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2 - In der lang vergangenen Traumzeit

 

 

  Die vernachlässigte Funktion  

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Die Erforschung der menschlichen Psyche im letzten halben Jahrhundert hat zu Ergebnissen geführt, die eine komplexere, aber zwangsläufig auch gewagtere Interpretation der frühen Entwicklung des Menschen als die bisher übliche nahelegen. Die Annahme, alle Aktivitäten des Menschen seien aus seinen physischen Bedürfnissen zu erklären, muß in Frage gestellt werden. Zweifellos hatte der Frühmensch genug zu tun, um nicht zu verhungern. Aber zumindest für die letzten fünfzigtausend Jahre gibt es hinreichende Beweise dafür, daß er mit seinen Gedanken nicht ausschließlich bei seiner Arbeit war. War er vielleicht eher bei den sonderbaren Dingen, die ihm durch den Kopf gingen? Der Frühmensch war jenes Lebewesen, dessen äußere Tätigkeit, wie wir heute wieder zu sehen beginnen, nicht vollständig erklärt werden können ohne Bezugnahme auf eine ganz besondere Art innerer Tätigkeit: den Traum.

Ehe der Mensch aus der Unbewußtheit heraustrat, muß er unartikuliert und ausdrucksarm gewesen sein, wie man es heute nur bei Idioten findet, denn ihm fehlten die symbolischen Instrumente des Bewußtseins: Vorstellungen und Worte. Wir gehen wohl nicht weit fehl, wenn wir uns diesen Proto-Menschen als ein von Träumen geplagtes und gequältes Wesen vorstellen, das allzu leicht die Eindrücke der Finsternis und des Schlafes mit denen des wachen Erlebens vermengte und irreführenden Halluzinationen, ungeordneten Erinnerungen und unerklärlichen Impulsen unterworfen war, vielleicht aber gelegentlich auch von vorweg­nehmenden Vorstellungen lustvoller Möglichkeiten angeregt wurde.

In der Aufzählung der Merkmale, die den Menschen von allen anderen Tieren wie auch von der gängigen Selbstdarstellung des modernen Menschen als vernünftiges, sachlich denkendes Wesen unterscheiden, wurde für gewöhnlich das Traumleben übersehen, als wäre es unter der Würde der Vernunft, bloß weil seine bedeutungsvollsten Aspekte sich direkter wissen­schaft­licher «Beobachtung entziehen. Das Wort »Traum« scheint im Index eines sonst bewundernswerten dreibändigen Symposions über biologische und menschliche Evolution überhaupt nicht auf.

Dieses Versäumnis erscheint merkwürdig, sogar unter Wissenschaftlern, die noch immer davor zurück­schrecken, die mit unstatthaften Methoden erzielten Einsichten der Psychoanalyse ins menschliche Verhalten zu akzeptieren; denn streng physiologische, nach orthodoxen wissenschaftlichen Methoden vorgenommene Beobachtungen zeigen, daß das Gehirn sich in einem Zustand gedämpfter Aktivität befindet, auch wenn der Rest des Körpers ruht; und das Vorhanden­sein von Träumen scheint erwiesen, wenn auch nicht interpretierbar, durch die rhythmischen elektrischen Impulse, die den Schlaf begleiten.

Wahrscheinlich besitzen viele andere Tiere bis zu einem gewissen Grad diese Eigenschaft: Reaktionen, wie etwa das Knurren und Zucken eines schlafenden Hundes, weisen darauf hin. Aber die Art des Menschen, zu träumen, hat eine spezifische Note: Der Traum reicht vom nächtlichen Leben in den Tag hinein; im Wachen vermengt sich der Traum zunehmend mit den Lauten, Verrichtungen, Selbstgesprächen und Spielen des Menschen; und schon sehr früh prägt er dessen ganzen* Verhalten, denn die religiöse Entwicklung des Menschen mit ihrer bezeichnenden »anderen Welt« ist vom Traum nicht zu trennen.

