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5.  Der Mensch der Alten Welt

Mumford-1956

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  § 1 

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Indem wir dem Weg der Verwandlungen folgten, die aus einem Tier den Menschen schufen und ihn werden ließen, was er heute ist, haben wir eine Wasserscheide erstiegen und stehen nun auf ihrem Grat. Wenn wir rück­wärts schauen, erblicken wir in der Ferne die Tiefebene des animalischen und primitiven Lebens, die sumpf­igen Täler der Stammeskultur, das kultivierte Vorgebirge der archaischen Gemeinschaften, die gedrängten, terrassenförmig aufsteigenden Bergketten der Zivilisation und schließlich die eisigen Gletscher­land­schaften der axialen Religionen, über deren Gipfel der blaue Himmel dunkel wird und die Luft zu dünn für die menschlichen Lungen. 

Doch auf der andern Seite des Grates verändern sich die Konturen des Geländes schlagartig; nach wenigen Schritten hat man die zerklüfteten Höhen, die der Mensch so mühsam erklommen hat, aus den Augen verloren, und nach kurzem Abstieg erreicht man eine Hochebene, die durch ein Netz von betonierten Straßen in geometrische Flächen aufgeteilt ist und keine Spuren natürlicher Bodenbildung mehr zeigt. Hier hat die Maschine das Gesicht der Erde bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet.

Wir sind im Begriff, in eine Neue Welt einzudringen, und alle Maßstäbe der Alten Welt scheinen hier wertlos zu sein.

Doch wir sollten nicht überrascht sein, wenn wir feststellen müssen, daß diejenigen, die beim mühseligen Überqueren der axialen Eisfelder wiederholt in Gletscherspalten gefallen waren und oft die Richtung verloren und ständig versucht hatten, in niedrigere und lieblichere Gefilde zu gelangen, jetzt nicht zögern, wenn sie entdecken, daß sie die Höhe des Grates erreicht haben. Im Gegenteil, sie stürzen hinunter zu der aller Vegetation entblößten und zu unnatürlichen Formen erstarrten Hochebene, als hätten sie das Gelobte Land gefunden.

Ja, gerade diejenigen, die die gelehrigsten Schüler der axialen Kultur gewesen waren und sich am besten an ihre eisige, dünne Luft gewöhnt hatten, übernehmen die Führung in der Erforschung, Vermessung und Besiedlung dieses unwirtlichen Neulandes und geben jeden Gedanken an eine Rückkehr in die vertrautere Landschaft auf der andern Seite der Wasserscheide auf.

Bevor wir das Vordringen in die Neue Welt verfolgen und den neuen Menschentyp betrachten, der in dieser Umgebung zu riesiger Gestalt aufwuchs, tun wir vielleicht gut daran, einen letzten Blick nach hinten zu werfen und uns ein klares Bild zu machen von ihm, den wir von nun an den Menschen der Alten Welt nennen wollen

Bis zum 19. Jahrhundert war der Mensch der Alten Welt der Hauptrepräsentant der menschlichen Art auf diesem Planeten; an Zahl, an Macht und kultureller Leistung dominierte er auf der Erde. Wie weit die Gesellschaften der Alten Welt auch voneinander entfernt waren, die Ähnlichkeiten zwischen ihnen waren häufiger und erstaunlicher als die Unterschiede. Dies gilt nicht nur für ihre Struktur, sondern auch für den gesamten Prozeß ihrer Entwicklung.

Die Gesellschaften der Alten Welt beginnen nicht nur am gleichen Startpunkt, sondern alle Phasen ihrer scheinbar autonom verlaufenden Geschichte gleichen einander so sehr, als ob ein soziales Gebilde sich ebenso zwangsläufig entwickelte und die gleichen Stadien der Reifung durchliefe wie ein biologisches Wesen. So sind die ökonomischen Strukturveränderungen, die aus einer primitiven, von einem Gottkönig beherrschten Großgrundbesitzer-Wirtschaft eine merkantile städtische Wirtschaft mit beginnender Spezialisierung der Berufe und den Anfängen eines Marktes machen, im Mesopotamien des 2. oder 3. Jahr­tausend v. Chr. fast die gleichen wie im westlichen Europa des Mittelalters zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert, als das Feudal­system teilweise durch die freien Städte ersetzt wurde.

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Ebenso verlaufen die Zusammenstöße zwischen lokaler Autarkie und zentralisierter Nationalwirtschaft in Ägypten fast in gleicher Weise wie die Konflikte, die sich in England und Frankreich ergaben, als diese Länder Nationalstaaten wurden, während die Allianz des absoluten Monarchen mit den Massen gegen Grundbesitzer und Priesterschaft sich ebenso in China wie in Ägypten vollzog und Aristoteles Recht gab, der schon von einer dauerhaften Mesalliance* zwischen Demokratie und Tyrannei gesprochen hatte.*

Was in so vielen Punkten für das wirtschaftliche und politische Leben der Zivilisationen der Alten Welt gilt, das gilt in einem nicht minder bemerkenswerten Maße für ihre geistige Entwicklung. Die hinduistische und die chinesische Philosophie durchlaufen alle Stadien vom Naturalismus bis zum Platonismus und vom Skeptizismus bis zum Stoizismus, genau wie die Philosophie des westlichen Europa. Als ich Ananda Coomaraswamy bat, mir die drei in der Bhagavad-Gita beschriebenen Gunas (Eigenschaften) zu erklären, antwortete er mir mit anschaulichen Zitaten aus Dantes Göttlicher Komödie. Die chinesische Muttergestalt der Kwannon versinnbildlicht die gleiche Verheißung wie die christliche Jungfrau Maria; und der Buddhismus bildete Klostergemeinschaften, die die Ordensgesellschaften des Westens vorwegnahmen und im Laufe der Zeit auch die gleichen Korruptionserscheinungen aufwiesen. Die Geschichte des Prinzen Genji aus dem Japan des 11. Jahrhunderts liest sich wie ein moderner, mit freien Erotizismen gespickter französischer Gesellschaftsroman.

