1. Vom Tier zum Menschen
§ 1
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Wenn wir den Weg des Menschen auf dieser Erde bis in seine Ursprünge zurückverfolgen, gelangen wir in eine Zeit, in der er keine Spuren hinterließ — außer seinen eigenen stummen Knochen und von diesen nur allzu wenige.
Vielleicht finden wir eines Tages auf dem Grunde eines verdunsteten Meeres oder in noch unerforschten Höhlen beredtere Zeugnisse des frühesten Menschen, doch es ist zweifelhaft, ob materielle Gegenstände, wie Knochen, Steine und Scherben, uns enthüllen können, was wir am dringlichsten zu wissen wünschen, nämlich, durch welche kühnen Gedanken und mutigen Taten, durch welche Erlebnisse und Träume der Mensch den Keim seiner eigenen Menschlichkeit entdeckte und zur Entfaltung brachte. Was uns an der Vergangenheit des Menschengeschlechts am meisten interessiert, wird wohl für immer Gegenstand der Spekulation und Phantasie bleiben.
Beunruhigt durch diese Ungewißheit, hat fast jedes Volk sich einen Mythos über seine Herkunft, sein Wesen und seine Bestimmung geschaffen, doch die Schöpfer dieser Mythen fragten meistens nur danach, wie sie Babylonier, Griechen, Juden, Römer oder Japaner und nicht, wann und wie sie Menschen wurden.
Da keine dieser alten Mythen unseren heutigen Erkenntnissen gerecht wird, will ich es unternehmen, einen Mythos zu schaffen, der dem Stand der modernen Wissenschaften besser entspricht, sich jedoch auch weiter in den Treibsand der Tatsachen vorwagt, als der Wissenschaftler, wenn er der von seinem Beruf gebotenen Vorsicht eingedenk bleibt, sich erlauben kann.
Dieser neue Mythos — das versteht sich von selbst — behauptet nicht, göttlicher Offenbarung zu entspringen, noch kann er in seinen frühen Anfängen auch bei großzügigster Betrachtung als beweisbare Wahrheit bezeichnet werden, doch in seiner spekulativen Unsicherheit und schillernden Vieldeutigkeit spiegelt er das Geheimnis der Wirklichkeit wider, die er deuten will.
Wo die Tatsachen jenseits aller Erkenntnis liegen, wird unser Mythos versuchen, sie durch Rückschlüsse von Bekanntem auf Unbekanntes zu rekonstruieren; gemäß der Tatsache, daß die historische Entwicklung des Menschen sich in der Geburt und der Reife jedes Individuums wiederholt.
Im Vergleich zu allen früheren hat sich der heutige Mythos vom Menschen in entscheidenden Punkten gewandelt. Wir fragen nicht mehr nach dem dramatischen Augenblick einer Schöpfung, die einen äußeren und allmächtigen Schöpfer voraussetzt. Die Ausdehnung der astronomischen und der geologischen Zeit hat die Notwendigkeit einer plötzlich und von außen wirkenden Macht immer mehr verringert; die Kraft, die uns geschaffen hat, ist unzertrennlich von dem langen Prozeß der Schöpfung selbst, in dem sie im Verlauf der Weltzeitalter langsam an Zweck und Richtung gewann, sich allmählich auf eine Idee festlegte und schließlich im Menschen den ersten Schimmer eines Selbstbewußtseins entwickelte.
Etwas von dem, was später als Leben und Geist identifiziert wurde, war vielleicht in jedem Stadium des kosmischen Werdeprozesses vorhanden, wenn es auch nur im Rückblick sichtbar wird. Gewiß hatten, lange bevor der Mensch auf den Plan trat, eine Unzahl von Organismen Formen angenommen und Wege gefunden, diese Formen zu erhalten und gemäß ihrer eigenen Natur und innerhalb des Lebenszyklus ihrer Art zu ändern, wie es ihre Umwelt und die zu ihrer Erhaltung notwendigen Partnerschaften mit anderen Organismen erforderten. Aus diesem kosmischen Gewebe ging der Mensch hervor, das Geschöpf, das es wagte, Schöpfer zu sein, und einen anderen Weg der Schöpfung fand als den der biologischen Metamorphose.
Der Mensch scheint von einer Gruppe affenähnlicher Primaten abzustammen, die auf Bäumen lebten, als ein großer Teil der Erde noch tropisches Klima besaß. An einem oder mehreren Orten, gleichzeitig oder zu verschiedenen Zeiten, machte dieses Geschöpf die ersten Schritte zur Menschwerdung hin. Eine Veränderung in seinem Stoffwechsel, eine Mutation in seinen Genen, ja, vielleicht ein innerer Impuls, stattete es mit einem relativ größeren Gehirn aus, als kaum eine Kreatur außer der Maus es besitzt, und des Menschen hartnäckiger Drang, etwas aus diesem Überhirn zu machen, veranlaßte ihn, seine lange, abenteuerliche Laufbahn anzutreten.
Diese Bereicherung befähigte den Menschen, in einer komplizierteren Welt zu leben, oder richtiger gesagt, die Schwierigkeiten und Möglichkeiten der wirklichen Welt zu erkennen, zu meistern und zu nutzen, denn sie initiierte die Entwicklung größerer manueller Geschicklichkeit, subtilerer Unterscheidung und komplexerer Koordinierung, höherer Empfindlichkeit gegenüber äußeren Anregungen und inneren Regungen, eines größeren Lernvermögens, eines besseren Gedächtnisses und weiterer Voraussicht, als je einer seiner Vorfahren besessen hatte.
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Die Übergröße des menschlichen Gehirns bedeutet vielleicht ein Faktum prinzipieller Natur, das den Menschen generell und wesentlich von seinen nächsten Artverwandten unterscheidet; sie stellt einen Überfluß an unverbrauchter, nicht für Ernährung, Fortpflanzung oder Verteidigung bestimmter Energie dar. Bei anderen Lebewesen wirkt sich überschüssige Lebenskraft in spielerischer Betätigung der Muskeln aus, im Menschen dagegen erzeugt sie einen steten, untergründigen Strom von Lauten, Bildern und Versuchs-Handlungen. Sein infantiles Interesse an seinem Körper und seinen Produkten zeitigt noch andere Äußerungen, obwohl sein Drang, zu blasen, zu brabbeln und zu summen, im Anfang keinen anderen Zweck hat als den mechanischer Betätigung. Arnold Gesell hat nachgewiesen, daß ein Säugling bereits zu konstruktiven Handlungen übergeht, indem er zum Beispiel ein Bauklötzchen auf das andere setzt, bevor ihn jemand dazu anleitet.
