1. Inoffizielle Mitarbeiter und ihre Führungsoffiziere
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Zwar finden sich in allen einschlägigen Richtlinien seit den fünfziger Jahren Definitionen, die Wesen und Tätigkeit des inoffiziellen Mitarbeiters beschreiben und charakterisieren, eine für die gesamte MfS-Geschichte gültige Definition gibt es jedoch nicht. Ein Grund dafür ist sicher, daß sich das Profil der IM mehrmals gewandelt hat.
Die Richtlinien enthalten gleichwohl bestimmte, durchgängig anzutreffende Aufforderungen: Stets wurde die Notwendigkeit der Konspiration: betont. Sie galt dem MfS als "Grundprinzip", gekennzeichnet durch "den Einsatz geheimer, dem Feind und der Öffentlichkeit gegenüber verborgener Kräfte, Mittel und Methoden, die Tarnung der politisch-operativen Pläne, Absichten und Maßnahmen" und durch "aktives und offensives Handeln zur Überraschung, Täuschung, Ablenkung, Desinformierung des Feindes".9
In den Richtlinien wird die Konspiration zumeist umschrieben mit "nichtöffentlich", "geheim" oder "inoffiziell". Die geheimdienstliche "Zusammenarbeit" wird als eine "spezifische Form" verstanden, die auf politischen oder materiellen Interessen basiere oder auch durch Erpressung zustande kommen könne. Hinter dem Begriff "Zusammenarbeit" verbarg sich faktisch die Instrumentalisierung des IM für die Ziele des MfS. Unter Verpflichtung zur inoffiziellen Arbeit verstand der Staatssicherheitsdienst eine schriftliche oder mündliche Willenserklärung des neu geworbenen IM, die anfangs als "Heranziehen zur Arbeit" bezeichnet wurde, später als "Verpflichtung", beides Begriffe, die den Vorgang aus der Perspektive des MfS benannten. Später bürgerte sich der Terminus "Erklärung zur Bereitschaft" ein, der glauben machen sollte, der IM habe sich zu dieser Tätigkeit ganz ohne Zutun des MfS entschlossen.
Die IM waren die geheime Verbindung zwischen dem Staatssicherheitsdienst und der Gesellschaft, sie hatten die "Hauptlast in der Auseinandersetzung mit dem Feind" zu tragen, waren mit ihm am "direktesten konfrontiert".10)
9) Konspiration, politisch-operative, in: Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur "politisch-operativen Arbeit", hrsg. vom BStU, Abt. Bildung und Forschung, Reihe A: Dokumente 1/93, Berlin 1993, S. 219f.
10) Werner Korth, Ferdinand Jonak und Karl-Otto Scharbert: Die Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter und ihre psychologischen Bedingungen. Dissertation an der Juristischen Hochschule des MfS Potsdam-Eiche (JHS); BStU, ZA, JHS 21826, Bl. 68.
In diesem Zusammenhang kamen dem IM-Netz verschiedene Funktionen zu, die in den Richtlinien unterschiedlich beschrieben und kategorisiert wurden. IM hatten Informationen zu beschaffen, "Feinde" zu bekämpfen, dabei mitzuhelfen, die Politik der SED-Führung durchzusetzen, und logistische Hilfestellung zu leisten. Den größten Anteil hatte quantitativ die Beschaffung von Informationen. Vor allem dieser Aspekt war gemeint, als Minister Ernst Wollweber die IM als "unsere Atmungsorgane" bezeichnete und hinzufügte: "Ohne diese Atmungsorgane können wir nicht leben und nicht arbeiten".11
Der Staatssicherheitsdienst ging bei der Sammlung von Informationen zielgerichtet vor und setzte die IM auf sogenannte Schwerpunkte an, von denen tatsächliche oder vermeintliche Gefahren für die SED-Herrschaft ausgingen oder nach Auffassung der Geheimpolizei ausgehen konnten. Diese Schwerpunktobjekte, -territorien, -bereiche oder -personen wurden allerdings im Laufe der Jahre so zahlreich, daß die geheimpolizeiliche Durchdringung tendenziell den Charakter einer "flächendeckenden Überwachung" annahm.