Es ist anzunehmen, daß der Mensch von Anfang an ein träumendes Tier war; und möglicherweise war es die Fülle seiner Träume, die ihn befähigte, sich von den Beschränkungen einer rein tierischen Laufbahn zu lösen. Wenngleich auch Hunde träumen mögen, so hat doch kein Traum einen Hund gelehrt, einen Vogel nachzuahmen oder sich wie ein Gott zu verhalten. Nur beim Menschen finden wir eine Fülle positiver Beweise, daß Traumbilder fortwährend sein Wachbewußtsein durchdringen und beleben; nur bei ihm verdrängen sie manchmal die Realität, zu seinem Nutzen oder Schaden. Hinterließe das Träumen nicht tatsächlich sichtbare Spuren im menschlichen Verhalten, so könnte jedes einzelne Individuum allein auf Grund seiner eigenen Traumerfahrungen ohne Mißtrauen die Berichte akzeptieren, die andere von ihren Träumen geben.

Obwohl die Entwicklung der Sprache und des abstrakten Denkens die reichen unbewußten Traumbilder bis zu einem gewissen Grad ersetzt oder unterdrückt, spielen diese Bilder doch eine große Rolle und gewinnen oft mit erschreckender Zwanghaftigkeit die Oberhand: so verlieren Neurotiker ihre Beziehung zur Realität und werden auf die chaotischen Inhalte ihres Unbewußten zurückgeworfen. Solche Entwicklungen, ob sie sich nun als gut oder als schlecht herausstellen, sind bloß Sublimierungen und Erweiterungen der ursprünglichen Traumfunktionen: ein Überfließen neuraler Aktivität, die seltsam befreiende Fähigkeit des Gehirns.

Natürlich haben wir keine Beweise dafür, daß der prähistorische Mensch träumte, in dem Sinn, wie wir Beweise haben, daß er Feuer verwendete oder Werkzeuge herstellte. Aber das Vorhandensein von Träumen, Visionen, Halluzinationen und Projektionen ist bei allen Völkern zu allen Zeiten gesichert;

* (d-2014:)  in meinem Original: "ganzen"

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und da Träume, im Gegensatz zu anderen Kulturkomponenten, unwillkürliche Reaktionen sind, über die der Träumer wenig oder gar keine effektive Kontrolle besitzt, wäre es absurd, anzunehmen, sie seien erst später hinzugekommen. Wahr­scheinlich ist vielmehr, daß Träume üppiger, intensiver und zwingender waren, ehe der Mensch lernte, ihre Rolle durch innere Zensur und steuernde Intelligenz einzuschränken, in Verbindung mit der Disziplinierung seiner praktischen Aktivitäten.

Es erscheint also begründet, anzunehmen, daß Träume stets einen gewissen Einfluß auf das menschliche Verhalten hatten; und es ist wahrscheinlich, wenn auch nicht wissenschaftlich nachweisbar, daß sie, zusammen mit der Entwicklung der Sprechorgane, dazu beitrugen, die gesamte Struktur der menschlichen Kultur zu ermöglichen. Kreativität beginnt im Unbewußten; und ihre erste menschliche Manifestation ist der Traum.

Der Traum selbst zeugt von einem allgemeinen organischen Überreichtum, der ebensowenig mit dem Anpassungsprinzip erklärt werden kann wie das »absolute Gehör«. Lange vor Freud zog Emerson die richtigen Schlüsse aus seinen eigenen Traum­beobachtungen. »Wir wissen«, schrieb er im März 1861 in sein Tagebuch,

»weit mehr, als wir verarbeiten können ... Ich schreibe das jetzt in der Erinnerung an einige strukturelle Erfahrungen der letzten Nacht — ein schmerzliches Erwachen aus Träumen, wie durch Gewalt, und eine rasche Folge von quasi-optischen Erscheinungen, die wie ein Feuerwerk architektonischer oder grotesker Schnörkel aufeinanderfolgten und die auf große Reserven von Begabungen und Wünschen in unserer Struktur hindeuten.«

Vielleicht hat der Mensch den ersten Hinweis auf diese unermeßlichen Vorräte von Lauten, Bildern und Formen in all ihrer verschwenderischen Fülle und ihrem Überfluß in seinen Träumen erhalten.

Durch den Traum gelangte der Mensch zum Bewußtsein einer stets gegenwärtigen »übernatürlichen« Umwelt — einer Umwelt, der kein anderes Tier Beachtung schenkte. In diesem Bereich lebten die Ahnen weiter, die geheimnisvoll in unerwarteten Momenten eingriffen, um den Menschen mit ihrer Weisheit zu helfen oder sie für Abweichungen von altbewährten Gepflogenheiten zu bestrafen. Diese archetypischen Ahnenvorstellungen — Gespenster, Dämonen, Geister und Götter — stammten ebenfalls aus derselben Quelle und mochten oft der erlebten Realität des Menschen näher stehen als seiner unmittelbaren Umwelt, um so mehr. als er bei ihrer Erschaffung selbst mitgewirkt hatte. Durch seinen Umgang mit dieser »anderen Welt« wurde der Mensch vielleicht veranlaßt, sich selbst aus seiner tierischen Fügsamkeit und Fixierung zu befreien.

