur Selbstaufopferung, setzt Leib und Seele daran.

Ein anderer deutlicher Unterschied zwischen der Arbeit des Erwachsenen und der des Kindes besteht darin, daß dieses weder Belohnung noch Zugeständnisse wünscht; das Kind muß seine Wachstumsaufgabe ganz allein bewältigen, es muß sie restlos erfüllen. Keiner kann dem Kind diese Mühe abnehmen und an seiner Stelle wachsen. Es geht auch nicht an, daß ein Kind eine Möglichkeit sucht, um bis zur Erreichung des zwanzigsten Lebensjahres eben weniger als zwanzig Jahre zu brauchen. So ist eines der Hauptmerkmale des in der Entwicklung stehenden kindlichen Wesens, daß es ohne Verzug und ohne Unterlassung getreulich sein Programm einhält.

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Die Natur ist eine strenge Meisterin, sie belegt schon deo geringsten Ungehorsam mit einer Strafe, die sich Entwicklungs- und Funktionsstörung, d.h. Anomalie oder Krankheit nennt.

Der innere Antrieb des Kindes ist völlig verschieden von dem des Erwachsenen, bei dem er allemal auf ein Übermaß äußerer Motive anspricht, die die größten und härtesten Anstrengungen von ihm fordern. Um dieses eines Tages gerecht werden zu können, muß das Kind die innere Triebkraft einwandfrei ausbilden und zu einem kraftvollen, lebenstüchtigen Menschen werden.

Das Kind ermüdet nicht bei der Arbeit; es wächst an der Arbeit, und die Arbeit erhöht seine Energie.

Das Kind wünscht nie, daß man es von seiner Mühe erlöse, es will vielmehr seine Aufgabe vollkommen und selbständig ausführen. Das Werk des Wachstums macht das eigentliche Leben des Kindes aus: "Arbeiten oder sterben."

Wird sich der Erwachsene nicht dieses Geheimnisses bewußt, so wird er nie die Arbeit des Kindes verstehen; und er hat sie auch tatsächlich nicht verstanden; darum hindert er das Kind am Arbeiten und meint, daß die Ruhe das sei, was dem Kind am besten zu einem rechten Wachstum verhelfe. Der Erwachsene nimmt dem Kind eine jede Tätigkeit ab, weil er eben ganz im Banne seiner eigenen Arbeitsgesetze steht, die ihm möglichst geringen Kraftaufwand und größte Zeitersparnis vorschreiben. Als der Routiniertere wäscht er das Kind und zieht es an, trägt es auf dem Arm oder führt es im Wagen, ordnet alles, was sich in der Umgebung des Kindes befindet, und läßt nicht zu, daß das Kind sich an diesen Arbeiten beteiligt.

Läßt man dem Kind nur ein klein wenig Spielraum, so wird es den Willen zur Selbstbehauptung sogleich mit einem Ausruf kundgeben wie: "Das möchte ich tun, ich!" In den kindgemäßen Umgebungen unserer Kinderhäuser haben die Kleinen ihr inneres Bedürfnis mit dem bezeichnenden Satz ausgedrückt: Hilf mir, es allein zu tun.

Wie beredt ist doch dieser widerspruchsvolle Ausruf! Der Erwachsene soll dem Kind helfen, aber nur, damit dieses seine ihm eigene Arbeit in der Welt ausführen kann. Hiermit ist nicht nur auf die Bedürfnisse des Kindes hingewiesen, sondern auch auf die Eigenschaften, die die Umwelt haben muß: sie sei lebensvoll, nicht leblos! Es geht auch nicht um eine Umwelt, die zum Erobern oder Genießen da wäre, sondern um eine, die die Herausbildung der Funktion erleichtert. So ergibt sich denn in aller Klarheit, daß diese Umwelt unmittelbar von einem höher stehenden Wesen belebt sein muß, von dem intelligenten und für diese Aufgabe vorbereiteten Erwachsenen. Unsere Auffassung ist also weder die, daß der Erwachsene dem Kinde jede Tätigkeit abnehmen, noch die, daß die Umwelt passiv sein und der Erwachsene das Kind völlig sich selber überlassen soll. So genügt es denn nicht, für das Kind Gegenstände zuzurüsten, die in Form und Ausmaß zu ihm passen: es gilt, den Erwachsenen zuzurüsten, auf daß er ihm zu helfen vermöge.

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45  Die Leitinstinkte   

 

 

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Auch in der Natur gibt es zwei Lebensformen: das Leben des Erwachsenen und das des Kindes, beide sehr verschieden, geradezu gegensätzlich. Das Leben des Erwachsenen ist vom Kampf bestimmt: mag es dabei um Umweltanpassung gehen, wie sie Lamarck dargestellt hat, oder um Selbstbehauptung und natürliche Auslese, wie sie uns von Darwin beschrieben worden sind und keineswegs ausschließlich der Arterhaltung, sondern auch der Gattenwahl dienen.

Was sich bei den erwachsenen Tieren abspielt, läßt sich mit der Entwicklung des sozialen Lebens bei den Menschen vergleichen: ständiges Bemühen um die Erhaltung des Lebens, Abwehr der Feinde, Kampf um die Anpassung an die Umwelt und schließlich Liebe und Gattenwahl. In diesen Kraftanstrengungen und im Wettkampf zwischen den Arten sieht Darwin die Ursache der Entwicklung, d. h. der Vervollkommnung der Lebewesen, und damit hat er es erklärt, daß das Körperliche fortlebt, wie andererseits die materialistische Geschichtsschreibung die Entwicklung der Menschheit dem Kampf und dem Wettstreit zwischen den Menschen zugeschrieben hat.

Aber während bei der Aufhellung der menschlichen Geschichte sich keine anderen Beweisstücke finden lassen als Ereignisse aus der Welt der Erwachsenen, liegen in der Natur die Dinge anders:  der wahre Schlüssel zu dem Leben, das in ihr kämpft und siegt und in den unzähligen Arten der Lebewesen zutage tritt, findet sich in dem Kapitel, das ihrer kindlichen Wesensseite vorbehalten ist. Alle Lebewesen waren einmal, bevor sie die für den Kampf erforderliche Stärke erlangten, schwach und unbeholfen und befanden sich zu Anfang in einem Stadium, in dem sich die Organe noch nicht an die Umwelt anpassen konnten, weil sie noch nicht vorhanden waren. Es gibt kein lebendiges Wesen, das als Erwachsenes beginnt.

So muß es also einen verborgenen Teil des Lebens geben, der andere Formen, andere Mittel, andere Motive kennt, verschieden von denen, die in den Wechselbeziehungen zwischen dem starken Individuum und der Umwelt zutage treten. Diesem Kapitel könnte man die Überschrift "Kindheit in der Natur" geben; und darin ist der wirkliche Schlüssel zum Leben verborgen, denn, was sich beim Erwachsenen ereignet, das erklärt nur die Wechselfälle der Lebenserhaltung.