Kurz, der Rohstoff für Symbole und Gedanken-Neubildungen kommt aus dem Menschen selbst, und zwar nicht auf Grund äußeren Anstoßes, sondern als Produkt seiner eigenen Reife. Und es ist gewiß kein Zufall, daß der am wenigsten beherrschte Teil dieses Bewußtseinsstromes, der jedoch vielleicht der bedeutsamste, ja, die Quelle aller tieferen Bedeutung ist, aus dem Unbewußten aufsteigt. Von einzigartigem Nutzen für die Entwicklung des Menschen war seine Fähigkeit, diese spontan entstandenen Bilder und Symbole festzuhalten, sie zu konkretisieren und Erscheinungen der äußeren Welt einzuordnen.
Indem er seinen Verstand entwickelte, minderte der Mensch die Notwendigkeit anderer Formen organischer Spezialisierung. Wenn Karl Pearson das Gehirn des Menschen mit einer Telefonzentrale vergleicht, die ankommende und abgehende Gespräche vermittelt, berücksichtigte er nur einen Teil seiner Tätigkeit, denn das menschliche Hirn ist zugleich ein Kraftwerk, ein Warenlager, eine Bibliothek, ein Theater, ein Museum, Gericht und Regierungssitz. Der Instinkt-Apparat der meisten Arten genügt zu ihrer Erhaltung. Indem er die höchste Autorität einem kontrollierenden Verstand übertrug, hat der Mensch manchmal sein Überleben gefährdet, doch eröffnete er sich die Möglichkeit der Höherentwicklung.
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Die Natur hat, wie Dr. Walter Cannon es ausdrückte, bei der Schaffung des Menschen und seiner Vorfahren das Prinzip der "Vorrats-Wirtschaft" angewandt; dies erklärt den Überschuß an Energie, die für Notfälle gespeichert wird, und die Ausstattung mit paarigen Organen, wie den Augen, Ohren, Lungen, Nieren, Brüsten, Hoden, von denen das eine bei Ausfall des anderen dessen Funktion mitübernehmen und so den Organismus am Leben erhalten kann. Doch diese Großzügigkeit tritt noch deutlicher zutage im Zentralnervensystem des Menschen; lange bevor der Mensch an zehn Fingern zählen konnte, hatte er genug Hirnzellen zur Verfügung, das Denkvermögen eines Aristoteles oder eines Ibn Chaldun, die Weisheit eines Konfutse oder eines Jesaja, die Phantasie eines Plato oder eines Dante zu ermöglichen. Diese Klugheit des Körpers sollte auch im Leben des Menschen unserer Zeit Anwendung finden; denn Vorrats-Wirtschaft bedeutet nicht Verpflichtung zum Verbrauch, sondern Bereitschaft zur Produktion.
Die unmittelbaren Vorfahren des Menschen gingen diesen Weg der Entwicklung nur bis zur Hälfte, der Mensch vollendete ihn. Doch die Fähigkeit, auf zwei Füßen zu gehen, erwarb der Mensch so spät, daß sie nie Bestandteil organischer Vererbung wurde; er muß das Laufen immer noch, etwa zu Beginn seines zweiten Lebensjahres, erlernen, und etwa um die gleiche Zeit fügt er seinem tierischen Vokabularium von Zeichen, Gesten und unartikulierten Lauten einen weiteren menschlichen Zug hinzu, die Nachahmung von Lautgebilden und den Gebrauch von Worten, die dazu dienen, seine Gefühle und Gedanken auszudrücken. Worte legen die Assoziationen des Menschen fest und vermehren sie. Ohne Worte könnte er auf Umwelteinflüsse und Außenreize reagieren, doch er könnte seine Umgebung nicht zu einer Welt erweitern, die weit über seinen unmittelbaren Sicht- und Hörbereich hinausgeht.
Mit diesen beiden hervorragenden Leistungen des Menschen ist eine Tatsache kausal verbunden, die John Fiske vielleicht als erster Beobachter in ihrer vollen Bedeutung würdigte, nämlich die von mütterlicher Nachsicht geduldete, wenn nicht gar geförderte, lange Kindheit des Menschen. In gewissem Sinne ist der Mensch ein Lebewesen mit verzögerter Entwicklung, denn die Zeitspanne zwischen seiner Geburt und seiner Reife, dem Zeitpunkt, da er paarungsfähig wird, ist relativ länger als bei den meisten anderen Spezies. In dem Alter, in dem der Mensch alt genug wird, seine Art fortzupflanzen, schickt man ein Pferd bereits auf die Weide, um es dort sein Gnadenbrot fressen zu lassen.
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Die Freiheit von Erwachsenen-Pflichten ermutigte jedoch die innere Entwicklung; dank seiner verlängerten Kindheit fand der Mensch Zeit zum Spielen und Experimentieren, Zeit zum Lernen, Zeit, nicht nur seine unmittelbare Umgebung in sich aufzunehmen, sondern auch die gesammelten Erfahrungen seiner Art zu übernehmen und zu verarbeiten, Zeit, im Traum den Weg in eine ferne Zukunft abzutasten. Dem Druck des Überlebenmüssens enthoben, hatte er Muße zur Selbstentfaltung. Diese Merkmale unterscheiden selbst den primitiven Menschen von seinen nächsten tierischen Verwandten.
Die vollkommene Hilflosigkeit des Neugeborenen hatte eine verlängerte Periode der Brustfütterung zur Folge, und dies verstärkte den allen Säugetieren eigenen Hang zur Zärtlichkeit. Außerdem brachte das schützende Haarkleid der Affen, besonders beim Weibchen, einen intimeren und angenehmen Kontakt zwischen der Mutter und ihrem Jungen, nicht zu reden von ihrem Männchen, mit sich. Brüste und Lippen wurden Medien erotischer Anziehung, und aus dieser Genuß bringenden Assoziation entstanden allgemeinere Funktionen der Ernährung, des Schutzes und der Anhänglichkeit. Die Ausdehnung der Periode der elterlichen Fürsorge und der kindlichen Verantwortungsfreiheit begünstigten die Verspieltheit, und das Spiel wurde der früheste Ausdruck menschlicher Freiheit.
Im reinen Spiel und in der Verstellung mag der Mensch seine ersten größeren Fortschritte in der Kultur gemacht haben, vornehmlich durch die Entwicklung der menschlichen Sprache, die bedeutsamer ist als alle anderen praktischen Betätigungen oder Erfindungen. Den Gebrauch von Werkzeugen, die zugleich seine praktische Intelligenz schärften, erlernte der Mensch früh, doch der Übergang vom Tier zum Menschen ist vielleicht noch stärker gefördert worden durch sein reiches Gefühlsleben, das, bewegt von Liebe, Haß, Angst, Furcht, Freude und Schmerz, nach Ausdruck und Mitteilung verlangte. Viele Insektenarten haben den Menschen in der Fertigkeit des Bauens und Organisierens überholt, doch keine andere Kreatur zeigt auch nur die geringste Fähigkeit, Kunstwerke von Dauer zu schaffen. Es war nicht allein das von Prometheus gestohlene und auf die Erde gebrachte Feuer, sondern auch die ihm von Orpheus geschenkte Musik, die den Menschen zu einem von seinem Ur-Selbst so verschiedenen Geschöpf machte.