Den immensen psychischen Überfluß aus dem zerebralen Reservoir des Menschen zu ignorieren, auf Kommunikation und Fabrikation als den zentralen menschlichen Fähigkeiten zu beharren, bedeutet, einen grundlegenden Faktor der menschlichen Entwicklung zu übersehen:

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nämlich die Tatsache, daß sie immer eine subjektive, anpassungs­widrige, zeitweise irrationale Seite hatte, die häufig sein Überleben bedrohte. Ein Teil der menschlichen Entwicklung mag sich als Bemühung abgespielt haben, die wirren prärationalen und irrationalen Eingebungen des Unbewußten zu kontrollieren und auszugleichen. Ebenso wie das reiche Sexualleben des Menschen, mit dem der Traum eng verbunden ist, enthält dieser auch zumindest einen Teil des Geheimnisses der menschlichen Kreativität; desgleichen aber das Geheimnis der Hemmungen und Zusammenbrüche dieser Kreativität, der ungeheuerlichen Zerstörungen und Erniedrigungen, die in den Annalen der Geschichte so häufig wiederkehren.

Mit der allmählichen Entwicklung des Bewußtseins wurde der zivilisierte Mensch ein weit wacheres Wesen als irgendein anderes Mitglied seiner tierischen Verwandtschaft; er lernte, länger wachzubleiben und seine Träume zu vergessen oder nicht zu beachten, so wie er die Trägheit unterdrückte, der primitivere, weniger ehrgeizige Völker unterliegen mögen.

Dies führt uns zurück zu einer paradoxen Möglichkeit, nämlich, daß das Bewußtsein gefördert wurde durch die seltsame Ungleicher zwischen der inneren Welt des Menschen, mit ihren unerwarteten Vorstellungen und erregenden, wenn auch ungeordneten Ereignissen, und dem äußeren Geschehen, das er mit zunehmender Wachheit wahrnahm. Hat vielleicht dieser Bruch zwischen Innen- und Außenwelt nicht bloß Erstaunen verursacht, sondern auch zu weiteren Vergleichen angeregt und nach Interpretation verlangt? Wenn das der Fall war, würde es zu einem noch größeren Paradoxen führen: daß es der Traum war, der dem Menschen die Augen für neue Möglichkeiten im wachen Leben öffnete.

 

  Die Gefahr von innen  

 

Obwohl der Traum, falls diese Interpretation stimmt, eines der großzügigsten Geschenke der Natur an den Menschen war, bedurfte er einer strengeren Disziplinierung und Kontrolle als alle anderen Begabungen, ehe der Mensch ihn vollständig nutzen konnte. Im schutzlosen, passiven Zustand des Schlafes gab der Traum, kraft seiner Fähigkeit, miteinander nicht verbundene Ereignisse zusammenzufügen oder unverwirklichte Wünsche und Gefühlsausbrüche zu enthüllen, oft Anregung oder Anstoß zu Wahnverhalten, gegen das Tiere in ihrem natürlichen Zustand, von einigen zweifelhaften Ausnahmen abgesehen, völlig immun zu sein scheinen.

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Zu allen Zeiten wurde der Mensch von seinen Träumen belehrt und auch erschreckt. Und für beide Reaktionen hatte er gute Gründe: Seine Innenwelt muß oft viel bedrohlicher und unverständlicher gewesen sein als seine Außenwelt, wie es tatsächlich auch heute noch der Fall ist; und seine erste Aufgabe war nicht, Werkzeuge zur Kontrolle der Umwelt zu formen, sondern noch mächtigere und wirksamere Instrumente zu dem Zweck, sich selbst und vor allem sein Unbewußtes zu kontrollieren. Die Erfindung und Vervollkommnung dieser Instrumente — Rituale, Symbole, Worte, Bilder, Verhaltensnormen (Sitten) — war, wie ich zu beweisen hoffe, die Hauptbeschäftigung des Frühmenschen, die für sein Überleben und besonders für seine spätere Entwicklung weit notwendiger war als die Werkzeugherstellung.