In diesem Sinne stellte Manfred Sauer als Vertreter des Ministerrates, gestützt auf eine Zuarbeit des MfS, am 15. Januar 1990 vor dem "Zentralen Runden Tisch" fest, daß es eine "flächendeckende Überwachung größerer Personenkreise und damit im Zusammenhang die Schaffung eines überdimensionierten Sicherheitsapparates" gegeben habe.12 Tatsächlich war die gesellschaftliche Durchdringung enorm: Auf hundert Einwohner der DDR kam in den achtziger Jahren durchschnittlich ein inoffizieller Mitarbeiter.
Die größte Bedeutung maß der Staatssicherheitsdienst der "Feindbekämpfung" bei. In der Richtlinie 1/79 wurden die IM sogar nur unter Bezug auf diesen Aspekt definiert: IM seien Personen, "mit denen wir gemeinsam den Feind aufzuspüren und zu bekämpfen" haben.13 Einige dieser inoffiziellen Mitarbeiter hatten unmittelbar auf bestimmte Personen Einfluß zu nehmen. Sie sollten politischen Vorgaben und Zielen zum Durchbruch verhelfen. So heißt es in der zitierten Richtlinie, die IM sollten verstärkt bei der Herbeiführung von Veränderungen mit "hoher gesellschaftlicher und politisch-operativer Nützlichkeit" mitwirken.14)
Außerdem sorgten inoffizielle Mitarbeiter für logistische Hilfestellungen, etwa durch Bereitstellung ihrer Wohnung für konspirative Treffen.
11) Schlußwort [Wollwebers] auf der Dienstkonferenz in der Bezirksverwaltung Halle am 15.5.1957; BStU, ZA, Sekretariat des Ministers (SdM) 1921, Bl, 364-378, hier 367; ähnlich: Referat [Wollwebers] auf der Dienstkonferenz in der Bezirksverwaltung Erfurt am 2.3.1957; BStU, ZA, SdM 1921, Bl. 387-403, hier 396.
12) Seit 1985 "flächendeckende" Überwachung angestrebt. Zwischenbericht über den Stand der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit, in: National-Zeitung vom 16.1.1990.
13) Dokument 10, S. 305.
14) Ebenda, S. 311.
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Zusammenfassend ergibt sich aus den genannten Merkmalen: Inoffizielle Mitarbeiter waren Personen, die mit dem Staatssicherheitsdienst in der Regel eine Vereinbarung getroffen hatten, konspirativ für ihn zu arbeiten. Zu ihren Aufgaben gehörten das Sammeln von Informationen, die Unterstützung bei der "Feindbekämpfung", die Einflußnahme auf gesellschaftliche Entwicklungen und logistische Hilfestellungen.
Wer wurde IM? Diese Frage kann im Rahmen dieser Einleitung nicht erschöpfend beantwortet werden, einige Hinweise sollen aber doch gegeben werden: In den achtziger Jahren war der durchschnittliche IM meist männlich und zwischen 25 und 40 Jahren alt. Der Anteil der Frauen und der Jugendlichen (bis 25 Jahre) lag bei zehn, der der Minderjährigen bei etwa einem Prozent. In der Regel hatte sich der IM schriftlich zur "Zusammenarbeit" verpflichtet, zumeist aus politischer Überzeugung und nur selten aus materiellen Interessen, da höhere Geldbeträge normalerweise nicht in Aussicht gestellt und auch nicht gezahlt wurden. Erpressung durch das MfS war nur in Ausnahmefällen der Grund für Kooperationsbereitschaft.
Etwa ein Drittel der IM war Mitglied der SED. Fast immer erfolgte die Auswahl der IM durch den Führungsoffizier; Personen, die sich selbst für Spitzeltätigkeiten anboten, wurden grundsätzlich nicht akzeptiert. Die "Zusammenarbeit" dauerte nicht selten vier bis sechs Jahre. Der Abbruch durch den Führungsoffizier geschah in der Mehrzahl der Fälle mangels "Perspektive" oder Eignung.