Die Beobachtungen der Biologen bei der Erforschung des Kindheitslebens der Geschöpfe haben uns Einblick gegeben in einen der wunderbarsten, aber auch der kompliziertesten Bereiche der Natur; es kamen erstaunliche Tatsachen zum Vorschein, erhabene Möglichkeiten, durch die das gesamte Leben der Natur mit Poesie. ja fast mit religiöser Feierlichkeit erfüllt wird. Die Biologie hat in diesem Zusammenhang die schöpferische und arterhaltende Seite der Natur ins Licht gerückt und hat Instinkte entdeckt, die dem inneren Geleit der Lebewesen dienen. Um diese Instinkte von der großen Menge der reinen Triebinstinkte zu unterscheiden, die sich auf die unmittelbare Wechselwirkung zwischen Lebewesen und Umgebung beziehen, kann man sie als Leitinstinkte bezeichnen.

Die Biologie teilt die vorhandenen Instinkte nach ihrer Zielrichtung in zwei Hauptgruppen ein: in Selbst- und Arterhaltungs­instinkte. Bei beiden Arten gibt es Kämpferisches in Verbindung mit vorübergehenden Episoden, die man fast ein Duell zwischen Individuum und Umwelt nennen könnte; und bei beiden auch Instinkte, die wahrhaft beständige Geleiter des Lebens und vornehmlich dessen Erhaltung zugewandt sind.

Bei den Selbsterhaltungsinstinkten z. B. gehört ins Gebiet des episodenhaften Kampfes der Instinkt der Abwehr von Ungünstigem oder Bedrohlichem.

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Unter den Arterhaltungsinstinkten ist von episodenhaftem Charakter etwa jener, der die Begegnung mit den anderen Lebewesen fördert, mag es sich nun um Vereinigung oder um geschlechtlichen Wettbewerb handeln. Dieses episodenhafte Element des Trieblebens wurde seiner heftigen und auffälligen Äußerungen wegen zuerst bemerkt und untersucht. Hernach erforschte man Selbst- und Arterhaltungsinstinkte auf ihre erhaltenden und beharrenden Eigentümlichkeiten hin.

Die Leitinstinkte, an die das Dasein in seiner großen kosmischen Funktion gebunden ist, sind weniger Reaktionen auf die Umwelt als feinstes innerliches Empfindungsvermögen, so wie das reine Denken eine völlig innerliche Qualität des Verstandes ist. Man könnte, wollte man mit dem Vergleich fortfahren, die Leitinstinkte jenen göttlichen Gedanken gleichsetzen, die im Innersten der lebendigen Wesen sich bilden und diese dazu bringen, auf die äußere Welt einzuwirken und sie zu verwirklichen. Die Leitinstinkte haben darum nicht den impulsiven Charakter der kämpferischen Episode, sondern den einer weisen Einsicht, die den Lebewesen auf ihrer Reise durch Zeit (Individuum) und Ewigkeit (Art) Geleiter ist.

Besondere Bewunderung verdienen die Leitinstinkte, wenn sie sich dem Geleit und Schutz des kindlichen Lebens, des Lebens in seinem Anfangsstadium, zuwenden: wenn das Lebewesen eben erst am Anfang seiner Existenz oder noch unreif ist, aber sich doch schon auf dem Weg zur vollen Entwicklung befindet, wenn es noch nicht die Eigentümlichkeiten der Art aufweist, noch nicht über die Kraft, die Widerstandsfähigkeit und die biologischen Waffen verfügt, die für den Kampf ums Dasein notwendig sind, wenn es noch keine Hoffnung auf den schließlichen Triumph, auf den Siegespreis des Überlebens haben kann. Hier wirkt der geleitende Instinkt wie eine Art Mütterlichkeit und zugleich wie eine Art Erziehung, beide geheimnisvoll, tiefinnerlich verborgen wie das Mysterium der Schöpfung" selbst. Er bringt, was wehrlos ist, was in sich selbst weder Kraft noch Vermögen hat, sich zu retten, in Sicherheit.

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 Einer dieser Leitinstinkte betrifft die Mutterschaft: Fahre und die modernen Biologen haben in ihren Werken diesen wundersamen Instinkt als den Schlüssel zum Fortbestehen des Lebens überhaupt dargestellt. Ein anderer Instinkt bezieht sich auf die Entwicklung des Individuums und wurde, was die sensiblen Perioden angeht, von dem holländischen Biologen De Vries beschrieben.

Der Mutterinstinkt ist nicht allein an die Mutter gebunden, wenn sie auch als unmittelbare Erzeugerin der Art an der Aufgabe des Schutzes den größten Anteil hat: er gehört vielmehr beiden Eltern an und vermag manchmal sogar eine ganze Gemeinschaft von Lebewesen zu beseelen.

Untersucht man das, was sich Mutterinstinkt nennt, des näheren. so erkennt man schließlich, daß es sich dabei um eine geheimnisvolle Kraft handelt, die sich nicht unbedingt auf lebendige Wesen beziehen muß, sondern als Schutz der Art auch ohne materielles Objekt bestehen kann, wie es in den Sprüchen Salomos heißt: "Ich war mit dir auf der Welt, bevor noch die Dinge waren."

Im allgemeinen bezeichnet man mit Mutterinstinkt den Arterhaltungsinstinkt. Es gibt auf diesem Gebiet einige Eigentümlichkeiten, die bei sämtlichen Arten von Lebewesen von ausschlaggebender Bedeutung sind, und das Überleben dieses Instinktes ist an die Aufopferung aller übrigen gebunden, die der Erwachsene in sich trägt. Das Raubtier vermag sich zu einer Sanftheit zu überwinden, die ganz und gar zu seiner Natur in Widerspruch steht; der Vogel, der sonst soviel unterwegs ist, sei es, um Nahrung zu suchen, sei es, um einer Gefahr zu entgehen, bleibt nun bei seinem Nest, hütet es und sucht, wenn Gefahren nahen, auf jede andere Weise Schutz, nur nicht in der Flucht. So ändern die der Art eingeborenen Instinkte überraschend ihren Charakter. Außerdem tritt nun bei vielen Arten ein Drang zur Arbeit, zum Aufbau in Erscheinung, etwas, das man niemals in diesen Lebewesen an und für sich antrifft; denn im erwachsenen Alter passen sie sich an die Natur an, wie sie sie eben finden.

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 Der neue Instinkt der Arterhaltung aber veranlaßt die Lebewesen zu konstruktiver Tätigkeit, die den Zweck hat, einen sicheren Unterschlupf für die Neugeborenen zu schaffen, und jede Art hat bei diesem Werk ihre ganz bestimmte Anweisung. Kein Lebewesen greift zum ersten besten Baustoff, den es findet, oder paßt sich beim Bauen dem betreffenden Ort an. Nein, da gibt es genau festgelegte Richtlinien.

Zum Beispiel wechselt bei den Vögeln die Weise des Nestbaus von Art zu Art. Bei den Insekten finden sich erstaunliche Beispiele von Bautätigkeit: so sind die Waben der Bienen Paläste mit vollkommen geometrischem Grundriß, zu deren Bau ein ganzes Volk beiträgt, um so für die neue Generation Behausungen zu schaffen. Es gibt jedoch auch noch andere Beispiele, die weniger augenfällig, aber äußerst aufschlußreich sind. Eines davon geben uns die Spinnen, die schon für sich selbst außergewöhnliche Baumeister sind und die ihren Feinden weitgespannte und dünne Netze zu legen verstehen. Mit einemmal aber ändert die Spinne völlig ihre Arbeitsweise: sie vergißt sowohl ihre Feinde wie ihre eigenen Anliegen und beginnt, einen kleinen Sack aus ganz frischem, hauchfeinem und dichtem Gewebe herzustellen, das ganz und gar undurchlässig ist. 