Der Mensch der Alten Welt schuf keine einheitliche Weltkultur, ja, es scheint ein Wesenszug der Alten Welt zu sein, ihre Mannigfaltigkeit und ihre unverletzliche Individualität zu betonen. Doch es gibt keine einer einzelnen Gesellschaft der Alten Welt eigene Idee, die nicht mehr oder weniger unverändert auf jede andere übertragen werden kann. Das Leben, das sie hervorbrachte, atmete den gleichen Geist und spielte sich im gleichen Rahmen ab.

Vor dem 15. Jahrhundert v.Chr. mag die Kultur der Alten Welt die Grenzen ihrer natürlichen Heimat in langen Intervallen in Europa, Asien und Nordafrika überschritten haben. Doch obwohl sich ähnliche Veränderungen in den andischen und in den Maya-Kulturen unterschiedlichen Ursprungs vollzogen haben, so fehlte ihnen doch, soweit wir wissen, ein wesentliches Element, nämlich der Beitrag der axialen Religionen zu diesem Vorgang. Jedenfalls verbreitete sich die Kultur der Alten Welt im Verlauf von fünf Jahrtausenden über den größten Teil der nördlichen Hemisphäre, und zeigte auf Grund ihrer Neuerungen die Tendenz, die stagnierenden Stammeskulturen zu verdrängen oder, was das gleiche ist, zu absorbieren. An den Rändern der Kultur der Alten Welt konnten sich diese früheren Formen, die zahlenmäßig klein waren, aber die Zähigkeit der niederen Organismen besaßen, ihre eigene Kultur nur erhalten, indem sie sich an ihr festklammerten wie Weichtiere.

* (d2008:) vom Adel geprägte Bezeichnung für eine eheliche Verbindung zwischen Personen wesentlich verschiedener sozialer Herkunft; eigtl Mißverbindung <franz>

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  § 2  

 

Obwohl das Wesen der Kultur der Alten Welt unschwer zu definieren ist, bildet sie doch zu keinem Zeitpunkt ein einheitliches Ganzes, denn sie stellt eine Anhäufung historischer Überlagerungen dar. Die drei Schichten der Kultur der Alten Welt, die archaische, die zivilisierte und die axiale, liegen übereinander auf der noch primitiveren Schicht, die sie mit allen ändern Gesellschaftsformen teilt. An manchen Stellen mag eine Schicht schwerer sein als eine andere; hier mag der Fels aus dem gleichen, in der gleichen Sediments-Periode abgesetzten Korn bestehen, anderswo ist sie eine zusammengesetzte Formation, bestehend aus den Überresten anderer Kulturformen, durchsetzt mit Goldkörnern, die sich in den Quarzadern gebildet haben, und Glimmer, der von den Bergen herabgeschwemmt wurde. Doch das Vorhandensein dieser drei Kulturschichten ist das charakteristische Merkmal der Gesellschaft der Alten Welt. Wenn auch die zwei oberen Schichten teilweise erodiert werden, die archaische Grundschicht bleibt immer intakt.

Einer der charakteristischsten Züge der Kultur der Alten Welt besteht darin, daß sie ihr archaisches Erbe lebendig erhält und andererseits von ihm am Leben erhalten worden ist; ihre Kunst war ihr ebenso teuer wie ihre Technik, und sie pflegte jeden Brauch, der den Stempel der menschlichen Einbildungskraft trug. Die Revolutionen der Zivilisation berührten diese Schicht nicht. Wenn die Kultur der Alten Welt zu erschöpft ist, um eine schwierige Situation durch eigene Neuerungen zu meistern, greift sie in die Vergangenheit zurück; ihr Glaube an ihr Überleben gründet sich auf die Erinnerung an den Weg, den ihre Vorfahren zurück­gelegt haben, und auf die Annahme, daß sie nicht minder bedrohliche Situationen bestanden haben müssen, um von ihnen erzählen zu können.

Die Kultur der Alten Welt machte Geschichte und lebte in der Erinnerung an die Geschichte; doch die gleichen Eigenschaften, die sie solange erhalten haben, ihr treues Gedächtnis und ihre Freude an ihren angehäuften Schätzen begrenzten auch ihre Leistungen. Ihre Priester und Gelehrten verwandten zuviel Zeit auf die Erhaltung ihrer Besitztümer, die sie immer wieder katalogisierten, ordneten und abstaubten, so daß ihnen oft die Energie fehlte, sie zu vermehren, oder sich auf ein Terrain vorzuwagen, auf dem die Ahnen keine Wege gebaut hatten.

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In der Kultur der Alten Welt kann niemand sich einen neuen Gedanken durch den Kopf gehen lassen, ohne zu erschauern in der Erinnerung, daß ein längst verstorbener Geist ihn schon einmal gedacht hat. Durch Generationen währende Wiederholung wurde das, was einst lebendiges Schauspiel war, zu leerem Zeremoniell, und durch immer subtilere Ausarbeitung wurde der ursprüngliche Sinn seiner Formen oft verdunkelt, und seine Symbolkraft erlosch.

