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1 - Die geistige Begabung des Menschen  

 

 

  Die Notwendigkeit disziplinierter Spekulation 

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Indem der moderne Mensch die Frühgeschichte im Sinne seines gegenwärtigen Interesses, Maschinen herzu­stellen und die Natur zu bezwingen, interpretierte, hat er ein sonderbar verzerrtes Bild seiner selbst entworfen. Und im gleichen Atemzug rechtfertigte er seine aktuellen Belange, indem er sein prähistorisches Selbst als werk­zeugherstellendes Tier definierte und daraus folgerte, daß die materiellen Produktions­instru­mente all seine anderen Aktivitäten beherrschten. 

Solange der Paläo­Anthropologe materielle Objekte - haupt­sächlich Knochen und Steine - als einziges wissenschaftlich zulässiges Zeugnis für die Aktivitäten des Früh­mensch­en betrachtete, war es nicht möglich, dieses Stereotyp zu verändern. Als umfassender Beobachter werde ich diese engstirnige Betrachtungsweise notwendigerweise in Frage stellen müssen. 

Es gibt triftige Gründe für die Annahme, daß das Gehirn des Menschen von Anfang an weit wichtiger war als seine Hände und daß seine Größe nicht allein aus der Herstellung und Verwendung von Werkzeugen abgeleitet werden kann; daß Ritual, Sprache und soziale Organisation, die keinerlei materielle Spuren hinter­ließen, obwohl sie in jeder Kultur konstant vorhanden waren, wahr­scheinlich die wichtigsten Hervor­bringungen des Menschen von seinen frühesten Entwicklungs­stadien an waren; und daß der primitive Mensch, der noch nicht daran denken konnte, die Natur zu beherrschen oder seine Umwelt zu gestalten, zuerst danach strebte, sein überentwickeltes, überaus aktives Nerven­system zu benützen und ein menschliches Selbst zu formen, abgehoben von seinem ursprünglich tierischen Selbst durch die Schaffung von Symbolen — den einzigen Werkzeugen, die aus den Quellen, die sein eigener Körper für ihn bereithielt, geschaffen werden konnten: aus Träumen, Phantasien und Klängen.

Die Überbetonung der Werkzeugverwendung resultierte daraus, daß man keine anderen Beweise gelten lassen wollte als jene, die sich auf materielle Funde stützen, und sie ging Hand in Hand mit der Entscheidung, weitaus wichtigere Aktivitäten auszu­schließen, die für alle menschlichen Gruppen in jedem Teil der Welt zu jeder bekannten Periode charakteristisch waren.

Obwohl kein Teil unserer gegenwärtigen Kultur ohne Risiko schwerwiegenden Irrtums als Schlüssel zur Vergang­enheit betrachtet werden kann, bleibt doch unsere Kultur als Ganzes der lebende Zeuge all dessen, was der Mensch bisher durchgemacht hat, sei es aufgezeichnet oder nicht; und gerade die Existenz einer grammatikalisch komplexen und reich artikulierten Sprache zu Beginn der Zivilisation vor fünftausend Jahren, als die Werkzeuge noch äußerst primitiv waren, läßt darauf schließen, daß das Menschen­geschlecht fundament­alere Bedürfnisse gehabt haben mag als den bloßen Lebens­unterhalt, da es diesen weiterhin auf dieselbe Weise hätte erlangen können wie seine hominiden Vorfahren.

Wenn es sich so verhält, was waren dann diese Bedürfnisse?  

Diese Fragen warten auf Antwort, oder besser, sie müssen erst einmal gestellt werden; und sie können nicht gestellt werden ohne die Bereitschaft, die Zeugnisse neuerlich zu betrachten und rationale Spekulationen, gestützt auf vorsichtige Analogien, über die großen weißen Flächen der prähistorischen Zeit anzustellen, jener Zeit, in welcher das Wesen des Menschen, im Unterschied zum Tier, sich herausgebildet hat. Bis jetzt haben sowohl die Anthropologen als auch die Historiker der Technik sich gegen spekulative Irrtümer geschützt, indem sie zuviel, einschließlich ihrer eigenen Prämissen, als gesichert betrachteten; und dies führte zu größeren Irrtümern in der Inter­pretation als jenen, die sie vermieden haben.

Das Resultat war eine eindimensionale Erklärung der Frühentwicklung des Menschen, die sich rund um das Stein­werk­zeug konzentrierte: eine methodische Übersimplifizierung, die man auf anderen Gebieten aufge­geben hat, weil sie für die allgemeine Evolutions­theorie und die Interpretation besser dokumentierter Abschnitte der Mensch­heits­geschichte unbrauchbar ist.

Der wissenschaftlichen Forschung waren natürlich insofern Grenzen gesetzt, als man über die nicht aufge­zeichneten Anfänge der Entwicklung des Menschen — das ist die ganze Zeit seiner Existenz bis auf die letzten ein bis zwei Prozent — größtenteils nur spekulieren kann. Das ist ein riskantes Unternehmen, dessen Schwierig­keiten nicht durch vereinzelte Funde von Knochen­fragmenten und Artefakten verringert werden, da ohne gewisse intuitive Einsichten und Analogieschlüsse aus diesen Objekten nur allzu wenig heraus­zulesen ist. Aber auf Spekulation zu verzichten wäre noch unsinniger, weil dann die spätere geschriebene Geschichte einen Anschein des Einzigartigen und Unvermittelten erhielte, so als wäre eine neue Spezies entstanden. Wenn wir von »Agrarrevolution« oder »städtischer Revolution« sprechen, vergessen wir meist, wie viele Vorgebirge das Menschen­geschlecht bezwang, ehe es diese Gipfel erreichte. Ich plädiere also für Spekulation als ein notwendiges Instrument, um zu adäquatem Wissen zu gelangen.

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  Deduktionen und Analogien  

 

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, etwas Licht ins Dunkel der frühmenschlichen Entwicklung zu bringen. Die erste ist in allen Wissenschaften allgemein gebräuchlich: Ableitung des unsichtbaren oder unbekannten Zusammenhanges aus gesicherten Fakten. Findet man etwa einen Angelhaken aus Muschelschale in einer datierbaren Schicht, so kann man daraus nicht nur auf das frühere Vorhandensein von Wasser schließen, auch wenn der Fluß oder See längst ausgetrocknet ist, sondern ebenso auf die Anwesen­heit von Menschen, die sich von Fischen ernährten, die Wahl der Muschel und die Formung des Hakens nach einem Modell vornahmen, das nur in ihrem Geist existieren konnte; die intelligent genug waren, Därme oder Pflanzenfasern als Schnüre zu verwenden, und geduldig und geschickt genug, auf diese Weise Fische zu fangen. Obwohl viele andere Tiere und Vögel Fische fressen, verwendet keine andere Spezies als der Mensch einen Angelhaken.

Diese Schlußfolgerungen wären vernünftig, obwohl bis auf den Angelhaken jede Spur eines positiven Beweises zusammen mit den Überresten des Fischers verschwunden ist. Berücksichtigt man auch noch die Möglichkeit, daß der Angelhaken von anderswo hergebracht worden ist, erscheinen alle diese Schlußfolgerungen gesichert und unverrückbar. Unter ähnlichen Vorbehalten mit einer ähnlichen Irrtums­wahrschein­lichkeit leiten die Anatomen die Beschaffenheit eines ganzen menschlichen Körpers aus der Größe und Form eines zerbrochenen Schädels und einiger Zähne ab — obwohl der Geist des Piltdown-Menschen sich erheben möge, um sie zu erschlagen, sollten sie ihre Fähigkeiten überschätzt haben.

Samuel Butler spekuliert in seinen Notebooks einmal über »die Auffindung alter Photographien in Herculaneum, die sich als uninteressant erweisen würden«. Aber er vergaß, daß so ein einzigartiger Fund an sich viele außerordentlich interessante Dinge aufdecken würde, die eine revolutionäre Neuschreibung der Geschichte auslösen würden: Sie würden enthüllen, daß die Römer die Photographie erfunden hätten; und das würde wiederum zeigen, daß sie die Griechen sowohl in der Chemie als auch in der Physik weit übertroffen hätten, daß sie die speziellen chemischen Eigenschaften der Halogengruppe gekannt, wahrscheinlich Linsen besessen und optische Experimente durchgeführt hätten, und daß sie über Metall, Glas oder Plastik mit glatter Oberfläche verfügten, um das Bild darauf aufzufangen. Alles, was wir über die Vorgeschichte mit einiger Sicherheit wissen, beruht genau auf dieser Art Identifizierung und Deutung von zumeist »uninteressanten« Objekten, wie Topfscherben, Tierknochen und Pollen­körner.

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Im Bereich der Vorgeschichte kommt dem allgemeinen Beobachter eine bestimmte Aufgabe zu, nämlich weit auseinanderliegende Felder, die von Spezialisten fein säuberlich eingezäunt wurden, zu einem größeren gemeinsamen Gebiet, das nur aus der Vogelschau sichtbar ist, zusammenzufassen. Nur unter Verzicht auf Details kann man die Gesamtstruktur sehen, obwohl, nachdem diese Struktur einmal sichtbar geworden ist, neue Details erkennbar werden könnten, die sogar von den sorgfältigsten und kompetentesten Feldforschern, die versunkene Schichten durchgruben, bisher nicht gesehen wurden. Die Rolle des allgemeinen Beobachters liegt nicht im Aufstöbern neuer Beweise, sondern im Zusammensetzen authentischer Fragmente, die zufällig oder manchmal willkürlich getrennt worden sind; denn die Spezialisten neigen dazu, zu rigoros auf dem »Gentleman's agreement« zu beharren, einander nicht ins Gehege zu kommen. Obwohl dies der Sicherheit und der Harmonie förderlich ist, übersieht man dabei, daß die untersuchten Phänomene sich nicht an dieses Prinzip halten. Wenn der allgemeine Beobachter solche Verbote einhielte, würden sie seine Überlandexkursionen zum Stillstand bringen und ihn von der Erfüllung seiner speziellen Funktion abhalten — einer Funktion, die jener der polynesischen Händler und Dolmetscher sonderbar ähnlich ist, denen es erlaubt ist, sich über die Stammestabus hinwegzusetzen und frei durch weite Gebiete zu reisen.

Dennoch gibt es gewisse Spielregeln, an die sich der verallgemeinernde Forscher halten muß, wenn er die zerstreuten Beweis­stücke zu einem sinnvollen Mosaik zusammenzusetzen versucht. Sogar wenn er nahe daran ist, eine sich abzeichnende Struktur zu vervollständigen, darf er nicht vorsätzlich ein Stückchen abschlagen, damit es hineinpaßt, wie in einem Puzzlespiel, noch darf er selbst ein Stück fabrizieren, um das Muster zu ergänzen — obwohl er sich natürlich an ungewöhnlichen Orten nach den Teilen umsehen darf. Er muß ebenso bereit sein, jedes Beweisstück zu verwerfen, wie sehr er es auch schätzen mag, sobald einer seiner Kollegen unter den Spezialisten herausfindet, daß es fragwürdig ist oder nicht in diese bestimmte, zur Diskussion stehende Umgebung oder Zeit hineinpaßt. Wenn nicht genug Teile existieren, muß der verallge­meinernde Forscher warten, bis kompetente Autoritäten sie finden oder herstellen. Wenn aber sein Entwurf anderseits nicht alle Teile, die die Spezialisten ihm zur Verfügung stellen, zusammenfassen kann, muß die Struktur selbst als fehlerhaft verworfen werden; und der verallgemeinernde Forscher muß von neuem mit einem adäquateren Rahmen beginnen.

Doch selbst spezialisierte Wissenschaftler, die allzusehr bereit sind, die Spekulation zu verdammen, unterliegen ihr oft genug, hauptsächlich deswegen, weil sie, ohne Alternativ­hypothesen zuzulassen, rein spekulative Schlußfolgerungen präsentieren, als wären es wohlfundierte Fakten. Ich will ein Beispiel anführen, das, wie ich glaube, lange genug zurückliegt, um niemandes Gefühle zu verletzen.

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Aus der Tatsache, daß die Oberschenkelknochen des Peking-Menschen in den Höhlen von Chou K'ou Tien auseinandergebrochen gefunden wurden, zogen mehrere Anthropologen die überstürzte Schlußfolgerung, dieses Wesen müsse ein Kannibale gewesen sein. Möglicherweise war es einer. Aber tatsächlich wissen wir nur, daß die Knochen eines nicht identifizierbaren humanoiden Lebe­wesens aufgebrochen worden waren, und zwar unter speziellen Bedingungen, die bewirkten, daß sie erhalten blieben.

Abgesehen von Spuren, die von Schlägen auf den Schädel stammen und möglicherweise bei einem vergeblichen Versuch, diesen nach dem Tode aufzubrechen, oder sogar schon bei Lebzeiten entstanden sein könnten, ohne daß die Schläge zum Tode führten, haben wir keinerlei Hinweise, ob diese Geschöpfe getötet wurden oder eines natürlichen Todes gestorben sind. Wenn wir annehmen, daß sie getötet wurden, wissen wir noch nicht, ob Totschlag landesüblich war oder ob es sich um einen Sonderfall handelt; sicherlich kann man aus den wenigen Überresten, die an einem einzigen Fundort entdeckt worden sind, keine statistisch verwendbaren Schlüsse ziehen. Auch wissen wir nicht, ob die Opfer von ihresgleichen, von einer anderen Gruppe oder von einem noch riesigeren räuberischen Hominiden einer verschwundenen Rasse getötet wurden, deren riesige Zähne ebenfalls in China gefunden wurden.

Außerdem: Obwohl man an den Schädeln erkennen kann, daß das Gehirn von der Schädelbasis aus heraus­geholt wurde, wissen wir nicht, ob der Rest an Fleisch und Mark gegessen worden ist. Und selbst wenn man eindeutig feststellen könnte, daß es sich um Kannibalismus handelt, wüßten wir noch immer nicht, ob die Menschenfresserei üblich war oder ob die Opfer unter dem Druck einer Hungersnot getötet und aufgefressen wurden — dergleichen ist auch schon bei Menschen vorgekommen, denen Kannibalismus ein Greuel war, wie etwa den amerikanischen Pionieren am Donner-Paß. Mehr noch: War das Herausholen von Mark und Hirn, ähnlich wie bei einigen späteren Völkern, Teil einer magisch-religiösen Opferzeremonie? Und schließlich, diente das Mark als Nahrung für Kleinkinder, oder sollte es beim Feuermachen helfen — beides erwiesene Verwendungszwecke unter primitiven Bedingungen?