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Zu seiner Verspieltheit und Fähigkeit, Kunstwerke zu schaffen, trat ein weiterer Zug, der den Menschen von seinen tierischen Verwandten absonderte, nämlich sein Hang, die Menschen seiner Umgebung nachzuahmen und ihnen nachzueifern, zu lächeln, wenn sie lächeln, traurig zu sein, wenn sie es waren, ihre Gesten zu wiederholen, die gleichen Laute wie sie hervorzubringen. Selbst wenn kein unmittelbarer Grund vorhanden ist, kann sein Gedächtnis den Menschen veranlassen, an ein angenehmes Ereignis zu denken und es im Spiel zu wiederholen; denn die Wiederholung selbst verschafft ihm ein Gefühl der Befriedigung und Sicherheit, wovon die Liebe des Kindes zu ritenähnlichen Handlungen zeugt und die Hartnäckigkeit, mit der es verlangt, daß man ihm eine vertraute Geschichte mit allen Details immer wieder erzählt.
Der Hang zur Nachahmung, die Anlage zur Verstellung, die Gewohnheit, über eine befriedigende Erfahrung nachzudenken und sie in ein sinnvolles Schema einzupassen, diese Eigenschaften scheinen mir entscheidende Faktoren in der Entwicklung des spezifisch Menschlichen zu sein; sie waren Mittel, durch die sich der Mensch aus seinen organischen Beschränkungen befreite und sich von dem allzu langsamen Prozeß der biologischen Veränderung emanzipierte. Durch tägliche Übung erwarb er eine »zweite Natur«, die wir heute Kultur nennen und die durch Nachahmung und Brauch übermittelt und erhalten wurde. Diese Kultur wurde für ihn natürlicher und wesentlicher als sein ursprünglicher Habitus, denn sie umfaßte nicht nur das, was er war und ist, sondern auch das, was er liebt und bewundert und zu sein wünscht. Von allen Erfindungen, die der Mensch gemacht hat, scheint seine erste, die der Emanzipation vom Organischen, zweifellos die wichtigste zu sein, denn sie bereitete den Weg zur freien Entfaltung der Intelligenz, lange bevor der Verstand sich weitere Werkzeuge zu seiner Vervollkommnung schuf.
Die ersten Schritte des Menschen auf dem Weg zur Kultur waren zweifellos die schwersten, so wie die Pfennige, die den Grundstock zu einem Vermögen legen sollen, am schwersten zu erwerben sind. Heute ist die menschliche Kultur in der äußeren Welt weithin sichtbar geworden in Gestalt von Gebäuden und Städten, in Institutionen und gedruckten Zeugnissen, doch für lange Zeit wurde ihr größter Teil im Verstand bewahrt und durch Gesten und durch mündliche Worte weitervermittelt. Die Armut an Zahlen, materiellen Ausdrucksmitteln und Symbolen hemmte die weitere Entwicklung, und lange Zeit war des Menschen Mühen nur darauf gerichtet, das Wenige, das er erworben hatte, festzuhalten. Nachdem die ersten Schritte getan waren, muß die Verwirklichung des spezifisch Menschlichen durch den Menschen häufig durch Rückfälle in seine rein tierische Vergangenheit unterbrochen worden sein.
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Selbst heute noch führen Unvernunft und Gewalttat zu dem gleichen Resultat. Wird es dem Menschen mit seinen neuen Möglichkeiten und Aussichten gelingen, seinen abenteuerlichen Weg fortzusetzen, oder wird er zurücksinken in dumpfe Animalität? Zu Beginn seines Aufstiegs mag diese Frage oft des Menschen tiefste Angst aufgewühlt haben.
Unser Zeitalter sollte mehr als alle vorangegangenen die Dringlichkeit dieser Frage begreifen. Denn heute ist die Menschheit bedroht durch die Möglichkeit des Rückfalls in eine Barbarei, elementarer als alles, was aus historischen Zeiten bekanntgeworden ist. Obwohl Kultur die Tendenz stetigen Wachsens besitzt, muß jede Generation, die sie übernimmt, von vorn anfangen. Ohne elterliche Liebe, ohne kindliche Verehrung, ohne das Gefühl einer gesicherten Zukunft kann jeder Versuch, menschlich zu werden, mißlingen. Weil sie zu großes Vertrauen in Technik und Automation setzt, hat unsere Generation begonnen, das Geheimnis der Verwirklichung der Menschlichkeit zu verlieren, da sie sich zu wenig um die Voraussetzungen kümmert, die jedes Glied der Gemeinschaft empfindsam, rücksichtsvoll, schöpferisch, moralisch, selbstbewußt machen und es befähigen, menschlichen Idealen zu folgen und idealen Vorbildern der Menschlichkeit nachzueifern.
Zu seinem Glück war der primitive Mensch nicht wie wir eingeschüchtert durch die kalte Perfektion der Maschine, noch erschien ihm das Universum selbst als Maschine. Und zu seinem größten Glück vielleicht war eines der ersten Objekte seiner Liebe er selbst; in der Tat, ohne seine übermäßige Eitelkeit und Eigenliebe hätte der Mensch vielleicht nie den Weg erkundet, der ihn über seine ursprüngliche ausschließliche Sorge um Selbsterhaltung und Fortpflanzung hinausführte. Es ist vielleicht kein Zufall, das Narzißmus — die Verliebtheit in das Bild des eigenen Körpers und die ausschließliche Beschäftigung mit den eigenen Vorzügen und Wünschen — immer noch den Übergang von der Jugendlichkeit zur Reife kennzeichnet. Wenn in der Reife übertriebener Stolz oft vor dem Fall kommt, so kamen im Anfang seiner Entwicklung Stolz und Eitelkeit vor des Menschen Aufstieg und trieben ihn zu größerem Eifer an. Wenn der Mensch seine Selbstachtung verliert, erscheint ihm auch die Welt verächtlich und hassenswert.
§ 2
Gab es vielleicht noch andere, tiefere Gründe, die zur Emanzipierung des Menschen von seiner ursprünglich rein tierischen Natur führten? Seinen Geselligkeitstrieb, seinen Betätigungsdrang, seine konstruktiven Neigungen, seine erotische Anhänglichkeit, sein Verlangen nach häuslicher Partnerschaft und Fürsorge teilt der Mensch mit vielen anderen Arten.
Es gibt jedoch zwei Wesenszüge, die andere Arten in geringem Maße mit dem Menschen gemein haben, die aber in ihrem Verhalten keine Spuren hinterlassen, während sie das Leben des Menschen in allen Aspekten sichtbar beeinflussen; sie zeigen ihre Wirkung in der gesamten Geschichte des Menschen und wahrscheinlich auch in seiner Vorgeschichte, wenn auch zum größeren Teil historisch nicht belegt und unbelegbar; der eine ist die Fähigkeit zu träumen und vor allem, Produkte der Einbildung in greifbare Realität zu verwandeln, der andere das Gefühl der von Angst nicht freien ehrfürchtigen Scheu vor Kräften, die das menschliche Begriffsvermögen übersteigen.
