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8.  Weltkultur

Mumford-1956

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  § 1  

159-195

Der posthistorische Mensch, die der Maschine unterwürfig dienende und dem Pseudo-Leben ihrer mechanisierten Umgebung radikal angepaßten Kreatur, ist eine theoretische Möglichkeit, doch keine historische Wahrscheinlichkeit. Denn die Spannungen zwischen dem Überrationalen und dem Irrationalen, zwischen den mechanisierten Institutionen und dem atavistischen Menschen, sind zu stark, um mehr erwarten zu lassen als ein hektisches Oszillieren, das mit einem jähen Kurzschluß endet. 

Wie stark und zahlreich er auch auftreten mag, der posthistorische Mensch hat nur eine kurze Lebenserwartung.

Man kann allerdings nicht leugnen, daß weite Bereiche unseres Lebens bereits in zunehmendem Maße tierische Züge tragen, die etwa an die Wesensart des Rindes, des Fuchses und des Affen erinnern. Das Zeitalter der »Männer, die zehn Jahre alt sind«, in den Pali-Texten des Buddhismus vorausgesagt, ist bereits sichtbar:  

»Es wird eine Zeit kommen, in der Kinder zu Männern geboren werden, die nur ein Alter von zehn Jahren erreichen, und mit diesen Männern werden Mädchen von fünf Jahren fruchtbar sein. ... Unter diesen Männern von zehn Jahren wird wilder Haß herrschen, wilde Feindschaft und wilde Lust zum großen Morden.« 

Die grausige Trivalität dieser Kultur der Zehnjährigen, die sich bereits an mehr als einer Stelle bemerkbar macht, läßt sich symbolhaft veranschaulichen in einem mit Atomkraft betriebenen Spielautomaten; er würde höchste wissenschaftliche Erkenntnis und raffinierteste technische Leistung in den Dienst infantiler Fragmente der menschlichen Persönlichkeit stellen. 

Wenn diese Instinkte einmal in der Regierung die Oberhand gewinnen, wie es in Zentraleuropa unter Hitler und Himmler geschah, kommt das Ende schnell.  

Denn der rein instinktmäßige Versuch, die Unterdrückung der menschlichen Vitalität in der posthistorischen Kultur durch irrationale und primitive Mittel auszugleichen, hat keine Aussicht auf einen Erfolg, wie er ihn in früheren Zivilisationen erreichte. Vielmehr muß ein solcher Versuch heute den gesamten Prozeß zu einem schnellen Ende bringen; denn die Mischung von Automat und Urinstinkt ist eine Explosivmischung von höchster Brisanz.

Ein apokalyptisches Ende aller menschlichen Entwicklung ist heute möglich geworden, weit eher als in den unschuldigen Tagen des Johannes von Patmos. Angesichts unserer Überwaffen ist der rasche Selbstmord des posthistorischen Menschen sogar wahrscheinlicher als sein langsamer Sieg durch allmähliche Abrichtung des menschlichen Organismus zu einer Maschine. Die »Realisten«, die keine glücklichere Zukunft für die Menschheit sehen als die ewige Fortdauer dieses selbsterniedrigenden und selbst­zerstörenden Systems, dessen Bestimmung es ist, keine Bestimmung zu haben, unterschätzen sowohl die inneren Widerstände und Gegen­reaktionen als auch die äußeren Gefahren.

Doch obwohl die Zukunft teilweise durch die Vergangenheit bedingt und in diesem Sinn und Ausmaß bereits vorhanden ist, so kann dennoch nicht voraus­gesagt werden, welche Elemente der Erbschaft des Menschen wieder in Aktion treten werden, denn dies hängt in zunehmendem Maße ab von den Idealen und Zielen, die der Mensch sich für seine Zukunft setzt. Wenn die Zukunfts­entwürfe des Menschen die posthistorische Verwandlung ausschließen, dann werden die Kräfte, die jetzt so unerbittlich und unausweichlich erscheinen, erlahmen, so wie die Kräfte des römischen Imperialismus plötzlich von innen erlahmten, als sie mit dem neuen Bild des christlichen Menschen konfrontiert wurden.

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Wie wir im Octavius des Minucius Felix, diesem aufschlußreichen Dialog des 3. Jahrhunderts, lesen können, waren gesunder Menschen­verstand und Beharrungs­vermögen auf der Seite des römischen Lebensstils, doch tiefere Lebensquellen hatten bereits in der Gestalt des Christen ein neues Menschenbild hervorgebracht, und dieses neue Ideal besaß die Kraft, die heidnische Welt in den nächsten tausend Jahren zu überwinden.

Das Bewußtsein des heutigen Menschen von seiner eigenen langen Entwicklung und sein vertieftes Verständnis für seine eigenen Möglichkeiten — beides neue Phänomene in der Menschheitsgeschichte — mögen die treibenden Kräfte werden, die ihn veranlassen, Schutzmaßnahmen zu ergreifen, bevor die »Männer von zehn Jahren«, die ihr neues Abc der atomaren, bakterio­logischen und chemischen Waffen beherrschen gelernt haben, alles Leben auf dieser Erde im Übermut zu vernichten. Doch um den blinden Drang zum Automatismus zu überwinden, muß die Menschheit als Ganzes bewußt in die lange Bahn der Entwicklung zurücksteuern, die im Anfang die Hominiden zu Menschen werden ließ.

Die wichtigste Aufgabe des heutigen Menschen ist es, ein neues Selbst zu schaffen, das fähig ist, die Kräfte zu bändigen, die jetzt so ziellos und doch so zwingend am Werk sind. Dieses Selbst wird in sein großes Werk die ganze Welt einbeziehen, die bekannte und die erkennbare, und wird nicht versuchen, ihr eine mechanische Uniformität aufzuzwingen, sondern sie zu einer organischen Einheit zu gestalten, die sich auf die volle Nutzung aller dem modernen Menschen in Natur und Geschichte zur Verfügung stehenden Mittel gründet. 

Eine solche Kultur muß nicht nur genährt werden durch eine neue Vision des Ganzen, sondern auch durch die Vision eines neuen Selbst, das fähig ist, das Ganze zu begreifen und sich ihm tätig einzufügen. Mit andern Worten, der Augenblick für eine neue große historische Verwandlung des Menschen ist gekommen. Wenn wir vor der Mühe dieser Aufgabe zurückschrecken, wählen wir stillschweigend den posthistorischen Weg.

Die politische Einigung der Menschheit kann realistisch nur gedacht werden als ein Teil dieser Aufgabe der Selbstverwandlung des Menschen; ohne dieses Endziel mögen wir höchstens ein unsicheres Gleichgewicht der Kräfte und ein vorübergehendes Nachlassen der Spannungen erreichen, doch keine entscheidende Förderung der Entwicklung. Glücklicherweise ist diese Einigung nicht ein jäher verzweifelter Schritt, erzwungen durch die drohende Gefahr universaler Vernichtung.

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Sie ist so tief in der großen, breiten Bewegung der Kultur verwurzelt, daß sie schon seit langem von vielen prophetischen Geistern als Ziel der Geschichte betrachtet worden ist, von Jesaja, Mo Ti, Joachim von Floris, um nur einige wenige aufs Geratewohl zu nennen. Nicht nur die Idee selbst, sondern viele Institutionen, die ihre Verwirklichung fördern, existieren bereits; ja, viele soziale Kräfte, die jetzt auf die Vernichtung des Menschen hinarbeiten, wie z.B. die Wissenschaft, werden einen großen Beitrag zu dieser Verwandlung leisten, wenn einmal die Uridee mit ihrer großartigen Zukunftsschau allen Menschen bewußt geworden ist.

Zugegeben, die Situation, die diese Selbstverwandlung zum Gebot gemacht hat, bietet wenig Grund zur Hoffnung auf schnelle Verwirklichung. Obwohl der Mensch zum erstenmal die technischen Mittel in der Hand hat, eine Weltkultur zu schaffen und zu erhalten, ist er bereits tief enttäuscht durch das wiederholte Versagen dieser Mittel. Dieses Versagen führte zu zwei Weltkriegen, die innerhalb von dreißig Jahren dreißig bis vierzig Millionen Menschen durch militärische Kampfhandlungen und Völkermord vorzeitigen Tod brachten. Diese Dezimierung löschte die in einem Jahrhundert durch Senkung der Todesfälle bei verhütbaren Krankheiten erzielten Gewinne wieder aus.

Als Folge dieser Niederlage haben die Kräfte der Isolation, der Eifersucht, der aggressiven Feindschaft und des totalitären Absolutismus ihre Reihen wieder geschlossen. Selbst die axialen Religionen sind durch dieses Schauspiel kaum geläutert worden und ebenso uneinig geblieben wie die nationalen Staaten. In ihren Bemühungen, die Schwächen der Welt zu heilen, sind sie noch nicht so weit gekommen, die eigenen zu erkennen. Auch die Einheit der Wissenschaften ist zerbrochen; selbst innerhalb der Domäne, in der sie einst Übereinstimmung erzielt hatten, haben sie ihre heiligsten Grundsätze aufgegeben, nämlich den freien Austausch der Erkenntnisse und die Unterstellung der Wahrheit unter offenes Urteil. Die Kenntnisse, die Voraussetzung sind für den Schutz der Menschheit gegen den Mißbrauch der Nuklear-Energie, in der friedlichen Industrie nicht weniger als im Krieg, werden von mächtigen Regierungsstellen geheimgehalten, die ihre eigenen Entscheidungen der öffentlichen Kontrolle entziehen, und zwar bis jetzt ohne wirksamen Protest von seiten der Wissenschaft oder der Bürger.

Angesichts dieser Situation möchte man daran zweifeln, daß die in ihr erkennbaren positiven Elemente in der Lage sind, die erforderliche Verwandlung des Menschen rechtzeitig zustande zu bringen, um die Selbstvernichtung des Menschen zu verhüten, entweder durch thermonuklearen Massenselbstmord, durch langsame radio­aktive Verseuchung von Luft, Boden und Wasser, oder durch Abrichtung des Menschen zum posthistorischen Reflexbündel.

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Wenn man unsere Zukunftsaussichten rein rational betrachtet, ist man versucht, die Feststellung des sterbenden H.G. Wells für mehr zu halten als eine Fieber­halluzination: »Der Verstand ist am Ende seines Lateins.«* 

Eine verheißungsvollere Alternative müßte ein Wunder voraussetzen. Untersuchen wir deshalb die Möglichkeiten eines Wunders. 

Die für die Bestimmung der Zukunft wichtigsten Faktoren werden unter bestimmten, nur in langen Intervallen auftretenden Bedingungen in kleinsten Mengen wirksam. Diese Ereignisse sind zu regellos und selten, um laufend beobachtet und statistisch erfaßt und gewertet werden zu können. Doch die Wirklichkeit eines Verhaltens darf nicht außer acht gelassen werden, weil seine einzelnen Äußerungen sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihren Folgen unberechenbar sind. 

Nach diesem Grundsatz müssen wir die Möglichkeit von Wundern in Rechnung stellen, und zwar wollen wir es tun nach den wissenschaftlichen Grundsätzen, die Clerk Maxwell in seinem berühmten Essay über »singuläre Stellen« entwickelt hat. Unter einem Wunder verstehen wir nicht etwas, das außerhalb der Naturgesetze steht, sondern sich so selten ereignet, mit so geringen Kräften arbeitet und eine so radikale Veränderung bewirkt, daß man es nicht zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Voraussage machen kann.

Maxwells Theorie verhilft uns zur Einsicht in unsere heutige Situation. Er erklärt, daß es selbst in dem einfachsten physikalischen System in seltenen Intervallen Zeitpunkte gibt, die er singuläre Stellen nennt. An diesen Stellen oder Punkten ist eine verschwindend kleine Energie auf Grund ihres Wesens und ihrer Position in der Gesamtkonstellation der Ereignisse in der Lage, eine Veränderung von fast unglaublicher Größe zu verursachen, so wie ein kleiner Kiesel einen Erdrutsch verursachen kann. 

Diese Theorie gilt auch für den direkten Einfluß auf die menschliche Persönlichkeit nicht nur durch Massenbewegungen, sondern auch durch Individuen und kleine Gruppen, die wachsam genug sind, im richtigen Augenblick und an der richtigen Stelle mit dem richtigen Gedanken in die Ereignisse einzugreifen. In solchen Augenblicken kann eine einzelne menschliche Persönlichkeit, ein Gautama, ein Jesus oder ein Mohammed, das scheinbar unüberwindliche Beharrungsvermögen der Institutionen überwinden. 