Nüchtern betrachtet, scheint ebensoviel für wie gegen Kannibalismus zu sprechen. Unter allen Umständen töten nur wenige Säuger ihre Artgenossen, um sie zu fressen, und es ist anzunehmen, daß diese Perversion, wäre sie unter den Frühmenschen so gebräuchlich gewesen wie bei manchen späteren Wilden, sich gegen das Überleben der Gruppe ausgewirkt hätte, da die menschliche Bevölkerung äußerst spärlich war und niemand vor dem Hunger seines Nachbarn sicher gewesen wäre.

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Aus späteren Zeugnissen ist bekannt, daß primitive Jägerstämme sich beim Töten von Tieren, die sie zur Ernährung brauchen, schuldig fühlen, ja sogar das Tier um Vergebung bitten oder seinen Tod rationalisieren, indem sie vorgeben, das Tier hätte ihn selbst gewünscht. Ist es dann noch so sicher, daß der Frühmensch weniger Sympathie gegenüber anderen Menschen empfand — außer in Augenblicken der Wut oder Angst?

Auch die vielen Beispiele von Kannibalismus unter »neuzeitlichen« Wilden — er war lange Zeit in Afrika und Neuguinea verbreitet — bedeuten nicht, daß er in der Frühzeit allgemein üblich war. So wie der primitive Mensch unserer heutigen massiven Äußerungen von Grausamkeit, Folterung und Ausrottung unfähig war, hat er vielleicht auch nie zu Ernährungszwecken Menschen geschlachtet. Wer behauptet, der Mensch sei immer ein Mörder und obendrein ein Kannibale gewesen, sobald er sich erst einmal an den Geschmack von Fleisch gewöhnt hatte, muß diese vielen alternativen Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die platte Annahme vom ursprünglichen Kannibalismus des Menschen beruht auf keinem überzeugenderen Beweis als die Gegenhypothese.

Solche Fallgruben nehmen einer sorgfältig angewandten Deduktion nichts von ihrem Wert. Dieses Argument besagt nur: Wenn verschiedene Erklärungen gleichermaßen plausibel und gleichermaßen wahrscheinlich sind, muß man die Frage offen lassen und hoffen, eines Tages positive Beweisstücke Tages finden, die eine der Hypothesen bestätigt. Wenn aber die deduzierten Merkmale in einer verwandten Primatenspezies existieren, was beim Kannibalismus nicht der Fall ist, und wenn sie auch bei späteren Menschengruppen auftreten, wie etwa enge und relativ dauerhafte Eheverbindungen, so kann man sie mit ausreichender Sicherheit auch dem Frühmenschen zuschreiben. Ich schlage vor, an dieser Regel festzuhalten. Aber die Tatsache, daß eine Frage, wichtig genug, um sie spekulativ anzugehen, vielleicht für eine unbestimmte Zeit offenbleiben muß, ist kein ausreichender Grund, sie überhaupt nicht zu stellen. Dies gilt praktisch für die gesamte Sphäre des menschlichen Ursprungs. Kurz, Leslie Whites Argument ist ganz richtig:

»Die Wissenschaftler behandeln ohne Zögern Probleme wie den Ursprung der Galaxis, der Sterne, des Planeten­systems und des Lebens im allgemeinen und in seinen vielen Erschein­ungs­formen ... Wenn der Ursprung der Erde vor etwa zwei Milliarden Jahren oder der Ursprung des Lebens vor ungezählten Jahrmillionen ein für die Wissenschaft geeignetes Problem sein kann und auch ist, warum sollte es nicht auch der Ursprung der Kultur sein, der nur eine Million Jahre zurückliegt?«

Die zweite Methode, über die wir verfügen, um die ursprüngliche Natur des Frühmenschen zu erforschen, hat ebenfalls schwere Nachteile, so daß viele Ethnologen der jüngsten Generation sie als unbrauchbar für die Wissenschaft verwarfen.

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Es ist die Methode der Analogie: Parallelen zu finden zwischen bekannten Praktiken und solchen, die durch urzeitliche Artefakte angedeutet erscheinen. Im neunzehnten Jahrhundert lebten viele primitive Stämme, die lange Zeit der direkten Konfrontation mit dem zivilisierten Menschen entgangen waren, immer noch allein vom Sammeln und Jagen und verwendeten Steinwerkzeuge und Waffen, die jenen ähnelten, welche Boucher de Perthes 1832 erstmals in paläolithischen Fundstätten ausgegraben hatte. Das führte viele Forscher zur Annahme, die Traditionen dieser neuzeitlichen Primitiven könnten direkt auf die gemeinsamen Vorfahren zurückgeführt werden, und Unter­schiede in der kulturellen Entwicklung von Gruppen entsprächen den zeitlichen Unterschieden.

Das war ein verführerischer Irrtum. Der Trugschluß lag darin, daß man vergaß, daß die überlebenden »Primitiven«, auch wenn sie sich vor langer Zeit in eine sichere Nische zurückgezogen hatten, nichts­destoweniger den Prozeß der kulturellen Akkumulation, Modifikation und Vervollkommnung fortgeführt hatten: Sie hatten längst aufgehört, kulturlos zu sein, und waren vielleicht, wie Pater Wilhelm Schmidt im Fall der Religion meinte, in manchen Fällen von einer höheren Kulturstufe abgesunken, indem sie später auftretenden Phantasien und Erfindungen freien Spielraum gewährten.

Zwischen der Sprache und dem Zeremoniell der Ureinwohner Australiens und der Mousterien-Kultur liegt ein Abstand von etwa fünfzig­tausend Jahren: lange genug, daß viele charakteristische Unterschiede entstehen konnten, wenngleich gewisse spezifische Merkmale trotz alledem bestehen blieben.

Sofern man aber die Prozesse der Diversifizierung und Degeneration berücksichtigt, erscheinen die Parallelen auffallend und manchmal sehr aufschlußreich. Tatsächlich kann niemand eine gültige Untersuchung über anders nicht identifizierbare Stein­werk­zeuge durchführen, ohne sich auf ähnliche spätere Werkzeuge, deren Gebrauch bekannt ist, zu stützen. Die Pygmäen oder die Buschmänner Afrikas jagten, als sie vor mehr als einem Jahrhundert von Europäern »entdeckt« wurden, sehr ähnliche Tiere mit sehr ähnlichen Waffen wie der paläolithische Mensch in anderen Teilen der Welt vor mehr als fünfzehntausend Jahren: und der Buschmann hatte sogar schon früher die Magdalenien-Kunst der Höhlenmalerei praktiziert. Abgesehen von Unter­schieden in den klimatischen Bedingungen und im Körperbau, standen diese Menschen den urzeitlichen Kulturen weit näher als dem zeitgenössischen europäischen Menschen. Obwohl W. J. Sollas zu weit ging, wenn er Tasmanier, Buschmänner und Eskimos als direkte Nachkommen ihrer frühen, mittleren und späteren paläolithischen Vorfahren betrachtete, gaben ihre analogen Aktivitäten doch wichtige Hinweise auf frühere Kulturen.

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Wenn man die steinerne Öllampe der Eskimos, ein paläolithisches Artefakt, gebraucht, kann man schätzen, wieviel Licht den Malern in Höhlen, wo man ähnliche paläo­lithische Lampen gefunden hat, zur Verfügung standen. Aus der Gründlichkeit, mit der die Eskimos, unter ähnlichen klimatischen Bedingungen wie denen der Eiszeit, ihre spärlichen natürlichen Hilfsquellen nutzen, können wir viel Information über die Art der Ökonomie erhalten, die das Überleben ermöglichte und sogar Spielraum für eine positive kulturelle Entwicklung ließ. So geben auch Waffen, Masken, Kostüme und Ornamente, Rituale und Zeremonien Hinweise zum Verständnis vergleichbarer Bilder, die in Höhlen Spaniens, Frankreichs und Nordafrikas gefunden wurden. Doch dürfen diese Hinweise, wie Andre Leroi-Gourhan in seinem kürzlich erschienenen monumentalen Werk Préhistoire de l'Art Occidental nachdrücklich betont, nicht als schlüssige Beweise betrachtet werden: Die Tatsache, daß in einigen paläolithischen Höhlen Fußspuren von Kindern und Jugendlichen gefunden wurden, beweist nur, daß es den Jugendlichen gestattet war oder daß sie ermutigt wurden, die Höhlen zu betreten, nicht aber, daß sie sich einem Initiationsritus unterzogen. Sogar die Pfeile und Wundmale auf etwa zehn Prozent der Höhlen­malereien sind nicht frei von Zweideutigkeit: Sie können eine magische Jagdzeremonie enthüllen, ebensogut aber, wie er betont, auch das männliche und das weibliche Prinzip symbolisieren: der Penis-Speer, in die Vulva-Wunde gestoßen.

Einer der Gründe, warum möglicherweise wichtige Hinweise auf die Entwicklung des Frühmenschen übersehen wurden, ist, daß die wissenschaftliche Tradition des neunzehnten Jahrhundert — unabhängig von der Einstellung einzelner Wissenschaftler — rationalistisch, utilitaristisch und ausgesprochen skeptisch in bezug auf jede Anschauung war, die zu den unangezweifelten Annahmen der Wissenschaft im Widerspruch stand. Während Magie als frühe Praktik anerkannt wurde, vielleicht im Sinne James Frazers interpretierbar als ein Versuch, die Kräfte der Natur zu beherrschen, der später der wissenschaftlichen Methode weichen sollte, wurde etwa ein tieferes Bewußtsein von kosmischen Kräften, wie es mit der Religion verbunden ist, als bedeutungslos behandelt. Daß der Frühmensch den Himmel beobachtet und auf die Sonne und den Mond reagiert haben könnte, ja daß er sogar den scheinbar fixen Polarstern kannte, wie Zelia Nuttall vor mehr als einem halben Jahrhundert behauptete, schien so fern jeder Möglichkeit wie die Tatsache, daß er Kunstwerke produzierte.

Doch von dem Augenblick an, da schließlich der Homo sapiens auftrat, finden wir in seiner Einstellung zum Tod, zu den Geistern der Vorfahren, zur künftigen Existenz und zu Sonne und Himmel Beweise für die Auffassung, daß Kräfte und Wesen, fern in Raum und Zeit, ungreifbar, wenn nicht gar unsichtbar, dennoch eine beherrschende Rolle im Leben des Menschen spielen können.

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Dies war eine richtige Intuition, obwohl Hunderttausende Jahre vergehen mochten, bevor ihre Bedeutung und der volle rationale Beweis vom menschlichen Geist erfaßt werden konnten, der heute von unsichtbaren Partikeln bis zu ebenso mysteriösen, sich entfernenden Galaxien reicht.

Man kann als wahrscheinlich annehmen, daß die frühesten Menschen ein dämmerndes Bewußtsein vom Geheimnis ihres eigenen Seins besaßen, vielleicht sogar noch vor der Sprache: Das war ein größerer Ansporn zu Reflexion und Selbstentwicklung als jedwedes pragmatische Bemühen, sich einer engeren Umgebung anzupassen. Etwas von diesem tiefen religiösen Bewußtsein findet sich noch in den Schöpfungs­legenden vieler überlebender Stammeskulturen, besonders bei den amerikanischen Indianern.

Hier können wir wieder zweckmäßig von unserem Wissen über die heute lebenden Primitiven Gebrauch machen, um neues Licht auf den Glauben und die Handlungen des Frühmenschen zu werfen. Betrachten wir die mysteriösen Abdrücke menschlicher Hände auf Wänden in Höhlen, die so weit auseinanderliegen wie Afrika und Australien. Diese Abdrücke sind um so verwirrender, als bei vielen dieser Hände eines oder mehrere Fingerglieder fehlen. Es gäbe keine Erklärung für dieses Symbol, wüßte man nicht, daß bei vielen ebenso weit voneinander getrennten Stämmen die Opferung eines Fingergliedes ein Trauerritus ist: ein persönlicher Verlust, der einen größeren Verlust betont.

Ist es nicht gerechtfertigt, zu folgern, daß die verstümmelte Hand auf der Höhlenwand wahrscheinlich ein sekundäres Symbol der Trauer ist, zur Verewigung des vergänglichen primären Symbols aus Fleisch und Bein auf eine steinerne Oberfläche gebannt? Eine solche symbolische Hand könnte eher noch als ein steinerner Grabhügel für das früheste öffentliche Totenmal gelten. Aber es ist auch möglich, daß dieser Ritus eine noch tiefere religiöse Bedeutung hatte: Robert Lowie beschreibt die gleiche Art der Opferung unter den Crow-Indianern als Teil eines wahrhaft religiösen Ritus, dem man sich unterzieht, um Vereinigung mit der Gottheit zu erreichen.

In all diesen Fällen enthüllt der Ritus selbst eine eminent menschliche Bereitschaft zu tiefem Gefühl für die letzten Dinge, gepaart mit dem Wunsch, dieses Gefühl zu bewahren und zu vermitteln. Das muß das Familienleben und die Gruppenloyalität gefestigt und deshalb ebenso wirksam zum Überleben beigetragen haben wie jede Verbesserung in der Anfertigung von Steinwerkzeugen. Obwohl bei vielen anderen Spezies das Männchen gelegentlich sein Leben opfert, um das Weibchen oder die Brut zu schützen, ist das freiwillige symbolische Opfer eines Fingergliedes doch ein ausgesprochen menschliches Wesensmerkmal.

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Wo solche Gefühle fehlen, wie es in der Routine unserer mechanisierten, unpersönlichen Großstadtkultur oft der Fall ist, werden die menschlichen Bindungen so schwach, daß nur durchgreifende äußere Reglementierung die Gruppe zusammenzuhalten vermag. Denken wir nur an den klassischen Fall von Gefühlskälte und moralischer Depraviertheit jener Einwohner New Yorks, die nachts die Hilfeschreie einer Frau hörten und zusahen, wie sie ermordet wurde, ohne auch nur die Polizei anzurufen — so als ob sie ein Fernsehprogramm betrachteten.