Nun ist die Erkenntnis, daß das Unbewußte des Menschen oft sein Leben gefährdete und seine nüchternsten Pläne zunichte machte, keineswegs eine neuzeitliche Entdeckung, obwohl sie uns erst durch die kühnen quasi-wissenschaftlichen Forschungen Freuds und Jungs wieder bewußt gemacht wurde. Daß ein Antagonismus zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein des Menschen besteht, zwischen Nacht- und Tagpersönlichkeit, ist seit langem bekannt. Plato schrieb im Staat:

»Wenn die denkende, humanisierende und regierende Macht wegfällt, gibt es keine vorstellbare Narrheit und kein Verbrechen — Inzest, Elternmord, Genuß verbotener Nahrung nicht ausgenommen —, das der Mensch in solch einer Zeit, da er jede Scham und Vernunft verloren hat, nicht begehen würde ... Selbst in guten Menschen steckt eine gesetzlose, wilde, bestialische Natur, die im Schlaf hervorspäht.«

In unserer Hypothese wird die breite Strähne der Irrationalität, die durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurchgeht, wenigstens zum Teil erklärbar. Wenn der Mensch ursprünglich ein träumendes Tier war, so ist ziemlich wahrscheinlich, daß er auch ein verwirrtes Tier war; und die Quelle seiner schlimmsten Ängste war seine eigene überaktive Psyche. Der schon früh einsetzende Gebrauch von Opium und anderen Pflanzen mit halluzinogener oder beruhigender Wirkung kann sehr wohl auf tief­sitzende Angst hinweisen.

Die modernen Psychologen haben also nur Plato bestätigt. Und mit dem Wissen, das wir heute vom Unbewußten haben, so abstoßend und bedrohlich dessen Inhalt oft auch scheinen mag, sollten wir eine bessere Einsicht in die Zwangslage des Früh­menschen aufbringen. Er war offensichtlich in einem heute kaum vorstellbaren Maße kulturell nackt und daher in hohem Maß wehrlos gegen innere Anfechtungen. Ehe er sein ungeformtes Es fest mit Kultur zugedeckt hatte, muß es in seinem Innenleben, das sich aus der Geborgenheit der tierischen Lethargie gelöst hatte, von archaischen Reptilien und blindwütigen Monstern der Tiefe gewimmelt haben. Erklärt dies vielleicht die lange währende Selbstidentifizierung des Frühmenschen mit den vertrauten Tieren seiner Umgebung, gab ihm deren Gegenwart ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit, das er heute, gerade durch die Weiterentwicklung, verloren hat? Sie besaßen eine Stabilität und ein Gleichgewicht, um die er sie mit gutem Grund beneidete.

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Sobald man den vorkulturellen Zustand des Menschen im Sinn unseres heutigen Wissens von der Psyche zu interpretieren beginnt, erkennt man, daß sein Heraustreten aus der Tierwelt von Schwierigkeiten begleitet war, in Verbindung mit den außerordentlichen Qualitäten, die diesen Übergang ermöglichten und sogar erzwangen, sobald der erste Schritt einmal getan war. Gewiß könnten wir uns diesen Übergang viel leichter vorstellen, wenn wir immer noch zu glauben vermöchten, der Mensch sei nicht viel mehr als ein ausnehmend intelligenter und geschickter Affe, beheimatet in einer zunehmend verständlichen und kontrollierbaren Welt.

Unglücklicherweise entspricht dieses rationale Bild weder den existierenden Beweisstücken noch den notwendigen Schluß­folgerungen, die man machen muß, wenn man sich erst einmal all die kulturellen Institutionen wegdenkt, die uns zur zweiten Natur geworden sind. Bevor der Mensch sprechen konnte, muß sein Unbewußtes die einzige drängende Stimme gewesen sein, die er vernahm und die ihn mit ihren widersprüchlichen, verworrenen Bildern quälte. Es kann wohl nur eine Art dumpfer Zähigkeit gewesen sein, die den Menschen befähigte, diese trügerischen Gaben zu meistern und etwas aus ihnen zu machen.