Der Mensch verbringt einen nicht geringen Teil seines Lebens in bewußter Gegenwart des Unbewußten und Unbekannten; er ist offenbar das einzige Geschöpf, dem je der Gedanke kam, daß in der Natur mehr steckt, als sie dem Auge zeigt. Indem es seine spezifisch menschlichen Fähigkeiten erschloß, hat das Unbekannte, ja, das Unerkennbare, sich für den Menschen als ein stärkerer Entwicklungsanreiz erwiesen als das Bekannte, während das nur ihm eigene Vorwissen um seinen Tod sein Leben um eine geheimnisvolle Dimension bereicherte, die ihn hinausführte über das dumpfe tierische Erdulden dieser letzten Erfahrung. Unendlichkeit, Ewigkeit, Unsterblichkeit, Allwissenheit, Allmacht, Göttlichkeit, nicht zu reden von Null und der Quadratwurzel aus Minus-eins, haben keine Gegenstücke in der Erlebniswelt des Tieres.
Wenn die konstruktive Verwendung von Träumen den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet, dann hat diese Fähigkeit vielleicht einen größeren Teil der Aufmerksamkeit und des Interesses des frühen Menschen beansprucht, als man auf Grund vernunftmäßiger Überlegungen annehmen kann. In der Tiefe der menschlichen Persönlichkeit sind das Unbewußte und das Übernatürliche vereint in der Form von dynamischen Bildern, die aller menschlichen Erfahrung widersprechen; Dämonen, Ungeheuer, Drachen, Engel, Götter ergreifen Besitz von dem Träumenden und werden in seiner Vorstellung wirklicher als die reale Welt, in die er verwirrt zurückkehrt.
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Mit diesen übermächtigen Vorstellungen, die unabhängig und autonom und manchmal im hellen Tageslicht ebenso lebendig sind wie im Schlaf, drang der Mensch weiter vor in Richtung der Emanzipation vom Tier und der Hinwendung zum Übermenschlichen und Göttlichen.
Das Gefühl seiner kosmischen Einsamkeit mag den Frühmenschen vom Menschenaffen distanziert haben, lange bevor er Worte fand, dieses Gefühl auszudrücken, doch aus ihm entwickelte sich unter dem Zwang der Symbole des Unbewußten das Bewußtsein, von Mächten und Kräften begünstigt zu sein, die scheinbar außerhalb seines Wesens lagen, von Kräften, die ihn durch seine Geschlechtlichkeit mit den tiefsten Quellen des Lebens verbanden. Diese schmeichelhafte Vorstellung mag alles Denken und Tun des Menschen begleitet haben wie eine fixe Idee. So vollzog sich die Selbstbewußtwerdung des Menschen in dem üppigen Klima des Übernatürlichen, in dem seine Phantasie reiche Nahrung fand für seinen Hang, den teuersten Gegenstand seiner Liebe, sich selbst, zu überschätzen.
Diese Phase der menschlichen Entwicklung muß allem vorausgegangen sein, was Religion genannt werden kann. Im Anfang war das mysterium tremendum, das fürchterliche Geheimnis, unergründlich, unkontrollierbar, unbeschreibbar, die Quelle von Licht und Finsternis, Wärme und Kälte, Lust und Schmerz, Leben und Tod, noch nicht unterschieden in Natur, Mensch und Gott. Der Mensch lernte es, mit diesem Geheimnis zu leben und es allmählich zu objektivieren, indem er das Unbekannte durch Symbole veranschaulichte, die sich aller rationalen Erklärung entzogen. Gewiß, auch andere Lebewesen scheinen manchmal kosmische Empfindungen zu zeigen; Wölfe heulen den Mond an, Elefanten vollziehen rätselhafte nächtliche Zeremonien, Schimpansen werden scheu in Gegenwart des Unheimlichen, sei es auch nur in Gestalt eines aus Lumpen und Knöpfen gefertigten Eselskopfes. Doch im Menschen begleitete das Gefühl des Wunders und des Geheimnisses die ersten Regungen des Selbstbewußtseins und hat vielleicht mehr als seine praktische Intelligenz dazu beigetragen, ihn aus der Sphäre des Tierischen zu erheben.
In einem späteren Stadium finden wir Versuche, diese Vorstellungen vom geheimnisvollen Unbekannten verständlich und begreifbar zu machen durch rituale Zeremonien und abstrakte Kunstformen, die jedoch der Bildung von Dogmen und Moralgesetzen, vielleicht sogar der Entstehung der Sprache vorangingen.
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Aus dieser kosmischen Angst und Ehrfurcht, in der Selbsterniedrigung und Selbstüberhebung beide eine Rolle spielen, entstand das Gefühl des Heiligen, das im Bereich des rein Tierischen kein Equivalent hat, das Gefühl für die Heiligkeit des Blutes und des Geburtsvorganges, die Heiligkeit des Geschlechts, die Heiligkeit des Wortes, schließlich das Gefühl für die Heiligkeit des Todes und mit ihm der Impuls, für die Leiber der Toten zu sorgen und sich Gedanken zu machen über ihre Weiterexistenz.
Diese Hinwendung des Menschen zum Unbekannten, die Erweiterung seiner Umgebung in Bereiche von Zeit und Raum, die jenseits seiner animalischen Bedürfnisse und Fähigkeiten lagen, seine Versuche, dem flüchtigen Augenblick dauernden Wert und tiefere Bedeutung zu verleihen, all dies ist vom Standpunkt der Selbsterhaltung und praktischen Nützlichkeit ein Abweg. Und dennoch halten wir mit der frühen Abwendung des Menschen von der gefühlsmäßigen animalischen Anpassung an seine sichtbare Umgebung einen Schlüssel, vielleicht einen der Hauptschlüssel zu dem in der Hand, was wahrhaft menschlich ist. Durch dieses Verhalten setzt sich der Mensch gefahrvollen Illusionen und Selbsttäuschungen aus, die ihn manchmal über die Grenzen gesunder Vernunft hinaustragen. Doch gerade durch seine Bereitschaft zur ungehemmten Phantasie über das Hier und Jetzt hinaus dringt er in Bereiche des Seins und seines Sinnes ein, die jeder anderen Kreatur verschlossen zu sein scheinen.