Oftmals hat dieses Säckchen doppelte Wände, die es an den feuchten und kalten Orten, wo manche Spinnenarten hausen, zu einem ausgezeichneten Unterschlupf machen. Also weise Anpassung an die Erfordernisse des Klimas. Und drinnen legt in Sicherheit die Spinne ihre Eier. Das Merkwürdigste aber ist, wie sehr die Spinne an diesem Säckchen hängt. Bei einigen Laboratoriumsversuchen hat man festgestellt, daß eben diese graue und klebrige Spinne, in deren Körper kein Herz zu finden ist, vor Schmerz zugrunde gehen kann, wenn sie sieht, daß ihr Säckchen zerstört ist.

Auch hat man beobachtet, wie die Spinne diesem ihrem Erzeugnis so verbunden bleibt, daß es geradezu zu einem Teil ihres Körpers zu werden scheint. Man kann also wohl sagen, daß sie es liebt. Nicht so aber

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ihre Eier und die fertigen Spinnchen, die schließlich daraus hervorkriechen. Ja, es will fast scheinen, als kümmere sie sich gar nicht um deren Vorhandensein. Der Instinkt hat also diese Mutter dazu geleitet, ein Werk für ihre Art auszuführen, ohne daß das lebendige Wesen dieser Art der unmittelbare Gegenstand dieser Tätigkeit ist. So kann es also auch einen "objektlosen Instinkt" geben, der unaufhaltsam in Tätigkeit tritt und gewissermaßen den Gehorsam einem inneren Befehl gegenüber bedeutet, der gebietet zu tun, was notwendig ist, und das zu lieben, was befohlen wurde.

Gewisse Schmetterlinge haben ihr ganzes Leben hindurch nur Blütennektar gesogen, keine andere Nahrung genossen und kein anderes Interesse gezeigt. Ist aber die Zeit der Vermehrung gekommen, so legen sie ihre Eier niemals auf die Blume. Sie haben in diesem Punkte eine andere Anweisung, also wandelt sich ihr Nahrungsinstinkt, der eine Angelegenheit des Individuums ist, und sie fühlen sich zu einer anderen Umwelt hingezogen, einer Umwelt, die der jungen Generation angepaßt ist, die andersgeartete Nahrung braucht. Aber der Schmetterling kennt diese Nährstoffe nicht, so wenig wie er die Art kennt, die von ihm ihren Ausgang nehmen wird. 

Er trägt vielmehr in sich ein Gebot der Natur, das seinem Wesen fremd ist. Das Marienwürmchen und andere ähnliche Insekten setzen ihre Eier niemals oben auf den Blättern ab, die hernach den jungen Larven zur Ernährung dienen, sondern stets auf der Unterseite, damit sie dort geschützt sind. Dieselbe "intelligente Überlegung" treffen aber auch noch zahlreiche andere Kerbtiere, die sich ebenfalls nie von den Blättern nähren, die sie für ihre Nachkommenschaft ausersehen haben Theoretisch "kennen" sie also das Kapitel der Ernährung ihrer Sprößlinge und "sehen auch die Gefahren voraus", die der Regen und die Sonne mit sich bringen.

Das erwachsene Lebewesen, dem es zukommt, das junge Leben zu beschützen, ändert also seine eigenen Charakterzüge und verwandelt sich, als sei der Augenblick gekommen, in dem das gewohnte Lebensgesetz durchbrochen wird in Erwartung eines großen Ereignisses der Natur.

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Hierin liegt ein Wunder der Schöpfung; und die Lebewesen vollziehen dann etwas, das nicht mehr der Akt des Lebens ist, sondern fast ein Ritual, in dessen Mitte dieses Wunder steht. Zum Großartigsten in der Natur gehört es, daß die Neugeborenen, denen es doch an jeglicher Erfahrung fehlt, das Vermögen besitzen, sich in der äußeren Welt zurechtzufinden und sich zu schützen, wobei sie in den sensiblen Perioden von besonderen Instinkten geführt werden. Diese Instinkte geleiten das Neugeborene durch die aufeinanderfolgenden Schwierigkeiten und verleihen dem kleinen Wesen von Zeit zu Zeit unwiderstehliche Triebkräfte. 

Es versteht sich, daß die Natur die Schutzmaßnahmen, deren sich das Neugeborene erfreut, nicht auch für den Erwachsenen bereit hat: sie hat in dieser Hinsicht ihre Richtlinien und sieht genauestens darauf, daß sie befolgt werden. Der Erwachsene darf nur innerhalb des Bezirks, in dem die Leitinstinkte der Arterhaltung am Werk sind, ein Mitwirkender sein. Und oftmals wirkt, wie wir es etwa bei den Fischen und den Insekten sehen, der Leitinstinkt des Erwachsenen unabhängig von dem des Jungen und der des Jungen unabhängig von dem des Erwachsenen, ohne daß sich Kind und Eltern im Leben begegnen. Bei den höheren Tieren wirken die Leitinstinkte der beiden Generationen harmonisch zusammen, und aus dem Zusammentreffen der mütterlichen Leitinstinkte mit den sensiblen Perioden des Neugeborenen entsteht die bewußte Liebe zwischen Eltern und Kind, oder es ergeben sich mütterliche Beziehungen, die sich über die gesamte organisierte Gesellschaft hin ausdehnen und der neugeborenen Nachkommenschaft eines ganzen Volkes gegenüber wirksam werden — etwa in den Insektenstaaten, bei den Bienen, Ameisen usw.

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Liebe und Opfersinn sind nicht Ursachen der Arterhaltung, sondern Auswirkungen des Leitinstinktes, dessen Wurzeln in die wunderbare Werkstätte der Schöpfung führen und an den sich das Fortleben sämtlicher Arten knüpft.

Das Gefühl erleichtert den Geschöpfen die Erfüllung der ihnen anvertrauten Aufgaben und verbindet mit der Anstrengung jene innere Freude, die etwa die Menschen verspüren, wenn sie den Gesetzen der Natur vollkommen gehorchen.

Wollte man die Welt der Erwachsenen in ein geschlossenes Bild fassen, so könnte man sagen: es wird in ihr zeitweise von den ihr eigentümlichen Gesetzen abgewichen, von den augenfälligsten Gesetzen der Natur, die man für unbedingt und unantastbar gehalten hätte. Ja, diese unantastbaren Gesetze werden durchbrochen, werden außer Kraft gesetzt, als hätten sie etwas Höherem stattzugeben und sich vor Tatsachen zu beugen, die ihnen ganz und gar zuwiderlaufen, als hätten sie vor jenen neuen Gesetzen zurückzutreten, die im kindlichen Leben der Art ans Licht gelangen. Dergestalt erhält sich das Leben: durch das Aussetzen des Gewohnten kann es sich erneuern und in Ewigkeit fortsetzen.