Kurz, es wäre ebenso töricht, diese Analogien zu übersehen, wie uns zu sehr auf sie zu verlassen. Es war die zeitgenössische Lehm- und Schilfarchitektur Mesopotamiens, die, wie Grahame Clark hervorhob, zu einem späteren Zeitpunkt Leonard Woolley half, die Spuren prähistorischer sumerischer Architektur zu deuten; und die runden Lehmplatten, die man bei minoischen Ausgrabungen fand, blieben so lange falsch gedeutet, bis Stephanos Xanthodides sie als Oberteile von Töpferscheiben erkannte, wie sie noch heute auf Kreta gebräuchlich sind. Die Tatsache, daß die Bewohner Mesopotamiens heute noch primitive Boote aus Schilfbündeln verwenden, gleich ihren Vorfahren vor fünftausend Jahren, wie J. H. Breasted erfreut feststellte, bestätigt die Annahme, daß andere Artefakte und sogar Gebräuche über Zeiträume unverändert bleiben konnten, die für unser wechselvolles Zeitalter unglaublich lang erscheinen.

Daher ist die Analogie, umsichtig und vorsichtig angewandt, für die Interpretation des Verhaltens von Menschen anderer Zeiten und Kulturen unentbehrlich: Im Zweifelsfall empfiehlt es sich, anzunehmen, daß der Homo sapiens vor fünfzigtausend Jahren uns weit ähnlicher war als seinen tierischen Vorfahren.

 

  Steine, Knochen und Gehirne  

 

Die irreführende Auffassung, der Mensch sei primär ein werkzeugherstellendes Tier, das seine außer­gewöhn­liche geistige Entwicklung größtenteils seiner langen Lehrzeit in der Werkzeugherstellung verdankt, wird nicht leicht zu entkräften sein. Wie so manche plausible Täuschung entgeht sie der rationalen Kritik, besonders deshalb, weil sie der Eitelkeit des modernen »techno­logischen Menschen«, dieses eisengepanzerten Gespensts, schmeichelt.

In den letzten fünfzig Jahren ist diese kurze Periode als Maschinenzeitalter, Energiezeitalter, Zeitalter des Stahls, des Betons, der Luftfahrt, als Elektronikzeitalter, Atomzeitalter, Raketenzeitalter, Computerzeitalter, als Zeitalter der Raumfahrt und der Automation bezeichnet worden. Angesichts dieser Charakterisierungen würde man kaum glauben, daß jene neuesten Triumphe der Technik bloß ein Bruchteil der riesigen Menge sehr verschiedenartiger Komponenten sind, aus denen die heutige Technologie besteht, und daß sie nur einen unendlich kleinen Teil des gesamten Kulturerbes ausmachen.

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Fehlte nur eine einzige Phase der fernen menschlichen Vergangenheit — die kumulativen Erfindungen des paläolithischen Menschen, die mit der Sprache begannen —, so wären alle diese neuen Errungenschaften wertlos. Soviel ist unsere hochgerühmte »Kultur einer einzigen Generation« wert.

Die extensive Beherrschung außermenschlicher Energie, die die Neuzeit kennzeichnet, und die allgemeine Veränderung der menschlichen Umwelt, die vor fünftausend Jahren begann, sind beide relativ geringfügige Ereignisse in der seit Urzeiten vor sich gehenden Umformung des Menschen. Wir überschätzen die Wichtigkeit von Werkzeugen und Maschinen hauptsächlich deswegen, weil die bedeutendsten frühen Erfindungen des Menschen im Bereich des Rituals, der sozialen Organisation, der Moral und der Sprache keine materiellen Spuren hinterlassen haben, während Steinwerkzeuge, die mindestens eine halbe Million Jahre alt sind, schon in Verbindung mit hominiden Knochen gefunden wurden.

Wenn aber die Werkzeuge wirklich von entscheidender Bedeutung für das geistige Hinauswachsen über die rein animalischen Bedürfnisse waren, wie kommt es dann, daß primitive Völker, wie die australischen Buschmänner, die nur eine ganz rudimentäre Technik haben, dennoch vollendete religiöse Zeremonien, eine extrem komplizierte Sippenorganisation und eine komplexe und differenzierte Sprache aufweisen? Und warum verwendeten dann hochentwickelte Kulturen, wie die der Maya, Azteken und Inkas, bloß das einfachste Handwerkzeug, obwohl sie imstande waren, hervorragend geplante Tief- und Hochbauten, wie die Straße nach Machu Picchu und die Stadt Machu Picchu selbst, zu errichten? Und wie kommt es, daß die Maya, die weder Maschinen noch Zugtiere besaßen, nicht nur große Künstler, sondern Meister in abstrusen mathematischen Kalkulationen waren?

Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß der technische Fortschritt erst einsetzte, als der Homo sapiens auftrat, der ein feineres Ausdrucks- und Mitteilungssystem und damit ein mehr Menschen umfassendes, kooperativeres Gruppenleben entwickelte als seine primitiven Vorfahren. Aber abgesehen von den Holzkohlen uralter Lagerfeuer sind die einzigen sicheren Beweise für die Anwesenheit des Menschen die leblosesten Teile seiner Existenz, seine Knochen und seine Steine — verstreut, spärlich und schwer zu datieren, selbst die aus späteren Zeiten, als es bereits Urnenbestattung, Mumifizierung und Grab­inschriften gab.

Materielle Artefakte mögen hartnäckig der Zeit trotzen, doch was sie über die Geschichte des Menschen erzählen, ist beträchtlich weniger als die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.

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Wären die einzigen Hinweise auf Shakespeares Leistungen als Dramatiker seine Wiege, ein elisabethanischer Krug, sein Unterkiefer und einige verfaulte Bretter vom Globe-Theater, könnte man nicht einmal die Themen seiner Stücke erraten, und noch weniger, selbst mit der kühnsten Phantasie, ahnen, welch ein großer Dichter er war. Wenn wir die bekannten Stücke von Shaw und Yeats studierten und daraus Rückschlüsse zögen, wären wir zwar noch immer weit entfernt von einer richtigen Einschätzung Shakes­peares, bekämen aber doch eine bessere Vorstellung von seinem Werk.

Ebenso verhält es sich mit dem Frühmenschen. Betrachten wir die Anfänge der Geschichte, so finden wir Beweise, die die vorschnelle Identifizierung des Menschen mit Werkzeugen höchst fragwürdig erscheinen lassen, denn zu jener Zeit waren viele andere Bereiche der Kultur bereits sehr hoch entwickelt, während die Werkzeuge noch äußerst primitiv waren. Als die Ägypter und die Mesopotamier schon die symbolische Kunst des Schreibens erfunden hatten, verwendeten sie immer noch Grabstöcke und Steinäxte. Doch noch viel früher war ihre Sprache bereits ein komplexes, grammatikalisch organisiertes, feines Instrument geworden, das imstande war, einen sich ständig erweiternden Bereich menschlicher Erfahrung zu artikulieren und zu beschreiben. Diese frühe Vollkommenheit der Sprache weist, wie ich später zeigen werde, wenn nicht auf eine viel längere Geschichte, so doch auf eine beständigere und ergiebigere Entwicklung hin.

 

Obwohl die Ablösung des Menschen vom reinen Tierzustand durch seine Symbole und nicht durch seine Werkzeuge gesichert wurde, hinterließ die wirksamste Form der Symbolik, die Sprache, keine sichtbaren Spuren, ehe sie voll entwickelt war. Findet man aber roten Ocker auf einem in einer Höhle begrabenen Skelett aus dem Mousterien, so weisen die Farbe und auch die Bestattung auf einen von unmittelbarer Notwendigkeit befreiten Geist hin, der sich bereits der symbolischen Darstellung nähert, ein Bewußtsein von Leben und Tod besitzt und imstande ist, sich der Vergangenheit zu erinnern und in die Zukunft zu blicken, ja sogar das Rot des Blutes als Symbol des Lebens zu begreifen: kurz, der weinen und hoffen kann. Die Bestattung des Leichnams sagt uns mehr über das Wesen des Menschen als das Werkzeug, mit dem das Grab geschaufelt wurde.

Da jedoch Steinwerkzeuge so dauerhafte Artefakte sind, neigten die Interpreten der Frühkultur in der Vergangenheit, mit der wichtigen Ausnahme Edward Tylors, dazu, ihnen eine Bedeutung zuzumessen, die in keinem Verhältnis zur übrigen Kultur steht, zumal diese weitgehend unzugänglich bleibt. Bloß weil Steinartefakte erhalten geblieben waren, hielt man sie für das Entscheidende. Diese scheinbar so solide Beweisführung ist aber in Wahrheit äußerst lückenhaft; und ihre Unzulänglichkeit wurde von Spekulationen verschleiert, die viel leichtfertiger waren als jede, die ich vorzubringen wagen werde.

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Es bestehen immer noch unlösbare Zweifel, ob Haufen nahezu formloser Steine, die man einst Eolithen nannte, ein Werk der Natur oder des Menschen sind; und es gibt keinen greifbaren Hinweis darauf, zu welchem Zweck die sogenannte Handaxt, die Hunderttausende Jahre lang das Hauptwerkzeug frühpalöolithischer Völker war, tatsächlich verwendet wurde. Sicherlich war sie keine Axt im modernen Sinn, kein spezielles Werkzeug zum Fällen von Bäumen. Sogar bei handlicheren Werkzeugen oder Waffen, wie dem mysteriösen Instrument, das als baton de commandement bezeichnet wurde, bestehen immer noch Zweifel über die ursprüngliche Funktion, obwohl das Loch in diesem kurzen Stab später dazu verwendet wurde, Pfeile geradezurichten.

Im Gegensatz zu diesen materiellen, aber trügerischen Beweisstücken besitzen wir zur Unterstützung unserer Auffassung von der geistigen Entwicklung ein ebenso solides, aber auch ebenso unsicheres Beweismittel: das menschliche Skelett, das man nur allzu selten vollständig findet; im besonderen den Schädel, die Hirnschale. Wie Bernhard Reusch bemerkt, hat man bei Tieren entdeckt, daß der Frontallappen, der Sitz der unterscheidenden, selektiven und anderen Intelligenz­funktionen, schneller wächst als der Rest des Gehirns, und daß beim Menschen dieser Teil des Gehirns stets besser entwickelt war als bei den ihm am nächsten stehenden Primaten.

Diese Entwicklung setzte sich bei den dazwischenliegenden Menschenarten fort, bis vor etwa fünfzig- bis hunderttausend Jahren der Homo sapiens auftrat und das Gehirn als Ganzes etwa seine jetzige Größe und Gestalt erreichte. Leider sind Größe und Gewicht des Gehirns bloß ungenaue Indikatoren für die geistige Kapazität, und signifikant sind sie hauptsächlich im Vergleich mit verwandten Spezies; die Anzahl der aktiven Schichten, die Komplexität der neuronalen Verbindungen, die Spezialisierung und die Lokalisierung der Funktionen sind wichtiger, da, was Volumen oder Gewicht betrifft, ein großer Wissenschaftler ein kleineres Gehirn haben kann als ein Preisboxer. Auch hier wieder vermittelt ein scheinbar solider Beweis ein falsches Sicherheits­gefühl.

Doch was immer der Mensch auch sein mag, er war von Anfang an ein intelligentes Tier. Mehr noch, er steht zweifellos an der Spitze der Wirbeltiere, mit ihrer zunehmenden Spezialisierung des Nervensystems, die mit der Entwicklung des Riechhirns und des Hirnstammes begann und allmählich das Nervengewebe im Thalamus oder »Urhirn«, dem ursprünglichen Sitz der Emotionen, größer und komplexer werden ließ.

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Mit dem massiven Wachstum des Frontallappens wurde ein vollständiges System organisiert, das besser als bei jedem anderen Tier einen größeren Bereich der Umwelt verarbeiten konnte, das Sinneseindrücke aufnahm, unpassende Reaktionen verhinderte, erfolglose Reaktionen korrigierte, schnelle Urteile und zusammenhängende Antworten produzierte und nicht zuletzt die Resultate in einem umfangreichen Erinnerungs­register speicherte.

Mit dieser ursprünglichen organischen Ausstattung nahm der Mensch mehr von seiner Umwelt wahr als jedes andere Tier und wurde so zur dominierenden Spezies dieses Planeten. Was vielleicht noch wichtiger ist: Der Mensch begann, sich selbst wahrzunehmen. Daß er ein Allesfresser war, was ihm in den Schwankungen des Klimas und der Nahrungsversorgung einen Vorteil gegenüber mehr spezialisierten Fressern gab, hatte ebenfalls eine Entsprechung in seinem geistigen Leben, in seinem ständigen Suchen, seiner unermüdlichen Neugierde und seiner abenteuerlichen Experimentierlust. Diese Fähigkeiten beschränkten sich anfangs zweifellos auf die Nahrungssuche, bald aber wandten sie sich anderen Gebieten zu, da der Feuerstein und der Obsidian, die sich als das beste Material für Werkzeuge und Waffen erwiesen, nicht überall vorhanden waren und es Zeit kostete, sie zu finden und auszuprobieren. Der primitive Mensch brachte sie oft sogar aus beträchtlichen Entfernungen herbei. 

Mit seiner hochorganisierten nervlichen Ausstattung konnte dieses intelligente Wesen mehr riskieren als jedes andere Tier, da es schließlich etwas besaß, das über die dumpfe tierische Einsicht hinausging und dazu diente, die unvermeidlichen Fehler und Irrtümer zu korrigieren. Und es besaß wie kein anderes Tier die potentielle Fähigkeit, die Teile seiner Erfahrung zu einem organisierten Ganzen zu verbinden: einem sichtbaren oder erinnerten, vorgestellten oder antizipierten. Dieses Merkmal wurde später bei höheren Menschentypen dominant.

Wollte man die ursprüngliche Konstitution des Menschen in dem Augenblick, da er mehr wurde als ein bloßes Tier, das an den ewigen Kreislauf von Fressen, Schlafen, Paarung und Aufzucht der Jungen gekettet ist, charakterisieren, so könnte man es kaum besser tun als Rousseau in seinem Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit: als ein »Tier, schwächer als die einen und weniger beweglich als die anderen, insgesamt aber das am vorteilhaftesten organisierte von allen«.

Dieser allgemeine Vorteil beruht auf der aufrechten Haltung, dem weitreichenden, dreidimensionalen Farbsehen, der Fähigkeit, auf zwei Beinen zu gehen, die Arme und Hände für andere Zwecke als die der Fortbewegung und Nahrungssuche freisetzt. Damit verbunden war eine koordinierte Fähigkeit zu ständiger Manipulation, zu rhythmischer und repetitiver Körperbetätigung, zum Erzeugen von Lauten und zum Formen von Werkzeugen. Da sehr primitive Hominiden, mit einem Gehirn, das kaum größer war als das der Menschenaffen, fähig waren, Werkzeuge herzustellen, war das letztere Merkmal wahrscheinlich, wie Dr. Ernst Mayr hervorhob, nur eine sekundäre Komponente in dem »Selektionsdruck, der das Gehirnvolumen vergrößerte«. Später werde ich diese Punkte weiter entwickeln und ein oder zwei Wesensmerkmale der spezifischen mentalen Ausstattung des Menschen hinzu­fügen, die sonderbarerweise bis jetzt übersehen worden sind.