Die andere Quelle der Menschlichkeit des Menschen war seine Fähigkeit zu träumen, denn sie ist das nach vorwärts gerichtete Gegenstück zum Gedächtnis. Wahrscheinlich seiner kosmischen Angst entsprungen, übernahm der Traum später eine positive Funktion, er wurde das große Instrument des Vorausdenkens, des Erfindens, des Planens, der schöpferischen Verwandlung. Die im Wachzustand aufgenommenen äußeren Eindrücke, die noch lange nachwirken, nachdem die Reize erloschen sind, durchfluten während des Schlafes als autonome Bilder das äußeren Einflüssen abgekehrte Traumbewußtsein des Menschen.
Die reale Außenwelt liefert das Material für diese Bilder, doch unter innerem Druck erleiden sie phantastische Verwandlungen, die seine wache Intelligenz als irreal ablehnen würde. Seine Handfertigkeit und Neugier und auch seine Zufallsentdeckungen haben gewiß dem Menschen zur Beherrschung der Außenwelt verholten, doch der Traum hat ihn zum Künstler gemacht, denn er drückt die innere Natur des Träumers aus und eröffnet ihm tiefere Einsichten in die eigenen Möglichkeiten. Dieses Sichselbstausdrücken war ein wesentliches Element in der Entwicklung des Menschen.
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Lebendige Formen der Materie unterscheiden sich von der unbelebten Materie nicht nur dadurch, daß sie an einen Organismus gebunden sind und einem Entwicklungsprozeß unterliegen, der aus bestimmten, in der Reihenfolge und zeitlich festgelegten Phasen der Veränderung und Verwandlung, wie Wachstum, Reife, Fortpflanzung und Tod, besteht, sie unterscheiden sich auch dadurch, daß sie richtunggebunden, in die Zukunft wirkend und zielstrebig sind, obwohl auf der Ebene des Organischen der Endzweck so wesensmäßig geworden ist, daß er von dem Begriff des Geschöpfes nicht mehr getrennt werden kann.
Im Menschen machen sich diese automatischen Zweckreaktionen selbständig und werden autonom aktiv als bewußte Absicht, und seinen Neigungen folgend, verstärkt er ihre Wirkung oder lenkt sie ab in Richtungen, die seiner ursprünglichen Natur oft zuwiderlaufen. Dies ist eine der Funktionen des Traums. Möglichkeitssinn und Verwirklichungsstreben, geboren aus Angst und praktischem Vorausdenken, bereichern des Menschen Traumvermögen und lassen es über den unbewußten Schlaf hinaus auch im Wachzustand wirksam werden. Indem er den Zweck aus der organischen Struktur und ihren Funktionen isolierte, hat der Mensch ihn zum Gegenstand seines Bewußtseins gemacht und ihm eine spezifisch menschliche Richtung gegeben.
Auf diesem Wege entfernt sich der Mensch von dem rein anpassenden Verhalten der anderen Arten; er stellt sich der Natur entgegen mit eigenen Plänen, deren dunkles Ziel er erst voll begreift, wenn er ihnen Form gegeben hat. Aus dieser Sicht betrachtet, kann man die Entwicklung der menschlichen Kultur nur erklären, wenn man sie mit dem Entstehungsprozeß eines Kunstwerkes vergleicht. Die Schaffung eines Kunstwerkes, wenn sie nicht reine Nachahmung ist, übersteigt das bewußte Wissen des Schöpfers und scheint auch oft über seine Kräfte zu gehen; sie bringt Fähigkeiten zur Entfaltung, die unerkannt und ungenutzt blieben, wenn sie nicht provoziert würden. Der Wunsch ist deshalb nicht nur der Vater des Gedankens, er ist der Pate aller schöpferischen Fähigkeiten und Taten des Menschen. Und da die erotischen Impulse in den Träumen des Menschen stärker sind, als daß sie durch das Geschlecht befriedigt werden können, trägt der Traum in jede Handlung und jede Beschäftigung des Menschen die Vorstellung einer zu erwartenden Erfüllung, die zu erlangen er in seiner Macht glaubt.
§ 3
Mit dem Wort und dem Traum war der Mensch in der Lage, von dem begrenzten tierischen Vokabularium der Signale und Zeichen zu dem fast unbegrenzten Vokabularium der Symbole überzugehen; aller Wahrscheinlichkeit nach tat er dies auf einem Umweg, auf dem Wege über die Liebe und das Spiel. Bevor Laute Formen annahmen und oft genug wiederholt wurden, um identifiziert werden zu können, besaß der Mensch ein größeres Repertoire an Ausdrucksmöglichkeiten als jedes andere Lebewesen, schon allein auf Grund seiner beweglichen Gesichtsmuskeln. Der alte Dialog zwischen Mutter und Kind, der mit Gesten und Mienenspiel beginnt, verwandelte unartikuliertes Gurgeln und Brabbeln in artikulierte Laute und diese Laute in wiedererkennbare Worte. Wie mit seinen Traumbildern scheint der Mensch auch mit seinen Sprechwerkzeugen spielerisch umgegangen zu sein, bevor die Sprache zum praktischen Instrument der Mitteilung und des Befehlens wurde. Auch hierüber kann man nur mehr oder weniger glaubwürdige Märchen erzählen, doch man kann diesen Prozeß an jedem Neugeborenen von neuem beobachten.
Im frühen Säuglingsalter dient die Sprache zweifellos nur dem Ausdruck und dem Austausch reiner Gefühle, um erst viel später auf andere Weise nützlich zu werden. Vor den vielen anderen Funktionen der Sprache, die das Gemeinschaftsbewußtsein fördern und das gemeinsame Wissen und Verhalten bereichern, wird jene wirksam, die das Solidaritätsgefühl begründet; die Sprache wird Medium des Erkennens und der Anerkennung. Diejenigen, die diese Sprache mit der richtigen Betonung sprechen und das vertraute Vokabularium benutzen, sind Verwandte, Nachbarn, Freunde, also Menschen, denen man vertrauen kann; diejenigen, die es nicht tun, sind Fremde und Feinde, bestenfalls lächerliche Geschöpfe, »nicht ganz Menschen«, wie die alten Ägypter es ausdrückten. So wurde das stärkste Band zwischen den Menschen mit der Zeit zur trennenden Barriere zwischen den Stämmen und Rassen, und die erste aus der menschlichen Gemeinschaft erwachsene spezifisch menschliche Leistung des Menschen, das gesprochene Wort, weil es zutiefst in der persönlichen Erfahrung wurzelt, wurde ein Hindernis für die Einheit der Menschheit.
Es gibt noch eine andere Funktion der Sprache, die bis jetzt, vielleicht weil sie so offensichtlich ist, der Beachtung entgangen zu sein scheint. Die Sprache, der wichtigste Träger des ausgerichteten Gedankens, hat die Tendenz, die Bildung autonomer Vorstellungen zu verhindern.