Etwa jeder Dritte hat den Werbungsversuch des Staatssicherheitsdienstes zurückgewiesen. Das war für den Betroffenen normalerweise folgenlos, genauso wie ein Abbruch der inoffiziellen Arbeit durch den IM. Am leichtesten gelang dies durch Dekonspiration: Der IM offenbarte sich gegenüber Dritten und berichtete davon dem Führungsoffizier.15
Die MfS-interne Bezeichnung der inoffiziellen Mitarbeiter unterlag einem Wandel. Seit Gründung des Staatssicherheitsdienstes im Februar 1950 gab es diesen Terminus zwar, aber bis etwa 1961 sprach man üblicherweise von "Agentur", ein Begriff, der einen einzelnen, aber auch mehrere inoffizielle Mitarbeiter bezeichnen konnte und in den fünfziger Jahren auch für "V-Leute" westlicher Nachrichtendienste verwendet wurde.16 Die Gesamtheit aller inoffiziellen Mitarbeiter des MfS figurierte bis etwa 1960 als "Informatorennetz", "Agenturnetz" oder nur als "Netz".17
15) Vgl. Helmut Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter - eine Skizze, in: Horch und Guck 4 (1995) 16, S. 1-16.
16) In den Richtlinien war "Agentur" ausschließlich negativ besetzt und wurde dort nur für die Gegenseite, die "Agenten" nichtsozialistischer Geheimdienste, benutzt. Beim Nachrichtendienst des Ministeriums für Nationale Verteidigung wurde diese Bezeichnung jedoch bis zuletzt beibehalten, er nannte seine IM "agenturische Mitarbeiter" (AM). Auch der später ausnahmslos mit einer negativen Konnotation versehene Begriff des "Agenten" bzw. der "West-Agentur" wurde in den fünfziger Jahren für die inoffiziellen Mitarbeiter des MfS im sogenannten Operationsgebiet verwendet. Das löste schon seinerzeit Unbehagen aus, wie einer Äußerung Wollwebers vom März 1956 zu entnehmen ist, für den der "Ausdruck ,Agent' nicht richtig" war; Protokoll der Dienstbesprechung in der Bezirksverwaltung Magdeburg am 7.3.1956; BStU, ZA, SdM 1921, Bl. 408-18, hier 418.
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Das Kürzel "IM" als Abkürzung für inoffizielle Mitarbeiter läßt sich in den ersten Jahren lediglich in den Akten finden, nicht in den Vorschriften. Mit der Richtlinie 1/68 wurde die Abkürzung verbindlich und zum Fachbegriff, was auch durch die Großschreibung zum Ausdruck kam. Im folgenden wird die Bezeichnung "inoffizieller Mitarbeiter" in Kleinschreibung als übergeordneter Begriff beibehalten, als Abkürzung durchgängig "IM" verwendet.18
Die Normen für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern wurden in Richtlinien festgelegt. Sie waren als formgebundene dienstliche Bestimmungen verbindlich für die Arbeit des MfS. Ihre genaue Kenntnis, exakte Anwendung und umfassende Durchsetzung galten als "Grundvoraussetzung" für die erfolgreiche Arbeit:
"Ausgehend von dem Charakter einer Richtlinie sind die enthaltenen konkreten Festlegungen in der Arbeit exakt zu erfüllen und durchzusetzen und gleichzeitig die orientierenden Gedanken durch eine qualifizierte Arbeit aller Vorgesetzten und Angehörigen im Interesse der ständigen Erhöhung der Qualität der gesamten Arbeit schöpferisch zu verwirklichen."19
Die IM-Richtlinien mußten speziell von den Führungsoffizieren beherrscht werden, deren "Hauptaufgabe" die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern war.20 Diese Offiziere – 1988 ungefähr 13.000 – stellten die Verbindung zwischen dem Apparat des MfS und den IM her.21
17) Mitte der fünfziger Jahre hieß es, da ein Teil der inoffiziellen Mitarbeiter als "Geheime Informatoren" (GI) bezeichnet wurden, vornehmlich "GI-Netz". Eine normative Regelung gab es erst ab 1958, als die Formulierung "Netz der inoffiziellen Mitarbeiter" verbindlich festgelegt wurde. In den sechziger Jahren wurde diese Bezeichnung lediglich für den eng umrissenen Funktionstyp jener IM verwandt, die selbst IM führten ("GHI-Netz", später "FIM-Netz"). Darüber hinaus hieß es "Apparat", was sich primär auf die hauptamtlichen, gelegentlich aber auch auf die inoffiziellen Mitarbeiter bezog. Überwiegend hieß es dann jedoch "GI-Apparat" oder "Gl-Bestand". Seit den sechziger Jahren etablierte sich die Bezeichnung "IM-Bestand", ab Mitte der siebziger Jahre auch "IM/GMS-Bestand". Gelegentlich wurden sie auch "inoffizielle Kräfte" oder "inoffizielle Basis", selten "inoffizielle Personen" genannt.