* (d2011:) Mumford meint: <Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten> (1945) 

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Glücklicherweise, wie Maxwell erklärt, sind solche singulären Stellen in einem System um so häufiger, je höher entwickelt und komplexer es ist, und sie sind häufiger in biologischen Systemen als in physikalischen, und häufiger im Leben des Menschen als im Leben der Ameise. Somit ist unser Gefühl für das, was in unserer Situation möglich ist, nicht gesund, wenn wir nicht auch das in Erwägung ziehen, was vor dem Hintergrund des Bekannten, Typischen und Voraussagbaren unwahrscheinlich, ja unmöglich erscheint.

Natürlich stehen die Chancen für ein wohltätiges, weltverwandelndes Wunder wahrscheinlich viele Millionen zu eins, und ich habe Verständnis für diejenigen, die eine solche Spekulation als Unsinn abtun. Selbst wenn eine solche singuläre Stelle sich anbieten und Führer finden würde, die fähig wären, diese »Flut in den Angelegenheiten der Menschen« zu nutzen, um Maxwell zu zitieren, der bedeutungsvolle Augenblick ist so schwer zu erkennen in der Masse der Ereignisse, daß er selbst einer rückblickenden Identifizierung lange entgehen kann. Wie viele Römer haben im Jahre 150 n.Chr. die Bedeutung Jesu erkannt oder den kommenden Triumph des Christentums vorausgesehen? 

Diejenigen, die sicherer wetten wollen, mögen auf eine baldige Katastrophe von planetarischem Ausmaß setzen; denn sie erscheint auch mir wahrscheinlicher als eine Fortdauer des Status quo mit seinem schauerlichen unausweichlichen Ende, dem Heraufkommen des posthistorischen Menschen.

Doch wenn die Menschheit nicht den Weg der Selbstvernichtung geht, sondern sich entschließt, eine Weltkultur zu schaffen, dann werden die einzelnen Entwicklungs­vorgänge dieses Prozesses, von denen viele bereits sichtbar sind, von einer gelassenen Unvermeid­barkeit gekennzeichnet sein. Es sind die äußerliche Folge der Geschehnisse, die das menschliche Selbst verwandeln, die Ideen und ihre Träger und vor allem der sich abzeichnende Plan, die so schwer im voraus vorstellbar sind. Doch im Augen­blick der Reife wird das Ungesehene sichtbar, das Unausdenkbare Gedanke und das Unausführbare Tat, und bisher unüberwindlich erscheinende Hindernisse stürzen ein.

Die Geschichte kennt viele Beispiele für einen solchen unvermuteten Wandel. Plötzlich verlieren beherrschende Institutionen in einem Augenblick ihrer scheinbaren Hochblüte ihre Macht über ihre treuesten Gönner und Beschützer, während Millionen Menschen, die sich ihnen bisher gefügig unterordneten, ihnen den Rücken kehren. In einer solchen Situation werden Ideen, die kurz vorher kaum mehr als Schatten waren, plötzlich zu Wegweisern an einer breiten, gepflasterten Straße.

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Wenn der Glaube an die nächste Verwandlung des Menschen eine genaue Kenntnis der Kräfte und Mittel verlangte, die diese Entwicklung bewirken und fördern, wäre es verständlich, wenn einer auf diese Hoffnung verzichtete. Eine solche Prognose übersteigt in der Tat das Vorstellungsvermögen und die Urteilskraft. 

Doch die Ziele dieser Weltkultur sind seit langem voll sichtbar, und man kann sie zumindest mit der gleichen Zuversicht umreißen und sogar erweitern, mit der der Franziskanermönch Roger Bacon technische Erfindungen und Entwicklungen im voraus beschrieb, deren einfachste Mechanismen seine eigenen Kenntnisse und Fähigkeiten weit überstiegen. 

Bacon konnte nicht den Schwarzen Tod des 14. Jahrhunderts voraussehen, oder die Tatsache, daß er einen Mangel an Arbeitskräften zur Folge haben würde, was wiederum die Leibeigenschaft lockern und die Erfindung arbeitsparender Maschinen fördern sollte, oder die stete Folge von Erfindungen, die schließlich den pferdelosen Wagen und das Flugzeug möglich machten. Doch Bacons technische Voraussagen erwiesen sich als vernünftig; sie wiesen in die Richtung, in der die Kräfte der Zivilisation, die noch zumeist unsichtbar waren, als er schrieb, sich bewegen mußten. 

Ich nehme diese Tatsache als Rechtfertigung für mein Unterfangen, die verheißungsvollste der Perspektiven, die unsere heutige Situation bietet, zu Ende zu denken.

Wir wollen bei unserer Forschungsfahrt in die Zukunft von einer Grundvoraussetzung ausgehen, nämlich daß es das Schicksal der Menschheit ist, nach einer so langen vorbereitenden Periode der Teilung und Differenziertheit endlich eine Einheit zu werden. Unser Rückblick auf die verschiedenen Verwandlungen des Menschen hat uns die Tatsache enthüllt, daß die Verbreiterung der Basis menschlicher Gemeinschaft, wenn sie auch unregelmäßig und sprunghaft war, nichtsdestoweniger einer der nachhaltigen Erfolge der menschlichen Geschichte gewesen ist. Diese Einheit hat begonnen, ihren politischen Ausdruck zu finden in einer Weltregierung, die alle Nationen und Länder in Unternehmungen vereint, die über ihren individuellen Möglichkeiten hinausgehen; sie wird zu ihren schwierigen Aufgaben der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung durch gemeinsame Ideale der menschlichen Entwicklung angespornt. Die Worte, die G.A. Borgese zu einem einzelnen Aspekt dieser Bewegung äußerte, mögen hier auf die Gesamtaufgabe der Schaffung einer Weltkultur angewandt werden: »Sie ist notwendig; deshalb ist sie möglich.«  

Und man könnte noch hinzufügen: Wenn sie leicht wäre, wäre sie kaum notwendig.

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Zu Beginn sei bemerkt, daß unsere Vorstellung von der Einheit die Ausdehnung eines äußerlichen und rein technischen Universalismus, wie ihn der posthistorische Mensch verstehen würde, verwirft. Die neue Einheit, wie wir sie begreifen, ist das polare Gegenteil einer totalitären Uniformität; sie sucht in allen Unternehmungen der Weltgesellschaft jene menschlichen Werte zu beleben und zu bereichern, die ihre Entstehung der Differenzierung verdanken. Aus diesem Grunde stimme ich mit gewissen Denkern, die ich sonst achte, nicht überein in der Meinung, daß die einzige Möglichkeit zur Schaffung der Welteinheit in der weiteren Entwicklung mechanisierter Kollektive in planetarischem Maßstab liegt. In Wirklichkeit ist einer der Hauptantriebe zur Schaffung der Welteinheit die Notwendigkeit, eine Alternative zur Integration auf der Basis mechanistischer Uniformität zu finden.

Wie wir gesehen haben, entstand das Bedürfnis nach einem größeren Bereich des Verkehrs und der menschlichen Zusammen­arbeit in den frühesten Zivilisationen. Selbst die primitiven Versuche, durch militärische Eroberungen und wirtschaftliche Enteignungen eine Einheit zu erreichen, erfuhren eine nachträgliche Rechtfertigung durch die Tatsache, daß sie zur weiteren Entfaltung des Menschen beitrugen; so konnte Augustinus selbst die militärischen und wirtschaftlichen Unternehmungen Roms als Mittel zur Verbreitung des Evangeliums rechtfertigen. Die axialen Religionen aber strebten bewußter nach der Einheit als die großen Reiche; sie verdankten ihre Dynamik teilweise ihrem Glauben, daß, wie Pascal es ausdrückte, die ganze Geschichte der Menschheit trotz ihrer Uneinheitlichkeit als die Biographie eines einzigen Geschöpfes, des Menschen, betrachtet werden kann.

Um zu einer Weltkultur zu gelangen, bauen wir natürlich auf diesen früheren Bemühungen um Universalität auf. Doch wir gehen sogar noch weiter, denn auf Grund unserer historischen Analyse müssen wir annehmen, daß nichts in der Vergangenheit des Menschen unberücksichtigt bleiben darf. Hiermit berichtigen wir den Fehler, den die Ideologie der Neuen Welt sowohl in ihren utopischen als auch in ihren utilitaristischen und romantischen Philosophien gemacht hat. Selbst wenn wir uns entschlössen, keinen Gebrauch zu machen von diesen Werten der Geschichte, wäre die lebendige Vergangenheit dennoch ständig unter der Oberfläche gegenwärtig, würde scheinbar autonome Entscheidungen beeinflussen, weitere Fortschritte hemmen und ihren Druck um so mehr verstärken, je länger wir sie ignorieren.

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Wir mögen z.B. mit gutem Recht planen, die Institution des Krieges abzuschaffen, so wie frühere Gesellschaften den Kannibalismus und den Inzest aufgegeben haben, doch wenn wir die Tatsache des Krieges aus unserem Gedächtnis ausschließen würden, um nur an die freundlicheren Aspekte der Geschichte des Menschen zu denken, könnten wir ein böses Erwachen erleben an dem Tag, an dem wir durch unsere Arglosigkeit das Übel ermutigen, in neuer Verkleidung aufzutreten. Und wenn wir es unterließen, in unserer Erziehung zum Frieden die Pflichttreue und Selbstzucht des Soldaten, seine Bereitschaft, Härten zu ertragen und sein Leben einzusetzen, positiv zu werten, würden wir auf Tugenden verzichten, die für den idealen Charakter des Menschen der Weltkultur wichtig und wesentlich sind.

Doch kein Element der Vergangenheit kann in die Weltkultur in der Form übernommen werden, zu der es sich in einer früheren Situation entwickelt hat. Wie bei jeder ändern Reintegration muß jedes Element bis auf seine Urform absterben, um in einem größeren Ganzen neu geboren zu werden und in der Welt des neuen Selbst und der neuen Kultur, die wir erstreben, bestehen zu können. Das Fehlen dieser Regeneration war es, das den Ägyptern, den Juden und den Chinesen das Festhalten an ehrwürdigen historischen Vorbildern so zur Bürde machte und andere Völker in der Vergötterung ihrer toten Vergangenheit erstarren ließ. Erst der Wille und die Fähigkeit, die Vergangenheit im Geiste der künftigen Entwicklung zu überdenken und neu zu bewerten, machen eine echte kulturelle Wiedergeburt möglich.

Mit dieser Entwicklung zu einer Weltkultur scheint eine andere Entwicklung parallel zu laufen, die sich innerhalb der menschlichen Persönlichkeit vollzieht, eine Entwicklung in Richtung auf Ganzheit und Gleichgewicht. In dieser Neuorientierung der Person werden Elemente des menschlichen Organismus, die seit langem unterdrückt oder der bewußten Kontrolle entzogen waren, wieder ans Licht gebracht, wiedererkannt, anerkannt, neu bewertet und neu ausgerichtet. Die Ausbildung der Fähigkeit, das eigene Selbst in seiner Ganzheit zu erkennen und jedes seiner Teile einer einheitlicheren Entwicklung unterzuordnen, muß sowohl Gegenstand der objektiven Wissenschaft als auch Anliegen der subjektiven Selbsterkenntnis sein. Es ist unmöglich, die erstrebte Ganzheit zu verwirklichen, ohne den wahrhaft integrierenden Elementen in der Persönlichkeit, der Liebe, der Vernunft und dem Drang zur Vollkommenheit den Vorrang zu geben.

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Ohne einen Entwicklungsplan, ohne eine Hierarchie der Werte könnte eine Freisetzung von ins Unbewußte verdrängten Impulsen vielleicht nur einen unkontrollierten Ausbruch der Libido zur Folge haben, die, wie es in unserer Zeit so oft geschehen ist, den Verstand zum Instrument der Unterdrückung höherer Regungen machen würde. Die größte Schwierigkeit für den heutigen Menschen besteht vielleicht darin, daß er auf Grund eines allgemeinen Mißtrauens gegenüber den von der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts postulierten Werten nicht wahrhaben will, daß Ganzheit nur durch Anerkennung, Förderung und Belohnung der höchsten, edelsten Impulse der Persönlichkeit erreicht werden kann.

Die Integration des Menschen beginnt oben, mit einer Idee, und wirkt nach unten, bis sie das sympathetische Nervensystem erreicht, wo sich eine organische Integration vollzieht, die nun wieder nach oben wirkt, bis sie als Impuls zur Liebe oder als richtungweisendes Denkbild ins Bewußtsein tritt. In dieser Erfüllung des ganzen Selbst durch eine formende Idee liegt die Gewähr für eine Minderung der Spannungen, Verzerrungen, Isolierungen, Verkrampfungen und Infantilismen, die das Wachstum des Menschen behindert haben.