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Wenn die Fähigkeit des Sprechens erlangt ist, mögen Worte Ereignisse oder Bilder ins Bewußtsein rufen, doch wenn sie selbständig aktiv werden, können sie als weiterwirkende Träger ausgerichteter Gedanken die selbsttätige Hypnose des Schlafes hemmen. Diese Tatsache ist allen wohlbekannt, die je an Schlaflosigkeit gelitten haben. Als der primitive Mensch im Anfang fast ein krankhaftes Opfer seiner eigenen übermäßigen, Bilder schaffenden Einbildungskraft war, mag die Erfindung und Vervollkommnung der Sprache als hilfreiches Bremsmoment gewirkt und ihn davor bewahrt haben, von seiner Phantasie überwältigt zu werden.
Indem er die autonomen Bilder, die aus dem Unbewußten aufstiegen, mit Wort-Symbolen versah und in bewußte Denkvorgänge einbezog, hat er vielleicht sein ganzes Leben mehr in seine Gewalt bekommen. Sein primitives Denken blieb zwar immer noch traumähnlich, infantil und magisch, doch durch die Eigenkraft des Wortes sollte der Denkprozeß selbst immer schärfer ausgerichtet werden und durch seine Distanzierung vom Unbewußten dazu dienen, den Bereich des Rationalen, Faßbaren und Praktischen zu erweitern.
Nachdem der Mensch einmal angefangen hatte, sich sprachliche und graphische Symbole zu schaffen, erwarb er schnell die Fähigkeit der Isolierung und Koordinierung; er konnte einen größeren Erfahrungskomplex aufnehmen, ihn geschlossen in seinem Bewußtsein erhalten und Vergangenheit und Zukunft, Nah und Fern auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Er konnte auch mit dem so zusammengetragenen Material sein eigenes Inneres in Formen ausdrücken, die dauerhaft genug waren, ihm ihre ursprüngliche Bedeutung wiederzuveranschaulichen, selbst wenn der unmittelbare Anlaß ihrer Entstehung nicht mehr vorhanden war.
Das Wunder des Wortes muß einst den Menschen stärker fasziniert haben, als es heute das Wunder des Atoms ist; denn der Akt des Benennens war eine göttliche Tat, eine zweite Schöpfung. Wer von einem Namen Besitz ergriffen hatte, schien Gewalt über den Gegenstand zu besitzen, den er identifizierte. Kein anderes Lebewesen besaß solche Macht. Sie bedeutete nicht nur die Fähigkeit zu denken, sie war die Schöpferkraft selbst, sie war der magische Lebensatem. Mit ihrer Hilfe wurden die Unvermeidlichkeiten der Natur ergänzt durch Möglichkeiten, die nur der Mensch ersinnen konnte. Kein Wunder, daß der primitive Mensch, selbst nachdem er das Stadium der Zivilisation erreicht hatte, glaubte, der Name sei das Wesen selbst der Göttlichkeit, und Nennen und Erschaffen seien eins.
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So wunderbar war diese Tat, daß der Mensch bis in unsere Tage hartnäckig versucht hat, die Zauberkraft des Wortes in Bereichen anzuwenden, in denen sie wirkungslos ist. Da Worte oft Veränderungen im Verhalten der Menschen hervorrufen, indem sie als Auslöser oder gar als Knüppel wirken, suchte der primitive Mensch diese Kraft auch bei nicht-menschlichen Objekten anzuwenden; waren Wolken und Bäume nicht auch Lebewesen? Durch Wortmagie wollte er Regen oder Fruchtbarkeit, Gesundheit oder Lebenskraft beschwören. Wenn auch die in unserer Zeit unternommenen Experimente auf dem Gebiet der Telekinese erfolgreich verlaufen sind, so besteht wenig Zweifel, daß dies eine wenig wirksame Methode ist, Veränderungen in der grobstofflichen Welt hervorzurufen; so mußte auch der Wortzauber der Primitiven versagen.
Doch nicht ohne Grund ist das Wort des Menschen wichtigstes Spielzeug und Werkzeug geblieben; ohne die Bedeutungen und ohne die Werte, die es vermittelt, wären alle ändern Werkzeuge des Menschen wertlos. Des Menschen größte konkrete Leistungen beruhen auf diesen Abstraktionen. Mit Hilfe von Symbolen gelang es dem Menschen, die Beschränkungen seiner physischen Umwelt und seiner eigenen biologischen Natur zu überwinden. Was in Symbole gefaßt war, konnte früher oder später verwirklicht werden, sei es im Leben oder in der Kunst.
§ 4
Wir wollen die Bildung des menschlichen Selbst näher untersuchen, denn sie bringt Probleme mit sich, denen kein anderes Lebewesen begegnet, und enthüllt Fähigkeiten, die nur dem Menschen eigen sind. Vor mehr als einer Generation hat der französische Soziologe Gabriel Tarde versucht, die Entstehung der menschlichen Gesellschaft durch die Gesetze der Nachahmung zu erklären. Da er diesen Schlüssel in Löcher steckte, in die er nicht paßte, brachte er seine Theorie in Mißkredit. Der Mensch ist jedoch wirklich und in hohem Maße ein nachahmendes Wesen; sein »Art-Bewußtsein« weckt in ihm das Verlangen, seine Artgenossen zu beeindrucken, ihnen zu gefallen und von ihnen beachtet zu werden, und Wetteifer, der auf gegenseitiger Bewunderung beruht, ist einer der Hauptfaktoren bei der Entstehung dieser sozialen Solidarität.
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Doch Nachahmung darf hier nicht gleichgesetzt werden mit automatischem Mimikry, und nur auf ihrer niedrigsten Stufe wird sie zur sogenannten sklavischen Nachäffung. Beim Menschen ist sie verbunden mit Bewunderung und Liebe, mit dem Bemühen, sich mit dem geliebten Objekt zu identifizieren, um ihm näherzukommen, und Entfernung und Unzulänglichkeit scheinen dieses Bemühen nur zu verstärken. An einem bestimmten Punkt der menschlichen Entwicklung ist nicht mehr eine leibhaftige Person Gegenstand dieses Verlangens, sondern ein ideales Vorbild. Dieses Streben, ein erdachtes Ideal zu verwirklichen, läuft parallel mit einem ändern, ebenso tief verwurzelten, menschlichen Hang, nämlich dem, jede natürliche Betätigung auszudehnen und auszuschmücken, so daß sie einen von ihrem unmittelbaren Zweck unabhängigen Charakter erhält, obwohl sie oft eng mit ihm verbunden bleibt.
So wird aus dem Verschlingen der Nahrung die Zeremonie der Mahlzeit, das Bedürfnis nach sexueller Partnerschaft entwickelt die Formalitäten der Werbung und der Ehe, und tausend andere Verrichtungen des täglichen Lebens werden so ritualisiert, daß ihr ursprünglicher Anlaß fast vollkommen zurücktritt. Der Mensch wird in eine Welt passiver Empfindungen und motorischer Impulse hineingeboren; er reift hinein in eine Welt der Bedeutungen und Werte, und seine Kultur beruht letzten Endes auf seiner Fähigkeit, die Rohstoffe des Lebens in Formen zu verwandeln, die die Gesellschaft erhalten und die Entfaltung der Persönlichkeit fördern.