Nun könnte man fragen, in welcher Weise denn diese Gesetze der Natur auf den Menschen zutreffen. Im Menschen, so heißt es, bilden alle an den niederen Lebewesen beobachteten natürlichen Phänomene eine Synthese auf höherer Stufe. Und noch mehr: kraft des Vorrechts der Vernunft lasse er sie im vollen Glänze jenes seelischen Gewandes erscheinen, das aus Phantasie, Gefühl und Erfindungsgabe gewirkt ist.

Wie aber stellen sich bei der Menschheit jene beiden Lebensformen dar und unter welchen erhabenen Erscheinungen zeigen sie sich? Hier kann man von zwei Formen gar nicht sprechen. Schauen wir uns in der Welt des Menschen um, so müssen wir sagen, daß wir dort Kampf antreffen, Ringen um Anpassung, Mühsal des äußeren Lebens. Alles läuft dort auf Erwerb und Produktion hinaus, als gäbe es nichts anderes zu berücksichtigen. Die Kraft des Menschen zerstört und zerschlägt sich im Wettstreit.

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Betrachtet der Erwachsene das Kind, so tut er dies mit eben derselben Logik, die er auf sein eigenes Leben anwendet: er sieht im Kind ein von ihm verschiedenes und unbrauchbares Wesen und hält es von sich fern; oder aber er bezeichnet seine Anstrengungen, das Kind in seinen eigenen Lebenskreis unmittelbar hinüberzuziehen, als Erziehung. Und dabei handelt er so, wie (sofern dies je möglich wäre) ein Schmetterling handelte, wollte er den Kokon, in dem seine Puppe eingesponnen ist, zerreißen und diese damit zum Davonfliegen einladen, oder wie ein Frosch, der seine Kaulquappe aus dem Wasser ziehen, ihr unter Aufbietung aller Kräfte das Lungenatmen beibringen und ihr unschönes Schwarz in ein sympathischeres Grün umwandeln wollte.

Fast genau so macht es der Mensch mit seinen Kindern: der Erwachsene trägt vor ihnen seine Vollkommenheit zur Schau, seine Reife, und tritt als lebendiges historisches Vorbild auf, zu dessen Nachahmung er das Kind auffordert. Er denkt um keinen Preis daran, daß die Eigentümlichkeiten des Kindes, die von seinen eigenen sich so sehr unterscheiden, es eben auch notwendig machen, ihm eine andere Umwelt zu geben, ihm Lebensverhältnisse zu schaffen, die der andersartigen Existenzform des Kindes angepaßt sind.

Wie soll man nur erklären, daß sich eine so irrige Auffassung gerade beim höchsten, entwickeltsten und einzig vernunftbegabten Lebewesen findet, bei jenem Geschöpf, das machtvoll über seine Umwelt zu herrschen imstande und bei jeglicher Tätigkeit allen übrigen Geschöpfen himmelweit überlegen ist? Er, der Mensch, der Baumeister, der Schöpfer, der Verwandler der Umwelt, tut für sein Kind weniger als die Biene, weniger als ein Insekt, weniger als irgendein anderes Geschöpf. Wie geht es an, daß der Menschheit der wertvollste und wesentlichste Leitinstinkt des Lebens gänzlich fehlt und daß sie untätig und blind dem grund­legendsten Problem allen Lebens gegenübersteht, einem Problem, von dem der Fortbestand der Art abhängig ist?

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Der Mensch mußte etwas fühlen, das dem ähnlich wäre, was die anderen Lebewesen verspüren; denn in der Natur wandelt sich alles, nichts aber geht verloren, und vor allem sind unzerstörbar die Energien, die das Universum regieren: sie bestehen fort, auch wenn sie ihrem eigentlichen Ziel entfremdet werden. Baumeister Mensch, wo baust du das Nest für dein Kind? Alle Kunst, deren du fähig bist, müßtest du dabei aufwenden und sie durch nichts Äußeres verfälschen und versklaven lassen. Dort kann eine Regung selbstloser Liebe Reichtümer zusammentragen, die in der Welt der Produktion unausgenützt bleiben.

Es gibt Stätten, an denen der Mensch die Notwendigkeit fühlt, seine gewohnten Eigenarten abzulegen, wo er dessen innewird, daß für die Erhaltung des Lebens nicht der Kampf das Wesentliche ist, wo er, wie eine aus der Tiefe auf steigende Wahrheit, empfindet, daß das Geheimnis des Fortlebens nicht in der Überwältigung des Mitmenschen besteht, und wo ihm darum die Selbstentäußerung als das einzig Lebenspendende erscheint. Gibt es denn keine Stätte, wo die Seele danach trachtet, die eisernen Gesetze zu durchbrechen, die sie an die Welt der äußeren Dinge gefesselt halten? Gibt es denn nirgends das sehnsüchtige Suchen nach dem Wunder, das Bedürfnis, zu ihm seine Zuflucht zu nehmen, auf daß das Leben fortdaure? Gibt es kein Streben nach etwas jenseits des Individuellen, das weiter reicht, das sich in die Ewigkeit erstreckt, wo doch an diesem Weg die Erlösung läge, weil der Mensch das Bedürfnis verspürte, sein mühseliges Vernünfteln aufzugeben, und bereit wäre zum Glauben?

Dies alles sind Gefühle, die dann im Menschen emporsteigen müßten, wenn mit der Geburt seines Geschöpfes das Ereignis eintritt, das die anderen Lebewesen zur Aufhebung der gewohnten Gesetze und zur Selbstaufopferung führt, auf daß das Leben in die Ewigkeit einmünde. Ja, es gibt Stätten, wo der Mensch nicht mehr den Drang nach Erwerb, sondern nach Läuterung und Unschuld spürt und deshalb nach Schlichtheit und Frieden trachtet. In jenem unschuldvollen Frieden sucht der Mensch die Erneuerung seines Lebens, die Auferstehung aus der erdrückenden Welt.

Doch, es muß in der Menschheit erhabene Gefühle geben, verschieden von denen des alltäglichen Lebens, ja, ihnen entgegen­gesetzt. Sie sind die göttliche Stimme, die nichts zu ersticken vermag: und sie ruft die Menschen, ruft sie, auf daß sie sich zusammenscharen um das Kind.

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46   Das Kind — Unser Lehrmeister   

 

 

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Die Leitinstinkte des Menschen ins Licht zu rücken, ist in neuerer Zeit zu einem der wichtigsten Ziele der wissenschaftlichen Forschung geworden. Unser Beitrag war es, dazu aus dem Nichts heraus einen Anfang gemacht zu haben. Ein neues Forschungsgebiet ist auf getan, und die bis jetzt erzielten Ergebnisse zeigen, daß solche Instinkte existieren, und geben der Wissenschaft die ersten Hinweise für den Weg, den sie bei weiteren Untersuchungen einschlagen muß.

Die Untersuchung der Leitinstinkte ist nur bei normalen Kindern möglich, die völlig ungezwungen in einer Umgebung leben, die den Erfordernissen ihrer Entwicklung gerecht wird. Dann zeigt sich eine neue menschliche Natur, so klar und deutlich, daß man ihre Eigentümlichkeiten einfach als fraglose Realität hinnehmen muß.