Die Beziehungen zwischen der Weltkultur und dem geeinten Selbst sind wechselseitig. Die einzige Möglichkeit, eine neue Weltordnung mit ändern Mitteln als durch totalitäre Versklavung und Automatisierung zu erreichen, ist die Schaffung einer möglichst großen Anzahl von ganzheitlichen Persönlichkeiten, die mit jedem Teil ihres Selbst und ebenso mit der ganzen Menschenfamilie in ihrer reichen Mannigfaltigkeit vertraut sind. Der geeinte Mensch muß das Es anerkennen, ohne ihm einen Vorrang zuzugestehen; er muß das Super-Ich fördern, ohne es die Energien unterdrücken zu lassen, die es zu seiner eigenen Entfaltung braucht. Ohne erfolgreiche Bemühung um Selbsterkenntnis, inneres Gleichgewicht und schöpferische Selbstentfaltung könnte die Idee einer Weltkultur leicht zu einer sterilen Zwangsvorstellung werden.

Um mit allen Teilen der Menschheit auf gutem Fuß zu stehen, müssen wir mit jedem Teil unseres eigenen Selbst im reinen sein, und um den formenden Kräften in der Weltkultur gerecht zu werden, die sie bedeutungsvoller und verheißender machen als alle früheren Epochen in der Geschichte des Menschen, müssen wir die formenden Kräfte im menschlichen Selbst mit mehr Nachdruck fördern als selbst der axiale Mensch, denn wir können keine geeinte Welt schaffen mit gespaltenen, gehemmten, fragmentarischen Persönlichkeiten, die ihrem Wesen nach zwangsläufig Komplikationen, Konflikte, Zwiespalt und Zerfall verursachen würden.

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Nur die Idee des ganzen Menschen, der sich des Ganzen bewußt ist, wird allen Persönlichkeitstypen, allen Kulturformen und allen menschlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten gerecht. Und nur mit dem Leitbild eines solchen Menschen ist eine Höherentwicklung der Menschheit, wie sie bis jetzt noch von keiner Kultur auch nur annähernd erreicht wurde, möglich.

  

  § 2  

 

Welches ist nun die integrierende Generalidee der Weltkultur?  

Es ist ihr Ziel, alle Glieder der gesamten Menschheitsfamilie untereinander in wechselseitige, von Freundschaft und gutem Willen getragene Beziehungen zu bringen, so daß sie alle, wie nie zuvor, nicht nur das miteinander teilen, was sie durch die Erfahrung der Geschichte gewonnen haben, sondern auch das, was sie durch planmäßige Zusammenarbeit und großzügigen Austausch auf allen Gebieten des Lebens in Zukunft schaffen würden. Frieden würde gewissermaßen eher ein Nebenprodukt eines solchen Gemeinschaftsprojektes sein als seine Veranlassung oder Rechtfertigung; sein Ziel wäre die gemeinsame Nutzung aller Werte der Vergangenheit und Gegenwart und aller Möglichkeiten der Zukunft, eine Erweiterung des historischen Horizontes in alle Dimensionen, wie sie der Flieger erlebt, wenn er in die Stratosphäre vordringt, und eine Erforschung der dunkelsten Tiefen des Lebens, so wie der Taucher die Tiefen des Meeres erforscht. Bis jetzt ist der Mensch selbst noch nicht Einheit genug, um die Welt als Einheit zu begreifen.

Verglichen mit der Welt, die sich jetzt der Erforschung und Eroberung erschließt, erscheinen alle menschlichen Erkenntnisse der Vergangenheit fragmentarisch und die höchsten mit ihrer Hilfe vollbrachten Leistungen anspruchslos. Die von den früheren Universalstaaten und Universalkirchen verfolgten Wege erwiesen sich als Kreisbahnen ohne Ziel und Ende. Selbst die mächtigsten Zivilisationen ermöglichten den Menschen nur ein dumpfes Vegetieren; nur ein Bruchteil der Bevölkerung konnte sich über das Niveau eines tierischen Daseins hinaus entwickeln, und selbst die führende Elite war sich ihres begrenzten Ziels nie ganz bewußt. Zudem waren die großen Zivilisationen nur Inseln, räumlich abgeschnitten von ihren unmittelbaren Nachbarn und zeitlich von den Reichtümern ihrer eigenen Vergangenheit und der der übrigen Menschheit.

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Bis jetzt haben wir nur die Oberfläche gestreift, denn in fast allen Teilen der Welt liegen die Nährstoffe bereit für ein menschliches Wachstum, wie es in keiner früheren Kultur, nicht einmal für ihre wenigen Auserwählten, vorstellbar war. Und diese geistige Nahrung steht einer weit größeren Anzahl von Menschen zur Verfügung, wenn wir erst einmal bereit sind, die von Menschen errichteten Grenzschranken des Gesetzes und der Gewohnheit niederzureißen, die einst die Masse der Menschheit bewußt in einem Dämmerzustand hielten, vor allem, wenn wir erkannt haben werden, daß geistige Ernährung wichtiger ist als industrielle Produktion. Was wahrhaft menschlich ist, darf nicht auf eine einzelne Kultur, auf ein einziges Land, auf einen oder mehrere glückliche Augenblicke der Geschichte beschränkt bleiben.

Alle menschliche Geschichte, bis in unsere Zeit, war eine im Zickzack verlaufende, oft unterbrochene, manchmal rückläufige und kaum bewußte Vorwärts­bewegung auf dieses Ziel zu. Das Fehlen des Bewußtseins von dem, was geschah und was. geschehen konnte, wai eines der Haupthindernisse in der Entwicklung. Jede konstruktive Bemühung, ob praktisch oder geistig, war mit einer Bereicherung der Mittel der Kommunikation, der wechselseitigen Befruchtung und der Zusammenarbeit und mit der Errichtung von gemeinsamen Institutionen, hier ein Staat, dort eine Kirche oder eine Stadt, verbunden, in denen eine größere Anzahl von Menschen in sinnvoller und zweckbewußter Gemeinschaft zusammenkommen konnten.

Je größer eine solche Gemeinschaft war, um so größer wurde das Bedürfnis nach fruchtbaren Kontakten und nach einer Vielfalt von bereichernden Beziehungen, die auch das gemeinsame Erbe vermehrten. Bis zu dem Punkt, wo übergroße Zahl Desorganisation und verschärften Existenzkampf verursacht — vielleicht hat die Welt diesen Punkt erreicht —, bringt eine Steigerung der Quantität die Möglichkeit einer Verbesserung der Qualität mit sich, im sozialen Leben ebenso wie in der biologischen Kreuzung der Genen, wo selbst »arme« Stämme oder primitive Spezies die Möglichkeiten der Vererbung bereichern können.

Während der primitive Mensch sich des Prozesses seiner menschlichen Entwicklung kaum bewußt und gezwungen war, rückwärtsschauend seine Vergangenheit immer wieder von neuem zu wiederholen, kann der Mensch der geeinten Welt sich mit vereinten Kräften der Zukunft zuwenden; er kann sich Aufgaben stellen, die keine auf unmittelbare wirtschaftliche Erfolge bedachte Zivilisation in Angriff nehmen würde, kann Pläne auf lange Zeit, ja auf Jahrhunderte machen.

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Neben solchen Unternehmungen würden die statische Ewigkeit der ägyptischen Pyramiden und selbst die bewunderungswerten, auf lange Zeit berechneten Experimente der Rothamstedt-Versuchsstation in England zwerghaft erscheinen. Das Maß an freier Zeit, freier Energie und freier Entschlußkraft, das dem modernen Menschen zur Verfügung steht, ist so groß, daß er, anstatt den größten Teil seines Lebens dem reinen biologischen Überleben opfern zu müssen, sich ganz der eigenen Selbstentfaltung widmen kann, was bisher nur einer verschwindend kleinen Zahl vergönnt war.

Bisher hatte sich der gesamte Aufwand der Menschheit an Zeit, Kraft und Wollen in tausend technischen verblüffenden Spielereien verzettelt, die aber weit weniger imposant waren als die Pyramiden, dem Hersteller nützten und dem Benutzer schadeten, da sie ihn in seiner menschlichen Entwicklung hemmten. Doch diese künstliche Blockierung des Weges der Menschheit kann überwunden werden. Daß der Lebensstil des sogenannten zivilisierten Menschen die ungeheuren Möglichkeiten, die ihm bereits erschlossen sind, noch nicht widerspiegelt, hat seinen Grund darin, daß seine »expansive Wirtschaft«, die auf Verschwendung und Krieg basiert, nur zwei Endprodukte kennt, Abfallhaufen und Stadtruinen. Wir werden nicht eher in den vollen Genuß unserer menschlichen Erbschaft treten, bis wir die Pläne und Ziele unseres Lebens in uns selbst suchen, anstatt sie uns, wie bisher, von der Maschine diktieren zu lassen.

    

  § 3   

 

Wenn wir den Plan der Zivilisation einer geeinten Welt erkennen wollen, müssen wir zwei Faktoren berücksichtigen, die bei jeder Verwandlung des Menschen eine entscheidende Rolle spielen. Der eine ist der Vorgang der Neubildung, der zweite ist die »Gewebe-Struktur« der menschlichen Geschichte und vielleicht aller Formen organischer Vererbung.

Der Wandel der heutigen Gesellschaftsform, die ein Gemisch von archaischen, zivilisatorischen, axialen, technischen und nationalen Elementen ist, wird nicht das Resultat einer Reihe von kleineren Veränderungen und Verbesserungen, sondern eine radikale Umwandlung, ein Sprung von einer Ebene auf eine andere sein, ähnlich dem historischen Sprung von der neolithischen Stammesgemeinschaft zu der zentralisierten Staatsform, die sich um Städte gruppierte und fähig war, ein ganzes Stromtal zu beherrschen und zu verwalten. Dieses Entstehen eines neuen Systems bringt nicht nur einen Wandel in einzelnen Details, sondern eine Wesensänderung des Ganzen mit sich.

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Da die Zivilisation der geeinten Welt eine echte Neubildung sein wird, entziehen sich ihre charakteristischen Merkmale vermutlich jeder Voraussage. Auf Grund des Mendeljewschen Periodensystems der Elemente war es möglich, alle chemischen Eigenschaften des Radiums einschließlich seines Atomgewichts vorauszusagen bis auf jene, die es zu einer »Neubildung« machte und bis dahin unbekannt war, nämlich seine Radioaktivität.

Wer hätte z. B. im Jahre 1492 voraussagen können, daß die Entdeckung Amerikas durch die Europäer nicht die Versklavung der eingeborenen Indianer, sondern den Import von schwarzen Sklaven aus einem fernen, damals noch fast unerforschten Kontinent nach Amerika zur Folge haben würde?

Und wer kann jetzt erraten, ob die Niederreißung der nationalen und rassischen Schranken zu einer stärkeren Vermischung der Rassen und Kulturen führen wird, wie in Hawaii, oder zu einer Konzentration auf vertraute kulturelle Werte, die einst unter dem Druck des Imperialismus verlorengegangen waren, eine Reaktion, die in der Provence bei den Félibriges eintrat.

Das einzige, was von einer echten Neubildung vorausgesagt werden kann, ist, daß ihre Folgen nicht absehbar sind. Bei jedem Neubildungsvorgang verändert der Wandel in der Grundstruktur das Wesen der Einzelelemente sowohl durch ihre Neuordnung als auch dadurch, daß zugleich vereinzelte und verstreute Mutationen dominierend werden und Kräfte, die vorher bestimmend waren, sich zurückbilden oder sekundär werden.

Wenn es so leicht ist, den Charakter der zu erwartenden Veränderung zu verkennen, indem man die Kultur der geeinten Welt lediglich als eine Erweiterung von Prozessen und Verbesserung von Institutionen auffaßt, dann liegt auch die Gefahr nahe, sie mißzuverstehen, indem man die Elemente der Kontinuität und der Erneuerung übersieht, die in ihr wirksam sind. War es nicht das Außerachtlassen dieser Faktoren, also die Annahme, daß in einem dritten Entwicklungsstadium von den beiden ersten keine Spur mehr vorhanden sein wird, das alle allzu einfachen Fortschrittsschemata, wie die eines Auguste Comte und eines Herbert Spencer, so unrealistisch machte? Und obwohl der Dialektiker Karl Marx diesen Irrtum zu umgehen suchte, indem er sowohl die ursprüngliche These als auch ihre Antithese in die Synthese miteinschloß, hat er keinen Raum frei gelassen für die Elemente, die an seinem dialektischen Schluß nicht beteiligt waren.