Die Kultur der Alten Welt wuchs und beherrschte die Erde wahrscheinlich dank ihrer technischen Überlegen­heit bei der Kultivierung der Pflanzen, dem Bearbeiten des Metalls, dem Bau von einfachen Maschinen und Versorgungsanlagen und bei dem Erwerb kultureller Fertigkeiten, wie Schreiben und Buchführen, durch die das tätige Leben der Menschen koordiniert und vereinheitlicht wurde. Doch in der Hauptsache setzte sich diese Kultur deshalb durch, weil sie eine Bereicherung des Lebens mit sich brachte, eine naive Freude am Erfinden und eine Bereitschaft zur Selbsterneuerung, wie sie keine der primitiveren Gesellschaften aufwies; sie forderte mehr von den angeborenen Fähigkeiten des Menschen und spiegelte mehr wider von seiner Größe.

Die größten Leistungen menschlicher Selbstvervollkommnung, der Held, der Heilige, der Weise, der Liebhaber, waren in erster Linie und in ihrer Bedeutung als Idealgestalten das Werk des Menschen der Alten Welt. Doch auch die bescheideneren Berufe, der Handwerker, der Bauer und der schlichte Hausvater, die in allen Prüfungen und Niederlagen den Anforderungen des Lebens treu gerecht wurden, hatten ihren Platz in dieser Welt und trugen ihr Teil zum Ganzen bei; jeder von ihnen war ein notwendiger Stein in der sozialen Pyramide. Regierung und Religion vertieften, unterstützt von der Kunst, das menschliche Gepräge des öffentlichen Lebens; in der Großstadt erprobte der Mensch der Alten Welt alle Möglichkeiten sozialer Erfahrung. Diese überströmende Vitalität der Kultur der Alten wiegt in nicht geringem Maß ihre übrigen Schwächen auf. Doch wir müssen diese Schwächen richtig einschätzen, wenn wir verstehen wollen, warum der Mensch der Neuen Welt so bereitwillig den stolzen Bau hinter sich ließ, ja, ein Vergnügen daran fand, das meiste von ihm eigenhändig zu zerstören.

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In der rein biologischen Evolution werden bedrohliche Abweichungen und Deformationen in der Regel automatisch ausgemerzt. Doch selbst in der Natur zeigt uns das Vorhandensein von Parasiten, daß die natürliche Auslese nicht immer in der Lage ist, entartete Formen, die nicht fähig sind, sich selbst zu erhalten, abzustoßen, weil sie durch gegenseitige Anpassung am Leben erhalten werden. Koexistenz und Anpassung an Stelle von Überwindung durch einseitige Überlegenheit scheinen oft der ökologische Grund für das Überleben zu sein. Im Vorgang der sozialen Vererbung ist die natürliche Auslese noch weniger wirksam; die Fehler der Vergangenheit scheinen ebenso sorgfältig erhalten zu werden wie ihre Vorzüge, und selbst menschliche Grundirrtümer, wie die Institution des Krieges, scheinen zur Selbstverewigung zu neigen.

Obwohl die menschliche Kultur ihrem Wesen nach eine Symbiose ist, ein auf gegenseitiger Unterstützung beruhendes Zusammen­leben unterschiedlicher Sozialpartner in einem gemeinsamen Milieu, scheinen in ihr die räuberischen und parasitären Instinkte stärker zur Geltung zu kommen als die kooperativen. Dies trifft in hohem Maße zu in der Kultur der Alten Welt; denn sie hat sich nie von ihren ererbten, geschweige ihren eigenen Fehlern befreit. Vielleicht der schlimmste dieser Makel war das Streben nach Macht und ihre rücksichtslose Ausübung mit Hilfe organisierter, speziell zum Morden und Zerstören ausgebildeter Armeen. Die Gesellschaft der Alten Welt bewahrte diese verhängnisvolle Erfindung; trotz der Gebote der axialen Religionen blieb der Krieg eine geachtete, in die politische Struktur der Alten Welt eingebaute Institution, und, was schlimmer ist, der Mensch der Alten Welt vererbte sie dem Menschen der Neuen Welt ohne die weisen Beschränkungen, moralischen Bedenken und heilsamen Ermüdungserscheinungen, die im Laufe der Zeit das Maß der Zerstörungen verringerte und den Bereich der Gewalttätigkeit auf die beruflich unmittelbar Beteiligten beschränkte.

Doch noch andere Übel befanden sich im Gefolge des Menschen der Alten Welt. Seine Kultur verbreitete ihre höheren Güter nicht so wirksam wie die Anwendung der technischen Errungenschaften, des Rades, des Pfluges, der Wassermühle. Nicht nur floß der größte Anteil des Einkommens dieser Gesellschaften in die Taschen der kleinen Minderheit der oberen Klasse, so daß die Masse ihrer Mitglieder an der Grenze des Existenzminimums ein hartes, dürftiges, anstrengendes Leben führen mußten, der gleiche Verteilungs­schlüssel galt auch für die nichtmateriellen Güter.

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Eine kleine Gruppe reservierte sich das Monopol des Wissens, das sie von ihren Mitmenschen absonderte, ihnen zusätzliche Macht über sie verlieh und ihr Monopol auf Eigentum und käufliche menschliche Arbeitskraft systematisch ergänzte. Durch Kastenorganisation und politische Manöver begünstigte und verewigte die herrschende Minderheit ihre eigene Klasse auf Kosten der übrigen Gemeinschaft.

Vor allem beanspruchten die oberen Klassen der Alten Welt für ihre eigenen Vertrauten und Anhänger die Verfügung über die wertvollsten Formen des Wissens, von den religiösen Riten bis zu den technischen Erfindungen, ob es sich nun um die ersten Dampfmaschinen, Empfängnis­verhütungsmittel oder Schmerzlinderungs­methoden handelte, und enthielten sie der Allgemeinheit vor. Durch List und Gewalt stärkten und festigten sie ihre beherrschende Stellung immer mehr und besiegelten ihre Macht durch den Erwerb von Land und Eigentum, das in der archaischen Gesellschaft Gemeinbesitz gewesen war.