Aus zahllosen Beobachtungen erhellt eine Wahrheit, die für zwei verschiedene Lebensgebiete von gleicher Wichtigkeit ist: für die Erziehung wie auch für die Organisation der menschlichen Gesellschaft. Es ist klar, daß bei Menschen, deren Art von der bisher als menschliche Natur bekannten abwiche, auch die Gesellschaft in anderer Weise aufgebaut sein müßte, und die Erziehung kann uns auch den Weg zeigen, auf dem sich die Normalisierung der Gesellschaft der erwachsenen Menschen erreichen ließe. Eine soziale Reform dieser Art kann nicht von einer Idee oder von der Energie einiger Organisatoren ausgehen, es muß sich vielmehr bei ihr langsam, aber stetig eine neue Welt inmitten der alten herausbilden: die Welt des Kindes und des Erwachsenen. Aus dieser Welt müßten dann allmählich die Erkenntnisse und die natürlichen Richtlinien hervorgehen, die zu einem normalen sozialen Leben notwendig sind. Es wäre absurd, wollte man annehmen, mit ideellen Reformen oder individuellen Energien ließe sich ein Hohlraum solchen Ausmaßes ausfüllen, wie er der Welt durch die Unterdrückung des Kindes entstanden ist. Dem Übel, das aus der immer weiter um sich greifenden "Anomalisierung" der menschlichen Seele entspringt, wird man nicht eher beikommen können, als bis die Kinder die Entwicklung nehmen können, die die Natur ihnen vorzeichnet, und nicht mehr in unheilbare Abwegigkeiten verfallen müssen.

Wieviel unbekannte Energie, die der Menschheit noch zugute kommen kann, steckt doch im Kind!

Es ist an der Zeit, wieder an jenem "Erkenne dich selbst!" anzuknüpfen, von dem damals die biologischen Wissenschaften ausgegangen sind, die zur Modernisierung der Medizin und der Gesundheitspflege beitrugen und damit die Zivilisation auf einen höheren Stand brachten, der durch die Vervollkommnung der physischen Hygiene gekennzeichnet wird.

Seelisch aber kennt der Mensch sich noch nicht. Die ersten aufs "Erkenne dich selbst!" im physischen Bereich abzielenden Untersuchungen wurden an Leichen vorgenommen, die ersten Seelenforschungen aber am lebendigen neugeborenen Menschen.

Ohne diese grundsätzlichen Erwägungen dürfte es wohl keinen Weg geben, der zum Erfolg führt und zur Aufrechterhaltung des Menschlichen in unserer Zivilisation, vielmehr würden die gesamten sozialen Fragen ungelöst bleiben, so wie auch die Probleme der modernen wissenschaftlichen Pädagogik ungelöst bleiben werden, weil es nur eine Grundlage für die Erziehung gibt:

die Normalisierung des Kindes. Das nämliche Verfahren müßte auch auf die erwachsene Menschheit angewandt werden, für die nur ein wirkliches Problem besteht: "Erkenne dich selbst!", d. h. Erkenntnis der geheimen Gesetze, denen die seelische Entfaltung des Menschen folgt. Das Kind aber hat dieses Problem schon gelöst, und ein gangbarer Weg hat sich gezeigt, und es läßt sich nicht erkennen, wie außerhalb dieses Weges eine Wendung zum Besseren möglich wäre.

Denn jegliches Gute kann in die Hände von Entgleisten geraten, die nach Einfluß und Macht streben, kann von ihnen zunichte gemacht werden, noch bevor es zur Anwendung gelangt ist, und kann sich so in eine Gefahr für die Menschheit verwandeln. Auf diese Weise vermag alles, was es an Gutem gibt — wie z. B. der Fortschritt und die Erfindung —, den schon vorhandenen Übelstand noch zu verschlimmern, wie das am deutlichsten die Maschine erwiesen hat, die für uns den greifbarsten aller sozialen Fortschritte bedeutet. Eine jede Erfindung, die zur Hebung des Lebens und zum Fortschritt beitragen kann, birgt in sich auch die Möglichkeit, für die Zerstörung, für den Krieg und für die Ausbeutung ausgenützt zu werden. Die Fortschritte der Chemie und der Biologie, die Verbesserung der Transportmittel haben die Gefahr der Zerstörung, des Elends, der Barbarei und Grausamkeit nur immer noch größer werden lassen. Deshalb haben wir von der äußeren Welt nichts zu erhoffen, bevor nicht erkannt ist, daß die grundlegendste Errungenschaft des sozialen Lebens die Normalisierung des Menschen sein müßte. Erst dann wird der äußere Fortschritt zum Wohlstand und zu einer vollkommeneren Zivilisation führen.

So müssen wir denn das Kind als schicksalhaft für unser Zukunftsleben ansehen. Wer immer für die menschliche Gesellschaft einen echten Vorteil erreichen will, der muß beim Kinde ansetzen, nicht nur, um es vor Abwegen zu bewahren, sondern auch, um das wirkliche Geheimnis unseres Lebens kennenzulernen. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, stellt sich die Gestalt des Kindes machtvoll und geheimnisreich dar, und wir müssen über sie nachsinnen, auf daß das Kind, welches das Geheimnis unserer Natur in sich birgt, unser Lehrmeister werde.

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47   Die Aufgabe der Eltern     

 

 

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Die Eltern sind die Wächter des Kindes, aber nicht seine Bauherren. Sie müssen es pflegen und beschützen im tiefsten Sinne dieser Worte, gleich einem, der eine heilige Aufgabe übernimmt, die über die Anliegen und Begriffe des äußeren Lebens hinausreicht. Die Eltern sind über-natürliche Wächter wie die Schutzengel, von denen die Religion spricht, und sie unterstehen ausschließlich und unmittelbar dem Gebot des Himmels, sind stärker als alle menschliche Autorität und mit dem Kind durch Bande vereint, die unlöslich sind, mögen sie auch unsichtbar sein. Zu solcher Aufgabe müssen die Eltern die Liebe, die von der Natur ihnen in die Seele gelegt wurde, läutern, und sie müssen verstehen, daß diese Liebe der bewußte Teil eines noch tieferen Gefühls ist, das nicht durch Egoismus oder Trägheit des Herzens verdorben werden darf. Die Eltern müssen mit Offenheit und Bereitschaft dem brennendsten Sozialproblem begegnen: ich meine den Kampf um die Anerkennung der Rechte des Kindes.

Viel ist in letzter Zeit von den Menschenrechten gesprochen worden, besonders vom Recht des Arbeiters; nun aber ist der Augenblick da, in dem von den sozialen Rechten des Kindes die Rede sein muß. Die Arbeitsfrage legte den Grund zu sozialen Veränderungen, lebt doch die Menschheit einzig und allein von der menschlichen Arbeit; also hing von der Lösung jenes Problems das materielle Leben der gesamten Menschheit ab. Wenn aber der Arbeiter das erzeugt, was der Mensch verbraucht — ein Hervorbringen äußerer Dinge —, so erzeugt das Kind nichts Geringeres als die Menschheit selbst, und darum verlangt die Rücksicht auf seine Rechte um so dringendere soziale Umgestaltungen. Es bedarf keines Hinweises, daß die Gesellschaft den Kindern die vollkommenste und weiseste Fürsorge angedeihen lassen müßte — denn sie sind es doch, von denen wir mehr Energie und größere Möglichkeiten für die Menschheit von morgen erhoffen.