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Um die nur teilweisen Erklärungen, die uns die Begriffe Fortschritt und Neubildung liefern, zu ergänzen, müssen wir die Gewebe-Struktur der Gesellschaft betrachten, nämlich die Tatsache, daß Teile des menschlichen Lebens gewissermaßen Fasern und Stränge aussenden, die durch alle Zeitschichten dringen und jedes Entwicklungsstadium durch die Verbindungsfäden sowohl des organischen als auch des sozialen Gedächtnisses mitbestimmen. Die Theorie der Evolution unterscheidet sich von der mehr mechanischen Theorie des Fortschritts dadurch, daß sie diese Gewebe-Struktur in Rechnung zu stellen sucht; die vergleichende Embryologie und die vergleichende Anatomie zeigen uns, daß gewisse Entscheidungen über die Organe des Körpers, die im Stadium der Amphibien fielen, die gesamte weitere Entwicklung beherrscht haben. Dies trifft z.B. zu für die nahe Nachbarschaft der Organe der Fortpflanzung und der Ausscheidung, die beim Frosch biologisch natürlich, dem emanzipierten Liebesbegriff des Menschen vielleicht nicht mehr ganz adäquat ist. Während die Theorie der Neubildung die sprunghafte Verwandlung in eine neue Form, wie z. B. die des Aufstiegs vom Reptil zum Vogel, erklärt, brauchen wir die Theorie der Gewebe-Struktur zur Erklärung der Kontinuität, die sich auch in jeder Neubildung behauptet.

Die Entwicklung des Menschen beginnt nicht mit der statischen Form des Stammes und des Dorfes, um dann eine Reihe von Stufen zu durchlaufen, von denen die neue die alte vollkommen hinter sich läßt, bis sie in einer einzigen einheitlichen dynamischen Struktur ohne Mauern und Grenzen endet, die die gesamte Menschheit umschließt. Die kleinen Gemeinschaften der Steinzeit, die späteren städtischen Zivilisationen, die nachfolgenden axialen und nationalen Kulturen und die mechanischen Modelle der Neuen Welt sind in der einen oder der ändern Form immer noch unter uns und werden noch lange unter uns bleiben. Wir mögen ihre schädlichen Atavismen ausmerzen, doch wir tun gut daran, ihre nützlichen Elemente zu bewahren und zu erneuern. Denn diese lebendigen sozialen Gebilde haben die Rohstoffe zum Aufbau der menschlichen Persönlichkeit geliefert. Selbst jene Abenteuer der menschlichen Geschichte, die nur fragmentarische Symbole und zerfallene Denkmäler hinterlassen haben, mögen für die psychologische Entwicklung ebenso wichtig sein wie chemische Spurenelemente für das physiologische Wachstum. Ohne diese Träger der Kontinuität wären wir verurteilt, auf den kalten künstlichen Asteroiden der posthistorischen Kultur zu leben, die unbestreitbar neu, maschinell perfekt, glatt und uniform, aber unfähig sind, menschliches Leben zu erhalten.

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  § 4  

 

Um den Charakter der kommenden Weltzivilisation als Neubildung klarer herauszuarbeiten, wollen wir zunächst die älteren Fäden betrachten, die dem neuen Gewebe Stärke und seinem Muster Farbe verleihen werden. In jedem Falle müssen wir annehmen, daß die Reste der alten Institutionen noch lebendig genug sind, sich zu erneuern, entweder spontan oder unter unserer bewußten, von der Notwendigkeit diktierten Mithilfe.

Beginnen wir mit der ersten Gemeinschaftsform, die sich aus der Familie und dem Stamm entwickelte und nach der Entdeckung des Ackerbaus zur Bildung des Dorfes führte. Diese Gemeinschaft des primitiven Menschen gründete sich auf das Zusammen­leben in gemeinsamer Umgebung, auf die gemeinschaftliche Beschaffung des Lebensunterhalts und die gleiche unausgesprochene Lebensauffassung. Die Sprache war eins der wichtigsten bindenden Attribute dieser frühen Gruppenbildung; somit ist es nur natürlich, daß jeder Versuch, die Gruppenintegrität gegen die Zentralisationsbestrebungen des Staates zu verteidigen, wie in den regionalistischen und nationalistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, mit der Wiederbesinnung auf die Volkssprache beginnt. Doch das gegenseitige Verstehen, das tiefer reicht als Worte, beruht vor allem auf der täglichen Begegnung von Angesicht zu Angesicht, in dem Bewußtsein, daß »alle in einem Boot sitzen«. Dieses fast animalische Zusammen­gehörigkeitsgefühl befähigte die kleine militärische Einheit oft, auch noch im zweiten Weltkrieg, dazu, durch außergewöhnliche Taten kameradschaftlicher Treue und Opferbereitschaft zu überleben, wenn alle andern Appelle wirkungslos geworden waren.

Familie, Haushalt, Nachbarschaft, Gruppenarbeit mögen in der Zukunft neue Formen annehmen auf Grund unseres wachsenden Verständnisses für ihre tiefere Bedeutung und ihren schöpferischen Wert, doch die Intimität, die sie erzeugen, und die Solidarität, die sie fördern, sind wesentlich für die Erhaltung und echter Menschlichkeit. 

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Die Schaffung von Organen der Nachbarschaftshilfe und der Gemeinschaftsinitiative, das Treffen von Angesicht zu Angesicht zu klärenden und befruchtenden Diskussionen, die Teilnahme an Gemeinschaftsfeiern, nicht in anonymen Massen, sondern in einem Kreis vertrauter und identifizierbarer Gesichter, alle diese Überbleibsel des ursprünglichen Dorflebens sind auch heute noch lebensnotwendig. Sie erhalten jenes Fluidum mitfühlenden Verständnisses, in dem der Mensch zum erstenmal seine Menschlichkeit erkannte und sich als Glied der Menschheit fühlte. Die Augen des Nächsten sind der unentbehrliche Spiegel, in dem das Selbst sein eigenes Bild erblickt und seine Identität erlebt.

Je mehr wir unsern Planeten als eine Einheit begreifen und je freier wir uns auf ihm, forschend oder arbeitend, bewegen, um so notwendiger wird es sein, eine heimatliche Basis zu besitzen, ein seelisches Zuhause mit sichtbaren Kennzeichen und vertrauten Nachbarn. Die Welt wird keine echte Einheit werden, mag sie auch noch so sehr zusammenschrumpfen durch Perfektionierung von Radio, Fernsehen und Verkehr, wenn wir erlauben, daß die Nachbarschaft als Idee und soziale Form verschwindet.

Diese Urtypen der menschlichen Gemeinschaft erhielten sich als Elemente der archaischen Tradition bis in unsere Zeit; sie schienen eher natürlich gewachsene Gebilde als bewußte, den menschlichen Bedürfnissen angepaßte Organisationsformen zu sein, doch es war ihr Schicksal, von dem Moloch der Massenzivilisation verschlungen zu werden, bevor ihr Fehlen sich bemerkbar machte oder ihre positiven, vor allem ihre erzieherischen und menschbildenden, Funktionen vermißt wurden. Wenn wir jetzt diese intimen Gemeinschaftsformen von neuem beleben wollen, so deshalb, weil wir ihre Unentbehrlichkeit erkannt haben und begreifen, eine wie wichtige Rolle sie in der Erhaltung echter Menschlichkeit gespielt haben und in ihrer weiteren Entwicklung noch spielen können. Gerade wegen ihrer natürlichen Mannigfaltigkeit, die sie der Mischung der Altersstufen und Geschlechter mit ihren verschiedenartigen Lebenserfahrungen verdanken, repräsentieren die kleinen Gemeinden die Menschheit besser als jede organisierte Gemeinschaft, die für einen bestimmten Zweck gebildet wurde oder nur eine bestimmte Berufsgruppe oder Altersklasse umfaßt.

Die Urform des Dorfes und der Familiengesellschaft, die in der Kultur der jüngeren Steinzeit geprägt wurde, ist immer noch gültig und heute vielleicht lebenswichtiger als je. Nur in der engen und gemischten Gemeinschaft der Familie und der Nachbarschaft, der Spielkameraden und der Arbeitskollegen gedeihen die für das

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Wachstum des Menschen unerläßlichen Tugenden des Vertrauens, der Solidarität, des gegenseitigen Verständnisses und der einmütigen Lebensauffassung. Die Aufdeckung und wissenschaftliche Formulierung dieser Tatsache war das große Verdienst des amerikanischen Soziologen Charles Horton Cooley; sie hat seither ihren konstruktiven Ausdruck in den praktischen Vorschlägen vieler, voneinander unabhängiger Köpfe, wie Peter Kropotkin, Ebenezer Howard, Clarence Perry und Adriano Olivetti, gefunden und muß, wenn die Kultur der geeinten Welt Wirklichkeit werden soll, in den kommenden Jahrzehnten als oberstes Prinzip gelten.

Die Tatsache, daß ein wachsender Teil der Erdbevölkerung in größerem Maße als vielleicht je zuvor ein Nomadenleben führt, ändert nichts an unserer Perspektive; dies hat seinen Grund darin, daß die Entfernungen größer und die sekundären, auf bestimmte Funktionen und Zwecke ausgerichteten Verbindungen wichtiger geworden sind. Weil wir ständig mit Menschen zu tun haben, die wir nie sehen werden, und weil wir so viel von unserem täglichen Leben aus zweiter, ja aus noch entfernterer Hand leben müssen, brauchen wir eine Belebung und Vertiefung der unmittelbaren Ich-und-Du-Beziehungen. Ohne engeren menschlichen Kontakt werden die Menschen einander zu Dingen, zu leblosen Figuren. Vor allem bedürfen wir, besonders als Kinder, der beruhigenden Gegenwart einer sichtbaren Gemeinschaft, einer vertrauten Gruppe, die uns mit Verständnis und Liebe umgibt und Gegenstand unserer spontanen Zuneigung und unser Maßstab für die übrige Menschheit wird.

Über die Unbeständigkeit der modernen Stadtmilieus, die einer solchen Solidarität und Kontinuität entgegenzuwirken scheint, mögen zwei Dinge gesagt werden. Zum Teil haben diese Diskontinuität und Oberflächlichkeit, die sich in ständigem Wechsel von Beruf und Wohnung, in zerbrochenen Ehen und zerrissenen Familienbanden äußern, ihren Grund im Versagen unserer herrschenden Institutionen, dauerhafte Befriedigung zu gewähren oder echte menschliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. Doch selbst wenn wir zugestehen, daß diese äußere Unruhe zum Teil nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert, und nicht nur wünschenswert, sondern oft geboten ist, so schließt sie nicht die Möglichkeit warmer menschlicher Beziehungen und echter Treueverhältnisse aus. Es gibt keine moderne Stadt, deren Bevölkerung so stark fluktuiert wie die Gemeinschaft eines College, von der, grob gerechnet, alle vier Jahre ein Viertel ausscheidet und durch neue Schüler ersetzt wird.

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Doch auf Grund der engen inneren Einheit des College, seiner altehrwürdigen Gebäude und Anlagen bringt keine andere Institution unserer Zivilisation zahlreichere, das ganze Leben währende Treueverhältnisse hervor oder weckt in ihren Gliedern einen tieferen Sinn des »Dazugehörens«.

Die Gemeinschaft, die den höchsten Grad an Solidarität und Kontinuität in der menschlichen Geschichte erreicht hat, obwohl sie Epochen durchlebte, in denen Reiche vernichtet und Städte in Trümmerhaufen verwandelt wurden, ist das Volk der Juden. Vielleicht war das Geheimnis dieser Fähigkeit, die wiederholten Verfolgungen und Verschleppungen, beginnend mit der babylonischen Gefangenschaft, zu überleben, die Synagoge, die Gemeinschaft derer, sie sich zumindest einmal in der Woche von Angesicht zu Angesicht trafen, und zwar die Jungen und die Alten, die Gebildeten und die Unwissenden, die Reichen und die Armen. Weil sie sich in dieser Urgemeinde eine Kernzelle erhielten, wurden die Juden nie zu dem menschlichen Staub, der in den Zerfallsphasen aller großen Zivilisationen ziellos durch die großen Städte geweht wurde.

Als die römische Zivilisation unterging, war es wiederum in einer nach dem Vorbild der Synagoge geformten Gemeinschaft christlicher Gläubiger, in der der menschliche Geist die Kraft fand, seine großen Prüfungen zu bestehen. Diese Form der Urkirche ist nie in der Universalkirche aufgegangen, ja, die straff zentralisierte Organisation der Christenheit wurde bis zum 16. Jahrhundert nur ermöglicht durch die lokale, auf Nachbarschaft gegründete Einheit, die Pfarrei, die mehr war als nur ein Verwaltungsorgan, sondern selbständiger Ausdruck des Gemeindelebens.