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  Gehirn und Geist   

 

Die Entwicklung des Zentralnervensystems befreite den Menschen weitgehend vom Automatismus der Instinkt­schemata und der Reflexe und von der Beschränkung auf die unmittelbare räumliche und zeitliche Umwelt. Anstelle bloßer Reaktion auf äußere Reize oder innere hormonale Antriebe besaß er Vor- und Nachgedanken; darüber hinaus wurde er ein Meister der Selbst­stimulierung und der Selbst­steuerung, denn sein Heraustreten aus der Tierwelt war durch seine Fähigkeit gekennzeichnet, Projekte und Pläne zu machen, die nicht in den Genen seiner Spezies vorprogrammiert waren.

Bis jetzt habe ich aus reiner Bequemlichkeit die speziellen Vorzüge des Menschen nur anhand seines großen Gehirns und seiner komplexen neuronalen Organisation beschrieben, als wäre dies das einzig Entscheidende. Aber es ist nur ein Teil der Geschichte, denn der radikalste Schritt in der Entwicklung des Menschen war nicht das Wachstum des Gehirns, eines Einzelorgans von begrenzter Lebensdauer, sondern die Entstehung des Geistes; der die rein elektrochemischen Veränderungen in eine dauerhafte Form symbolischer Organisation brachte. Das schuf eine allen gemeinsame öffentliche Welt organisierter Sinneseindrücke und über das Sinnliche hinausgehender Bedeutungen und schließlich ein kohärentes Reich des Sinnvollen. Diese Hervor­bringungen der Gehirnaktivität können nicht in Begriffen von Masse, Bewegung, elektrochemischen Veränderungen oder DNS- und RNS-Bot­schaften beschrieben werden, da sie sich auf einer anderen Ebene befinden.

War das große Gehirn ein Organ zur Aufrechterhaltung eines dynamischen Gleichgewichts zwischen Organismus und Umwelt unter ungewöhnlichen Anforderungen und Belastungen, so wirkte der Geist als Organisationszentrum, das Gegenanpassungen und Umformungen im Menschen selbst wie auch in seinem Lebensbereich mit sich brachte; denn der Geist fand Mittel, das Gehirn, das ihn hervorgebracht hatte, zu überdauern. Auf der Tierstufe sind Gehirn und Geist im Grunde genommen eins, und sie bleiben auch durch lange Zeit der menschlichen Existenz nahezu ununter­scheidbar — obwohl man vermerken muß, daß man über den Geist — aufgrund seines äußeren Wirkens und seiner gemeinschaftlichen Produkte — schon vieles wußte, lange bevor man das Gehirn, statt der Zirbeldrüse oder des Herzens, als Hauptorgan des Geistes erkannte.

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Wenn ich von Nervenreaktionen des Menschen spreche, so verwende ich Gehirn und Geist als eng verbundene, aber nicht zu verwechselnde Begriffe, von denen keiner dem Wesen nach durch den anderen adäquat beschrieben werden kann. Aber ich will nicht in den traditionellen Irrtum verfallen, Geist oder Seele zu einer unfaßbaren Wesenheit zu machen, die keinen Bezug zum Gehirn hat, wie auch den modernen Fehler vermeiden, alle typischen Manifestationen des Geistes, also den Großteil der Kultur­geschichte, als subjektiv — das heißt, als jenseits glaubwürdiger wissenschaftlicher Untersuchbarkeit — zu mißachten. Keine einzige Funktion des Gehirns kann anders als mit Hilfe von Symbolen beschrieben werden, die der Geist, ein Kulturprodukt, und nicht das Gehirn, ein biologisches Organ, liefert.

Der Unterschied zwischen Gehirn und Geist ist sicherlich so groß wie der zwischen einem Plattenspieler und der Musik, die aus ihm ertönt. Es findet sich keine Spur von Musik in den Mikrorillen der Platte oder im Verstärker, außer durch die Schwingungen, in welche die Nadel durch die Rotation der Platte versetzt wird; aber diese physikalischen Vorgänge werden erst zu Musik, wenn ein menschliches Ohr die Töne hört und ein menschlicher Geist sie interpretiert. Für diesen letzten sinngebenden Akt ist der gesamte Apparat, sowohl der physikalische als auch der nervliche, unerläßlich; doch selbst die genaueste Analyse des Nerven­gewebes, zusammen mit dem mechanischen Drum und Dran des Plattenspielers, sagt noch immer nichts aus über den emotionellen Reiz, die ästhetische Form und über Sinn und Inhalt der Musik. Ein Elektro­enzephalo­gramm der Gehirnreaktion auf Musik enthält nichts, was auch nur annähernd musikalischen Phrasen und Klängen ähnelt, ebensowenig wie die Platte, mit deren Hilfe der Klang produziert wird.

Wenn ich mich auf Bedeutung und die symbolischen Träger von Bedeutung beziehe, werde ich somit das Wort Geist gebrauchen. Wenn von der zerebralen Organisation die Rede ist, die als erste die Bedeutungen empfängt, registriert, kombiniert, untersucht und speichert, werde ich mich auf das Gehirn beziehen. Ohne die aktive Unterstützung des Gehirns, oder besser, ohne den gesamten Organismus und die ihn umgebende Welt hätte der Geist nicht entstehen können. Doch sobald der Geist einmal aus der Überfülle von Bildern und Geräuschen ein System unterscheidbarer und speicherbarer Symbole geschaffen hatte, gewann er eine gewisse Unabhängigkeit, die andere verwandte Tiere nur in geringem Maß besitzen, und die den meisten Organismen, aus den äußeren Ergebnissen zu schließen, völlig fehlt.

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Es häuft sich Beweismaterial, das zeigt, daß sowohl Sinnesempfindungen als auch Symbole Abdrücke im Gehirn hinterlassen; und daß ohne einen konstanten Fluß mentaler Aktivität die Nerven selbst verkümmern und degenerieren. Dieses dynamische Verhältnis steht im Gegensatz zur statischen Fixierung musikalischer Symbole auf einer Schallplatte, die durch Gebrauch im Gegenteil abgenützt wird. Aber die Wechselbeziehung zwischen Geist und Gehirn ist ein zweiseitiger Prozeß; denn direkte elektronische Stimulierung gewisser Gehirnfelder kann, wie Dr. Wilder Penfield gezeigt hat, vergangene Erfahrungen »ins Bewußtsein bringen«, in einer Art, die darauf hinweist, wie ähnliche selbstinduzierte elektrische Ströme irrelevante Vorstellungsbilder plötzlich ins Bewußtsein springen lassen, wie neue Symbolkombinationen ohne absichtliches Bemühen entstehen oder wie Brüche in den inneren Stromkreisen Vergeßlichkeit oder Amnesie verursachen können.

Die Beziehungen zwischen Psyche und Soma, zwischen Geist und Gehirn, sind besonders intim; aber wie in der Ehe sind die Partner nicht untrennbar: Tatsächlich war ihre Scheidung eine der Vorbedingungen für die unabhängige Entwicklung des Geistes und seiner kumulativen Leistungen.

Aber der menschliche Geist besitzt dem Gehirn gegenüber einen besonderen Vorzug: Denn hat er erst einmal bedeutungsvolle Symbole geschaffen und signifikante Erinnerungen gespeichert, dann kann er seine charakteristischen Aktivitäten auf Stoffe wie Stein und Papier übertragen, die die kurze Lebensspanne des Gehirns überdauern. Stirbt der Organismus, so stirbt auch das Gehirn mit all dem, was es zu seinen Lebzeiten akkumuliert hat. Doch der Geist reproduziert sich selbst, indem er seine Symbole auf andere, menschliche wie mechanische, Medien als nur auf das Gehirn überträgt, das sie zuerst hervorbrachte. Und gerade in dem Bestreben, das Leben sinnvoller zu machen, hat der Geist gelernt, seine eigene Existenz zu verlängern, andere, zeitlich und räumlich weit entfernte Menschen zu beeinflussen und immer größere Erfahrungsbereiche mit Sinn und Leben zu erfüllen. Alle lebenden Organismen sterben; nur der Mensch vermag durch den Geist bis zu einem gewissen Grad zu überleben und über seinen Tod hinaus zu wirken.

Als physisches Organ ist das Gehirn heute vermutlich nicht größer und kaum besser als zu der Zeit, da vor dreißig- bis vierzig­tausend Jahren die erste Höhlenkunst entstand — es sei denn, symbolische Eindrücke wurden tatsächlich genetisch verankert und haben das Gehirn für geistige Tätigkeit besser prädisponiert. Aber der menschliche Geist ist an Größe, Ausdehnung, Reichweite und Effektivität enorm gewachsen; er verfügt heute über einen riesigen und immer noch zunehmenden Schatz symbolisierter Erfahrung, an dem die ganze Menschheit teilhat. Diese Erfahrung wurde ursprünglich durch eindrucksvolles Beispiel, Imitation und mündliche Mitteilung von Generation zu Generation überliefert.

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Aber in den letzten fünftausend Jahren hinterließ der Geist seine Spuren an Gebäuden, Monumenten, Büchern, Bildern. Städten. Kulturlandschaften und in der allerletzten Zeit auch auf Photographien. Schallplatten und Filmen. Mit diesen Mitteln hat der menschliche Geist in steigendem Maße die biologischen Begrenzungen des Gehirns überwunden: dessen Schwäche, Isoliertheit, Vereinzelung und kurze Lebensspanne.

Dies sei gesagt, um im voraus die Betrachtungsweise zu erläutern, die ich im folgenden auf die gesamte Entwicklung der menschlichen Kultur anwende. Aber ein weiterer Punkt muß noch betont werden, damit der Leser meine grundlegenden Annahmen nicht übersieht: daß Gehirn und Geist inkommensurable Aspekte ein und desselben organischen Prozesses sind. Obwohl der Geist in vielen anderen Medien als dem Gehirn existieren und überdauern kann, muß er immer wieder durch ein lebendes Gehirn hindurchgehen, um vom potentiellen zum aktuellen Ausdruck oder zur Kommunikation zu gelangen. Geben wir zum Beispiel dem Computer einige Funktionen des Gehirns, so ersetzen wir damit nicht das menschliche Gehirn und den Geist, sondern übertragen deren Funktionen auf die Konstruktion des Computers, auf seine Programmierung und auf die Interpretation der Resultate. Denn der Computer ist ein großes Gehirn in seinem elementarsten Zustand: ein gigantischer Oktopus, der mit Symbolen statt mit Krabben gefüttert wird. Kein Computer kann aus sich selbst heraus neue Symbole schaffen.

 

   Das Licht des Bewußtseins  

 

In irgendeinem Stadium muß der Mensch, plötzlich oder allmählich, aus der behaglichen Routine, die für andere Arten charakter­istisch ist, erwacht sein, um der langen Nacht des instinktiven Tappens und Tastens, mit ihren langsamen, rein organischen Anpassungen und ihren nur allzu gut eingeprägten »Botschaften« zu entrinnen und die zarte Morgendämmerung des Bewußtseins zu begrüßen. Dies brachte ein zunehmendes Gewahrwerden vergangener Erfahrung, gepaart mit frischer Erwartung zukünftiger Möglichkeiten. Da gemeinsam mit Gebeinen des Peking-Menschen Spuren von Feuer gefunden wurden, könnten die ersten Schritte, die den Menschen aus dem Tierstadium herausführten, zum Teil eine Folge seiner mutigen Reaktion auf das Feuer gewesen sein, das alle anderen Tiere vorsichtig meiden oder fliehen.

Dieses Spiel mit dem Feuer war sowohl ein menschlicher als auch ein technologischer Wendepunkt, um so mehr, als das Feuer drei Dinge spendet — Licht, Kraft und Wärme. 

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Das erste erhellte künstlich die Dunkelheit, in einer Umgebung, in der es von nächtlichen Räubern wimmelte;  das zweite befähigte den Menschen, zum ersten Mal in entscheidender Weise das Gesicht der Natur zu verändern, indem er den Wald niederbrannte; indessen hielt das dritte seine innere Körpertemperatur aufrecht und verwandelte tierisches Fleisch und stärkehaltige Pflanzen in leicht verdauliche Nahrung.

Es werde Licht! Mit diesen Worten beginnt die eigentliche Geschichte des Menschen. Jede organische Existenz, nicht zuletzt die des Menschen, hängt von der Sonne ab und fluktuiert mit den Sonneneruptionen und -flecken, mit dem Kreislauf der Erde um die Sonne und mit dem Wechsel des Wetters und der Jahreszeiten, der diese Vorgänge begleitet. Ohne rechtzeitige Beherrschung des Feuers hätte der Mensch kaum die Unbilden der Eiszeiten überleben können. Seine Fähigkeit, unter diesen schwierigen Bedingungen zu denken, mag, wie Decartes' erste Einsichten in die Philosophie, bedingt gewesen sein durch seine Fähigkeit, lange Zeit ruhig in einem warmen, geschlossenen Raum zu verharren. Die Höhle war das erste Kloster.

Aber nicht im Licht des brennenden Holzes darf man die Quelle der Kraft des Frühmenschen suchen; die Erleuchtung, die ihn spezifisch kennzeichnet, kam aus seinem Inneren. Die Ameise ist ein fleißigerer Arbeiter, als der Frühmensch es war, mit einer stärker ausgeprägten sozialen Organisation. Aber kein anderes Lebewesen besitzt die Fähigkeit des Menschen, in seiner eigenen Vorstellung eine Symbolwelt zu schaffen, die seine unmittelbare Umgebung verschwommen widerspiegelt und doch über sie hinausgeht. Mit dem ersten Gewahrwerden seiner selbst setzte der Mensch den langen Prozeß der Erweiterung der Grenzen des Universums in Gang und fügte dem stummen kosmischen Spiel das eine Attribut hinzu, das ihm fehlte: das Wissen um das, was seit Milliarden Jahren vorgegangen war.

Das Licht des menschlichen Bewußtseins ist bis jetzt das größte Wunder des Lebens und die Hauptrecht­fertigung für alles Leid und Elend, das die menschliche Entwicklung begleitet hat. Im Hüten dieses Feuers, im Aufbau dieser Welt, in der Verstärkung dieses Lichts und in der Erweiterung der aufmerksamen und mitfühlenden Verbundenheit mit allem Sein liegt der Sinn der menschlichen Geschichte.