Daß die Rechte des Kindes vergessen und mißachtet worden sind, daß man das Kind mißhandelt, ja zugrunde gerichtet hat, daß man auch weiterhin seinen Wert, seine Macht und seine Natur verkennt, dies alles sollte der Menschheit Anlaß zu ernsthafter Besinnung werden.

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48  Die Rechte des Kindes    

 

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Bis vor kurzer Zeit, genauer gesagt, bis zum Beginn dieses Jahrhunderts, hat sich die Gesellschaft überhaupt nicht um das Kind gesorgt. Sie ignorierte es und überließ seine Betreuung ausschließlich der Familie. Der einzige Schutz war für das Kind die väterliche Autorität, Überbleibsel römischer Rechtsgrundsätze, die zweitausend Jahre zurückreichen. In dieser langen Zeit hat die Zivilisation hinsichtlich der Erwachsenengesetzgebung erhebliche Fortschritte gemacht, ließ aber das Kind ohne alle soziale Verteidigung. Ihm standen nur die materiellen, moralischen und geistigen Hilfsquellen seiner Familie zur Verfügung. Waren keine vorhanden, so mußte das Kind eben in materieller, moralischer und geistiger Not dahinleben, ohne daß sich die Gesellschaft ihm gegenüber auch nur im entferntesten verantwortlich gefühlt hätte. Bis jetzt hat die Gesellschaft von der Familie, in der ein Kind geboren werden könnte, noch nie irgendeine Vorbereitung oder Garantie verlangt. Der Staat, der doch so streng in bezug auf amtliche Dokumente ist, der doch die kleinlichsten Formalitäten liebt, und alles, was auch nur einen Schimmer von sozialer Bedeutung hat, zu reglementieren pflegt, fragt nicht im geringsten nach den Fähigkeiten der künftigen Eltern und ist auch keineswegs darum bemüht, den Kindern in ihrer Entwicklung angemessenen Schutz zu gewähren. Ja, er vermittelt den Eltern nicht einmal Ratschläge oder angemessene Vorbereitungen.

Will einer eine Familie gründen, so genügt es, daß er sich beim Staat präsentiert und sich der einzigen Pflicht entledigt, die ihm in diesem Zusammenhang auferlegt ist: der ordnungsgemäßen Trauung. Im übrigen aber zeigt die Gesellschaft seit undenklichen Zeiten sich ganz und gar uninteressiert an den kleinen Werkleuten, denen die Natur die Aufgabe, die Menschheit aufzubauen, anvertraut hat. 

Während es beständig Fortschritte gab, die den Erwachsenen zugute kamen, blieben die Kinder vergessen, ausgestoßen wie Wesen, die gar nicht zur menschlichen Gesellschaft zählen und denen es an der Möglichkeit fehlt, sich Verständnis für ihre wahre Lage zu erwirken. Kinder konnten hingeopfert werden, ohne daß die Gesellschaft dessen innewurde; bis die Wissenschaft dies vor etwa einem halben Jahrhundert erkannte, als die Medizin sich für die Kinder zu interessieren begann. 

Damals waren die Kinder in der drückendsten Verlassenheit: es gab noch keine Kinderärzte und noch keine Kinderkrankenhäuser. Erst als die Statistiken in eindrucksvoller Weise zeigten, wie hoch die Sterblichkeitsquote im ersten Lebensjahr war, war man sehr beeindruckt. Man entdeckte, daß von den vielen Kindern, die aus den Ehen hervorgingen, nur wenige am Leben blieben. 

Daß Kinder starben, wurde als etwas Natürliches angesehen; die Familien waren daran gewöhnt, und man dachte dabei, Kinder stürben ja nicht wirklich, sondern flögen zum Himmel auf, und man nahm es gefaßt und ergeben hin, daß "Gott sich unter den Kindern solche aussuchte, die er als Engelchen bei sich haben wollte". So viele Kinder starben durch die Unwissenheit der Eltern und den Mangel an rechter Pflege, daß dieses Phänomen "der normale bethlehemitische Kindermord" genannt wurde.

Als das entdeckt war, setzten bald und vielerorts die verschiedensten organisierten Bemühungen ein, in dem Menschen ein neues Verantwortungsgefühl wachzurufen. Es genüge nicht, so wurde betont, daß die Eltern den Kindern das Leben schenken, es komme ihnen auch die Pflicht zu, dieses Leben mit den von der Wissenschaft empfohlenen Mitteln zu erhalten, sie mußten neue Bedingungen schaffen und eine Unterweisung in Fragen der Gesundheitspflege erhalten. Aber nicht nur im Kreise der Familie hatten die Kinder viel zu leiden; wissenschaftliche Untersuchungen, die in den Schulen vorgenommen wurden, führten zu weiteren eindrucksvollen Enthüllungen.

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Dies geschah im letzten Dezennium des vergangenen Jahrhunderts, in der nämlichen Zeit, in der die Medizin die Berufskrankheiten entdeckte und erforschte und die ersten Anfänge jener Sozialhygiene gemacht wurden, die dann zur tragfähigsten Grundlage für die soziale Besserstellung der Arbeiterschaft werden sollte. Es wurde damals auch festgestellt, daß neben den ansteckenden Krankheiten, an denen mangelhafte Hygiene schuld war, bei den Kindern Leiden auftraten, die von ihrer Arbeit herrührten.

Das ergab sich in den Schulen, wo die Kinder auf Befehl der menschlichen Gesellschaft pflichtmäßig Quälereien über sich ergehen lassen mußten. Die Schmalbrüstigkeit z. B., die zur Tuberkulose disponiert, kam daher, daß man die Kinder zwang, stundenlang in gebückter Haltung zu lesen und zu schreiben; überdies führte das zur Verbiegung der Wirbelsäule. Andererseits entstand durch fortgesetzte Arbeit bei schlechtem Licht Kurzsichtigkeit, und schließlich wurde der ganze Körper deformiert und verkümmerte geradezu durch den langen Aufenthalt in engen, überfüllten Räumen.

Aber die Quälerei war nicht nur physischer Art, sie erstreckte sich auch auf die geistige Arbeit. Das Lernen wurde zu einer drückenden Last, die Kinder schwankten zwischen Überdruß und Furcht hin und her und waren geistig übermüdet und nervös erschöpft. Sie waren träge, entmutigt, melancholisch, verdorben, ohne Selbstvertrauen und ohne alle kindliche Lebensfreude.

Das Elternhaus gab sich über all das keine Rechenschaft; ihm war nur angelegen, daß die Kinder ihre Prüfungen bestanden und möglichst schnell ihre Ausbildung abschlössen, damit Zeit und Geld gespart wurde. Nicht um die Bildung als solche war es dem Elternhaus zu tun, sondern nur darum, einer gesellschaftlichen Verpflichtung zu genügen, die im übrigen lästig war und Geld kostete. Es kam ausschließlich darauf an, daß das Kind so schnell wie möglich seinen sozialen Freibrief erhielt.