18) Die Kleinschreibung "inoffizielle Mitarbeiter" erfolgt in Anlehnung an die in der einschlägigen Fachliteratur üblichen Form für hauptamtliche Mitarbeiter; vgl. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 6); Hansjörg Geiger und Heinz Klinghardt: Stasiunterlagengesetz mit Erläuterungen für die Praxis, Köln 1993, S. 40f.; Johannes We-berling: Stasi-Unterlagen-Gesetz. Kommentar, Köln 1993, S. 33. Der Staatssicherheitsdienst faßte unter den großgeschriebenen "Inoffiziellen Mitarbeitern" lediglich bestimmte Funktionstypen zusammen.
19) Vorläufige Ordnung vom 25.2.1970 über den Erlaß von formgebundenen dienstlichen Bestimmungen im Ministerium für Staatssicherheit (Bestimmungsordnung); BStU, ZA, DSt 100612, o. Pag. [S. 7]. Nahezu identisch: Ordnung 1/80 vom 5.2.1980 über die formgebundenen dienstlichen Bestimmungen im Ministerium füi^_Staatssicherheit (Bestimmungsordnung); BStU, ZA, DSt 102637, o. Pag.
20) Vgl. Dienstordnung des Staatssekretariats für Staatssicherheit, o. D. [ca. 1954]; BStU, ZA, DSt 100935, o. Pag. [S. 9].
21) Vgl. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 6), S. 45.
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Die ihnen zugewiesenen Aufgaben blieben in der Geschichte des MfS nahezu konstant. In einer Forschungsarbeit des MfS heißt es dazu:
"Der operative Mitarbeiter hat die bedeutende Aufgabe, in seiner täglichen Arbeit ständig neue Kräfte für den Kampf gegen den Feind zu finden, sie allseitig zu prüfen und bei ihnen die Bereitschaft für eine Zusammenarbeit mit dem MfS zu entwickeln."22
Im einzelnen waren die "operativen Mitarbeiter" bzw. die Führungsoffiziere für eine Region oder Institution, für bestimmte Personenkreise oder spezifische Sachfragen zuständig.23 Für diesen "Verantwortungsbereich" mußten sie die Sicherheitslage beurteilen. Weiter sollten sie vorbeugend tätig werden, um durch die Rekrutierung und den Einsatz von inoffiziellen Mitarbeitern die staatliche Sicherheit zu gewährleisten und "Schaden" von der gesellschaftlichen Entwicklung abzuwehren. Sie sollten alles registrieren, was die staatliche Ordnung gefährden könnte, und verdächtige Personen in operativen Vorgängen (OV) oder operativen Personenkontrollen (OPK) "bearbeiten". Ebenso hatten sie Sicherheitsüberprüfungen und Ermittlungen durchzuführen. Darüber hinaus sollten sie mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, den sogenannten Partnern des politisch-operativen Zusammenwirkens (POZW), kooperieren.
Die MfS-Spitze tat viel dazu, die Führungsoffiziere mit einer besonderen Aura zu umgeben: Die inoffiziellen Mitarbeiter sollten in ihnen die "Verkörperung" des Staatssicherheitsdienstes sehen, sie als Vorbilder in "politischer, moralischer und charakterlicher Standfestigkeit und Klugheit" anerkennen. Von den Führungsoffizieren wurde die "ehrliche Achtung" der IM als "Kampfgefährten an der konspirativen Front" verlangt: Die "Liebe zur IM-Arbeit" sei die "wirkungsvollste tschekistische Waffe".24 Was damit gemeint war, erläuterte eine Ausarbeitung der SED-Kreisleitung des MfS aus dem Jahre 1984 mit den Worten:
"Der operative Mitarbeiter muß in seiner Gesamtpersönlichkeit auf den IM wirken. Da muß einfach alles stimmen, bis hin zum Äußeren. Er muß beständig Siegeszuversicht ausstrahlen und sie auf den IM übertragen. Er darf beim Treff keine Unsicherheiten und Schwankungen offenbaren. [...] Der operative Mitarbeiter muß es verstehen, die beständige politische Einflußnahme auf den IM so zu gestalten, daß sie ihm nicht vordergründig bewußt wird. [...] Stets muß die erforderliche Wachsamkeit an den Tag gelegt werden. Es darf beim Treff nicht fünf Minuten geben, in denen der Mitarbeiter die Übersicht verliert."25
22) Korth / Jonak und Scharbert: Die Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter (Anm. 10), Bl. 66.