Mit der Zeit sanktionierten Staat und Religion diese Übelstände durch Gesetze und Predigten. Daß der größere Teil der Gesellschaft unwissend und ungebildet bleiben, in harter Fronarbeit Gewinne zum Vorteil der Minderheit erzielen, nur das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unbedingt Notwendige zu essen und keine Hoffnung auf eine Besserung seines elenden Loses haben soll, das war in der Kultur der Alten Welt fast zu einem Axiom, zur unausgesprochenen Grundvoraussetzung ihrer Existenz geworden. Wo diese Kultur noch intakt ist, haben sich auch diese Merkmale weitgehend erhalten.

Es gab natürlich schwache Stellen in diesem System. Manchmal durchbrach sexuelle Leidenschaft die Schranken zwischen der herrschenden Minderheit und dem gemeinen Volk. Eine Prinzessin heiratete einen Schweinehirten, oder verliebte sich wenigstens in ihn. Einem Sklaven gelang es, nicht ohne großmütige Duldung seines Herrn, genügend Eigentum zu erwerben, um sich freizukaufen. Ein Großer und Mächtiger mochte, indem er sich wie Solons stolzer Zeitgenosse Krösus übernahm, seinen eigenen Fall herbeizuführen. Und in Zeiten großer Plagen, wie Seuchen und Hungersnöte, bahnte sich der Fähigere und Gewandtere seinen Weg aus den unteren Schichten auf den Platz seines früheren Herrn, so wie ein einfacher Soldat auf dem Schlachtfeld den Feldherrnstab gewinnen kann. Bisweilen erwarb auch der begabte Sohn eines Bauern oder Sklaven durch zähes Selbststudium die nötigen Kenntnisse, die ihm den Zugang zur herrschenden Klasse öffneten.

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Die Chinesen schufen durch ihr kaiserliches Prüfungssystem bewußt Chancen für Ausnahmetalente, und die Kirche von Rom bot ihren untersten Dienern in ihrer Ämterhierarchie die Möglichkeit, bis zum Papstthron aufzusteigen.

In der Kultur der Alten Welt gab es immer eine genügende Anzahl von Mesalliancen, eine genügende Lockerung der sozialen Ordnung, eine genügende Infiltration von Intelligenz und Tüchtigkeit in die oberen Schichten, um die physische und geistige Gesundheit der führenden Klasse zu sichern. Ohne diese Rekrutierung von unten hätten ihr die biologischen Vorteile der Bastardisierung und der soziale Ansporn des Wettbewerbs gefehlt.

 

  § 3  

 

Die Grundstruktur der Kultur der Alten Welt ist während fünfundzwanzig Jahrhunderten unerschüttert geblieben. Sie bestand und besteht aus einer herrschenden Minderheit, die die Güter der Zivilisation für sich zu monopolisieren sucht, und einer mehr oder weniger unterdrückten oder zumindest bevormundeten Mehrheit, dem »inneren oder äußeren Proletariat«, wie Toynbee sie nennt, der nur eine stellvertretende Teilnahme an der Kultur, die sie schaffen half und durch tägliche Anstrengungen und Opfer am Leben erhält, zugestanden wird.

Dieses Verhältnis hat sich nie ganz konsolidiert, nicht einmal im alten Ägypten oder in Indien; denn die Privilegien der Minderheit schufen Unzufriedenheit, und die Unzufriedenheit führte zu Auflehnung und Empörung; wenn die Spannungen zu gefährlich wurden, konnten sie durch Bestrafung und Vernichtung der Rebellen vermindert werden. Aber auch bei gütlicher Beilegung der Konflikte blieb ihre Ursache, das soziale Mißverhältnis, bestehen.

Doch es bildeten sich in der Gesellschaft der Alten Welt auch Methoden heraus, die Protestbewegungen von unten von ihrem ursprünglichen Gegenstand abzulenken. So konnte der Haß gegen die herrschenden Klassen in Haß gegen die Fremden verwandelt werden, und der Wunsch, einen gerechten Anteil an den Gütern und Rechten des Vaterlandes zu erlangen, äußerte sich in räuberischen Überfällen auf benachbarte Gemeinschaften. Wenn hierzu keine Gelegenheit war, halfen andere Mittel, die erschütterte soziale Pyramide stabil zu erhalten, nämlich Brot und Spiele in ihren mannigfaltigen Formen, wie großzügige Massen­speisungen bei besonderen Gelegenheiten oder gar tägliche Verteilung von Essen, üppige profane und religiöse Festlichkeiten, Tänze und Jagden, Karneval und Saturnalien.

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Wenn der Stachel der Not und der Ungerechtigkeit zu scharf wurde, dann dienten berauschende Getränke, die so alt sind wie die Zivilisation selbst, als Beruhigungsmittel. Auf diese Weise wurde die Kultur der Alten Welt durch Jahrhunderte am Leben erhalten trotz ihrer Irrtümer und Sünden.

 

Vielleicht erklärt der Ausdruck »stellvertretende Teilnahme« die befremdende Unterwürfigkeit des gemeinen Mannes. Trotz ihres sozialen Abstandes von den Höhen der Macht und des Ruhms fühlten die Massen sich vom Licht ihrer Unterdrücker angestrahlt und sahen ihr eigenes Leben erfüllt vom Glanz der Kultur der Alten Welt. Sie glaubten, aktiv an einem Abenteuer teilzunehmen, das weit über ihre Fähigkeit, zu träumen und zu fordern, hinausging und dennoch auf seltsame Weise ihr eigenes war und eine Zukunft versprach, in der sie einen größeren Anteil am Erfolg haben würden. Ohne diese Verlockung des Ruhms hätte wahrscheinlich keine physische Unterdrückung ausgereicht, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.