Die engen Beziehungen innerhalb der lokalen Gemeinschaft sind somit der natürliche Nährboden für den Geist jeder höheren und weiteren Zusammengehörigkeit, einschließlich der im Rahmen einer Weltorganisation. Nur wenn diese elementaren Bindungen erneuert und gestärkt werden, wird die Entfaltung der Menschheit in der Freiheit einer einheitlichen Weltorganisation ohne die Gefahr der Zersplitterung möglich sein. Die Reformierung und Modernisierung der kleinsten lokalen Einheit als politische und soziale Kernzelle ist eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Generation. In Belegschaftsversammlungen, Gemeinde­ausschüssen und Nachbarschaftskomitees haben wir das Experiment dieses großen Werkes bereits begonnen.

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Die heutige Gesellschaft trägt noch immer die Wunden des militärischen und des industriellen Absolutismus, die die Neue Welt beherrschten. Diese Regime zerbrachen alle ursprünglichen Bindungen und Treueverhältnisse in den kleinen Gemeinschaften, damit sie keinen Anteil an der zentralisierten politischen und finanziellen Macht fordern sollten. Nach dem Prinzip der Demokratie steht ihnen dieser Anteil gesetzmäßig zu, und er wird erweitert werden mit der Stärkung der lokalen Einheiten und der Bestätigung ihrer Verantwortung als selbständige, aber zusammenwirkende Bestandteile des Ganzen.

Keine isolierte, archaische Form des Gemeinschaftslebens wird die Anforderungen einer neuen Weltgesellschaft erfüllen können; die Flagge der Vereinten Nationen sollte überall wehen, wo Menschen zusammenwohnen, als Mahnung an die größere Gemeinschaft, zu der sie gehören. Die Formen, die primitive Gesellschaften in vielen Jahrhunderten für sich selbst entwickelten, müssen, wenn sie wiederentdeckt sind, mit politischer Weitsicht, sozialem Takt und psychologischem Einfühlungsvermögen modernisiert werden. Doch wir dürfen nie vergessen, daß ohne eine klare und ausgeglichene Zellengliederung jedes soziale Wachstum zu krebsartigen Wucherungen führen muß.

Über diese Erneuerung der ersten Gemeinschaftsform hinaus müssen wir auf unserer Suche nach lebendigen Werten bis zu den ältesten Quellen der menschlichen Kultur vordringen. Als die westlichen Seefahrer und Forscher die Erde erschlossen, erkannten sie nicht die wissenschaftliche und praktische Bedeutung der wilden Pflanzen, die sie niedertrampelten und oft ausrotteten. Bevor der moderne Mensch den kulturellen Wert dieser Urlandschaften, ja auch nur die Möglichkeit ihrer wirtschaftlichen Nutzung, etwa zur Züchtung neuer Pflanzensorten oder zur Gewinnung von Arzneien, begriff, hatte er sie zerstört. Das gleiche trifft zu für die primitiven Völker, deren Kulturen er hochmütig vernichtete, Kulturen, die noch Überreste alter, vom zivilisierten Menschen zum Teil aufgegebener Geistesgüter enthielten.

Erst spät haben die Anthropologen begonnen, die Kulturwerte zu würdigen, die der primitive Mensch auf Grund seines Widerstandes gegen universalere Lebensformen erhalten und entwickelt hat. Die philologische Untersuchung der Struktur der primitiven Sprachen hat z. B. eine Vielfalt grammatikalischer, logischer, ja sogar metaphysischer Elemente enthüllt, die wesentlich verschieden sind von zivilisatorischen Denkformen. Hierdurch sind wir uns erst jetzt unserer eigenen ideologischen Absonderlich­keiten und Voreingenommenheiten bewußt geworden, die bisher als natürliche Attribute unserer Natur betrachtet wurden.

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 Diese Entdeckung ist ebenso erhellend und befreiend wie die Entdeckung der Möglichkeiten des mehrdimensionalen Raumes, im Gegensatz zu der Geometrie des Euklid. So enthüllt uns das Studium der primitiven Volksbräuche, Riten und Kunstformen neue Aspekte schöpferischer Betätigung, die, organisch genutzt, eine Bereicherung unserer Kultur versprechen. Obwohl viele fruchtbare Lebenswerte unwiderruflich verlorengegangen sind, bleibt genug an Überliefertem und Lebendigem, um dem menschlichen Wachstum neuen Ansporn zu geben durch die Erneuerung primitiver Kulturwerte, die vor langer Zeit zu voreilig verworfen wurden.

Diese auswählende Aneignung primitiver Kulturelemente, die jetzt erst beginnt, ist einer der vielen Faktoren, die helfen werden, den Menschen der geeinten Welt zu schaffen. Die Rehabilitierung des Primitiven durch den modernen Menschen ist mehr als ein Akt moralischer Wiedergutmachung, sie erfüllt einen doppelten praktischen Zweck, indem sie sowohl zur Entwicklung seiner eigenen universalen Kultur als auch zur Erhaltung der noch lebendigen primitiven und archaischen Werte beiträgt.

Auf der einen Seite schafft sie, wie C.G. Jung dargelegt hat, ein nützliches Gegengewicht zu seinem überrationalisierten Weltbild, das zu ausschließlich Produkt seiner emanzipierten Intelligenz ist und sich den natürlichen Manifestationen des Lebens verschließt, und auf der ändern Seite gibt sie dem Primitiven seine Selbstachtung wieder und befähigt ihn, die rationale Weltkultur, die seinem eigenen Lebensstil früher feindlich gesinnt zu sein schien und es auch oft war, ohne Furcht und Haß annimmt.

Dies bedeutet nun nicht, daß wir den ungebildeten »edlen Wilden« in Reinkultur erhalten sollen; im Gegenteil, der Primitive hat viele abergläubische Vorstellungen, die er verlieren muß, und er kann viel gewinnen, wenn er sich die Vorteile einer Weltkultur zunutze macht. Nur die Einführung der Blumenkultur durch den westlichen Menschen hat in Hawaii die Umwandlung der traditionellen aristokratischen Muschelkette in die reizvolle volkstümliche Blütenkette möglich gemacht, und erst durch die Verwendung der westlichen Tonleiter erfuhr die primitive Musik der Hawaiianer die Bereicherung, die sie so charakteristisch und weltberühmt machte. Beide Kulturen gewannen durch diese gegenseitige Befruchtung. Diese Einzelvorgänge sind prophetische Beispiele für die zu erwartenden Früchte eines sich ständig erweiternden Kulturaustausches in der Freiheit einer offenen Welt.

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Doch um dem Primitiven zu helfen, seine Selbstachtung wiederzugewinnen und ihm Vertrauen in seine eigene Höherentwicklung zu geben, muß man bereit sein, von ihm zu lernen, zu empfangen und zu geben. Dies gilt für die primitiven Elemente in der menschlichen Psyche und für die primitiven Völker, die in der westlichen Phantasie so oft die dunkle Seite der menschlichen Natur darstellen. Der Mensch der geeinten Welt wird weit davon entfernt sein, den Primitiven zu verachten oder ihn vollständig verändern zu wollen, sondern er wird sich mit verbinden, um eine gemeinsame höhere Kultur zu schaffen. Dies bedeutet nicht eine wahllose Vermischung von Regionalkulturen und Rassen, obwohl sie in einem nicht voraussagbaren Maß zweifellos auch stattfinden wird, wie bereits in Hawaii und Brasilien. Durch ein verstärktes Interesse an den ererbten Kulturgütern der Eingeborenen gewinnen die brüchigen und verblaßten Fäden der modernen Kulturen ihre alte Festigkeit und ihre alten Farben wieder und tragen dazu bei, das Muster, der Weltkultur zu bereichern.

  

   § 5  

 

Was die Beiträge der »Zivilisation« in dem von uns definierten Sinne betrifft, so müssen wir annehmen, daß ihre Einrichtungen in einer Weltkultur eher erweitert als eingeschränkt werden. Doch sie werden weniger Gewicht haben. Als Träger der mechanisierten Uniformität hat die Zivilisation ihren Wirkungsbereich weit über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus ausgedehnt; sie hat mit dem metrischen System eine fast welteinheitliche Meßmethode eingeführt, und ein Weltkalender und eine Welthilfs­sprache sind in Sicht. Diese Art der Uniformität könnte mit großem Nutzen auch auf andere Gebiete ausgedehnt werden. Wenn der Mensch die Maschine in Übereinstimmung mit seinen eigenen Werten und in Verfolgung seiner eigenen Ziele vervollkommnet, wird sie platonische Idealformen annehmen, die immun sind gegen Entartungen und für Jahrhunderte stabil bleiben werden.

Diese homogenen zivilisatorischen Faktoren werden den Bereich wirksamer Zusammenarbeit erweitern, ohne die menschlichen Werte zu beeinträchtigen. Der Flieger, der auf einem fremden Flugplatz eine Landebahn sucht, ist dankbar für die vertrauten internationalen Signale, die zu seiner Sicherheit beitragen.

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 Die Beibehaltung sinnloser Differenzierungen ist ebenso rückschrittlich wie die Abschaffung sinnvoller Unterschiedlichkeiten. So können wir ohne Befürchtungen der weiteren Gleichschaltung weltumspannender Funktionen entgegensehen, denn sie erweitern den Bereich voraussagbaren Verhaltens und allgemeinen Verstehens, den die Zivilisation in ihrer ersten Phase, wenn auch zu einem hohen Preis, erobert hat. Durch gesunde Standardisierungen werden die höheren Funktionen der Gesellschaft entlastet, so wie Vorgänge in einem Organismus, die bisher bewußter Kontrolle bedurften, durch Reflexe ersetzt werden.

Auf juristischem Gebiet ist die Festlegung der Rechte und Pflichten für die Mitglieder einer universalen Gesellschaft ebenfalls nur eine Erweiterung der bisherigen internationalen Vereinbarungen. Die menschlichen Grundfreiheiten, die Freiheiten des Denkens und Glaubens, der Meinungsäußerung, des Zusammenschlusses und der Niederlassung, die man als die Freiheiten der Selbstverwirklichung und des autonomen Handelns zusammenfassen kann, sind die Grundpfeiler einer Weltregierung. Ebenso verhält es sich mit den Sicherheiten, mit der Sicherheit für Leben und Eigentum, der Sicherheit vor Zwang, Freiheitsberaubung und willkürlicher Gewalt; sie sind die Minimalforderungen für alle Formen des Zusammenlebens geworden, und nur wenn sie anerkannt und gesichert werden, kann eine Weltgemeinschaft hoffen, Bestand zu haben.

In gleicher Weise werden auch die axialen Fäden im Muster einer Kultur der geeinten Welt nicht fehlen. Die axial« Kultur ist, wie wir gesehen haben, gekennzeichnet durch ideale Aspirationen, die eine universale Bruderschaft durch Hinwendung des Menschen zu überpersönlichen Zielen fördern. Sie versucht, sowohl die Grenzen der natürlichen Gemeinschaft als auch des organisierten Staates zu überwinden durch Pflege des Wachstums des inneren Menschen im Sinne seiner letzten Hoffnungen und Erwartungen. Wo dieser Weg in Freiheit und bewußt gegangen wird und zur Vertiefung und Erweiterung menschlicher Beziehungen ohne Ansehen der Geburt, der Klasse, des Vermögens und der Stellung führt, ist das axiale Ferment noch wirksam. Doch um die Weltkultur möglich zu machen, werden die axialen Religionen ihre unzeitgemäß gewordenen Ansprüche auf übernatürliche Offenbarungen und exklusive geistige Führerschaft und vor allem ihre auf diese Ansprüche gegründete Forderung nach irdischer Autorität aufgeben müssen. Sie werden gut daran tun, jene Züge, die sie mit einer bestimmten Kultur oder politischen Gesellschaft identifizieren, zu mildern, so wie es die Jesuiten in China bei ihren ersten missionarischen Unternehmungen taten.

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Der Tag, an dem die axiale Religion als transzendentale Vereinigung Erlösung suchender Seelen im Namen ihrer Göttlichkeit eine untergehende irdische Gesellschaft von machtlosen Körperschaften und gefallenen oder noch nicht erweckten Menschen übernehmen sollte, kommt jetzt nicht mehr. Die Begriffe »irdisch« und »göttlich«, Untergang und Erlösung können heute in diesem Sinne glaubwürdig nicht mehr interpretiert werden, und eine solche Erlösung kann kaum als mehr betrachtet werden denn als ein Schmerzlinderungsmittel, das allzuoft verordnet wurde. Heute suchen wir nicht nur den Schmerz zu lindern, wir suchen die Krankheit zu erkennen und zu heilen. Die einander ablösenden Aufstiegs- und Niedergangsphasen der universalen Kirchen, die ihre ursprünglich beanspruchte Universalität mit der Zeit Lügen strafen, selbst wenn sie auch nicht so tief sinken, geistige Erlösung gegen Bargeld auf dem Markt zu handeln, versprechen kaum mehr als das zyklische Auftauchen von Säkularstaaten. Wenn, wie Toynbee betont, die zweite immer eine »leere Wiederholung« ist, muß man dann nicht bei nüchterner Beurteilung das gleiche auch von der ersten sagen? Unter den Bedingungen, auf denen alle Weltreligionen bis jetzt beharren, kann keine von ihnen hoffen, die ganze Herde der Menschheit in ihrer Hürde zu vereinigen.