Halten wir inne, um zu überlegen, wie anders das gesamte Universum aussieht, wenn wir das Licht des menschlichen Bewußtseins anstelle von Masse und Energie als den zentralen Faktor der Existenz betrachten.

Als man den theologischen Begriff einer Ewigkeit ohne Anfang und Ende in astronomische Zeiträume übersetzte, wurde klar, daß der Mensch ein Neuankömmling auf der Erde war und die Erde bloß ein Teilchen in einem Sonnensystem, das bereits viele Milliarden Jahre existiert hatte. 

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Als unsere Teleskope sich weiter in den Weltraum tasteten, wurde auch klar, daß unsere Sonne nur ein winziges Körnchen in der Milchstraße und diese wiederum nur ein Teil weit gigantischerer Galaxien und Sternnebel war. Angesichts dieser Ausdehnung von Raum und Zeit erschien der Mensch als physisches Objekt von begrenzter Lebensdauer lächerlich unbedeutend. Diese kolossale Vergrößerung von Raum und Zeit schien auf den ersten Blick den Anspruch des Menschen, von zentraler Bedeutung zu sein, als leere Prahlerei und Eitelkeit zu entkräften; und selbst seine mächtigsten Götter wurden nichtig vor diesem kosmischen Schauspiel.

Doch dieses ganze Bild kosmischer Evolution, ausgedrückt in Begriffen quantitativer physikalischer Existenz, mit seiner unermeß­lichen Zeit und seinem unermeßlichen Raum, sieht ganz anders aus, wenn man zu dem Zentrum zurückkehrt, wo das wissen­schaftliche Bild zusammengesetzt wurde: zum Geist des Menschen. Betrachtet man die kosmische Evolution nicht in Begriffen von Zeit und Raum. sondern in Begriffen eines einsichtigen Bewußtseins, mit dem Menschen in der zentralen Rolle des Messenden und Interpretierenden, so stellt sich die ganze Geschichte anders dar.

Fühlende Wesen jeder Art, selbst die einfache Amöbe, scheinen extrem seltene und kostbare Höhepunkte des gesamten kosmischen Ablaufs zu sein; so sehr, daß der Organismus der winzigen Ameise, deren Entwicklung vor etwa sechzig Millionen Jahren zum Stillstand gekommen ist, in seiner mentalen Organisation und seiner selbständigen Tätigkeit eine höhere Seinsform verkörpert, als die ganze Erde vor der Entstehung des Lebens hervorgebracht hat. Betrachten wir organische Veränderung nicht als bloße Bewegung, sondern als Zuwachs an Empfindungen und selbstgesteuerter Aktivität, als Ausdehnung des Gedächtnisses, Erweiterung des Bewußtseins und Erforschung organischer Möglichkeiten in Strukturen von wachsender Bedeutung, so kehrt sich — die Relation des Menschen zum Kosmos um.

Im Licht des menschlichen Bewußtseins ist es nicht der Mensch, sondern das gesamte Universum noch »unbelebter« Materie, das sich als ohnmächtig und bedeutungslos herausstellt. Das physikalische Universum ist unfähig, sich selbst zu erblicken, außer durch die Augen des Menschen; unfähig, für sich selbst zu sprechen, außer durch die menschliche Stimme; unfähig, sich selbst zu erkennen, außer durch die menschliche Intelligenz; ja, es war außerstande, die Möglichkeiten seiner eigenen früheren Entwicklung zu erkennen, bis der Mensch oder empfindende Wesen mit ähnlichen geistigen Fähigkeiten schließlich aus der völligen Finsternis und Stille präorganischer Existenz heraustraten.

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Man beachte, daß ich im letzten Absatz »unbelebt« in Anführungszeichen setzte. Was wir unbelebte Materie nennen, ist eine Illusion oder vielmehr eine überholte Bezeichnung, die auf mangelndem Wissen beruht. Denn unter den grundlegenden Eigenschaften der Materie gibt es, wie wir heute wissen, eine, die lange Zeit von den Physikern ignoriert wurde: die Tendenz, aus dem primären Wasserstoff komplexe Atome und aus diesen Atomen komplexe Moleküle zu bilden, bis schließlich organisches Protoplasma entstand, das wachsen, sich reproduzieren, sich erinnern und sich zweckmäßig verhalten kann; anders ausgedrückt, lebende Organismen. Bei jeder Mahlzeit verwandeln wir »unbelebte« Moleküle in lebendes Gewebe; und mit dieser Umformung entstehen Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle, Emotionen, Träume, körperliche Reaktionen, Pläne und selbstgesteuerte Aktivitäten: noch reichere Manifestationen von Leben.

Alle diese Fähigkeiten waren, wie Leibnitz hervorhob, zusammen mit den vielen anderen Möglichkeiten, die noch ergründet werden müssen, potentiell in der Beschaffenheit der ursprünglichen Monade vorhanden. Die Entwicklung und Selbstentdeckung des Menschen ist Teil eines universalen Prozesses: Er kann als jener winzige, seltene, aber unendlich kostbare Teil des Universums beschrieben werden, der sich durch die Erfindung der Sprache seiner eigenen Existenz bewußt wurde. Neben dieser Errungenschaft des Bewußtseins in einem einzelnen Lebewesen zählt der größte Stern weniger als ein kretinöser Zwerg.

Physiker schätzen heute das Alter der Erde auf etwa vier bis fünf Milliarden Jahre; und die frühesten Spuren von Leben kommen etwa zwei Milliarden Jahre später, obwohl lebende oder halblebende Protoorganismen, die nicht erhalten blieben, sicherlich schon früher aufgetaucht sein müssen. Auf dieser abstrakten Zeitskala scheint die ganze menschliche Existenz fast zu kurz und zu flüchtig, um beachtet zu werden. Aber diese Skala zu akzeptieren, wäre falsche Bescheidenheit. Zeitskalen sind selbst menschliche Einrichtungen: Das außermenschliche Universum stellt sie weder auf, noch interpretiert es sie, noch wird es von ihnen gelenkt.

Gemessen an der Entwicklung des Bewußtseins, können diese ersteh drei Milliarden Jahre in all ihrer repetitiven Leere auf ein oder zwei kurze Augenblicke der Vorbereitung zusammengedrängt werden. Mit der Evolution der niederen Organismen während der nächsten zwei Milliarden Jahre verlängerten sich diese kaum wahrnehmbaren Sekunden, psychologisch gesehen, zu Minuten: dem ersten Auftreten organischer Sensitivität und autonomer Steuerung. Mit dem beweglichen Neugierverhalten der Wirbeltiere, zunehmend begünstigt durch ihren spezialisierten Nervenapparat, machte das Gehirn seine ersten tastenden Schritte in Richtung Bewußtsein. Als später eine Spezies nach der anderen diese Richtung einschlug, verlängerten sich. trotz vieler Abweichungen, Stillstände und Rückschritte, die Sekunden und Minuten des Gewahrwerdens zu Stunden.

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Es bedarf hier keiner ins einzelne gehenden Beschreibung der anatomischen Veränderungen und konstruktiven Aktivitäten, die das Wachstum des Bewußtseins bei anderen Arten begleiteten, von den Bienen und Vögeln bis zu den Delphinen und Elefanten oder den gemeinsamen Vorfahren, aus denen sich sowohl die Affen als auch die Hominiden entwickelt haben. Aber der endgültige Durchbruch kam nach unserer heutigen vorsichtigen Schätzung vor etwa fünfhunderttausend Jahren mit dem Erscheinen jenes Wesens, das wir heute als Mensch bezeichnen.

Mit der außerordentlichen Entwicklung expressiver Gefühle, differenzierter Empfindungen und selektiver Intelligenz, die letztlich Sprache und vermittelbares Lernen ermöglichten, verlängerten sich die Stunden des Bewußtseins zu Tagen. Anfangs beruhte dieser Wandel hauptsächlich auf neuralen Verbesserungen; aber sobald der Mensch spezielle Mittel erfunden hatte, um die Vergangenheit in Erinnerung zu rufen, neue Erfahrungen festzuhalten, die Kinder zu lehren und die Zukunft abzusehen, weitete sich das Bewußtsein auf Jahrhunderte und Jahrtausende aus: Es blieb nicht länger auf ein einziges Lebensalter beschränkt.

Im Spätpaläolithikum machten einige Jägervölker der Aurignac- und Magdalénien-Kultur einen weiteren Sprung nach oben, indem sie bewußte Vorstellungen in gemalten und modellierten Objekten festhielten. Dies hinterließ eine Spur, die bis in die späteren Künste der Architektur, Malerei, Bildhauerei und Literatur verfolgt werden kann — die Künste, die das Bewußtsein in einer gemeinschaftlichen und kommunizierbaren Form intensivieren und erhalten. Schließlich wurde mit der Erfindung der Schrift vor etwa fünftausend Jahren der Bereich des Bewußtseins noch mehr erweitert und ausgedehnt.

Beim Eintritt in die geschriebene Geschichte schließlich schlägt die organische Zeitdauer um in die mechanische, externalisierte Zeit, die mit Kalendern und Uhren gemessen wird. Es kommt nicht darauf an, wie lange einer lebt, sondern wie intensiv er gelebt und wieviel Bedeutung sein Leben aufgenommen und weitergegeben hat. Der bescheidenste menschliche Geist umfaßt und verarbeitet an einem einzigen Tag mehr bewußte Erfahrung, als unser gesamtes Sonnensystem in seinen ersten drei Milliarden Jahren umfaßte, ehe das Leben entstand.

Fühlt der Mensch sich angesichts der ungeheuren Ausmaße des Universums oder der endlosen Zeiträume klein und nichtig, so ist das, als hätte er Angst vor seinem eigenen Schatten. Allein durch das Licht des Bewußtseins wird das Universum sichtbar, und sollte dieses Licht verlöschen, bliebe nur das Nichts. Außerhalb der erleuchteten Bühne des menschlichen Bewußtseins ist der mächtige Kosmos bloß eine geistlose Unwesenheit. Nur durch menschliche Worte und Symbole, die menschliches Denken festhalten, kann das von der Astronomie erforschte Universum von seiner immerwährenden Leere erlöst werden. Ohne diese erleuchtete Bühne, ohne das menschliche Drama, das auf ihr gespielt wird, würde das gesamte Theater des Himmels, das die menschliche Seele so tief bewegt, begeistert und erschreckt, sich wie Prosperos Traumwelt wieder in sein eigenes existentielles Nichts auflösen.

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Die Unermeßlichkeit von Raum und Zeit, die uns heute erschreckt, wenn wir sie mit den Augen der Wissenschaft betrachten, erweist sich als leerer Wahn, sofern man sie nicht auf den Menschen bezieht. Das Wort »Jahr«, an sich auf ein physikalisches System bezogen, ist sinnlos: Nicht die Sterne oder die Planeten erfahren die Jahre, noch weniger messen sie sie, sondern der Mensch tut es. Diese Beobachtung selbst ist ein Ergebnis der Aufmerksamkeit des Menschen für sich wiederholende Bewegungen, jahreszeitliche Vorgänge, biologische Rhythmen und meßbare Perioden. Wird die Idee des Jahres auf das physikalische Universum zurückprojiziert, so zeigt sie etwas weiteres, das für den Menschen wichtig ist; davon abgesehen, ist sie eine poetische Fiktion.

Jeder Versuch, den Milliarden Jahren, die der Kosmos vor dem Auftreten des Menschen anscheinend existiert hat, objektive Realität beizumessen, schmuggelt heimlich einen menschlichen Beobachter in diese Feststellung, denn es ist die Fähigkeit des Menschen, rückwärts und vorwärts zu denken, die diese Jahre erschafft, sie zählt und mit ihnen rechnet. Ohne die zeitsetzenden Aktivitäten des Menschen ist das Universum zeitlos, so wie es ohne die Raumbegriffe des Menschen, seine Entdeckung von Formen, Strukturen und Rhythmen ein gefühlloses, formloses, zeitloses und bedeutungsloses Nichts ist. Bedeutung steht und fällt mit dem Menschen, oder besser mit dem kreativen Prozeß, der ihn hervorgebracht und ihm einen Geist gegeben hat.

Obwohl das Bewußtsein des Menschen eine derart zentrale Rolle spielt und die Basis all seiner kreativen und konstruktiven Aktivitäten ist, ist der Mensch dennoch kein Gott: Denn seine geistige Erleuchtung und Selbstentdeckung führt nur die Kreativität der Natur aus und vergrößert sie. Sein Verstand sagt dem Menschen, daß er, selbst in seinen lichtesten Momenten, bloß ein Mitwirkender in einem größeren kosmischen Prozeß ist, den er nicht in Gang gesetzt hat und nur in sehr begrenztem Maß kontrollieren kann. Abgesehen von der Erweiterung des Bewußtseins, bleiben seine Winzigkeit und seine Einsamkeit real. Langsam hat der Mensch herausgefunden, daß er, so wunderbar sein Geist auch ist, den egoistischen Stolz und Wahn, den dieser hervorruft, zügeln muß; denn seine höchsten Fähigkeiten sind vom Zusammenwirken einer Vielzahl anderer Kräfte und Organismen abhängig, deren Lebenswege und Lebensbedürfnisse respektiert werden müssen.

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Die physikalischen Bedingungen, die alles Leben bestimmen, engen den Menschen ein: Seine Körpertemperatur muß innerhalb der Grenzen einiger Grade bleiben, und das Gleichgewicht von Säuren und Basen in seinem Blut ist noch empfindlicher; auch beeinträchtigen gewisse Stunden des Tages seine Fähigkeit, seine Energien zu verwenden oder gegen eine Krankheit anzukämpfen, und die Mondphasen oder Wetteränderungen haben, ob man will oder nicht, physiologische und geistige Auswirkungen. Nur in einem Sinn sind die Kräfte des Menschen gottähnlich geworden: Er hat sich ein symbolisches Universum von Bedeutungen geschaffen, das seine ursprüngliche Natur und seine allmähliche kulturelle Entwicklung enthüllt; und dies befähigt ihn bis zu einem gewissen Punkt, in Gedanken seine vielen tierisch-organischen Begrenzungen zu überschreiten. All seine täglichen Aktivitäten, Ernährung, Arbeit und Paarung, sind notwendig und deshalb wichtig; aber nur in dem Maße, als sie seine bewußte Teilnahme am Schöpfungsprozeß beleben — dem Prozeß, den jede Religion als zugleich immanent und transzendent erkennt und göttlich nennt.