Trotz all dieser Hemmungen und Mängel schufen die Kulturen der Alten Welt mit der Zeit einen gemein­samen Hintergrund der Ideen, Werte und Formen und damit auch einen Ansporn zu größeren schöpferischen Anstrengungen. Die Gesamtleistung des Menschen der Alten Welt, als Grundlage für die weitere Selbstentfaltung des Menschen betrachtet, ist bei weitem bedeutungs­voller und verdienstvoller als die der isolierten Stammeskulturen außerhalb ihres Bereiches, denn sie umschloß eine reichere Vergangenheit und erschloß eine verheißungsvollere Zukunft. 

Die Mythen, Fabeln und Dramen des Menschen der Alten Welt fesselten und befruchteten den Geist; seine Baudenkmäler und Großstädte und nicht zuletzt seine kultivierten Landschaften waren eine sichtbare Aufforderung zu unsichtbaren noch größeren Hoffnungen. Im Dienst seiner Götter — manchmal, wie Michelangelo, im Dienste derer, die vorgaben, seinen Gott zu vertreten — beschwor der Mensch der Alten Welt die höchsten Kräfte seiner Seele in Taten unerhörter physischer Anstrengung und beispiellosen geistigen Wagemuts.

Doch der tiefere Grund für diese Leistung des Menschen der Alten Welt, die Quelle seiner inneren Ausgeglichenheit, die oft zur einschläfernden Selbst­gefälligkeit wurde, war der Sinn für seine Grenzen. Wenn man von der großen kosmischen Konzeption des Hinduismus absieht, bewohnte der Mensch der Alten Welt ein begrenztes Universum, und die Anerkennung dieser Grenzen in Zeit und Raum war ein Teil seiner Weisheit.

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Selbst die Begriffe der Unendlichkeit oder Unsterblichkeit, der göttlichen Allwissenheit und Allmacht störten das Bewußtsein seiner eigenen Grenzen nicht. Er lebte in einem Raum, dessen Mittelpunkt er war, so wie seine Erde der Mittelpunkt der Welt der Planeten und Sterne war. Diejenigen, die im Zwielicht jenseits dieser Grenzen lebten, waren so gut wie unsichtbar, sie waren Heiden, Barbaren, Affen, Wilde, Eingeborene.

Selbst in ihrem Verhältnis zu andern Kulturen, die auf gleichem Niveau standen wie die eigene, neigte jede Gruppe dazu, nur ihre eigenen Formen als wahrhaft menschlich zu betrachten und kulturelle Abweichungen, ausgenommen unter dem Druck von Eroberern, zuzulassen. Was Bergson in Schöpferische Entwicklung von der biologischen Spezies sagt, mag auch für alle Kulturen der Alten Welt und für ihre Gesamtkultur, als Einheit betrachtet, gelten: »Sie denkt nur für sich selbst, sie lebt nur für sich selbst.« Wahrheit, Schönheit und Tugend wurden als Produkt und Eigentum des Geistes der Alten Welt betrachtet; andere Formen und Werte, wie sie vielleicht die Hyperboreer oder die Hottentotten entwickelt haben mochten, konnten keinen Platz in ihrem Kulturkanon finden. Aus dem gleichen Grunde war jede Abweichung in eine neue Richtung, die mit dem gewohnten Denken nicht in Einklang gebracht werden konnte, von vornherein verdächtig. Was nicht in den Analekten, in der Bibel, im Koran oder bei Aristoteles zu finden war oder zu diesen Wahrzeichen der eigenen Kultur in positiver Beziehung stand, wurde abgelehnt.

Solange die Wirtschaft der Alten Welt die herrschende Minderheit in die Lage versetzte, sich zu behaupten, ohne die Mehrheit zu gewalttätiger Auflehnung oder in die Verzweiflung zu treiben, blieb diese Kultur stabil, — ja — je älter sie wurde, um so leichter fiel es ihr auf Grund ihrer gemischten archaischen, zivilisierten und axialen Formen, jede neue Bedrohung abzuwehren durch eine geschickte Anpassung, die irgendein ererbtes Element zur Geltung und das ganze Gebäude wieder ins Gleichgewicht brachte. 

Übergriffe und Ausschweifungen der Herrscher haben dieses Gleichgewicht oft gestört, und die durch sie provozierten gewalttätigen Überfälle der Massen auf den gespeicherten Bestand der gesellschaftlichen Überlieferungen, wie bei der Bücherverbrennung unter dem ersten Kaiser von China und der Zerstörung der Bibliothek von Alexandria, bedrohten den Oberbau der betreffenden Kulturen, doch ihre archaischen Fundamente blieben unversehrt. Olivenbäume mochten im Krieg abgehauen und Dämme und Aquädukte zerstört werden, doch die Substanz an menschlichen Dauerwerten, die ein reiches Leben für die Zukunft sichern, blieb erhalten.

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In dieser Welt spielten das Nützliche und das Praktische nur eine untergeordnete Rolle. So tief verwurzelt war dieses Prinzip, daß die herrschenden Klassen, auch nicht aus selbstischen Motiven, keinen Wert darauf legten, die technischen Voraussetzungen ihres Daseins zu verbessern; sie forderten nur den Löwenanteil von dem Gewinn aus den Produktionseinrichtungen, die bereits bestanden. Wenn ihr Appetit nach Ausschweifungen sie auch zu Raubzügen veranlaßte, die ein weiteres Operationsfeld erforderten, so blieb ihre Vorstellung von materiellen Genüssen doch primitiv, eine endlose Folge von üppigen Gastmahlen und Trinkgelagen oder ein reiches Sortiment von Konkubinen zur Befriedigung ihrer fleischlichen Lust.