Dies bedeutet also, daß für die axialen Religionen der Zeitpunkt einer allgemeinen Entweltlichung und Vergeistigung gekommen ist, einer Intensivierung und Erweiterung der Bewegung, die vor drei Jahrhunderten von der Gesellschaft der Freunde begonnen wurde. Doch weil die axialen Religionen dem Leben einen tieferen Sinn gaben und den Menschen befähigten, ein höheres Selbst zu begreifen, als er durch seine sozialen Bestrebungen und in seinen säkularen Institutionen zu verwirklichen suchte, wird der axiale Gedanke in allen Bemühungen um Selbstüberwindung wirksam bleiben.

Obwohl wir die Schwierigkeiten der Verwirklichung eines höheren Selbst nicht länger unterschätzen dürfen, und obwohl wir für diese Aufgabe Hilfe aus anderen Bereichen heranholen müssen, behält der ursprüngliche zündende Impuls seinen Wert. Die axiale Religion bleibt der Ausgangs­punkt für eine höhere Form der Gemeinschaft, wie keine universale Kirche sie, es sei denn im Traum, verwirklicht hat; sie ist Beginn und nicht Endziel. Was die axialen Religionen bis jetzt durch mündliche Belehrung und Ermahnung, Wunder und Mythen, Dogmenglauben und Bekehrung zu erreichen suchten, das wird in Zukunft durch umfassendere Methoden erstrebt werden, in denen Wissenschaft und Technik als Werkzeuge autonomer Menschen ihre Rolle spielen werden.

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Doch diese Beschneidung der ursprünglichen Führungsrolle der axialen Religionen hat auch für sie selbst einen tröstlichen Aspekt.

Nur in einer Weltgesellschaft und in einer geeinten Menschheit werden die axialen Religionen ihre lähmenden Kompromisse mit Stammesgöttern und zivilisatorischen Ungerechtigkeiten überwinden. Wenn sie einmal von der unwürdigen Sorge um ihr irdisches Überleben befreit sein werden, wird der Ewigkeitsfunke, den sie dem Menschen gebracht haben, der aber jetzt zu ersticken droht, wieder aufglühen. Ohne den Sinn für die tiefere Bedeutung und die unendlichen Möglichkeiten des Lebens, den die axialen Religionen lebendig erhalten haben, wäre die Schaffung einer Weltkultur wohl kaum die Anstrengungen wert, die sie erfordert; denn ihre begrenzten Ziele, Frieden, Ordnung, Macht, Wohlstand und Wissen, wären Trugbilder, die durstige Seelen enttäuschen müßten, wenn sie als letzte Erfüllung des Lebens betrachtet würden.

     

  § 6  

 

In gleicher Weise müssen wir mit den beharrenden Ideen und Institutionen der Neuen Welt verfahren; nur wenn sie andere Bedürfnisse verdrängen, gefährden sie das menschliche Wachstum.

Vielleicht mehr noch als heute werden die Wissenschaften in einer. Weltkultur auf jedem Lebensgebiet eine wichtige Rolle spielen. Die exakten Methoden der Beobachtung und Untersuchung und die verfeinerten Begriffsbestimmungen des Wissen­schaftlers sind nicht länger auf die »physikalische Welt« beschränkt. Diese segensreiche neue Denkweise muß in jeder menschlichen Betätigung angewandt werden und die menschliche Persönlichkeit zu einer ständigen moralischen Selbstzucht erziehen. Dagegen wird der Wissenschaftler Impulse und Eingebungen benutzen, die bisher aus dem Denken der Wissenschaft offiziell ausgeschlossen waren, obwohl sie in den besten Köpfen nie ganz fehlten. Die Befreiung der Einbildung in der Wissenschaft erweitert nicht nur das potentielle Feld menschlichen Handelns, sondern schafft auch jene ästhetische Atmosphäre, die den menschlichen Geist zur Hervorbringung neuer Formen und Ideen anregt. In der Welt, die die Mathematiker, Physiker und Astronomen in unserer Zeit erschlossen haben, ist das Geheimnis, das die Religion als erste anerkannt hatte, noch tiefer geworden.

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Diese Einsichten werden an Wert nicht verlieren, sondern gewinnen, wenn der Mensch seine zentrale Stellung als Mittler und aktiver Lenker der vielfältigen Kräfte, die sein Dasein beherrschen, wieder einnimmt, wenn er nicht länger nur sehendes Auge, manipulierende Hand oder emanzipierter Verstand ist.

Bisher war die Wissenschaft stolz auf ihre unpersönliche »Objektivität«, d. h. ihre Fähigkeit, Subjekte als Objekte, Organismen als Mechanismen und Personen als Dinge zu behandeln. Doch sie wird ihre wahre Reife erst erreichen und eine wahrhaft objektive Einsicht in die bisher aus ihrem Bereich ausgeschlossenen Erscheinungen erlangen, wenn sie die volle Bedeutung der natürlichen Ordnung der organischen Entwicklung und Verwandlung erkannt hat und anerkennt. In dieser Ordnung erscheinen das Physikalische, das Biologische, das Soziale und das Persönliche in einer aufsteigenden Hierarchie. Kausale Interpretation wird fast ausschließlich im physikalischen Bereich angewandt, während die finale Interpretation im Bereich des Persönlichen immer wichtiger wird. Doch selbst auf der niedersten Stufe existieren Leben und Verstand als potentielle Kräfte, und Sein auf jeder Ebene stellt einen Wert dar, während selbst auf der höchsten, die kausale Determination und das organische Beharrungs­vermögen in Rechnung gestellt werden müssen. In einer endgültig geeinten Wissenschaft werden die Methoden der reduktiven Analyse und der konstruktiven Synthese sich nicht länger gegenseitig ausschließen, noch werden sie als getrennte Provinzen der Wissenschaft und des Humanismus gelten.

Und der Wissenschaftler selbst wird sich als geeinter ganzer Mensch so unbefangen von einer Lebenssphäre in die andere begeben, wie Christopher Wren und Goethe es taten. Er wird aufhören, das spezialisierte, entpersönlichte Selbst, das er allzu bereitwillig vom zivilisierten Menschen übernommen hatte, als sein Idol der »Objektivität« zu betrachten. Und wenn früher strengste Arbeitsteilung zum Zwecke höherer Produktivität sein oberstes Gebot war, wird er dann großzügige Bereitwilligkeit zum Austausch von Erfahrungen zeigen und frei sein von der kleinlichen Eifersucht des Spezialisten und der Arroganz des Experten. Werke wie D'Arcy Thompsons Wachstum und Form und Herman Weyls Symmetrie werden nicht länger bewundernswerte, aber nicht nachgeahmte Ausnahmen sein.

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In Wissenschaft und Technik wird die geeinte Welt keinen einzigen gesunden Fortschritt ungenutzt lassen, der während der letzten fünf Jahrhunderte gemacht worden ist, von der Druckerpresse bis zum Zyklotron, vom Treibhaus bis zur wissenschaftlichen Bodenanalyse und Pflanzenzucht. Er wird vielmehr jede neue Erfindung und jede neu entdeckte Wahrheit ihrer vollen vernünftigen Verwendung zuführen und Forschungsarbeiten vorantreiben, die vernachlässigt wurden, weil sie den finanziell Interessierten keinen Profit versprachen. Indem sie die Wissenschaft und die Technik von ihren unbewußten Antrieben befreit, wird die geeinte Welt diesen beiden wichtigen Lebensgebieten eine gesündere Grundlage geben und sie voll in den Dienst der Erziehung und Entwicklung des Menschen stellen.

Wir können auch nicht auf den Geist des Abenteuers, die Liebe zur Freiheit, das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Bereitschaft zu kühnen Experimenten verzichten, die durch die Demokratie der Neuen Welt geweckt und angespornt wurden. Viele der Werte der Neuen Welt, die wir bei Emerson, Whitman und Thoreau finden, müssen wiederbelebt und zur Erreichung noch größerer Ziele erweitert werden. Unsere Parole lautet nicht mehr: Passage nach Indien, sondern: Passage nach mehr als nach Indien!

Denn das Ziel des Abenteuers ist nicht länger das der früheren Entdecker und Pioniere, nämlich, so schnell wie möglich die gesamte Oberfläche der Erde abzustecken; wir müssen alle Bereiche planmäßig erkunden und uns intensiver mit vielen Details beschäftigen, die der Geist der Neuen Welt in seinem stürmischen Expansionsdrang nur oberflächlich registriert oder ganz übersehen hat. Durch Konzentration und Intensivierung muß die Ideologie der Neuen Welt sich selbst erneuern, um die Begrenztheit ihrer ursprünglichen Ziele und Mittel zu überwinden. Nicht Expansion und Eroberung, sondern gründliche Erforschung, nicht »Freiheit von«, sondern »Freiheit zu«, nicht totale Mechanisierung um der Macht, des Profits, der Produktivität oder des Prestiges willen, sondern eine Technisierung, gemessen am menschlichen Bedürfnis und begrenzt durch die Erfordernisse des Lebens, werden die Programme aller wirtschaftlichen und sozialen Unternehmungen diktieren. Dies bedeutet den Übergang von einer Geldwirtschaft zu einer Lebenswirtschaft.

Die alte Erforschung ist beendet. Unter der Führung der geeinten Welt wird »die neue Erforschung«, wie Benton MacKaye sie genannt hat, beginnen, die Koordinierung aller Erkenntnisse und Werte und ihre Ausrichtung auf die Schaffung eines einheitlichen Lebensplanes. Diese Neue Erforschung ist mehr als nur geographisch gemeint, obwohl ihre Bedeutung für das Gesicht der Erde sehr groß ist.

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Denn eine systematische Bestandaufnahme aller Möglichkeiten des menschlichen Daseins nach neuen ökologischen Gesichtspunkten ist die Grundvoraussetzung für eine gesunde Reform in der Besiedlung, Kultivierung und Bebauung unseres Planeten. Diese Reform wird mehr sein als ein Bruch mit den Gewohnheiten der Neuen Welt, sie wird eine moralische Wiedergutmachung für vier Jahrhunderte brutaler Ausbeutung und Schändung sein.

Dieses neue Abenteuer erfordert geistige Reife, die dem jugendlichen Heroismus der frühen Entdecker und Forschungsreisenden fehlte; denn es ist eine Expedition in die Tiefe, die alle geologischen, klimatischen, vegetativen, historischen, kulturellen, psychologischen und ästhetischen Möglichkeiten jeder Landschaft erkunden, bewerten und für die Bedürfnisse und höheren Ziele des Menschen auswerten soll. Das liebevolle und gründliche Studium des unmittelbaren Lebensumkreises, wie Henry Thoreau es als erster unternahm, muß systematisch auf der ganzen Erde durchgeführt werden; und obwohl es alle Mittel der Wissenschaft in seinen Dienst stellen wird, braucht es nicht, wie Patrick Geddes in seinem regionalen Versuch gezeigt hat, ausschließlich das Werk von Spezialisten zu sein. Ein solches Unternehmen hat zugleich auch eine erzieherische Funktion; deshalb sollten sich an ihm alle Glieder einer Gemeinschaft beteiligen und nicht zuletzt die Schulkinder.

Die Menschheit lebt seit ungefähr einer Million Jahre auf diesem Planeten, doch viele Möglichkeiten unserer Erde sind noch nicht verwirklicht. Vieles, das bis jetzt übersehen wurde, wird zum erstenmal entdeckt, bewertet und genutzt werden. Vieles, das einst durch Unwissenheit oder Habgier zerstört worden ist, wird wiederhergestellt werden. Vieles, das noch roh ist, muß geschliffen werden, so wie die großen englischen Grundbesitzer die Landschaft ihrer Güter umgestalteten, so daß jeder Blick ein schönes Bild bot. Und vieles, das nur existiert,'um betrachtet und bewundert zu werden, ohne daß man sich bemüht, es zu ändern, wird seinen Zweck weitererfüllen, ohne die Gefahr einer technischen »Verbesserung«. Berggipfel, die durch Seilbahnen und Autostraßen für jedermann erreichbar waren, werden von diesem Komfort befreit werden, um den Lohn der Einsamkeit und des weiten Horizonts nur jenen zu schenken, die fähig und willens sind, ihn durch eigene Anstrengung zu verdienen.