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Bei den Untersuchungen, die man damals in den Schulen vornahm, kamen aber noch weitere aufsehen­erregende Dinge an den Tag: viele Kinder waren, wenn sie in die Schule kamen, bereits müde, weil sie zuvor morgens hatten arbeiten müssen. Einige hatten Milch ausgetragen und dabei etliche Kilometer zurückgelegt, andere hatten auf der Straße Zeitungen verkauft oder hatten zu Hause gearbeitet, so daß sie hungrig und schläfrig in die Schule kamen und nurmehr eines wollten: ausruhen. Diese armen Kinder wurden dann vom Lehrer geprügelt, wenn sie nicht aufpaßten oder seine Ausführungen nicht verstanden.

Er, der nur an seine eigene Aufgabe und besonders an seine Autorität dachte, suchte durch Schimpfen Aufmerksamkeit, durch Drohen Gehorsam zu erwirken. Er stellte diese Kinder ihren Kameraden gegenüber als unfähig und willensschwach hin. So verlief das Leben dieser Ärmsten zwischen der Ausbeutung durch ihre Familien und der Bestrafung durch den Lehrer. So viel Ungerechtigkeiten kamen bei diesen ersten Ermittlungen heraus, daß ein wahrer Sturm der Entrüstung losbrach und die Schule in höchster Eile sich umstellte. Als neues und bedeutendes medizinisches Fachgebiet tat sich damals die Schulhygiene auf, die nun in allen zivilisierten Ländern auf das öffentliche Schulwesen wohltätigen Einfluß nimmt. Arzt und Lehrer arbeiten heute gemeinsam für das Wohl des Kindes, und die Gesellschaft bemüht sich, einen alten, lange unbewußt geblichenen Fehler auszugleichen: ein erster Schritt zur sozialen Befreiung des Kindes ist damit getan.

Schauen wir aber weiter zurück, so finden wir vor dem Zeitpunkt dieser heilsamen Besinnung in der ganzen Geschichte der Menschheit kein auffallendes Ereignis, das darauf hindeutet, daß man die Rechte des Kindes hätte anerkennen wollen oder seine Wichtigkeit geahnt hätte. Und doch hatte Christus, um den Erwachsenen den Weg zum Himmelreich zu zeigen und ihnen die Blindheit zu nehmen, einmal auf die Kinder hingewiesen: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich eingehen." 

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Der Erwachsene aber beschäftigte sich weiterhin nur damit, das Kind zu bekehren, und stellte sich ihm dabei als Vorbild hin. Und anscheinend ist diese schreckliche Blindheit des Erwachsenen ganz und gar unheilbar. Geheimnisse der Menschenseele! Diese Blindheit ist überall verbreitet, sie ist so alt wie die Menschheit selbst.

In allen pädagogischen Bestrebungen, ja in der ganzen Pädagogik war bis in unsere Tage hinein das Wort Erziehung fast immer gleichbedeutend mit Züchtigung, und Ziel der Erziehung war, das Kind dem Erwachsenen gefügig zu machen, dem Erwachsenen, der sich an die Stelle der Natur und seine Zwecke und seinen Willen an die Stelle der Gebote des Lebens setzt.

Jahrtausende vergingen, und die Dinge änderten sich nicht wesentlich. Bei den verschiedenen Völkern gab es verschiedene Züchtigungsarten. So wurden etwa in den Schulen den Kindern entweder Zettel mit entehrender Aufschrift umgehängt oder Eselsohren auf den Kopf gesetzt, oder man stellte sie regelrecht an den Pranger und ließ sie von den Vorübergehenden verhöhnen. 

Andere Strafen waren ausgesprochene körperliche Folterungen: etwa wenn ein Kind stundenlang, das Gesicht der Wand zugekehrt, in der Ecke stehen mußte, so daß es nichts sehen, sich mit nichts beschäftigen konnte, todmüde wurde und sich langweilte. Eine andere Strafe bestand darin, daß Kinder sich mit bloßen Knien auf den Boden niederlassen und so verharren mußten oder daß sie öffentlich geprügelt wurden.

Eine moderne Art von Grausamkeit verband sich mit dem Grundsatz, daß Schule und Elternhaus bei der Erziehung zusammen­wirken müssen: es kam nämlich dabei dann so, daß Schule und Elternhaus sich zum Quälen und Züchtigen des Kindes verbündeten. In der Schule bestraft, wird das Kind gezwungen, das zu Hause zu melden, damit der Vater sich der Züchtigung durch den Lehrer anschließt; das Kind muß anderntags in der Schule die Unterschrift seines Vaters vorweisen, als Beweis, daß Bericht erstattet, daß ein weiterer Strafvollstrecker informiert worden und grundsätzlich auf die Seite der Verfolger seines Sohnes getreten ist.

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In diesen Fällen gibt es keine mögliche Verteidigung. Bei welchem Tribunal könnte auch das Kind Berufung einlegen, wie dies sogar denen möglich ist, die eines Verbrechens wegen verurteilt wurden? Es gibt für das Kind keine Berufungsinstanz.

Und wo ist die Liebe, bei der es tröstliche Zuflucht fände? Sie existiert nicht. Schule und Elternhaus sind sich in der Bestrafung einig, denn sonst würde ja die Strafe nicht erzieherisch genug wirken.

Im übrigen hat das Elternhaus keine Erinnerung der Schule zur Bestrafung der Kinder nötig. Untersuchungen darüber — eine davon wurde durch das Institut des Völkerbunds für Erziehungsfragen angestellt — haben erwiesen, daß bis in unsere Tage hinein es kein Volk gibt, bei dem die Kinder nicht im Elternhaus gezüchtigt werden, sei es nun, daß man sie ausschimpft, schmäht, ohrfeigt, boxt oder daß man sie in dunkle Räume sperrt oder daß man ihnen jene harmlosen Vergnügungen entzieht, die den kleinen Sklaven den einzigen Ausgleich für so manche unbemerkt erduldete Qual bieten: so verbietet man ihnen, zusammen mit anderen Kindern zu sprechen oder enthält ihnen Obst und Süßigkeiten vor. Schließlich ist da auch das Zwangsfasten, das namentlich an den Abenden verhängt wird: "Jetzt geht es ohne Essen ins Bett!" Und die ganze Nacht hindurch ist dann der Schlaf unruhig vor lauter Hunger und Unbehagen.

Während bei den aufgeklärten und verantwortungsbewußten Familien die Gewohnheit der häuslichen Züchtigung in raschem Rückgang begriffen ist, besteht sie doch noch, und es glauben noch viele Erwachsene, daß unwirsches Benehmen und harter, stechender Ton den Kindern gegenüber das einzig Angebrachte seien. Der Erwachsene hält es eben für sein selbstverständliches Recht, das Kind zu züchtigen, und die Mutter bemüht sich, in der Verabreichung einer Ohrfeige ein Gebot der Pflicht zu sehen.

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Andererseits sind für Erwachsene die körperlichen Strafen abgeschafft, weil sie die Menschenwürde beleidigen und eine soziale Schande darstellen. Gibt es aber eine größere Gemeinheit, als ein Kind zu schmähen und zu schlagen?