Einen der aufschlußreichsten Hinweise auf dieses Entwicklungsstadium erhalten wir von den australischen Ureinwohnern, die zur Zeit ihrer Entdeckung in ihrer Ausstattung und ihren Lebensgewohnheiten dem Frühmenschen so ähnlich waren, daß man fast glaubte, diesem leibhaftig zu begegnen. Sie sind von der ständigen Gegenwart der Geister ihrer Ahnen zutiefst überzeugt, folgen vorsichtig deren Spuren, gehorchen ihren Geboten und sprechen immer noch von der Altscheringa, der »lang vergangenen Traumzeit«, auf die sie all ihr Wissen zurückführen. In manchen australischen Sprachen bedeutet, wie Roheim festgestellt hat, ein und dasselbe Wort zugleich Traum, mythische Vergangenheit und Ahnen.

Ich möchte hier betonen, daß dies keine bloße Redensart ist, sondern ein Hinweis auf eine wirkliche Periode der menschlichen Entwicklung, in der die innere Schau des Traumes manchmal die wache Anschauung überdeckte und so dazu beitrug, den Menschen von der natürlichen Kettung an die unmittelbare Umgebung und den gegenwärtigen Augenblick zu befreien. In dieser Periode ohne Worte gab es nur zwei Sprachen: die konkrete Sprache assoziierter Dinge und Ereignisse und die geisterhafte Sprache des Traums. Bevor der Traum schließlich half, Kultur zu erschaffen, könnte er als immaterieller Ersatz gedient haben: vertrackt, trügerisch, irreführend, aber geistanregend.

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Unsere hochmechanisierte westliche Zivilisation besitzt viele Mittel, um den Wirkungsbereich des Traumes einzuschränken: Wir kanalisieren sogar das subjektive Leben in kollektive Mechanismen wie Radio und Fernsehen und lassen eine Maschine für uns Traumarbeit leisten. Aber in der Kindheit und Jugend herrscht der Traum immer noch über uns und durchflutet so aktiv das wache Leben, daß der mit sich selbst beschäftigte Jugendliche oft stundenlang »geistesabwesend« ist. Selbst manches von seinem scheinbar wachen Verhalten ist nicht viel mehr als aktivierter Traum. In dieser Wachstumsphase kann das Tagträumen die gesamte Existenz des Individuums durchdringen und ihm ein Drama mit ihm selbst in der Hauptrolle präsentieren, das sich inhaltlich kaum von dem des Schlafes unterscheidet, obwohl es vielleicht unmittelbarer mit Wünschen verbunden ist, die dicht an die Schwelle des Bewußtseins getreten sind, wie etwa dem Wunsch nach sexueller Erfüllung. In der »lang vergangenen Traumzeit« könnte dies der Normalzustand des Menschen gewesen sein. als er noch nicht imstande war, den Traum entweder auf kollektive Akte oder auf Gegenstände zu projizieren.

Man soll diesen Versuch, in die nicht mitteilbare, wortlose Vergangenheit des Menschen einzudringen, nicht als völlig leere Spekulation abtun. Reichhaltige Beweise früherer Kulturen zeugen von der zentralen Rolle, die der Traum stets gespielt hat. So wies A. I. Hallowell auf ein überlebendes amerikanisches Jägervolk hin:

»Die Ojibways sind ein traumbewußter Volksstamm ... Obwohl es an einer Unterscheidung zwischen wacher und geträumter Erfahrung nicht mangelt, beziehen sie doch beide Erfahrungswelten in gleichem Maß auf sich selbst. Traumerlebnisse spielen die gleiche Rolle wie andere Erinnerungen .... Und weit davon entfernt, untergeordnete Bedeutung zu haben, sind solche Erlebnisse für sie oft von größerer Bedeutung als die Ereignisse des täglichen Lehens.«

Die alten Völker, die die Zivilisation geformt haben — Ägypter, Bahylonier, Perser und Römer —, maßen dem Traum ebenfalls große Bedeutung bei, obwohl sie einen reichen Schatz an Kultur besaßen, auf den sie sich stützen konnten.

 

  Die schreckliche Freiheit des Menschen  

 

In der Traumwelt lösen Zeit und Raum sich auf: Nahes und Fernes, Vergangenes und Zukünftiges, Normales und Ungeheuer­liches. Mögliches und Unmögliches vermengen sich zu einem hoffnungslos verworrenen Konglomerat; Ordnung, Regelmäßigkeit und Vorhersagbarkeit, ohne die Traum und »Außenwelt« nur sinnloses Lärmen und Toben sind, stellen die Ausnahme dar. Doch vom Traum erhielt der Mensch den ersten Fingerzeig, daß er mehr erfahren kann. als seine Augen sehen: daß es eine unsichtbare, seinen Sinnen und seiner täglichen Erfahrung verborgene Welt gibt, die ebenso real ist wie die Nahrung, die er zu sich nimmt, oder die Hand, die er ergreift.