Dieser Prozeß der Verfeinerung und Ausschmückung vollzieht sich auch auf der rein biologischen Ebene. Dort ist er meistens mit dem Geschlecht verbunden und wirkt sich aus im Wachstum üppigen Körperschmucks während der Brunstzeit und in der Entfaltung der Blütenpracht während der Befruchtungsperiode. Vielleicht hat der Drang des Menschen, von Natur in ihrer Dauer begrenzte Akte zu verlängern, seinen Grund in seiner das ganze Jahr währenden Anfälligkeit für sexuelle Erregung; durch formale Perfektionierung bewahrte er sich vor Erschöpfung und umgab sich mit einer Welt, die reicher war an Bedeutungen und Bezügen. Der lange Kreislauf beschaulichen Denkens und künstlerischen Schaffens ersetzte den Kurzschluß direkter Handlung. »Verweile doch, du bist so schön!« mag einer der frühesten Stoßseufzer des Menschen gewesen sein.
So lebt der Mensch sein Leben nicht nüchtern und sachlich von Tag zu Tag, er problematisiert und dramatisiert es. Für jede Phase seiner Entwicklung schafft er eine Handlung und einen Dialog, eine Folge von Szenen, ein passendes Kostüm und einen besonderen Rahmen. Mit der Zeit nimmt sein natürliches Gesicht, wie bei einem Schauspieler, der sein Leben lang tragische Rollen gespielt hat, die Züge einer Maske an.
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Was ist Kultur anderes als eine ausgeklügelte Maskerade des Menschen, aufgeführt, um sich selbst zu betätigen, daß er wirklich mehr ist als nur ein Tier? Indem er Rolle auf Rolle, Drama auf Drama spielt und sich in ihnen verliert, erforscht der Mensch Bereiche, die er in dem ihm von der Natur zugewiesenen Part nie erschlossen hätte. Daher fehlt aber auch seiner Darstellung die Sicherheit und Vollkommenheit anderer Lebewesen, die nur eine Rolle zu lernen hatten. Doch zum Ausgleich dafür befähigte ihn der ständige Rollenwechsel, neue Situationen zu meistern, die jedes andere Geschöpf aus dem Konzept gebracht hätten.
Diese spezifischen Eigenschaften müssen von Anfang an die Befreiung des Menschen von seinem »gegebenen« Selbst unterstützt haben. Denn er ist das einzige Geschöpf, das, nicht ohne eigenes Zutun, weiß, was es ist. Sein Sein ist ein ständiges Werden, und dieses Werden ist zugleich Selbstentfaltung. Er lernt, »er selbst zu sein«, nur dadurch, daß er seine ursprüngliche Natur zu verändern sucht. Ich kannte einmal einen Jungen von drei Jahren, der ein Vogeljunges wurde; er trug nicht länger Kleider, sondern Federn, seine Füße waren Klauen, seine Nase war ein Schnabel, sein Heim war ein Baum, sein Bett war ein Nest, und sein ganzes Benehmen war für eine gewisse Zeit bestimmt durch diese dramatische Verwandlung seines Selbst. Dieses »Auto-Drama« erforderte es, daß alle Menschen seiner Umgebung entsprechende Nebenrollen spielten. Da wir diese Impulse in einem kleinen Kind oft am Werk sehen, ohne daß sie von außen angeregt werden, können wir es wagen anzunehmen, daß sie bereits in der Kindheit der Menschenrasse vorhanden waren; viele Überbleibsel aus dieser Periode, wie der Totemismus, deuten auf eine ähnliche Neigung zur Verstellung hin. Wichtig ist nicht die Gestalt des Tieres, sondern die Verstellung selbst.
Im Sinne dieser Deutung betrachtet, wurde der Mensch Mensch, indem er jede Handlung formalisierte, ritualisierte, symbolisierte, dramatisierte; und mit der Zeit befähigte ihn diese Eigenart, seine gesamte Umgebung zu verändern, sie seinem Selbst näherzubringen, indem er ihr die gleichen Attribute verlieh.
Diese Fähigkeit ästhetischer Umgestaltung der Umwelt schuf rückwirkend ein zweites Selbst, ein menschliches Selbst, ein Selbst, das im Einklang war mit den noch unerkannten und unerforschten Möglichkeiten des Menschen. Nur auf den höchsten Stufen seiner Kultur, wenn er alle diese Wandlungen durchlaufen hat, wenn er sicher ist, daß das »Menschliche« wirklich verwirklicht ist, fühlt der Mensch sich frei, zu seinem natürlichen Selbst in seiner idealisierten Ganzheit zurückzukehren wie es die Griechen taten.
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In diesem Augenblick erscheint der nackte Körper als Skulptur, unverhüllt und makellos, in ungeahnter Schönheit. Wenn man die Theorie der selbsttäuschenden Verstellung gelten läßt und die Rolle, die sie in der Entwicklung des Menschen gespielt hat, begreift, werden viele befremdende Taten in der Geschichte des Menschen logisch und sinnvoll, wenn man sie dagegen ablehnt, erscheinen selbst seine vernünftigsten Leistungen absurd.
Heute haben wir fast vollkommen vergessen, wieviel im Leben des Menschen bereits eindeutig menschliche Formen angenommen hatte, bevor seine technischen Hilfsmittel viel besser waren als die eines Bibers, und bevor seine gesellschaftliche Organisation die Komplexität und Differenziertheit der längst bestehenden Insekten-Staaten auch nur annähernd erreicht hatte. Während der Mensch noch ein reiner Nahrungs-Sammler und kaum schon bewaffneter Jäger war, hatte er die meisten der entscheidenden Kulturwerkzeuge bereits erfunden und vor allem ein neues Bild seines Selbst entworfen.
Und da des Menschen eigener Körper das erste Objekt seiner liebenden Fürsorge war, kann es uns nicht überraschen, wenn wir feststellen, daß Kosmetik und Schönheitspflege wahrscheinlich die älteste seiner Künste ist, eine Kunst, die dem primitivsten australischen Buschmann bekannt ist und für die in unserer modernen Gesellschaft mehr Geld verschwendet wird als für irgendeine andere Kunst. Vielleicht suchte der primitive Mensch durch Bemalen seines Gesichts mit roter Kreide oder mit Ocker seine neue Persönlichkeit zu manifestieren und sie sichtbar von seinem tierischen Selbst zu unterscheiden; es war die plötzliche Verwandlung durch die Maske. Das Wort Person hat seine Wurzel in diesem Vorgang der Bedeckung des Gesichts.