 

Auffallend sind die Stagnation und die Mittelmäßigkeit der Technik der Alten Welt nach den ersten frühen Fortschritten. Trotz ihrer langen Erfahrung mit Zugtieren haben die Römer z.B. nie gelernt, ein Pferd richtig vor einen Wagen zu spannen. Die Stärke der Leistungen der Alten Welt liegt in ihrer geduldigen Anwendung primitiver technischer Hilfsmittel, unterstützt durch organisierte Handarbeit, zu großen phantasievollen Bauten; selbst wenn der Mensch der Alten Welt neue physikalische Energiequellen entdeckte, wie im Schießpulver und im Dampf, benutzte er sie zunächst nur zu Spielereien.

Bis zum 2. Jahrtausend n. Chr. begegnen wir kaum einem Dutzend fortschrittlicher technischer Neuerungen in der Technik dreier Jahrtausende. Die vielleicht größten technischen Leistungen der Kultur der Alten Welt, der Guß der großen eisernen Löwen in China und der Bronzestatuen in Griechenland, waren Kunstwerke ohne praktischen Nutzen. Obwohl im alten Indien eine Eisensäule von einer chemischen Reinheit des Metalls gegossen wurde, wie wir sie selbst mit unseren heutigen Methoden nicht erreichen, brachte dieser gewaltige Fortschritt keinen Wandel in der Technik; sie blieb steril. Wenn eiserne Schneidewerkzeuge und mechanische Vorrichtungen die Arbeit auch erleichtern halfen, so wurde mit ihnen doch nur wenig getan, was nicht schon mit Geräten aus Stein und Kupfer geleistet worden war.

So blieb auch selbstgewählte Begrenzung in technischen Dingen ein Kennzeichen der Kultur der Alten Welt, und sie wurde unterstützt durch entsprechende moralische Hemmungen. Hat nicht Leonardo da Vinci, obwohl er ein Vorbote der Neuen Welt war, seine Erfindung des Unterseeboots zurückgehalten aus Furcht, dieses Zerstörungsmittel in menschliche Hände zu geben? Aus dieser Haltung sprach, wenn auch nicht gemischt mit der Furcht vor den Göttern, die Weisheit der Alten Welt.

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Damit sind wir auf den Kern der Kultur der Alten Welt gestoßen. Von Anfang an war das Leben des Menschen der Alten Welt den Göttern geweiht. Die Entdeckung der Götter, die zunehmende Erhellung und Läuterung dieser bezwingenden Gestalten und der mit ihnen verbundenen Visionen der Vollkommenheit, waren vielleicht der wichtigste Beitrag der Kultur der Alten Welt zur Entwicklung des Menschen. Die wahren Werte des Lebens, wie die Weisen der Alten Welt sie sahen, waren nicht die Werte der sichtbaren materiellen Welt, denn diese Welt wurde zunehmend als eine Sinnestäuschung, als Fälschung der Wirklichkeit betrachtet; diese ewigen Werte existierten nur in unsichtbaren Wesenheiten und Kräften, die sich in allen Erscheinungsformen des Lebens manifestierten. Um sich den Göttern zu nähern und sie zu verstehen, mußte man sich aller weltlichen Pflichten und häuslichen Sorgen entledigen und durfte nur den Einflüsterungen des Traumes, der Stimme der Vernunft und den Befehlen des Geistes gehorchen. In den axialen Religionen vereinigte sich die Vielzahl der Götterbilder in einer einzigen, alle göttliche Größe, Macht und Liebe darstellenden Gestalt, die frei war von allen Attributen der primitiven Dämonengötter.

Das Wissen um die Existenz dieses Gottes wurde der Schlüssel zu allen ändern Formen des Wissens. Um die Wirklichkeit zu verstehen, betrachtete oder untersuchte man nicht die sichtbaren Dinge, man suchte Gottes Plan in ihnen zu erkennen und seine Vollkommenheit nachzuahmen. In dieser Zeit des reinen abstrakten Denkens blühten die mathematischen Wissenschaften, eine Welt idealer Formen und sich selbst begrenzender Möglichkeiten. Noch im 17. Jahrhundert konnte ein begabter junger französischer Physiker namens Mersenne sagen: »Wenn ich überzeugt werden könnte, daß Gott immer alles auf die schnellste und bequemste Weise machte, dann müßte ich gewiß auch erkennen, daß die Erde sich bewegt.«

In einer solchen Welt waren nur diejenigen, die sich von allen knechtischen und nützlichen Arbeiten fernhalten konnten, in der Lage, ein wahrhaft menschliches Leben zu führen, ein Leben der Beschauung Gottes und des Strebens nach Weisheit. Diese Anschauung der Alten Welt hat der biblische Autor Ecclesiasticus vor langer Zeit bereits ausgesprochen. Nach diesem Maßstab erfüllten der Priester und Prophet, der Dichter und der Philosoph und der Heilige die höchstmögliche Bestimmung des Menschen; ihre Tätigkeit war heilig, und ihre Unterstützung war die dringlichste Verpflichtung der Gesellschaft.