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Auf das, was wir heute durch wissenschaftliche Demonstration, durch Mikroskope, Teleskope und Röntgenstrahlen erkennen, scheint der Frühmensch im Traum gestoßen zu sein: daß ein großer Teil unserer Umwelt tatsächlich übersinnlich und nur ein kleiner Teil der Existenz der direkten Beobachtung zugänglich ist. Wäre der Mensch nicht im Traum Drachen und geflügelten Pferden begegnet, so hätte er sich vielleicht nie das Atom vorstellen können.

Mit der Zeit verfügten die Primitiven, die die Botschaften ihres Unbewußten beachten gelernt hatten und somit ein überliefertes, nicht instinktives Wissen besaßen, über eine Quelle der Weiterentwicklung. Aber wenn kein ausreichendes Ventil gefunden werden konnte, führten dieselben dämonischen Kräfte möglicherweise nur zu destruktiver Tätigkeit.

Im gesamten Verlauf der Geschichte findet man viele Beweise dafür, daß nur allzuoft Destruktion einsetzte, manchmal gerade in einem Augenblick, da die kollektiven Energien der Gruppe durch erweiterte Beherrschung der physischen Kräfte gesteigert wurden. A.L. Kroeber hat darauf hingewiesen, daß einer der entfernten Vettern des Menschen, der Schimpanse, destruktiven Eifer entwickelt, sobald er sich selbst überlassen wird:

»Sie lieben die Zerstörung: wie kleine Kinder, die unkontrolliert aufgewachsen sind, gewinnen sie unmittelbare Befriedigung aus Aufbrechen, Zerreißen, Zerbeißen und absichtlichem Zertrümmern. Haben sie erst einmal damit begonnen, so hören sie kaum auf, solange sie nicht einen Gegenstand in seine Bestandteile zerlegt haben.«

Kroeber glaubte, diese Neigung könnte ein Phänomen der menschlichen Kultur erklären: den langewährenden Vorrang der Abschlagetechnik gegenüber der Schleiftechnik in der Bearbeitung von Stein. Aber ich möchte eine ergänzende Interpretation vorschlagen: Wäre bloß der destruktive Impuls dagewesen, hätte das Ergebnis nur aus nutzlosen Splittern bestehen können. Doch die Tatsache, daß Werkzeuge und nicht bloß Splitter produziert wurden, zeigt, daß es im Menschen eine Gegentendenz gibt, die ebenso angeboren ist und sogar noch tiefere oder zumindest anhaltendere Befriedigung bringt: die Kunst des Schaffens und konstruktiven Organisierens, das absichtliche Formen von Mustern, das Zusammenfügen geordneter Ganzheiten. Dieses Prinzip liegt aller organischen Entwicklung zugrunde, im Gegensatz zum Gesetz der Entropie; und es liegt der menschlichen Kultur und ihrer zielstrebigen Entwicklung zugrunde.

Sogar in den frühesten Wachstumsstadien ist diese konstruktive Veranlagung sichtbar. Läßt man ein Kleinkind, das noch nicht sprechen kann, ganz unbeeinflußt mit ein paar Klötzen spielen, so legt es spontan einen auf den anderen, wie Arnold Gesell experimentell gezeigt hat, ebenso sicher, wie es sie in einem anderen Moment mit wilden Gebärden auf den Boden wirft.

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Daher können wir mit gutem Grund unseren frühesten Ahnen die gleichen Eigenschaften zuschreiben, die Erich Fromm heute im Traum findet: »Ausdruck sowohl der niedrigsten und irrationalsten als auch der höchsten und wertvollsten Funktionen unseres Kopfes.«

Doch wenn wir versuchen, den Menschen in der Zeit zu betrachten, da seine kulturellen Errungenschaften noch gering und spärlich waren, muß man die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß seine destruktiven Tendenzen sich leichter ausdrücken ließen als seine konstruktiven Impulse. Gerade weil es ihm an Ausdrucks­möglichkeiten fehlte, mag er seine Stauungen und Frustrationen in Wutausbrüchen und Anfällen panischer Angst abreagiert haben, die so bar eines rationalen Inhalts waren wie das Verhalten heutiger jugendlicher Delinquenten, die ebenso unbeleckt von der Disziplin und Selbstbeherrschung einer lebenden Kultur sind. Toben oder Amoklaufen hatte vielleicht eine lange Geschichte gehabt, ehe die Geschichte selbst begann. 