23) Vgl. dazu und zum folgenden: Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG): Rahmenfunktionsplan für IM-führende Mitarbeiter, o. D. [ca. 1987]; BStU, ZA, Arbeitsgruppe des Ministers (AGM) 546, Bl. 82-86.
24) Korth / Jonak und Scharbert: Die Gewinnung Inoffizieller Mitarbeiter (Anm. 10), Bl. 68.
25) SED-Kreisleitung des MfS: Erfahrungen und Aufgaben der politisch-ideologischen und erzieherischen Arbeit mit IM-führenden Mitarbeitern, 23.8.1984; BStU, ZA., SED-Kreisleitung des MfS (SED-KL) 51, Bl. 1037-1048, hier 1046-1048.
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Die Wirklichkeit unterschied sich mitunter erheblich von diesem Idealbild: Das beginnt schon mit dem Umstand, daß eine kontinuierliche Zusammenarbeit, die eine Grundvoraussetzung für die geforderte Schaffung eines Vertrauensverhältnisses war, besonders in den Anfangsjahren wegen der häufigen Umsetzungen der Offiziere nicht möglich war. Hier forderten der schnelle Ausbau des Ministeriums sowie die rasche Veränderung operativer Probleme und politischer Zielvorgaben ihren Tribut. Später nahm diese Fluktuation zwar ab, doch in den Kreis- und Objektdienststellen blieb die "Kaderstabilität" auch dann noch Gegenstand der Besorgnis.26 Ein Problem bestand darin, daß mit dem Personalzuwachs viele junge Mitarbeiter zum MfS kamen.27 Sie standen in Konkurrenz zu den erfahreneren, älteren Führungsoffizieren, von denen sie angeleitet und kontrolliert werden sollten. Dazu blieb in der Praxis wegen wachsender Aufgaben und steigender Belastung oft zu wenig Zeit.
Hier zeigt sich ein Grundproblem dieser Großbürokratie: die Schwierigkeit, die eigenen Führungsoffiziere zu kontrollieren. Dies war aber eine zentrale Voraussetzung dafür, wenn man die inoffiziellen Mitarbeiter und über diese die Gesellschaft unter maximaler geheimdienstlicher Kontrolle halten wollte.
Umgekehrt lebten die Führungsoffiziere in der Versuchung, Normerfüllung auch da zu suggerieren, wo sie nicht stattgefunden hatte. Die geforderte Souveränität der Führungsoffiziere im Umgang mit inoffiziellen Mitarbeitern war zuweilen durch nicht hinreichende Qualifikationen in der Menschenführung belastet, zumal wenn die IM älter oder intellektuell überlegen waren.
Über das komplexe Verhältnis zwischen Führungsoffizier und IM wurde im MfS viel nachgedacht; die Rationalisierung der Arbeit, etwa durch die Minderung des administrativen Arbeitsaufwandes,28 war dabei nur ein Aspekt. Die meisten Reforminitiativen hatten freilich nur geringen Erfolg, denn enge Kontrolle war eines der wichtigsten Arbeitsprinzipien des Geheimdienstes.
Es muß weiterer Forschung überlassen bleiben, den Dienstalltag und die berufliche Praxis der Führungsoffiziere im Detail zu untersuchen.29
Die Bezeichnung "Führungsoffizier" war innerhalb des MfS ungebräuchlich,30 anfangs hießen sie "Sachbearbeiter" oder "(leitende) Mitarbeiter". Bereits 1954 tauchte mit "operativer Mitarbeiter" (OM) ein neuer Begriff auf, der dann in den IM-Richtlinien 1/58 und 1/68, aber auch noch danach als Terminus technicus verwendet wurde.