Theoretisch könnte die gegenwärtige Eroberung von Zeit und Raum es einigen wenigen kühnen Astronauten ermöglichen, jeden Planeten im Sonnensystem zu umkreisen, oder, was noch unwahrscheinlicher klingt, zu einem der nächsten, vier oder fünf Lichtjahre entfernten Sterne zu fliegen. Nehmen wir an, beide Projekte lägen im Bereich der mechanischen, wenn nicht der biologischen Möglichkeit. Aber selbst wenn diese Heldentaten wie durch ein Wunder erfolgreich wären, so wären sie doch nichts im Vergleich zur Vertiefung des Bewußtseins und zur Erweiterung der Zielsetzungen, die die Geschichte eines einzelnen primitiven Stammes hervorgebracht hat.

Kometen fliegen mit einer Geschwindigkeit, die zu erreichen der Mensch wahrscheinlich nur träumen kann, und sie machen längere Flüge; aber ihre endlosen Raumflüge ändern nur die Verteilung der Energie. Die kühnsten Weltraumforschungen des Menschen würden den begrenzten Möglichkeiten eines Kometen immer noch näher stehen als seiner eigenen historischen Entwicklung; indessen sind seine frühesten Versuche der Selbsterforschung, die den Grundstein für symbolische Interpretation aller Art, besonders der Sprache, legten, noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Mehr noch, gerade diese innere Erforschung, die bis zum ersten Hervortreten des Menschen aus der Tierwelt zurückreicht, hat es ermöglicht, alle Dimensionen des Seins zu erweitern und die bloße Existenz mit Sinn zu erfüllen. In diesem Sinn ist die gesamte Geschichte des Menschen, seine Selbst­entdeckungsreise, bis heute der Höhepunkt der kosmischen Evolution.

Wir haben heute Grund, zu vermuten, daß die Erlangung des Bewußtseins an mehr als nur einem Punkt des Universums stattgefunden haben könnte, sogar an vielen Punkten, in Wesen, die vielleicht noch andere Möglichkeiten ausschöpften oder besser als der Mensch den Fesseln, Perversionen und Irrationalitäten entrannen, die die Menschheitsgeschichte kennzeichnen und die nun, da die Macht des Menschen ins Gigantische wächst, seine Zukunft ernstlich bedrohen.

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Doch obwohl organisches Leben und fühlende Wesen anderswo existieren mögen, sind sie noch so selten, daß die menschliche Errungenschaft der vom Geist geformten Kultur unendlich wichtiger erscheint als die Zähmung der Naturkräfte oder alle vorstellbaren Raumfahrten. Die technische Großtat der Überwindung des Schwerefelds ist trivial, verglichen mit dem Ausbruch des Menschen aus der rohen Unbewußtheit der Materie und dem geschlossenen Zyklus des organischen Lebens.

Kurz gesagt, ohne die kumulative Fähigkeit des Menschen, der Erfahrung symbolische Form zu geben, sie zu reflektieren, sie umzugestalten und zu projizieren, wäre das physikalische Universum so bedeutungslos wie eine Uhr ohne Zeiger; ihr Ticken würde uns nichts sagen. Die Geistigkeit des Menschen macht den Unterschied aus.

 

   Die ungebundene Kreativität des Menschen   

 

Da der Mensch am Ende einer langen, weitverzweigten evolutionären Entwicklung steht, haben seine einzelnen Fähigkeiten akkumulierte organische Erfahrung vieler anderer, ihm vorangegangener Arten zur Grundlage. Obwohl der alte Satz: »Der Mensch erklettert seinen Stammbaum« nicht allzu wörtlich genommen werden darf, können die Merkmale, die die Fortdauer dieses reichen Erbes im Menschen anzeigen, von der einzelligen Blastula über. die fischartigen Kiemenspalten des Embryos bis zum affenartigen Pelz des siebenmonatigen Fötus, nicht als Unsinn abgetan werden. Jedes Organ im menschlichen Körper, angefangen vom Blut, hat eine Geschichte, die auf die frühesten Erscheinungsformen des Lebens zurückgeht, denn der Salzgehalt des Blutes entspricht dem des Meeres, in dem die ersten Organismen entstanden, während die Wirbelsäule von den frühen Fischen herkommt und das Muster der menschlichen Bauchmuskulatur schon beim Frosch sichtbar ist.

Die Natur des Menschen hat sich stetig durch komplexe Aktivitäten, Vermischungen und Selbstverwandlungen, wie sie sich in allen Organismen abspielen, entwickelt und geformt; und weder seine Natur noch seine Kultur kann von der reichen Vielfalt der Lebensräume abstrahiert werden, mit ihren verschiedenen geologischen Formationen, ihrer unterschiedlichen Flora und Fauna — Vögel, Fische, Insekten, Bakterien —, die der Mensch unter ständig wechselnden klimatischen Bedingungen durchforschte. Das Leben des Menschen wäre grundlegend anders, hätten Säuger und Pflanzen sich nicht gemeinsam entwickelt, hätten Bäume und Gräser nicht von der Erdoberfläche Besitz ergriffen, hätten nicht blühende Pflanzen und gefiederte Vögel, ziehende Wolken und lebhafte Sonnenuntergänge, hochaufragende Berge, grenzenlose Ozeane und der Sternen­himmel seine Phantasie gefangengenommen und seinen Geist erweckt.

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Weder der Mond noch eine Raketenkapsel hat auch nur die geringste Ähnlichkeit mit der Umwelt, in der der Mensch damals dachte und gedieh. Hätte der Mensch je vom Fliegen geträumt in einer Welt, in der es keine fliegenden Wesen gibt?

Lange bevor ein Kulturschatz angehäuft war, hatte die Natur dem Menschen schon ihr eigenes vollendetes Modell unerschöpflicher Kreativität gegeben, in dem Zufälligkeit durch Organisation ersetzt wurde und Organisation fortschreitend Zweck und Bedeutung verkörperte. Diese Kreativität ist an sich Sinn und Lohn des Daseins. Die Sphäre signifikanter Kreativität zu erweitern und ihre Entwicklungsperiode zu verlängern, ist die einzige Antwort des Menschen auf das Wissen um seinen eigenen Tod.

Leider sind diese Gedanken unserer heutigen, von Maschinen beherrschten Kultur fremd. Ein zeitgenöss­ischer Geograph, der in seiner Vorstellung bereits auf einem künstlichen Asteroiden lebt, bemerkte: »Es existiert kein inhärenter Wert in einem Baum, einem Grashalm, einem Bach oder einem guten Bodenprofil; wenn unsere Nachfahren in einer Million Jahren einen Planeten von Felsen, Luft, Meer und Raumschiffen bewohnen, wäre das immer noch eine Welt der Natur.« Keine Bemerkung könnte angesichts der Naturgeschichte dümmer sein. Der Wert all der ursprünglichen natürlichen Komponenten, über die dieser Geograph sich so großzügig hinwegsetzt, liegt gerade darin, daß sie in ihrer unermeßlich mannigfaltigen Gesamtheit mitgeholfen haben, den Menschen zu erschaffen.

Wie Lawrence Henderson in The Fitness of the Environment brillant nachgewiesen hat, begünstigten sogar die physikalischen Eigenschaften der Luft, des Wassers und der Kohlenstoffverbindungen die Entstehung des Lebens. Wäre das Leben auf einem kahlen, unfruchtbaren Planeten entstanden, wie ihn der erwähnte Geograph als mögliche Zukunft voraussieht, hätten dem Menschen die notwendigsten Hilfsmittel für seine Entwicklung gefehlt. Und wenn unsere Nachfahren diesen Planeten in solch einen denaturierten Zustand bringen, wie die Bulldozer, die chemischen Vertilgungsmittel, die Atombomben und Atomreaktoren es zu tun bereits im Begriff sind, dann wird der Mensch selbst ebenso denaturiert, das heißt, entmenschlicht werden.

Die Menschlichkeit des Menschen ist selbst eine besondere Art von Blüte, hervorgebracht von den günstigen Bedingungen, unter denen sich zahllose andere Organismen entwickelten und fortpflanzten. Mehr als sechshunderttausend Pflanzenarten und mehr als zwölfhunderttausend Tierarten trugen dazu bei, die Umwelt zu bilden, die der Mensch zu seiner Verfügung vorfand, gar nicht zu sprechen von der ungeheuren Vielzahl anderer Organismen — insgesamt etwa zwei Millionen Spezies.

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Als die Menschen an Zahl zunahmen und sich regional und kulturell differenzierten, trugen sie selbst zur Vermehrung der Vielfalt bei. Die Erhaltung dieser Vielfalt war eine der Voraussetzungen für das menschliche Gedeihen; und obwohl vieles davon für das bloße Überleben des Menschen überflüssig ist, war gerade dieser Überfluß ein Ansporn für seinen fragenden Geist.

Der Student, der Dr. Loren Eiseley fragte, warum der Mensch mit seiner heutigen Fähigkeit, automatische Maschinen und synthetische Nahrung zu erzeugen, die Natur nicht ganz abschaffen sollte, begriff nicht, daß er sich, ebenso wie der vorhin zitierte Geograph, auf törichte Weise den Boden unter den eigenen Füßen entzog. Denn die Fähigkeit, die unerschöpfliche Kreativität der Natur aufzunehmen und weiterhin zu gebrauchen, ist eine der Grundbedingungen für die menschliche Entwicklung. Selbst Primitive scheinen diesen grundlegenden Zusammenhang zu verstehen, obwohl die »posthistorischen« Denker, die heute in unseren »Multiversitäten« versammelt und ausgebildet werden, mit ihrem aktiven Haß auf alles, was der Kontrolle der Maschine widersteht oder zu entrinnen droht, ihn offenkundig nicht begreifen.

 

   Die Spezialität der Nichtspezialisierung   

 

Die menschliche Gattung brachte, wie wir heute rückblickend sehen können, von vornherein eine bemerkenswerte Eignung mit, um aus dem Überfluß der Erde Nutzen zu ziehen; das Wichtigste war vielleicht die Fähigkeit, aus der Beschränktheit spezialisierter, einer begrenzten Umwelt angepaßter Einzweck-Organe auszubrechen.

Der komplexe Apparat der menschlichen Sprechorgane entstand aus hochspezialisierten Teilen zum Schmecken, Beißen und Schlucken von Nahrung, zum Atmen und zum Aufnehmen natürlicher Geräusche; der Mensch hörte zwar nicht auf, sie für diese Zwecke zu verwenden, entdeckte aber neue Verwendungsmöglichkeit, indem er mit ihnen vokale Ausdrücke formte und modulierte und auf solche reagierte. Sobald Lunge, Kehlkopf, Gaumen, Zunge, Zähne, Lippen und Wangen einmal durch den Geist richtig miteinander verbunden waren, stellten sie sich als perfektes Orchester von Blas-, Schlag- und Streichinstrumenten heraus. Aber selbst unsere engsten überlebenden Verwandten lernten niemals eine ähnliche spielbare Partitur zu komponieren. Zufällig können einige Vogelarten mühelos die menschliche Stimme nachahmen; aber nur für den Menschen hat der Trick des Papageis eine Bedeutung.

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Doch die Befreiung des Menschen von stereotypen vererbten Verhaltensweisen war von einem Verlust an Sicherheit und Bereitschaft begleitet; denn sowohl Gehen als auch Sprechen, diese spezifisch menschlichen Handlungen, müssen gelernt werden; und der wichtigste Faktor der Befreiung des Menschen aus der Organspezialisierung war zweifellos sein hochentwickeltes Gehirn. Diese Konzentration im Zentrum ermöglichte Freisetzung und Kontrolle jeder anderen Aktivität. Als die symbolisch konditionierten Handlungen an Zahl und Komplexität zunahmen, konnte das organische Gleich­gewicht nur durch den bewußten Geist aufrechterhalten werden.

Ursprünglich scheint das Gehirn tatsächlich ein begrenztes Einzweck-Organ zum Empfang von Informationen und zur Ausführung entsprechender motorischer Reaktionen gewesen zu sein. Der älteste Teil ist der Bulbus olfactorius (das Riechhirn), der hauptsächlich dem Geruchsinn dient. Obwohl dieser seine Bedeutung für die Steuerung des menschlichen Verhaltens mit der Zeit weitgehend verloren hat, bleibt er wichtig für das Vergnügen am Essen, für die Beurteilung der Genießbarkeit oder die Entdeckung eines noch nicht sichtbaren Feuers; und er hilft sogar bei der Feststellung körperlicher Störungen, wie etwa der Masern.

Die nächste Stufe des Gehirnwachstums vergrößerte die Reichweite emotionalen Reagierens; und ehe das Denken genügend symbolisiert werden konnte, um das Verhalten zu steuern, sicherte es prompte und weitreichende motorische Reaktionen — Angriff, Flucht, Ducken, Zurückweichen, Schutzsuchen, Umarmung und Paarung. Aber der große Fortschritt, der den Menschen von seinen nächsten Verwandten trennt, beruhte auf der gewaltigen Zunahme des Vorhirns und damit des gesamten neuralen Systems an Größe und Komplexität. Diese Mutation, besser gesagt, diese Folge von Veränderungen in gleicher Richtung, kann bis jetzt noch von keiner biologischen Theorie hinreichend erklärt werden, wenngleich C. H. Waddington in The Nature of Life einer Neudefinierung der organischen Veränderungen, die die Herausbildung und Weitergabe »erworbener Eigenschaften« erleichtern, am nächsten kommt. Der übliche Verlegenheitsbegriff »Selektionsdruck« erklärt die Resultate, nicht aber den Umwandlungs­prozeß.

Die Fakten selbst jedoch sind ziemlich klar. Der früheste Schädel, der schon als menschlich bezeichnet werden kann, ist einige hundert Kubikzentimeter größer als der eines Menschenaffen; dagegen ist der Schädel späterer Menschen, bis zurück zum Neandertaler, grob geschätzt dreimal so groß wie der des frühesten Australopithecus-Hominiden, der in Afrika gefunden wurde und in dem man heute einen der unmittelbaren Vorfahren des Menschen vermutet. Daraus läßt sich schließen, daß außer dem Zuwachs an Masse eine Vermehrung der Neuronen und Dendriten und damit eine Vervielfachung der möglichen Verbindungen zwischen ihnen bei höher entwickelten Menschenexemplaren stattgefunden hat.