Aber zum Glück für unsere fernen Ahnen waren diese Reaktionen durch die Schwäche des Frühmenschen begrenzt: Der unbewaffnete Mensch, der nur Hände, Füße und Zähne gebraucht, kann anderen Menschen nur wenig Schaden zufügen, noch weniger seiner Umwelt; selbst mit einem Stein oder einem Knüppel ist sein Wirkungsbereich begrenzt, außer wenn er wehrlose Wesen angreift. Wahre Zerstörungsorgien, riesige kollektive Haßausbrüche wurden erst möglich, als die Zivilisation die technischen Mittel zu ihrer Durchführung bereitstellte. Obgleich der Traum beide Ventile öffnete, begünstigten die Umstände wahrscheinlich zuerst die wohltätigere Wirkung.

Jedenfalls aber muß man die dämonischen Eingebungen aus dem Unbewußten berücksichtigen, wenn man die prähistorische Entwicklung des Menschen erklären will — haben wir sie sie denn nicht immer noch? »Der Schlaf legt das Kleid der Umstände ab«, sagte Emerson, »und wappnet uns mit schrecklicher Freiheit, so daß jeder Wille zügellos vorstürmt.« Solange der Mensch nicht mehr als einen Schimmer von Selbstbewußtsein und moralischer Disziplin erlangt hatte, mag sich diese schreckliche Freiheit von Zeit zu Zeit gegen ihn selbst gerichtet haben.

Bronislaw Malinowski allerdings neigte dazu, diese Unterschicht pathologischer Wildheit zu bagatellisieren, weil er sich genötigt fühlte, die starke Überbetonung dieses Unvermögens durch »zivilisierte« Beobachter zu korrigieren, die voll Dünkel zeitgenössischen primitiven Völkern sogar die Fähigkeit logischen Denkens absprachen.

Aber beim Korrigieren des einen Fehlers beging Malinowski einen anderen; denn er übersah seltsamerweise die mächtigen irrationalen Komponenten, die auch noch in den Verhaltensnormen des zivilisierten Menschen enthalten sind.

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Möglicherweise hat sich die Domäne böser Irrationalität in historischer Zeit erweitert, so wie auch die kollektive Destruktivität gewachsen sein mag. Doch es wäre seltsam, wenn dieser irrationale Bereich nicht von Anfang an existiert hätte, einmal zunehmend, einmal abnehmend, niemals ganz unterdrückt, nie ganz unter Kontrolle, aber immer groß genug, um ins Gewicht zu fallen, und er wurde in eben die Kultur eingebettet, die zum Teil geschaffen wurde, um ihn zu bewältigen.

Zum Glück läßt sich dieser Aspekt unseres Arguments demonstrieren. Betrachten wir einen erwiesenen Fall primitiver Irrationalität aus Südafrika; er illustriert die wichtigsten funktionalen Aspekte des Träumens: Illusion, Projektion, Wunsch­erfüllung, Abschirmung vor rationaler Beurteilung und schließlich die Möglichkeit, in krankhafte Bosheit und Destruktion umzuschlagen.

»An einem Morgen im Mai des Jahres 1856«, so erfahren wir, »ging ein Xosa-Mädchen zum Fluß, um Wasser zu holen, und begegnete dort Erscheinungen aus der Geisterwelt. Später ging ihr Onkel zu derselben Stelle und sprach mit den Fremden.... Die Geister verkündeten, sie seien gekommen, um den Xosa bei der Vertreibung der Engländer aus dem Land zu helfen. Nachdem auf Geheiß der Geister viele Rinder als Opfer geschlachtet worden waren, kam über Umhulakaza, den Onkel, der Befehl, jedes Tier in der Herde und jedes Weizenkorn in den Speichern zu vernichten. Wenn das geschehen sei, würde ein Paradies auf Erden entstehen: Myriaden wunderschöner Rinder würden aus der Erde hervorströmen und die Weiden füllen, und riesige Hirsefelder würden emporsprießen, zur Ernte bereit. Sorge und Krankheit würden verschwinden, die Alten würden Jugend und Schönheit zurückerhalten. Der Befehl wurde ausgeführt: Zweihunderttausend Rinder wurden geschlachtet, und die Folge war, daß die Xosa eine Zeitlang fast zu existieren aufhörten.« (G.M. Theal, Südafrika.)