Anfang der siebziger Jahre führte Mielke den eher umständlichen Ausdruck "IM-führender Mitarbeiter" ein, der mit der Richtlinie 1/79 schließlich zum normativen Fachbegriff wurde. Mit der Bezeichnung sollte zwischen administrativen und IM-führenden MfS-Angehörigen unterschieden, zugleich für begriffliche Abgrenzung zum "V-Mann-Führer" bundesdeutscher Nachrichtendienste gesorgt und ein eher kollegiales Verhältnis suggeriert werden.31
Im folgenden wird der Begriff Führungsoffizier gebraucht. Er ist als Fachterminus in der wissenschaftlichen wie politischen Diskussion eingeführt und wird mittlerweile selbst von ehemaligen MfS-Mitarbeitern verwendet.32)
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26) In den fünfziger Jahren machte sich die Fluktuation für die Führungsoffiziere nachteilig bemerkbar und bedeutete zumeist die zusätzliche Übernahme von inoffiziellen Mitarbeitern. Mit der Fluktuation stieg zugleich der Arbeitsumfang, der sieh angesichts der Belastung auch in Mängeln in der Aktenführung oder unerledigten Aufgaben niederschlagen konnte.
27) Vgl. Gieseke: Hauptamtliche Mitarbeiter (Anm. 6).
28) Um Arbeit zu sparen, versuchten Führungsoffiziere sich Informationen auf dem offiziellen Wege zu beschaffen, indem sie Partei- oder Betriebsfunktionäre befragten, obwohl das zu jeder Zeit unerwünscht war. In den ersten Jahren wurde sogar die Verbindlichkeit von Befehlen und Anweisungen in Frage gestellt. Die vereinzelt zu geringe Arbeitsmoral war angesichts der überdurchschnittlich langen Arbeitszeiten nicht verwunderlich.
29) Zur Thematik liegen einige Berichte von ehemaligen Führungsoffizieren vor. Vgl.
Gisela Karau: Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des "Ministeriums für Staatssicherheit" der DDR, Frankfurt/M. 1992;
Lienhard Wawrzyn: Der Blaue. Das Spitzelsystem der DDR, Berlin 1991, S. 59-71;
Christina Wilkening: Staat im Staate. Auskünfte ehemaliger Stasi-Mitarbeiter, Berlin 1990;
Wanja Abramowski: Im Labyrinth der Macht. Innenansichten aus dem Stasi-Apparat, in: Bernd Florath, Armin Mitter und Stefan Wolle (Hrsg.): Die Ohnmacht der Allmächtigen. Geheimdienste und politische Polizei in der modernen Gesellschaft, Berlin 1992, S. 212-233.
Was das für die Rekrutierung von inoffiziellen Mitarbeitern und ihre Führung bedeutete, wird in dem Kapitel zum Rekrutierungsprozeß, S. 91-116, und dem zur Führung in der inoffiziellen Arbeit, S. 117-151, analysiert.30) Vgl. Rudolf Nitsche: Diplomat im besonderen Einsatz. Eine DDR-Biographie, Schkeuditz 1994, S. 42; Werner H., Jahrgang 1951, in: Karau: Stasiprotokolle (Anm. 29), S. 122-131, hier 122. Allerdings wurden die Führungsoffiziere von IM nicht selten auch als solche bezeichnet; vgl. BStU Potsdam, Archivierter IM-Vorgang (AIM) IV/643/89, Personalakte, Bd. I, Bl. 92 und 114
31) V-Mann-Führer, in: Das Wörterbuch der Staatssicherheit (Anm. 9), S. 417.
32) Vgl. Klaus Eichner: Ermittlungsverfahren, Anklagen, Verurteilungen - eine Dokumentation, in: Weißbuch 5. Unfrieden in Deutschland. Unrecht im Rechts-Staat. Strafrecht und Siegerjustiz im Beitrittsgebiet, Berlin 1995, S. 319-347, hier 320; Hans Eltgen: Ohne Chance. Erinnerungen eines HV A-Offiziers, Berlin 1995, S. 29; Dokument 15, S. 428, und Dokument 17, S. 473.
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