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Um dem Menschen zu dienen, mußte man zuerst Gott dienen; um die Ebene des Menschlichen zu erreichen, mußte man nach der göttlichen streben. Dieser Glaube eint die Bibel des Moses und den Koran des Mohammed, die Bhagavad-Gita und des Neue Testament. Leben in seiner vollsten und höchsten Bedeutung ist Dienst an Gott, und nur dieser Dienst kann die Seele des Menschen der Alten Welt erheben. Wenn er seinem Ideal untreu wird, wie er es so oft tut, plagen ihn Gewissensbisse, und wenn er von ihm abfällt, ist er verloren. Ohne den Glauben an das göttliche Wesen konnte der Mensch der Alten Welt das Dasein nur schwer ertragen.

Im Anfang, vor allem in Ägypten und Babylonien, existierte eine solche klare Vorstellung von der göttlichen Bestimmung noch nicht; das Kosmische und das Menschliche durchdrangen einander, bis zu einem gewissen Grad zum Nachteil der Götter. Obwohl die göttlichen Mächte Schrecken einflößten, konnte man sie, wenn man ihren richtigen Namen kannte oder auf andere Weise einen wirkungsvollen Zauber anbrachte, überlisten. Wenn sie die an ihre Adresse gerichteten Gebete nicht erhörten, konnte man sie beschimpfen, und unter gewissen Bedingungen konnte man sie sogar gefangensetzen und sich ihrer Macht bedienen.

Im Verlauf der Entwicklung des Menschen der Alten Welt gelang es den axialen Religionen und Philosophien schließlich, eine Hierarchie der Ideen und Werte zu errichten. Das Sichtbare, das Greifbare, das Erkennbare, das Dringliche, das Praktische wurde nach unten verwiesen; auf der Spitze thronten das Geheimnisvolle, das Ideale, das Transzendente, das Göttliche. Selbst diejenigen, die in den unteren Stockwerken dieses Gebäudes eifrig tätig waren, erkannten bereitwillig das Primat der oberen Stockwerke an und erwiesen denen, die sich mit den letzten Werten beschäftigten, besondere Hochachtung. Auch Menschen, die technisches Können oder politische Macht besaßen, maßten sich nie den Vorrang an vor jenen, die Träume träumten oder Wahrheiten ausdeuteten. Wenn sie es taten, wie z.B. Alexander der Große, indem er die Hindu-Weisen vor sich befahl, wurden sie bald in ihre Schranken zurückgewiesen.

Doch die Reinheit dieses Strebens nach ewigen Werten wurde in allen Kulturen der Alten Welt befleckt durch zeitlichen Lohn, den es oft, manchmal unbeabsichtigt, einbrachte. So führte das Leben in den Benediktinerabteien, das dem Dienst an Gott durch Gebet, körperliche Arbeit und Kontemplation geweiht war, auf Grund des Erfolges dieser Tätigkeit zu Versuchungen durch weltlichen Reichtum und weltliche Macht.

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Jeder Versuch, eine neue Form für die Schau Gottes zu finden — denn nur durch Erneuerung konnte sie lebendig erhalten werden —, war außerdem begrenzt durch den Impuls, sie bewährten nützlichen Bräuchen anzupassen. Ein markantes Beispiel hierfür ist die allzu schnelle materialistische Entartung des Franziskaner­ordens, die so sehr im Widerspruch zu den Intentionen seines Gründers stand. Außerdem verfielen alle axialen Religionen, obwohl sie sich zum Universalismus bekannten, mehr oder weniger bald einem nationalen oder rassischen Partikularismus. Die Wächter dieser Gesellschaft erkannten in Wirklichkeit niemals die tieferen Gründe für die Begrenzung und Bedingtheit ihrer Leistungen, und weil sie sie nicht erkannten, wiederholten sie in jeder Epoche die gleichen verhängnisvollen Irrtümer. Es fehlte ihnen das Wissen und der Abstand, die nötig waren, diese Tendenz zur Beharrung auf einem niedrigeren Niveau zu überwinden, und vielleicht noch mehr fehlte ihnen das Bewußtsein, daß ein solches Wissen von Nutzen sein könnte, um einen Ausweg aus der Sackgasse zu finden.

 

  § 4  

 

Die zyklisch einsetzende Stagnation ist ein charakteristisches und aufschlußreiches Merkmal aller Kulturen der Alten Welt. Zivilisation in sich befriedigt nicht genügend, um die Opfer zu rechtfertigen, die sie fordert; es muß ein »Jenseits« geben. Dieses Jenseits wurde von der Religion als Himmel dargestellt, zunächst mir in einem Bild und dann in einem Mythos, der jedoch kein einlösbares Versprechen der Wirklichkeit einschloß, aber jede Handlung des täglichen Lebens mit einem Sinn erfüllte; und durch die Assoziation des Jenseits mit den negativen Elementen des Lebens, vor allem mit dem Tod, wurden alle positiven Güter des Lebens eitel und wertlos. Um sich ihres eigenen Fundaments nicht zu berauben, war die Religion immer wieder gezwungen, ihre institutionelle Form zum Ersatz für die ursprüngliche Vision zu machen, da es ihr nicht gelang, ein Jenseits zu finden, das auf der Erde erreichbar war und sie dennoch auf eine höhere Ebene erhob, auf der ein neues Ideal sie zu weiterem Streben und immer neuen Erfüllungen ermuntert hätte. Keine End-Offenbarung war fähig, ein solches ständig zurückweichendes, sich immer wieder erneuerndes Ziel zu schaffen.

Der zyklische Charakter der Zivilisation ist seit langem Gegenstand mehr oder weniger wissenschaftlicher Untersuchungen, und in unserer Zeit hat eine Reihe von scharfsinnigen Beobachtern, wie Jacob Burckhardt, Patrick Geddes und Henry Adams, einleuchtende Teilerklärungen für dieses Phänomen gegeben.