Dieser Drang zur Selbst-Identifizierung erschöpfte sich glücklicherweise nicht in der Bemalung und Tätowierung des Körpers; die kunstvolle Maskerade des Menschen erstreckte sich mit der Zeit auf alle Bezirke seiner Umgebung und der Gesellschaft und nicht zuletzt auch auf sein inneres Selbst. Vermittels dieser Kultur bewirkte er innerhalb weniger Jahrtausende in sich Veränderungen, für die die Natur im langsamen Prozeß der biologischen Entwicklung Jahrmillionen gebraucht hätte. Und im Gegensatz zu biologischen Veränderungen konnten solche kulturellen Veränderungen in der gleichen Zeitspanne modifiziert oder rückgängig gemacht werden wenn sie sich als Hindernisse in der Entwicklung des Menschen erwiesen.
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Durch Geste, Wort und festgelegte Handlung menschlich zu werden, war zweifellos des Menschen früheste und größte schöpferische Leistung, doch für lange Zeit, möchte ich annehmen, muß dieses Gefühl seiner neuen Identität unsicher und leicht verletzlich gewesen sein. Die Angst, die Herrschaft über sein neues Selbst zu verlieren, z.B. das Geheimnis der Sprache zu vergessen und nur noch stammeln zu können, muß ihn oft gequält haben. Auch wir kennen heute noch die bei Kindern auftretende »Lese-Hemmung«, die es ihnen unmöglich macht, gedruckte Sätze in eine sinnvolle Folge von Lauten zu verwandeln.
Es mag Zeiten in der Entwicklung des Menschen gegeben haben, in denen die Übersetzung von Lauten in ihre Bedeutung noch gefährdeter war, und die Angst, diesen Schritt nicht vollziehen zu können, mag die Furcht geweckt haben, durch Zauber in ein Tier zurückverwandelt zu werden, wie es in alten Märchen oft geschildert wird. Deshalb wurde großer Wert auf Wiederholung und Ritual gelegt; die gleichen Worte mußten in der gleichen Reihenfolge gesprochen werden. Die Furcht, wieder ein Tier zu werden, hat dichterischen Ausdruck gefunden im Abenteuer des Odysseus mit Circe und auch in vielen andern Formen, wie in der strengen Verpönung des Geschlechtsverkehrs mit Tieren, doch sie war vielleicht auch mit dem Gefühl verbunden, daß der Mensch eine Quelle seiner Stärke verloren hatte, als er sich von seinen tierischen Wurzeln löste. Wie die Pflanze brauchte er nicht nur die Luft und das Licht über sich, sondern auch den Boden unter sich.
Trotz der Tatsache, daß der Mensch Mensch wurde, indem er sich eine neue Welt schuf, eine sinnvolle Welt symbolischer und kultureller Formen, die für das Tier nicht existent war, konnte er das alte geistige Band zu seiner tierischen Vergangenheit nicht ganz durchschneiden. Das Gefühl dieser Identität erhielt sich bei den primitiven Gesellschaften in dem Kult der Totem-Tiere und wurde auch von den Religionen der Zivilisation übernommen, wo es seinen Ausdruck fand in den löwenköpfigen und vogelköpfigen Göttern Ägyptens und in den heiligen Stieren der Assyrer, Kreter und Perser. Und wenn die Versuchung, sich in die Sicherheit seines tierischen Urzustandes zurückfallen zu lassen, ihn so lange begleitet und ihn auch heute noch nicht verlassen hat, dann hat er sie im Anfang, als sie gewiß am gefährlichsten war, nur durch gewaltsame Unterdrückung überwunden.
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»Träume und wilde Tiere«, meinte Emerson in einem frühen <Journal>, »sind die beiden Schlüssel zu den Geheimnissen unserer eigenen Natur«. Diese Worte waren von tieferer Intuition, als er damals selbst ahnen konnte. Wenn die Domestizierung der Pflanzen und Tiere ein wichtiger Schritt in der Aufwärtsentwicklung des Menschen war, dann war seine Selbst-Zähmung, die mit der Zurückdämmung seiner tierischen Urnatur begann, von weitaus entscheidenderer Bedeutung. Von Anfang an wußte er, daß der starke tierische Kern in ihm keiner besonderen Pflege bedurfte, daß er jedoch die zarten, zitternden Regungen eines embrionalen, neuen, noch ungeborenen Selbst sorgsam überwachen mußte.
Jede neue Generation muß diesen Sieg des Frühmenschen über seine Vergangenheit wiederholen. Doch heute hat das Bewußtsein von unserer tierischen Abstammung in manchen Köpfen zu dem Glauben geführt, daß dieser Teil der menschlichen Natur allein wirklich, gültig und maßgebend ist, und daß alle Formen moralischer und sozialer Ordnung nur eine abergläubische Vergewaltigung der wahren Natur des Menschen sind. Der moderne überintellektuelle Mensch läuft daher Gefahr, freiwilliges Opfer einer Degradierung zu werden, gegen die der primitive Mensch sich unter Aufgebot aller seiner Kräfte gewehrt haben muß; es ist die Gefahr, seine Menschlichkeit zu verlieren, indem er seinem tierischen Selbst und seinen nichtmenschlichen Neigungen den Vorrang gibt vor seinem sozialen Ego und dem idealen Super-Ego, die sein ursprüngliches Erbgut verändert haben.
Doch so weit auch der Mensch in seiner Selbst-Dramatisierung und Selbst-Verwandlung geht, er kann das Tier nie hinter sich lassen. Der blinde Drang aller organischen Schöpfung ist der Urantrieb seiner gesamten eigenschöpferischen Tätigkeit; seine idealsten Bestrebungen bleiben dem Zwang verhaftet, zu essen, sich zu paaren, »ein Futter zu suchen und Gefahren abzuwehren, wie andere Tiere es tun, und ein gewisses Maß an tierischem Instinkt und tierischer Vitalität ist seiner tiefsten Menschlichkeit immer beigemischt. Selbst am Tage des Jüngsten Gerichts, sagte Thomas von Aquin, wird die Anwesenheit des Körpers notwendig sein; und es gibt keine Emanzipierung vom Stofflichen, keine Vergeistigung, die nicht auf dem Gebrauch der tierischen Anlagen des Menschen beruht, wenn sie auch zu Zwecken benutzt werden, von denen sich kein Tier je hätte träumen lassen.
Da der Mensch heute diese Urzusammenhänge kennt, muß er auch seine Schuld gegenüber seinen Partnern während des ganzen Verlaufs der organischen Schöpfung anerkennen, seine Abhängigkeit von ihrem Verhalten und nicht zuletzt seine Bindung an seine ursprüngliche Natur.
Obwohl er jetzt die dominierende Art darstellt, ist sein Schicksal immer an das Wohlergehen aller Formen und Stufen des Lebens gebunden, und er nimmt seine tierischen Organe und das Erbe seiner gesamten Entwicklung mit in alle seine zukünftigen Pläne; auch sie haben teil an dem göttlichen Funken in ihm und nähern sich mit ihm dem Ziel der letzten Verwirklichung des Menschen.
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