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Allein zum Zweck des abstrakten Denkens enthält das Gehirn zehntausendmal soviele Komponenten wie der komplexeste Computer von heute. Diese riesige numerische Überlegenheit wird zweifellos mit der Verfeinerung der Elektronentechnik verschwinden. Aber ein rein quantitativer Vergleich zeigt noch nicht die qualitative Einzigartigkeit der Gehirnleistungen — die reichhaltige Fülle von Geruchs-, Geschmacks-, Farb-, Ton-, emotionalen und erotischen Empfindungen, die den Reaktionen und Projektionen, die im menschlichen Geist und durch ihn stattfinden, zugrunde­liegen und sie durchströmen. Würde man sie eliminieren, wären die kreativen Fähigkeiten des Gehirns auf das Niveau eines Computers reduziert, der schnell und präzise reine Abstraktionen verarbeiten kann, aber gelähmt wäre, sobald er mit jenen organischen Konkretheiten konfrontiert würde, die durch Isolierung oder Abstraktion unweigerlich verlorengehen. Die meisten »emotionellen« Reaktionen auf Farb-, Geräuschs-, Geruchs-, Form- und Tastwerte waren zwar schon vor der reichen Gehirn­entwicklung des Menschen vorhanden, doch liegen sie den höheren Denkformen zugrunde und bereichern sie.

Wegen der extremen Kompliziertheit des großen Gehirns des Menschen sind Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit, Gegenanpassung und Kreativität (das heißt, gewollte statt zufälliger Neuerung) konstitutive Gegebenheiten, eingebettet in die komplexe Neural­struktur des Menschen. In ihrer Fähigkeit, unerwarteten Anforderungen gerecht zu werden, übertreffen sie die sichereren Instinktschemata und die engere Umweltanpassung anderer Spezies. Aber gerade diese Möglichkeiten stellten den Menschen vor die Notwendigkeit, einen unabhängigen Bereich stabiler, vorhersagbarer Ordnung zu schaffen, verinnerlicht und unter bewußter Kontrolle. Die Tatsache, daß Ordnung und Kreativität einander ergänzen, war grundlegend für die kulturelle Entwicklung des Menschen, denn er braucht eine innere Ordnung, um seiner Kreativität eine äußere Form geben zu können. Sonst würde, wie der Maler Delacroix in seinem Tagebuch klagte, seine ungestüme Phantasie mehr Bilder hervorbringen, als er festhalten und verwenden kann, wie es in nächtlichen Träumen tatsächlich oft der Fall ist.

Aber man beachte: Was die Anfänge betrifft, ist es keine ausreichende Erklärung für das übergroße Gehirn des Homo sapiens, wenn man es nur als Anpassungsmechanismus betrachtet, der zum Überleben des Menschen und zu seiner wachsenden Vorherr­schaft über andere Arten beigetragen hat. Sein Beitrag zur Anpassung war zwar wertvoll, wurde aber lange Zeit — und wird auch heute noch — durch Fehlanpassungen und Perversionen beeinträchtigt. Etwa hunderttausend Jahre lang stand die Größe des Gehirns in einem ungeheuren Mißverhältnis zu der Leistung, die ihm abverlangt wurde. Wie Alfred Russel Wallace schon vor langer Zeit zeigte, waren die geistigen Fähigkeiten eines Aristoteles oder Galilei, anatomisch und physiologisch gesehen, schon bei Menschen, die noch nicht bis zehn zählen konnten, potentiell vorhanden und harrten der Nutzung. Ein Teil dieser Anlagen ist heute noch ungenutzt.

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Das »Wuchern« des Gehirns könnte durch eine lange Periode der Vorgeschichte hindurch ebensosehr Hindernis wie Hilfe für die Vorfahren des Homo sapiens gewesen sein; denn es hinderte sie in gewissem Ausmaß daran, eine rein instinktive Tierrolle zu spielen, bevor sie einen kulturellen Apparat entwickelt hatten, um diese Kräfte zu nutzen. Dennoch ist diese neurale Blüte, wie die Blüte im Pflanzenreich, typisch für viele andere organische Fortschritte; denn das Wachstum selbst beruht auf der Fähigkeit des Organismus, einen Überschuß an Energie und organischen Möglichkeiten zu produzieren, der weit über das hinausgeht, was zum bloßen Überleben notwendig ist.

Hier hat uns wieder das willkürliche viktorianische Prinzip der Sparsamkeit irregeleitet: Dieses Prinzip wird den Extravaganzen und Verschwendungen der Natur nicht gerecht. Dr. Walter Cannon zeigte die Rationalität organischen Überflusses in seiner Analyse der paarweise angelegten Organe des Körpers auf. Die menschlichen Nieren besitzen einen vierfachen Reservefaktor: Schon ein Viertel einer Niere würde ausreichen, um » den Organismus am Leben zu erhalten. Was das Nervensystem des Menschen betrifft, so gilt noch heute, was Blake einst sagte: Auf dem Weg des Übermaßes gelangte der Mensch in den Palast der Weisheit.

In einem frühen Essay, publiziert in The Will-to-Believe, hat William James den Sachverhalt klarer dargestellt, seinen Gedanken aber nicht genügend weiterentwickelt. »Der Mensch«, schreibt er, »unterscheidet sich vom Tier hauptsächlich durch das Übermaß seiner subjektiven Neigungen; seine Überlegenheit über jene beruht einzig und allein auf der Menge und dem phantastischen, unnotwendigen Charakter seiner physischen, moralischen, ästhetischen und intellektuellen Wünsche. Wäre sein ganzes Leben nicht ein Streben nach dem Überflüssigen gewesen, hätte er sich nie so unbezwinglich im Notwendigen durchgesetzt. Und aus dieser Erkenntnis sollte er die Lehre ziehen, daß er seinen Wünschen vertrauen kann; daß, selbst wenn ihre Erfüllung in weite Ferne gerückt erscheint, die Unruhe, die sie hervorrufen, der beste Führer seines Lebens ist und ihn zu Aufgaben leiten wird, die weit über seine gegenwärtige Vorstellungskraft hinausgehen. Beschneide seine Extravaganz, ernüchtere ihn, und du wirst ihn vernichten.«

Rein spekulativ könnte man sogar noch weitergehen. Die Gabe einer reichhaltigen neuralen Struktur ging so weit über die ursprüng­lichen Erfordernisse des Menschen hinaus, daß sie möglicherweise lange Zeit sein Überleben gefährdete. Das Übermaß an »Hirn« stellte den Menschen vor ein Problem, nicht unähnlich dem, eine Verwendungs­möglichkeit für

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hochexplosiven Sprengstoff durch Konstruktion eines Behälters zu finden, der stark genug ist, die Ladung zu fassen und zu befördern; die begrenzte Verwendbarkeit des mächtigsten menschlichen Organs, ehe dessen Produkte in kulturellen Behältern gesammelt werden konnten, erklärt vielleicht die keineswegs geringfügigen Manifestationen von Irrationalität, die allem registrierten oder beobachteten menschlichen Verhalten zugrundeliegen. Entweder wertet man diese Irrationalität ebenfalls als Anpassungs­mechanismus — was auf den ersten Blick absurd erscheint —, oder man muß einräumen, daß der Zuwachs an »Hirn«, obwohl teilweise der Anpassung dienend, wiederholt durch anpassungsfeindliche Reaktionen aus derselben Quelle gestört wurde. Ohne einen großen Spielraum für Fehlverhalten hätte die menschliche Gattung kaum überleben können.

Durch langwierige, schwierige und konstruktive Anstrengung errichtete der Mensch eine kulturelle Ordnung, die als Behälter für seine Kreativität diente und die Gefahr seiner vielen negativen Verhaltens­weisen verringerte. Aber nur durch eine Vielzahl von Experimenten, Entdeckungen und Erfindungen, die Hunderttausende Jahre erforderten und viel mehr als nur Werkzeuge und materielle Ausrüstung umfaßten, vermochte der Mensch eine Kultur zu schaffen, die erschöpfend genug war, um wenigstens einen Teil der immensen Potenzen des Gehirns zu nutzen. Diese Entwicklung wiederum brachte ihre eigenen Gefahren und Unzuläng­lichkeiten mit sich. 

Von Zeit zu Zeit, wenn der kulturelle Komplex zu ausgeklügelt strukturiert oder zu stark auf vergangene Errungenschaften fixiert war, was sowohl bei primitiven Stämmen als auch in späteren Zivilisationen wiederholt vorgekommen ist, ließ er keinen Freiraum für geistiges Wachstum auf neuen Gebieten. Wenn aber anderseits die kulturelle Struktur brüchig wurde und zerfiel, oder wenn ihre Komponenten aus irgendwelchen Gründen nicht verinnerlicht werden konnten, dann entfaltete das unablässig aktive und hochgespannte Gehirn eine Hyperaktivität manisch-destruktiver Art und verhielt sich wie ein rasender Motor, der ausbrennt, weil er nicht genügend belastet ist. Heute sind wir, trotz dem ungeheuren Kulturschatz, der dem westlichen Menschen zur Verfügung steht, mit beiden Möglichkeiten nur allzu vertraut.

 

   Der Geist in Entstehung   

 

Größe und neurale Komplexität des menschlichen Gehirns hatten zwei Folgen, die wohlbekannt sind. Bei der Geburt ist der Kopf des Kindes schon so groß, daß er die Entbindung erheblich erschwert, und was noch wichtiger ist, er bedarf bis zur Schließung der Fontanelle besonders vorsichtiger Behandlung.

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 Dies rief eine Steigerung der normalen Säugetier-Zärtlichkeit hervor. Und da jener Teil des menschlichen Verhaltens, der aus der rein automatischen inneren Kontrolle entlassen war, durch Imitation und Konditionierung neu erlernt werden mußte, verlängerte sich die Periode der kindlichen Abhängigkeit. Die langsame Reifung des Kindes erforderte ständige elterliche Sorge und aktive Betreuung, wie sie bei anderen, weniger geselligen Arten, deren Junge viel früher selbständig werden, nicht zu beobachten sind. Wirksames Lernen basiert auf Liebe; tatsächlich ist sie die Grundlage aller kulturellen Über­mittlungen und Wechselwirkungen. Keine Lernmaschine kann das bieten.

Die verlängerte Phase aktiver Bemutterung und Betreuung war entscheidend für die Entwicklung der Kultur. Gewöhnlich dauert es ein Jahr, bis das Kind gehen kann; eine weit längere Periode vergeht, ehe sein Gebrabbel sich zu verständlicher menschlicher Sprache und effektiver Kommunikation formt. Wird die Sprache nicht vor dem vierten Lebensjahr erlernt, kann sie, außer in der gröbsten Form, normalerweise später nicht mehr erlernt werden, wie wir sowohl von Taubstummen als auch von einigen wenigen .bezeugten Beispielen wilder Kinder wissen; und ohne die Sprache bleiben andere Formen der Symbolisierung und Abstraktion defekt, gleichgültig, wie weit die physiologische Kapazität des Gehirns reicht.

Die lange Periode emotioneller Intimität zwischen Eltern und Kind ist, wie wir wissen, essentiell für das normale menschliche Wachstum; wird nicht von Anfang an Liebe geschenkt, so werden andere notwendige menschliche Qualitäten, einschließlich der Intelligenz und des emotionalen Gleichgewichts, deformiert. Sogar bei Affen führt das Fehlen mütterlicher Zärtlichkeit und Anleitung, einschließlich Tadels für Fehlverhalten, zu schweren neurotischen Störungen, wie Experimentatoren der Universität von Wisconsin, entgegen ihrer kaum verhohlenen Hoffnung, einen billigen mechanischen Ersatz für Mutterliebe zu finden, nach­gewiesen haben.

Aus der Tatsache, daß der Thalamus, der ursprüngliche Sitz der Emotionen, ein weit älterer Teil des Wirbeltierhirns ist als der frontale Cortex, kann man schließen, daß die emotionelle Entwicklung des Menschen, durch Vertiefung und Erweiterung der den Säugetieren eigenen Gefühlsbereiche, erkennbar menschlich wurde, bevor noch seine Intelligenz groß genug geworden war, um adäquate Ausdrucks- oder Kommunikationsmittel zu schaffen, die über das Tierische hinausgingen. Die früheste Manifestation von Kultur, die die Basis für die wachsende Intelligenz legte, war wahrscheinlich, wie ich im nächsten Kapitel zu zeigen versuchen werde, ein unmittelbares Ergebnis dieser emotionellen Entwicklung.

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Die Tätigkeit des Gehirns erstreckt sich auf alle Organe des Körpers; und umgekehrt, wie Claude Bernard schon vor langer Zeit in bezug auf die Leber nachgewiesen hat, beeinflussen die Organe des Körpers die Gehirnfunktionen, so daß die geringste Gleichgewichtsstörung, etwa durch eine leichte Infektion oder durch Muskelermüdung, die Denkfähigkeit beeinträchtigen kann. In seiner eigentümlichen Wachheit dient das Gehirn keiner einzelnen Funktion und keinem einzelnen Zweck; sicherlich — so hoffte ich zeigen zu können — wäre es sogar falsch, zu behaupten, es sei auf »Information« oder »Kommunikation« spezialisiert; vielmehr wird durch das Gehirn jeder innere Vorgang, jede Handlung, jeder äußere Eindruck mit einem größeren Ganzen verbunden, das vom Bewußtsein regiert wird.

Ohne Kontakt zu dem größeren Ganzen — dem Reich der Bedeutung — fühlt sich der Mensch heimatlos und verloren, oder, wie man heute sagt, »entfremdet«. So dient das Gehirn gleichzeitig als Regierung, als Gerichtshof, als Parlament, als Marktplatz, als Polizeistation, als Telephonzentrale, als Tempel, als Kunstgalerie, als Bibliothek, als Theater, als Observatorium, als zentrales Archiv und als Computer; oder, um Aristoteles umzukehren, es ist nicht weniger als die ganze Polis im kleinen.

Das Gehirn ist ebenso unablässig tätig wie die Lunge oder das Herz; der Bewußtseinsprozeß, den es trägt, erstreckt sich auf den größeren Teil des Lebens. Wenn nötig, kann diese Tätigkeit zum Teil, wenn auch niemals zur Gänze, unter Kontrolle gehalten werden, obwohl die Kontrollinstanz sich als ein anderer Teil des Gehirns erweisen mag. Selbst wenn dem Gehirn keine Leistung abverlangt wird, registriert der Elektroenzephalograph elektrische Impulse, die auf mentale Tätigkeit schließen lassen. Dies ist, wie der Physiologe W. Grey Walter nachgewiesen hat, schon bei der Geburt der Fall.