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Oswald Spenglers Versuch, diesen zyklischen Prozeß durch Analogisierung mit den Gesetzmäßigkeiten des Jahreszeitenwechsels und des Wachstums der Pflanzen in seiner Gesamtheit zu erklären, war bestechend, doch irreführend, denn er unterschlug wissentlich alle späteren Erscheinungen, die bereits in einem früheren Stadium aufgetreten waren, z.B. den typischen Anlageplan der »sterilen mechanistischen Zivilisation« in den mittelalterlichen Grenzstädten. So übersah er auch oder mißdeutete alle Kontinuitäten und Wechselfolgen und unterließ es, verfrühte Zerfallserscheinungen und verspätete Wieder­erneuerungen zu berücksichtigen, z.B. Endzustände im Beginn als Folge von Beschädigung. oder Nachblüten im Herbst.

Arnold Toynbees erschöpfende Untersuchung, die Spenglers oberflächliche biologische Interpretation durch ein exaktes und umfassendes Studium von Ursachen und Wirkungen ersetzte, ist selbst so sehr Produkt der Ideologie der Alten Welt, daß sie sich nie mit ihren eigenen ungeprüften Prämissen konfrontiert; sie baut ihre Definition des Wesens der Gemeinschaft, die auch das berücksichtigen müßte, was außerhalb der einzelnen Gesellschaft geschah, auf ihren eigenen, sich selbst beschränkenden Voraussetzungen auf. 

Toynbees letzte Schlußfolgerung läuft darauf hinaus, daß der Zerfall der Zivilisationen, der früher oder später eintritt, seinen Sinn hat als Vorspiel zur Entstehung einer neuen Art von Gesellschaft, gegründet durch eine neue Art von Organisation, der Universalkirche, die »außerhalb der Geschichte« steht. Ein solcher himmlischer Weg der Erlösung kann nur von der individuellen Seele beschritten werden. Daß diese Endbestimmung die Geschichte erklären oder rechtfertigen soll, erscheint jedem unglaubwürdig, der nicht von Anbeginn Toynbees theologische Anschauungen teilt. 

Doch ein rein historischer, nicht weniger scharfer Einwand kann gegen diese Theorie vorgebracht werden, nämlich, daß bis jetzt jede Universalkirche bewiesen hat, daß sie weit davon entfernt ist, universal zu sein. Und noch bedenklicher für Toynbees Gedankengänge ist die Tatsache, daß die Universal­religionen offensichtlich dem Gesetz der zyklischen Stagnation ebenso unterworfen sind wie die säkularen Zivilisationen.

Es hat den Anschein, als ob den Kulturen der Alten Welt bestimmte wichtige Elemente, etwa Wachstums­hormone, fehlen; dieser Mangel hat sie daran gehindert, sich über einen bestimmten Punkt hinaus zu entwickeln.

Niemand kann bis heute behaupten, diese Elemente entdeckt zu haben; doch vielleicht ist das, was zu fehlen scheint, nur übersehen worden, weil es zu naheliegend war, ähnlich wie bei jener Zellentür in einem schottischen Dorfgefängnis, die der berühmte Zauberkünstler Houdini mit seinen unfehlbaren Methoden nicht aufbrechen konnte, weil sie nicht verschlossen war. Was vielleicht nötig war, ist ein System gegenseitiger Informierung und allgemeiner Zusammenarbeit, das alle Elemente und Kräfte der Kulturen der Alten Welt befähigen würde, zu einer größeren Einheit zu verschmelzen. Negativ ausgedrückt: es ist vielleicht der exklusive, der alle andern ausschließende und sich damit selbst begrenzende Charakter der Kulturform der Alten Welt, der sie zwar zur beherrschenden Kultur des Planeten, aber auch zu einem scheinbaren ökologischen Höhepunkt gemacht hat. Das zyklische Gesetz verurteilte sie, in Stagnation, Korruption, Zerfall und tödlicher Auflösung zu enden, um in jeder nachfolgenden Zivilisation und Kultur den gleichen traurigen Kreislauf zu wiederholen.

Dies wäre eine traurige Situation für die heutige Menschheit, hätte sich nicht in den letzten vier Jahrhunderten ein grundsätzlicher Wandel angebahnt, nämlich der erste radikale Ausbruch aus diesem tragischen Kreislauf. Die sich im Vollzug dieser Verwandlung bildende neue Kulturform, die ich zur Kontrastierung die Kultur der Neuen Welt nennen will, hat bereits die archaischen und axialen Komponenten der Kultur der Alten Welt ebenso erbarmungslos verdrängt, wie die Großstädte der alten Strom­zivilisationen die Dorfkultur der jüngeren Steinzeit verdrängten. 

Die Ingredienzen dieser weltumspannenden Kultur sind seit langem in andern Gesellschaften vorhanden, doch sie hatten kaum mehr als oberflächliche Wirkung an zerstreuten Stellen gezeitigt. Doch jetzt hat diese Kultur der Neuen Welt ihre eigene Form entwickelt. Durch ihre methodische Leistungssteigerung und ihre automatische Expansion droht sie alles zu zerstören, was von der Kultur der Alten Welt übriggeblieben ist.

So hat das Auftauchen der Kultur der Neuen Welt und ihr Auswachsen zu ihrer endgültigen Form in unserer Zeit zwangsläufig eine Weltkrise herbeigeführt. So weit die Geschichte reicht, ist dies die erste weltweite Krise seit der letzten Eiszeit. Doch die Bedrohung, die damals von der Natur kam, kommt dieses Mal von den rührigen Händen und den findigen Köpfen der Menschen.

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Lewis Mumford