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Der nicht geringste Beitrag der Zivilisation der Neuen Welt, wenn sie einmal ihre Kräfte in menschlichere Kanäle leitet, wird in der Wiedergutmachung ihrer alten Fehler bestehen, in der Wiederseßhaftmachung der Menschen, der Wiederauffüllung vergeudeter Vorräte, der Wiederherstellung des zerstörten Landschaftsbildes, kurz, eine umfassende Beseitigung der Schäden, die sie durch ihre blinden Übergriffe gegen die biologische Umgebung und gegen die Kulturen primitiver Völker und durch die Zerstörung des für das Stadtleben so notwendigen ländlichen Hintergrundes im Zuge ihrer kopflosen Ausdehnung der Großstädte verursacht hat. Glücklicherweise steht genug Erfahrung und Wissen zur Verfügung, um die üblen Folgen hemmungsloser Habgier zu beseitigen und eine Umwelt neuzugestalten, die durch übergroßes Vertrauen des technischen Menschen in seine von der Maschine diktierten Pläne lebensfeindlich gemacht worden war.

 

Seit im Jahre 1864 George Perkins Marshs klassisches Werk Der Mensch und die Natur erschien, ist die Notwendigkeit einer Erneuerung und Verschönerung des Angesichts der Erde immer mehr anerkannt worden. So entstanden in den letzten Jahrzehnten viele Naturschutzparks, die als Erholungsstätten für den menschlichen Geist ebenso wichtig sind wie als Gehege für das Wild. Doch dieser Prozeß erfordert eine viel breitere Basis, als der kühnste Reformer je zu planen wagte. Wenn wir eine ausgeglichene Umwelt schaffen wollen, in der der Mensch sein inneres Gleichgewicht finden soll, dann werden wir in den meisten unserer verkehrsreichsten Bevölkerungszentren umfangreiche Zerstörungen vornehmen müssen, um in Jahrzehnten die Grundvor­aussetzungen für ein gesundes und volles Leben schaffen zu können. Der Glaube, daß der Prozeß der Mechanisierung und Verstädterung, der unser Jahrhundert kennzeichnet, dem Gesetz automatischer Beschleunigung untersteht, ist ein Aberglaube, der von jenen verbreitet wird, die die Maschine zu ihrem Gott gemacht haben. Eine Weltkultur wird, indem sie allgemeine menschliche Normen festsetzt, diesen Prozeß nicht nur verlangsamen, sondern ihn in vielen Fällen umkehren.

Im Amerika haben wir kürzlich einen blinden Bevölkerungszustrom in die verheißungsvollen Küstengebiete Kaliforniens erlebt. Doch da er sich ohne soziale Voraussicht oder kluge politische Lenkung vollzog, hat er die natürlichen Vorteile, die die Zuwanderer angezogen hatten, bereits wieder illusorisch gemacht. In einer Weltzivilisation wird die Notwendigkeit, derartige Bevölkerungsbewegungen in günstige Gebiete zu kontrollieren, eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der Regierungen sein, ebenso schwierig wie die Aufgabe, für jeden Bereich nach vernünftigen Maßstäben die optimale Bevölkerungsdichte festzusetzen.

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Was in beiden Fällen nicht durch bewußte Überlegung unmittelbar entschieden werden kann, muß erreicht werden durch die Entwicklung einer allgemeinen Auffassung der Umwelt als Kunstwerk, dessen gesetzmäßige Formen respektiert werden. Hier kann das Vertrauen des Menschen der Neuen Welt in die Vernünftigkeit seines Mitmenschen sich als wertvoll erweisen bei der Bestimmung des individuellen Verhaltens, so wie es sich jetzt z.B. schon auswirkt in Angelegenheiten der öffentlichen Gesundheit, wo die Vorschriften der Wissenschaft, obwohl fehlbar und oft lästig, allgemein beachtet werden. 

Veränderungen im inneren Gewebe des nationalen Lebens, die gemischte Bevölkerungen schaffen statt abstammungsmäßig streng geschiedener Einzelgruppen, könnten die Spannungen mildern, die sonst die politische Weisheit eines Weltparlaments auf harte Probe stellen würden. Andernfalls würden die Freiheiten einer offenen Welt in noch bestürzenderem Ausmaß Probleme von der Art heraufbeschwören, wie sie die puertoricanische Einwanderung der unvorbereiteten New Yorker Stadtverwaltung bescherte.

  

   § 7  

 

Wir haben gesehen, daß wir gewisse historische Fäden im Gewebe unserer Zeit zu unserem Nutzen in das Muster der Zukunft miteinweben können und daß wir uns eines natürlichen Vorteils begeben*, wenn wir sie fallenlassen.

Doch es wäre naiv, sich eine allzu optimistische Vorstellung von der Wirklichkeit der Anpassung und Erneuerung übernommener Elemente zu machen. Obwohl sie zur Schaffung des Menschen der geeinten Welt notwendig sind, werden sie oft dem Widerstand der verschiedenen Formen des älteren Selbst des Menschen begegnen. Viele der Lasten und Übel der Vergangenheit werden beharrlich weiterleben wollen; wenn das Gerüst einer universalen menschlichen Kultur einmal errichtet ist, werden die nichtregenerierten Kräfte der früheren Stadien weiterwirken und die neue Gesellschaft gefährden. Obwohl in der Zukunft der Nationalismus vielleicht ebenso schnell wieder erlöschen wird, wie er nach 1914 aufflammte, wird die notwendige Emanzipierung der nationalen und regionalen Kulturen von der Macht wahrscheinlich der Bemühungen von Generationen bedürfen.

* OD: Ich verstehe das so: uns entgeht ("begeben") ein "natürlicher Vorteil", wenn diese "gewissen historischen Fäden" ignorieren ("fallenlassen"). 

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Ja, diejenigen Völker, die erst spät zu nationalem Bewußtsein erwacht sind, scheinen von ihm befallen zu werden wie von einer Krankheit, gegen die sie noch keine Immunität entwickelt haben, und zwar in so heftiger Form, daß sie einen fanatischen Stammesegoismus entwickeln, anstatt dem allgemeinen Zug zur Weltoffenheit zu folgen.

So mögen auch die axialen Religionen sich hartnäckig weigern, ihren theologischen Partikularismus aufzugeben und weiterhin versuchen, ihren weltlichen Einfluß auszudehnen. Hat nicht die größte Organisation christlicher Gläubiger während des letzten Jahrhunderts eine Reihe von Wundergläubigkeit fordernden Dogmen verkündet und jeden Versuch, Überlieferungen, die wörtlich interpretiert, den Verstand beleidigen, einen poetischen allgemeinen Sinn zu geben, als Ketzerei verdammt? Und ebenso wird der totalitäre Kommunismus sich lange einem Wandel widersetzen, der eine der menschlichen Natur gerecht werdende Freiheit in Vielfalt und Gleichheit erstrebt, die seine als Wahrheiten getarnten Zweckdogmen entlarven würde.

Ja, je weiter die Weltzivilisation vordringt, um so heftigere und häßlichere Gegenreaktionen scheint sie auszulösen; ein Beispiel hierfür haben wir im letzten Jahrzehnt in den Vereinigten Staaten erlebt. Außerdem werden die Hegemoniegelüste gewisser Nationen und Klassen und die Bestrebungen, wieder zu trennen, was nur unvollkommen zusammengefügt worden ist, noch lange Gegenstand ständiger Wachsamkeit sein müssen. Dieses Problem ist in der amerikanischen Staatenföderation selbst nach zweihundertjähriger Erfahrung, die in einem erbitterten Waffengang gipfelte, noch nicht zufriedenstellend gelöst worden. Rückständige, von unverdauter Macht geplagte Regierungssysteme werden sich mehr als einmal gegen die Beschlüsse der Vereinten Nationen auflehnen, und vielleicht wird es notwendig sein, sie durch Gewalt zur Vernunft zu bringen, wenn sie taub sind für logische Argumente.

Schließlich wird es sich erweisen, daß ein gesundes Überleben älterer Institutionen an die Entwicklung einer umfassenden Weltzivilisation gebunden ist, die fähig sein muß, lokale Werte, die noch moralisch gültig oder erneuerungsfähig sind, zu schützen. Doch was Albert Einstein vor langer Zeit über die nationale Einheit gesagt hat, gilt noch in höherem Maße für die Welteinheit; man kann nicht erwarten, für immer glücklich zu sein, wenn man eine Ehe eingegangen ist. Wer sich diesem utopischen Traum hingibt, ist nicht reif für eine Weltregierung.

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Doch die Tatsache, daß eine Weltzivilisation weltumfassend sein wird, macht jede weitere Expansion im physischen Sinne unmöglich. Alle Hilfsquellen unseres Planeten sind endlich und begrenzt. Zu einem noch unbestimmbaren Zeitpunkt muß die Erdbevölkerung stabilisiert werden, und zwar möglicherweise, wenn eine vollere Entwicklung des Menschen es erfordert, bei einer geringeren Stärke als der heutigen. Ebenso müssen die biologischen Grundbedürfnisse, besonders die der Ernährung, normalisiert werden, und die Wirtschaft, die diese Bedürfnisse befriedigt, muß auf dem Prinzip der echten Bedarfsdeckung aufgebaut sein. Wenn dieser Punkt erreicht ist, werden die riesigen Gewinne an Energie und Produktivität, die bereits erreicht, aber in der Hauptsache für militärische Zwecke und ziellose Expansions­investitionen verwandt und einem verschwenderischen Konsum zugeleitet worden waren, unmittelbar ins Leben zurückfließen und die Neugestaltung der Städte, der erweiterten Landschaftskultur, dem fruchtbaren Gebrauch der Muße, der sinnvollen Förderung der Künste und Wissenschaften und nicht zuletzt der Pflege der Nächstenliebe, der Menschenbruderschaft und des Familiensinns dienen.

Die geeinte Welt wird ihrem Wesen nach eine offene Gesellschaft sein. Ihr innerer Zusammenhalt wird nicht wie in der Vergangenheit erreicht werden durch ummauerte Isolation oder feindselige Exklusivität, sondern durch Konzentration auf gemeinsame Ziele, Polarisation auf gemeinsame Mittelpunkte, Mobilisierung zu gemeinsamen Unternehmungen, nach deren Gelingen sich die Kräfte wieder entspannen und organisch verteilen werden. Diejenigen, die an feste Grenzen und ständigen Zwang gewöhnt sind, werden sich vielleicht unbehaglich fühlen in der Freiheit und Großzügigkeit dieser offenen Gesellschaft. In unserer Zeit politischer Reaktion und Engherzigkeit mögen die Segnungen einer offenen Gesellschaft für viele ein leerer Traum sein, denn selbst die Historiker, mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. Ferrero, haben die offene Welt, die vor 1914 existierte, fast vollkommen vergessen. Zu leicht betrachten sie die beschränkte Freiheit unserer heutigen Welt als einen natürlichen und dauernden Zustand. Doch viele von uns, die über fünfzig sind, können sich noch vieler Züge dieser alten Welt erinnern, die heute ideal erscheinen, einschließlich des Reisens ohne Paß und des Gefühls einer theoretisch absoluten Immunität gegen Willkür und Gewalt der Regierungen zivilisierter Länder.

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Es gibt einen praktischen Grund, diese Freiheiten als Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung einer Weltordnung wiederherzustellen; denn es gibt nur eine absolute Sicherung gegen die geheimen Vorbereitungen radikaler Minoritäten zu gewaltsamer Machtübernahme. Diese Bedrohung wird zum grausigen Alptraum werden durch die Möglichkeit zu Erpressungen großen Maßstabes, die eintreten wird, sobald die Atomenergie einmal kommerzialisiert und weiteren Kreisen zugänglich ist. Der einzige Schutz gegen eine solche Gefahr ist volle Freiheit des Reisens und des Verkehrs. Keine Polizeiorganisation kann stark und umfassend genug sein, um derartige verbrecherische Anschläge rechtzeitig aufzudecken ohne die Wachsamkeit aller Bürger. Es war ein umherstreifender Geologe, Professor Bailey Willis, der Ende der dreißiger Jahre entdeckte, daß die Japaner eine geheime militärische Straße für die Invasion auf den Philippinen gebaut hatten. Und es war ein Angestellter der Chiffrier-Abteilung der russischen Botschaft in Kanada, nicht ein Berufsspion oder das allgegenwärtige Bundeskriminalamt der Vereinigten Staaten, der aufdeckte, daß kommunistische Atomwissenschaftler russischen Agenten Informationen lieferten.