Man sieht, das Gewissen der Menschheit liegt in tiefem Schlaf. Gegenwärtig geht der zivilisatorische Fortschritt keineswegs mit dem persönlichen Hand in Hand: er entspringt nicht der Flamme des menschlichen Geistes, er ist das Werk einer fühllosen Maschine, die von äußerer Kraft getrieben wird. Seine Triebkraft, eine ungeheure unpersönliche Macht, kommt aus der äußeren Welt, aus der Gesellschaft im ganzen, und die funktioniert unerbittlich. Immer vorwärts, immer geradeaus!

Die menschliche Gesellschaft ist wie ein ungeheurer Eisenbahnzug, der in schwindelndem Tempo einem entfernten Punkt entgegensaust, und die Individuen, aus denen sie besteht, lassen sich mit den eingenickten Reisenden in den einzelnen Abteilen vergleichen. Jener Schlaf des Gewissens ist das mächtigste Hindernis auf dem Weg zur besseren Lebensgestaltung, zur befreienden Wahrheit.

Wäre dieses Hindernis nicht, so könnte die Welt raschere Fortschritte machen; dann gäbe es auch nicht den gefährlichen Gegensatz zwischen der immer größer werdenden Geschwindigkeit der materiellen Transportmittel und der immer tiefer greifenden Erstarrung des menschlichen Geistes. Der erste Schritt, der bei jeder auf den kollektiven Fortschritt abzielenden Bewegung auch der schwierigste ist, besteht in der ungeheuerlichen Aufgabe, die eingeschlafene, empfindungslose Menschheit aufzurütteln, sie dazu zu zwingen, daß sie auf die mahnende Stimme hört. Es ist heute unerläßlich, daß die ganze menschliche Gesellschaft sich des Kindes und seiner Bedeutung erinnert, daß sie ihm schnellstens zu Hilfe kommt und es aus der großen, gefährlichen Leere herausholt. Diese Leere muß sich füllen, es muß eine kindgemäße Welt aufgebaut werden dadurch, daß man die sozialen Rechte des Kindes anerkennt.

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Das schlimmste Vergehen der menschlichen Gesellschaft ist, daß sie das Geld vergeudet, das sie ihren Kindern zugute kommen lassen müßte, ja, daß sie dieses Geld darauf verwendet, die Kinder und sich selbst zugrunde zu richten. Dem Kind gegenüber hat sich die Gesellschaft so verhalten wie ein Vormund, der ein Vermögen verschleudert, das nicht ihm, sondern seinen Mündeln gehört. Der Erwachsene verbraucht sein Geld für sich, wo doch offensichtlich ein gut Teil seines Reichtums für das Kind bestimmt sein müßte. Dies ist eine allem Leben innewohnende Wahrheit: die Tiere, und unter ihnen selbst die primitivsten Insekten, legen dafür ein Zeugnis ab. Warum speichern die Ameisen Nahrung auf? Warum suchen die Vögel Würmer und tragen sie zum Nest? In der Natur gibt es kein Beispiel von Erwachsenen, die alles selbst aufbrauchen und ihre Nachkommenschaft dem Elend preisgeben.

Für das Kind des Menschen aber wird nichts getan. Gerade zur Not noch bemüht man sich, ihm das vegetativ körperliche Dasein zu erhalten. Hat die verschwenderische menschliche Gesellschaft einmal äußersten Geldmangel, so entzieht sie den Schulen die Mittel, ganz besonders den Kindergärten, worin die Keime des menschlichen Lebens ihre Zuflucht finden, und sie entzieht das Geld da, wo nicht Stimmen sind, die sich verteidigen. Hierin liegt eine der verwerflichsten Ungerechtigkeiten der Menschheit und ihr absurdester Irrtum. Und dabei merkt die menschliche Gesellschaft nicht, daß sie sich eine doppelte Zerstörung zuschulden kommen läßt, wenn sie das so gewonnene Geld zum Bau von Vernichtungswerkzeugen verwendet: sie zerstört, indem sie Leben auslöscht, und sie zerstört, indem sie Leben nicht zuläßt. Beides zusammen bildet einen einzigen Irrtum; denn gerade weil sie nicht die Entfaltung des Lebens gefördert haben, werden die Menschen verkehrt aufwachsen.

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Und dann ist es nötig, daß sich die Erwachsenen neu zusammenschließen, diesmal nicht sich selbst, sondern ihren Kindern zuliebe, und daß sie die Stimme erheben für das Recht, das vor lauter herkömmlicher Blindheit nicht gesehen wird, das aber, wenn es sich einmal durchgesetzt hat, fragloses Gebot sein wird. Die menschliche Gesellschaft war ein ungetreuer Vormund, also muß sie dem Kind sein Gut zurückgeben und ihm Recht geschehen lassen.

Von größter Bedeutung ist die Aufgabe der Eltern; sie allein können und müssen ihre Kinder retten, denn sie haben die Möglichkeit, sich zusammenzuschließen und damit praktisch einen Einfluß auf das soziale Leben auszuüben. Ihr Gewissen muß die Größe der Aufgabe erkennen, die ihnen die Natur anvertraut hat, eine Aufgabe, die innerhalb der menschlichen Gesellschaft ihnen die erste Stelle zuweist, da ja in ihren Händen die Zukunft der Menschheit liegt. Handeln sie nicht so, so tun sie es Pilatus gleich.

Pilatus hätte Jesus retten können, aber er tat es nicht. Die Menge, die durch alte Vorurteile verhetzt und den geltenden Gesetzen und Bräuchen verhaftet war, verlangte den Tod des Heilands; und Pilatus blieb unentschieden, blieb untätig. "Was soll ich tun", sann er nach, "wenn dies die herrschenden Gebräuche sind?" Und er wusch sich die Hände.

Er hatte die Macht, zu sagen: "Nein, ich will nicht", aber er sagte nichts.

Und wie er handeln die Eltern von heute angesichts gesellschaftlicher Gepflogenheiten, die ja so mächtig sind und eine solche Notwendigkeit darstellen.

So wird die soziale Lage des Kindes zum Drama. Die menschliche Gesellschaft überläßt, bar allen Verantwortungsgefühls, das Kind der Fürsorge seines Elternhauses, dieses wiederum übergibt es der Gesellschaft, die es in eine Schule einsperrt und es jeder Kontrolle durch das Elternhaus entzieht. 

So wiederholt sich für das Kind die dramatische Lage, in der Christus war, als er von Herodes zu Pilatus und von diesem zu jenem gewiesen wurde, hin und hergeschoben zwischen zwei Gewalten, deren jede ihn der anderen überantworten wollte. Keine Stimme erhebt sich zur Verteidigung des Kindes, obschon eine Stimme da ist, die dies zu tun hätte, die Stimme des Blutes, jene, in der sich die Macht des Lebens äußert: die menschliche Autorität der Eltern.

Wenn das Gewissen der Eltern wach wird, so werden sie nicht wie Pilatus handeln, der dem Messias, um ihn zu verteidigen, die Göttlichkeit absprach, ihn geißeln ließ und ihn als erster erniedrigte, indem er sagte: Ecce homo! 

Dieser Vorgang wird von der Geschichte als erstes Ereignis auf Christi Leidensweg verzeichnet, und gewiß nicht als eine Verteidigung des Heilands.

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