Als dieser Wissenschaftler versuchte, ein ganz einfaches, aus zwei Elementen bestehendes Gehirnmodell aufzustellen, fand er, daß die folgenden Eigenschaften vorhanden sein müssen: »Forschungsdrang, Neugierde, freier Wille im Sinn von Unvorher­sagbarkeit, Zielstrebigkeit, Selbstregulierung, Vermeidung von Zwiespälten, Voraussicht, Gedächtnis, Lernfähigkeit, Vergessen, Gedankenassoziation, Formerkennen und die Elemente sozialer Anpassung.« »So ist das Leben«, fügte er weise hinzu.

Wäre es nicht besser, statt wie üblich die Werkzeugherstellung als bestimmend für die Entwicklung des Gehirns zu betrachten, die Frage zu stellen, welche Art von Werkzeug diese enge Verwandtschaft mit dem Gehirn aufweisen konnte? Die Fragestellung enthält fast schon die Antwort: nämlich ein Werkzeug, das direkt auf den Geist bezogen und aus dessen eigenen speziellen »vergeistigten« Quellen erzeugt ist: Zeichen und Symbole.

Was uns in der Betrachtung der menschlichen Vergangenheit im Hinblick auf die Geschichte der Technik interessiert, ist, daß höchst­wahrscheinlich die meisten heutigen Eigenschaften des Gehirns bereits im Keim vorhanden waren, ehe noch der Mensch verständliche Laute von sich gab oder spezialisiertes Werkzeug verwendete.

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Die weitere Entwicklung ging zweifellos mit den erweiterten Aktivitäten des Menschen einher, mit der fortschreitenden Verlagerung der höheren Funktionen vom »Urhirn« zum »Neuhirn«, wo sie unter bewußte Kontrolle kamen. Der Zusammenhang zwischen wachsenden geistigen Fähigkeiten und genetischer Fixierung durch ein größeres Gehirn mit spezialisierten Feldern und komplexeren Neuralstrukturen liegt noch im Dunkel und kann wahrscheinlich nur geklärt werden, wenn die Biologen ihre Methoden radikal ändern. Bevor der Mensch eine Kultur hervorgebracht hatte, war sein Gehirn unterernährt und leer.

Es sollte dennoch klar sein, daß der Mensch schon am Anfang seiner Entwicklung außergewöhnliche Begabungen besaß, die weit über seine unmittelbare Fähigkeit, sie zu verwenden, hinausgingen. Die einzigartige Eigenschaft des menschlichen Gehirns, »ständig zu spekulieren und zu antizipieren«, beweist, daß das Wachstum des Menschen nicht auf die Lösung unmittelbarer Probleme oder auf Anpassung an äußere Erfordernisse beschränkt war. Er hatte sozusagen »seinen eigenen Kopf«: ein Instrument, um sich freiwillig Probleme zu stellen, rebellische Antworten zu geben, die Umwelt seinen Bedürfnissen anzupassen und Bedeutungs­muster zu suchen und zu schaffen. Damit zeigte er eine Tendenz, unbekannte Gebiete zu erforschen und alternative Richtungen auszuprobieren, niemals zufrieden, allzu lange an einer gegebenen Lebensweise festzuhalten, ganz gleich, wie perfekt seine »Anpassung« an sie auch sein mochte.

Trotz der Fähigkeit des Gehirns. Informationen aufzunehmen, wartet der Mensch nicht passiv auf Instruktionen von der Außenwelt. Adelbert Ames drückte dies so aus: »Unsere Wahrnehmung, Urteile, Gefühle, Handlungen und unser ganzes Dasein stehen in einem Kontext von Erwartungen.«

Wer sein biologisches Modell immer noch aus der Physik nimmt, wird dieses Wesensmerkmal der Organismen, zum Unterschied von anorganischer Materie, kaum anerkennen. Anorganische Materie registriert weder ihre Vergangenheit, noch antizipiert sie ihre Zukunft; hingegen trägt jeder Organismus sowohl seine Vergangenheit als auch seine potentielle Zukunft in sich, in Form des Lebenszyklus seiner Spezies; und die Körperstruktur der höheren Organismen trifft weitreichende Vorsorge für die Zukunft — wie etwa durch Speicherung von Fett und Zucker, um im Notfall Energiereserven zu haben, oder in Gestalt des allmählichen Reifens der Geschlechtsorgane, lange bevor sie zur Fortpflanzung benötigt werden.

Diese Vor-Sicht und Vor-Sorge für die Zukunft wird beim Menschen zunehmend bewußt und absichtsvoll in Traumbildern und spielerischer Vorwegnahme, in tastender Erprobung vorgestellter Alternativen. In der Nahrungssuche denkt der Mensch Stunden.

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Tage, ja Monate voraus und reagiert keineswegs nur auf den unmittelbaren Anblick oder Geruch von Nahrung, wie ein Tier in einem Laboratorium. Der Mensch, so könnte man sagen, ist ein geborener Goldsucher, obwohl er für seine Mühe oft nur falsches Gold erhält. Als Schauspieler versucht er sich oft in neuen Rollen, ehe noch das Stück geschrieben, das Theater geöffnet und die Szenerie aufgebaut ist.

Diese verstärkte Bedachtnahme auf die Zukunft ist nicht die geringste unter den Leistungen des außerordentlichen Gehirns des Menschen. Sorge, prophetische Ahnung, Vorwegnahme in der Phantasie, die wahrscheinlich erstmals mit dem Bewußtwerden der Jahreszeiten, kosmischer Ereignisse und des Todes auftraten, waren die Hauptantriebe für die menschliche Kreativität. In dem Maß, als die Instrumente der Kultur vollkommener werden, erhält der Geist zunehmend die Funktion, größere Bereiche der Vergangenheit und der Zukunft in zusammenhängende, sinnvolle Muster zu fassen.

Nun machen die Empfindlichkeit und Komplexität der nervlichen Organisation den Menschen ungewöhnlich verwundbar; daher wurde er immer wieder frustriert und enttäuscht, denn sein Wollen ging allzuoft über sein Können hinaus, und einige der mächtigsten Hindernisse seiner Entwicklung ergaben sich nicht aus einer rauhen Umwelt oder aus der Bedrohung durch fleisch­fressende und giftige Tiere, die seinen Lebensraum mit ihm teilten, sondern aus den Konflikten und Widersprüchen innerhalb seines eigenen fehlgeleiteten oder fehlbehandelten Selbst, ja oft aus eben der Überempfindlichkeit, dem Übermaß an Phantasie, dem übersteigerten Reaktionsvermögen, das ihn von anderen Spezies abhob. Obwohl alle diese Wesensmerkmale ihre Grundlage im überdimensionalen Gehirn des Menschen haben, sind ihre Implikationen für die conditio humana allzuoft vergessen worden.

Die Möglichkeiten des Menschen sind immer noch größer, unendlich größer, als alle seine bisherigen Errungenschaften. Das war im Anfang so und gilt noch heute. Sein größtes Problem war, die inneren und die äußeren Faktoren des Geistes selektiv zu organisieren und bewußt zu lenken, so daß sie ein kohärenteres und verständlicheres Ganzes bildeten. Die Technik hat bei der Lösung dieses Problems eine konstruktive Rolle gespielt, aber Werkzeuge aus Stein, Holz und Fasern konnten nicht in ausreichendem Maße verwendet werden, solange der Mensch nicht Erfolg beim Erfinden anderer, immaterieller Werkzeuge hatte, die aus dem Stoff seines eigenen Körpers geschaffen und in keiner anderen Form sichtbar waren. 

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   Schöpfer und Former   

 

Wäre es dem primitiven Menschen nur ums Überleben gegangen, so hätte er mit einer Ausstattung überleben können, die nicht besser war als die seiner unmittelbaren hominiden Vorfahren. Ein anderes, unbestimmtes Bedürfnis, ein innerer Drang, der so schwer, ja unmöglich mit dem äußeren Umweltdruck zu erklären ist wie etwa die Verwandlung des kriechenden Reptils in den fliegenden Vogel, muß den Menschen in seiner Laufbahn vorwärtsgetrieben haben; und außer der Suche nach Nahrung nahmen noch andere Tätigkeiten seine Zeit in Anspruch. Die günstige Voraussetzung für diese Entwicklung war die reiche neurale Ausstattung des Menschen; aber gerade dadurch war er zu offen für subjektive Eingebungen, um gehorsam in der Form seiner Spezies zu erstarren, in die immer gleichen tierischen Zyklen zurückzusinken und am langwierigen Prozeß des organischen Wandels mitzuwirken.

Ich würde sagen, der kritische Augenblick des Menschen war die Entdeckung seines facettenreichen Geistes. Was er dort fand, faszinierte ihn: Bilder, unabhängig von jenen, die sein Auge erblickte; rhythmische, sich wiederholende Körperbewegungen, die keiner unmittelbaren Funktion dienten, ihn aber befriedigten; erinnerte Vorgänge, die er in der Phantasie vollendeter nach­vollziehen und nach vielen Proben ausführen konnte — all das war Rohmaterial, das darauf wartete, verarbeitet zu werden; und dieses Material war leichter zu manipulieren als die äußere Umwelt, zumal der Mensch ursprünglich keine Werkzeuge außer seinen eigenen Körperorganen besaß. Oder besser gesagt, seine eigene Natur war der formbarste und empfänglichste Teil seiner Umwelt, und es war seine primäre Aufgabe, ein neues Selbst aufzubauen, durch Geist angereichert und in der Erscheinung wie im Verhalten von seiner anthropoiden Natur abgehoben.

Die Etablierung der menschlichen Identität ist kein modernes Problem. Der Mensch mußte lernen, menschlich zu sein, genauso wie er sprechen lernen mußte; und der Sprung vom Tierzustand zum menschlichen Zustand, unverkennbar, aber doch graduell und undatierbar, ja immer noch unvollendet, kam zustande durch die nie endenden Bemühungen des Menschen, sich wieder und wieder umzuformen. Denn sobald er eine identifizierbare Persönlichkeit aufbauen konnte, war er nicht länger ein Tier, aber auch noch kein Mensch. Diese Selbstumwandlung war meines Erachtens die erste Aufgabe menschlicher Kultur. Jeder kulturelle Fortschritt ist im Endeffekt, wenn auch nicht in der Absicht, ein Bemühen, die menschliche Persönlichkeit neu zu formen. Zu dem Zeitpunkt, da die Natur aufhörte, den Menschen zu bilden, versuchte er mit aller Kühnheit des Unwissenden, sich selbst umzugestalten.

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Wenn Julian Huxley recht hat, waren fast alle physiologischen und anatomischen Möglichkeiten des organischen Lebens vor etwa zwei Millionen Jahren ausgeschöpft: »Größe, Stärke, Schnelligkeit, sensorische und muskuläre Leistungsfähigkeit, chemische Kombinationen, Temperaturregulierung und alles übrige«, und dazu war noch eine nahezu unendliche Anzahl mehr oder weniger großer Veränderungen in Farben, Geweben und Formen durchprobiert worden. Entlang der rein organischen Linie waren radikale Neuerungen von praktischer Nützlichkeit oder Bedeutung kaum noch möglich, obwohl viele Verbesserungen, wie etwa das fortgesetzte Wachstum des Nervensystems bei den Primaten, tatsächlich stattfanden. Der Mensch eröffnete durch seine Experimente mit sich selbst einen neuen Entwicklungsweg: Lange bevor er daranging, seine physische Umwelt zu meistern, trachtete er danach, sich selbst zu verändern.

Diese Großtat der Selbstumwandlung war begleitet von Körperveränderungen, die von Fragmenten erhaltener Skelette bezeugt werden; aber die kulturelle Projektion der Wandlung des Menschen ging weit schneller voran, da die verlängerte biologische Kindheit den Menschen in einem plastischen, formbaren Zustand beließ, der ihn zu Experimenten mit all seinen Körperorganen ermutigte; er betrachtete diese nicht länger respektvoll im Hinblick auf ihre rein funktionellen Aufgaben, sondern verwendete sie zu neuen Zwecken, machte sie zu Werkzeugen seines aufstrebenden Geistes. Die hochdisziplinierten Praktiken des Hindu-Yoga, mit der bewußten Kontrolle der Atmung, des Herzschlags, der Blase und des Darms zum Zwecke äußerster geistiger Verzückung, sind nur eine extreme Steigerung der ursprünglichen Bemühungen des primitiven Menschen, seine Körperorgane entweder zu kontrollieren oder sie für andere als physiologische Zwecke zu verwenden.

Der Mensch könnte sogar definiert werden als ein Lebewesen, das niemals im »Naturzustand« vorkommt, denn sobald er als Mensch erkennbar wird, befindet er sich schon im Zustand der Kultur. Den seltenen Ausnahmen von »wilden Kindern«, die nur dank dem Erbarmen von Tieren überlebten, fehlte nicht nur die Fähigkeit, aufrecht zu gehen und Worte zu verwenden, sie waren auch charakterlich den Tieren, mit denen sie zusammengelebt hatten, ähnlicher als den Menschen, und tatsächlich lernten sie niemals, völlig menschlich zu sein.

Im letzten Jahrhundert wurden viele Versuche gemacht, die spezifische Natur des Menschen zu beschreiben, und ich bin nicht sicher, ob bis heute eine bessere Charakterisierung gefunden wurde, als die des Renaissance-Humanisten Pico della Mirandola, obwohl sie in die heute ungewohnte Sprache der Theologie gefaßt ist.

»Gott,« sagte Pico, 

»nahm den Menschen als ein Geschöpf von unbestimmter Natur, und während er ihm einen Platz in der Mitte der Welt zuwies, sprach er folgende Worte zu ihm: 

<Wir haben dir, Adam, weder einen starren Körper noch eine dir eigentümliche Gestalt gegeben; auf daß du nach deinen Wünschen und nach deinem Urteil den Wohnort, die Form und die Aufgaben wählen mögest, die du begehrest. Die Natur aller anderen Dinge ist umgrenzt und beschränkt durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze. Du, durch keine Gesetze gebunden ..., sollst für dich selbst die Grenzen deiner Natur bestimmen. Als Schöpfer und Former deiner selbst sollst du in jeder gewünschten Gestalt die Macht haben, auf niedrigere Lebensformen hinabzusinken, die viehisch sind. Du sollst die Macht haben, aus deiner Seele und deinem Urteil heraus wiedergeboren zu werden in die höheren Formen, die göttlich sind.>« 

Diese Wahl wiederholt sich in jedem Stadium der Entwicklung des Menschen.

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