Nur in einer offenen Welt, in der jeder Winkel der Neugierde des unbehindert Reisenden ausgesetzt ist, in der jeder Bürger Gehör findet, wenn er sich an die Öffentlichkeit wendet, kann die Menschheit ruhig schlafen, was ihr durchaus nicht garantiert ist, wenn sie eine sichere Basis für die Koexistenz zwischen heute noch feindlichen Regierungen geschaffen haben wird. Sich auf eine rein behördliche Rüstungskontrolle verlassen, hieße, sich Illusionen über die Bürokratie machen. Bevor nicht jeder Bürger, als Bürger, gleichzeitig Polizist, und die weite Welt sein Dienstrevier ist, werden wir nicht das Minimum an Sicherheit besitzen, das nötig ist, um uns gegen mögliche private oder kollektive Aggression zu schützen. Kein lokales System zur Überwachung von Recht und Ordnung hat bis jetzt das Verbrechertum ausrotten können, und es wäre kindisch, anzunehmen, daß die öffentliche Ordnung einer geeinten Welt nicht auch des ständigen Schutzes gegen mögliche Gesetzesübertreter bedürfe.

  

  § 8  

 

In der Wirtschaft der geeinten Welt werden demnach das Universale und das Regionale in einem Polaritätsverhältnis zueinander stehen; das eine wird nicht auf Kosten des andern existieren. Doch es darf nicht übersehen werden, daß die Natur die Vorteile des Bodens, des Klimas und der natürlichen Hilfsquellen ungleich verteilt hat und daß die ungleiche historische Entwicklung der Gemeinschaften diese Ungerechtigkeit oft noch vergrößert hat.

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Um dem unverdienten Elend rückständiger Gebiete zu steuern und den berechtigten Groll der Armen und Benachteiligten zu besänftigen, wird eine Lebens­wirtschaft es sich zur Aufgabe machen, gröbste Ungleichheiten zu beseitigen. Das heutige Programm der technischen Hilfe für unterentwickelte Länder ist nur ein behelfsmäßiger Versuch, das schnell und oft zu egoistischen Zwecken zu erreichen, was nur ein kontinuierlicher Prozeß fundamentalen Ausgleichs zustande bringen kann. Die Weltzivilisation wird vielleicht als Maßnahme zur volleren Nutzung der Naturschätze des Planeten eine gestaffelte Welt-Einkommensteuer einführen, die von allen Staaten erhoben wird, um die blinden Bevorzugungen der Natur zu berichtigen und jedem Volk das Minimum an Lebensmöglichkeiten zu sichern.

Weltwirtschaft bedeutet also systematischen Ausgleich zur Erreichung eines dynamischen Gleichgewichts, aber nicht als Mittel einer sparsamen Menschenfreundlichkeit, die ihre Almosen nur in Zeiten der Krise verteilt, um Unruhen vorzubeugen, sondern als Instrument der Gerechtigkeit. So wie die höheren Einkommensgruppen jetzt in England und in den Vereinigten Staaten hoch besteuert werden, um durch staatliche Sozialleistungen die Lage der niederen Einkommensstufen zu verbessern, so werden die reicheren Nationen Abgaben leisten, um die Kapitalinvestierungen und Hilfsmaßnahmen zu ermöglichen, die erforderlich sein werden, jeder Gemeinschaft einen gerechten Anteil an dem schlecht verteilten Reichtum des Planeten zu verschaffen.

Monopolistische Bevorteilung auf Grund des Zinsrechts darf in einer Weltwirtschaft nicht geduldet werden. Die Gerechtigkeit verlangt hier einen ständigen Ausgleich. Was diesen Ausgleich zu einer Sache prinzipieller Bedeutung macht und ihn nicht nur eine Forderung der Zweckmäßigkeit sein läßt, ist der Gedanke, daß stetes Gleichgewicht die Vorbedingung für Leben und Wachstum darstellt, und daß chronische Ungleichheit, wie gesetzmäßig auch immer, ein Vorzeichen der Auflösung ist. Die Faktoren, die in einer Weltwirtschaft vor allem ins Gleichgewicht gebracht werden müssen, sind die Naturkräfte und die menschlichen Lebensvoraussetzungen, die Bevölkerungsdichten und die Rohstoffvorkommen, die Wohnbezirke und die Produktions­möglichkeiten. 

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Ihr ständiges Aufeinanderabgestimmtwerden ist die Vorbedingung für ein gesundes Leben und einen gesicherten Frieden, denn die alte Stabilität, die auf Unwissenheit und Isolation beruhte, existiert nicht mehr. Mit einer Überschreibung der Mittel der nationalen Kriegsbudgets auf ein Weltfriedensbudget könnte dieser große Ausgleich seinen Anfang nehmen.

Bevor ein neuer Rahmen für politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen werden kann, der den Prinzipien der geeinten Welt entspricht, müssen viele der hartnäckigen, abergläubischen Vorstellungen des klassischen Kapitalismus und des monolithischen Kommunismus über Bord geworfen werden. Neue Kriterien der Praktikabilität und der Rentabilität, ausgerichtet an den Forderungen der menschlichen Entwicklung, müssen eingeführt werden; das gute Leben muß das Leben der »Güter« als Leitmotiv in der Industrie ersetzen.

Glücklicherweise sind fast alle Regierungen gezwungen worden, der öffentlichen Wohlfahrt, offen oder verdeckt, den Vorrang vor dem Eigentumsrecht zu geben, wenn die beiden in Konflikt geraten, und dies nicht nur in Zeiten des Notstands, sondern auch in Belangen des täglichen Lebens. Doch auf Grund des Fehlens einer echten Lebenswirtschaft nehmen diese nichtkapitalistischen Methoden zur Sicherung von Produktion und Verbrauch verzerrte, ja antisoziale Formen an. Ein typisches Beispiel hierfür sind die staatlichen Subsidien an der Landwirtschaft der Vereinigten Staaten, deren groteske Auswirkungen den Verbraucher dreifach bestrafen. 

Die Vernunftwidrigkeit einer solchen Marktwirtschaft wetteifert mit der Vernunftwidrigkeit des Krieges. Deshalb müssen wir ein neues Wirtschaftssystem finden, das sich auf John Ruskins Grundsatz gründet: Es gibt keinen Reichtum außer dem Leben. Und wir müssen die Gaben der Natur, von den Uranminen und Ölquellen bis zu den Erzeugnissen der Industrie und der Landwirtschaft, als gemeinsamen Besitz betrachten, der gemäß dem menschlichen Bedürfnis an alle und nicht nach den Grundsätzen des Eigentumsrechts als Profite und Gewinne an eine privilegierte Minderheit verteilt werden soll. Der kommende Triumph der Automation in der mechanischen Industrie macht die Forderung nach diesem Wandel nur noch gebieterischer.

Diese unleugbaren Tatsachen bilden eine solide Basis, um eine formale Koexistenz von kommunistischen und kapitalistischen Staaten in aktive Zusammen­arbeit umzuwandeln. Kommunistische Regime werden, wenn sie die Flexibilität und Vielgestaltigkeit eines gemischten Produktionssystems als Mittel zur Steigerung der Produktivität erkannt haben,

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mehr Neigung zeigen, sich der öffentlichen Kontrolle zu unterwerfen und sich der Gib-und-nimm-Methode der Demokratie zu bedienen. Ähnlich wird sich der »Kapitalismus« verhalten. Indem sie das Prinzip der Gleichheit in der Güterverteilung anerkannten und durch Lohnerhöhungen, garantierte Jahreslöhne, Versicherungen verschiedener Art und Gewinnbeteiligung verwirklichten, haben viele Produktionsbetriebe, die einst streng kapitalistisch waren, manche der guten Gedanken des Kommunismus übernommen. Anstatt die Reinheit seiner Ideologie zu erhalten, wird jedes System, das auf ein dynamisches Gleichgewicht bedacht ist, sich bemühen, bewährte Methoden anderer Systeme nachzuahmen.

Obwohl dieser Übergang von einer auf Macht und Produktivität gegründeten Geldwirtschaft zu einer der menschlichen Entwicklung Rechnung tragenden Lebenswirtschaft viele der Probleme, die in der industriellen Welt Krise um Krise verursachten, lösen werden, müssen wir mit neuen, andersartigen Problemen rechnen. Denn das große Unternehmen, die Welt als Ganzes zu einem Schauplatz menschlicher Aktivität zu machen, wird eine ungeheure Ausweitung der Produktion, die bisher durch Überlegungen der Marktfähigkeit beengt wurde, zur Folge haben. Was in früheren Gesellschaften auf Grund mangelnder Mittel oder beschränkten Verkehrs automatisch geschah, muß dann unter bewußter Kontrolle getan werden.

Eine Lebenswirtschaft erfordert einen Lebensplan, der im Hinblick auf die höheren Bedürfnisse des Menschen entworfen ist, mit andern Worten, einen Lebensstandard, der nicht bestimmt ist durch die Produktionskapazität, sondern durch die Notwendig­keiten eines vernünftigen Konsums. Der ökonomische Mensch war seinem Wesen nach ein gefräßiger Konsument, ein Sklave seiner wachsenden Bedürfnisse. Der ganze, sich seiner Schöpferkraft bewußte Mensch wird sowohl die Richtung als auch das Tempo des gesamten ökonomischen Prozesses ändern; um seiner Ganzheit willen wird er vielleicht eine Bewegung ausdehnen, die in Amerika bereits weitverbreitet ist, die Tue-es-selbst-Bewegung.

Wie ich bereits vor geraumer Zeit in meinem Buch <Technik und Zivilisation> dargelegt habe, wird der Prozeß der Rationalisierung, Spezialisierung und Mechanisierung am Ende möglicherweise als Gegengewicht den Amateur hervorbringen.

Schon jetzt, selbst innerhalb des relativ engen Bereiches des Nationalstaates, überfordert unsere Fähigkeit, alles an Stoff aufzunehmen, was für das menschliche Wachstum notwendig ist, ohne übersättigt zu werden, unser Erziehungssystem.

Es gibt kein Wissensgebiet, auf dem die Überfülle an Einzelheiten nicht zu allgemeiner Verwirrung und Unwissenheit führt, so wie es kein Produktionsgebiet gibt, auf dem das Übermaß an Gütern nicht Überdruß, Langeweile und Launenhaftigkeit, die als »Mode« künstlich gefördert werden, erzeugt. Deshalb brauchen wir, um von den weitaus reicheren Hilfsquellen, die eine Weltkultur erschließen wird, den rechten Gebrauch machen zu können, eine stärker zentralisierte und tiefer verwurzelte Persönlichkeit, eine starke innere Disziplin und klare Zweckbewußtheit in unserem gesamten Handeln. Das große Betätigungsfeld für die dynamische Aktivität des geeinten Menschen ist nicht die Produktion, sondern die Erziehung, und der Produktionsprozeß selbst wird vornehmlich als Förderer der menschlichen Kultur betrachtet werden.

Ohne diesen festen inneren Kern wären wir wehrlos einer Flut von Bildern, Symbolen, Ideen, Anregungen, Reizen und Einflüssen ausgesetzt, die im Bündnis mit unserer heutigen materialistischen Übersättigung und Überspanntheit jede schöpferische Tätigkeit gefährden würden. Die Fähigkeit, zu unterscheiden, zu verwerfen und zu wählen ist von wesentlicher Bedeutung für die Lebens­wirtschaft, denn die Beschränkung des Konsums ist eine der Grundvoraussetzungen wahrhaft schöpferischer, lebens­fördernder Produktion, und nur ein Wirtschaftssystem, das unter diesen Bedingungen stabil bleibt, ist wert, weiterzu­bestehen.

Wir sehen, die Weltzivilisation wird ihre eigenen Spannungen und Konflikte haben, und die Überwindung dieser neuartigen Schwierigkeiten wird höchste politische Weisheit und Vorstellungskraft erfordern. Viele der neuen Aufgaben werden unlösbar sein, bis die gleichen Bedürfnisse, die sie notwendig gemacht haben, eine Persönlichkeit geformt haben, die fähig ist, sie zu bewältigen. 

Träger und Ziel dieser Verwandlung ist der geeinte Mensch. Seine Mission ist es, eine offene Synthese und ein offenes Selbst zu schaffen. Durch ihn werden die Kräfte des Lebens wieder stark gemacht und in ein, in jedem Teil der Welt sichtbares, dynamisches Gleichgewicht gebracht werden. Und dieses Gleichgewicht wird als Ausgangsebene für einen extensiven und in noch höherem Maße intensiven Prozeß der Entwicklung des Menschen dienen.

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Lewis Mumford 1956