Hier führte der natürliche Groll eines Volkes, dessen Territorium von anmaßenden weißen Fremden besetzt worden war, da sie keine wirksamen Mittel besaßen, um die Eindringlinge zu vertreiben, zu Traumbildern von totaler Befreiung, begleitet von einem gigantischen Opfer und reichlicher Entschädigung. Solche anspornende archetypischen Träume sind auch in der geschriebenen Geschichte oft vorgekommen; eine ganze Reihe ähnlicher Erlösungsvisionen, die heute noch in den sogenannten »Cargo-Kulten« der Südsee zum Ausdruck kommen, wurden von Margaret Mead einfühlsam beschrieben, und diese wieder finden ihre Entsprechung in Indianerkulten, wie dem Geistertanz um 1890, der versprach, daß »die Ahnen zurückkehren, das Wild sich wieder vermehren und die Weißen vertrieben werden würden«.

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Angesichts der offenkundigen Unfähigkeit solcher Träume, mit der Realität fertig zu werden, ja ihrer verhängnis­vollen Tendenz, eine schlechte Lage oft noch mehr zu verschlimmern, muß man jedoch fragen: Wie konnte diese Neigung zum Träumen, die so viele falsche Hinweise und irreführende Eingebungen liefert und so oft zu verderblichen Handlungen oder nutzlosen Bemühungen führt, dennoch bestehen bleiben, ohne die Überlebenschancen des Menschen ernstlich zu verringern? Offenbar war der Traum eine zwieschlächtige Gabe. Hätte auf lange Sicht nicht die kreative Seite überwogen — nur ein wenig, zweifellos aber doch ausschlaggebend —, so hätten die bekannten Perversionen im menschlichen Verhalten sich in nicht wiedergutzumachendem Maße vervielfachen müssen.

Die Gefahren aus dem gärenden, brodelnden Unbewußten des Menschen wurden mit der Zeit, so scheint es zumindest, durch seine spezifischen Leistungen intelligenter Einsicht verringert, als er schließlich fähig war, die Sprache zu benutzen; denn er entdeckte, daß der Traum geschickt interpretiert werden mußte, ehe man ihn mit Sicherheit als Anleitung zum Handeln verwenden konnte; und lange bevor es historisch erwiesene Schamanen, Priester, Wahrsager öder Orakel gab, hatte wahr­scheinlich jede Gruppe ihren weisen alten Mann gehabt, der Träume deuten konnte, indem er deren Anregungen mit der bewährten und wohlgehüteten Überlieferung verband.

Um aber dahin zu gelangen, mußte der Frühmensch einen langen Weg zurücklegen. Bevor er gelernt hatte, seine instinktiven Triebe zu hemmen, deren unmittelbare Umsetzung in die Tat hintanzuhalten und seine autistischen Impulse von ungeeigneten Zielen abzulenken, mag sein Verhalten manchmal so selbstmörderisch gewesen sein wie das der Xosa. Dieser Hypothese zufolge wären jene, die zu große Irrtümer begingen. ausgerottet worden; so wurde die menschliche Kultur durch das Auftreten jener begünstigt, deren Impulse genügend gemäßigt oder unter genügend strenger Kontrolle waren, um nahe dem tierischen Standard des »Normalen« zu verbleiben.

Bis eine feste Basis für Ordnung gelegt wurde, war es, wie wir heute sehen, fast ebenso notwendig, die Kreativität des Menschen zu bändigen wie seine Destruktivität; das ist vielleicht der Grund dafür, daß bis heute der Schwerpunkt der Kultur auf der Bindung an die Vergangenheit liegt, so daß selbst neue Entwicklungen als Auffrischung alter Quellen maskiert wurden. Aus triftigen Gründen mißtrauten archaische Gesellschaften Erneuerern und Erfindern ebenso herzhaft wie Philipp II. von Spanien, der sie nicht ohne Grund als Ketzer einstufte.

Sogar heute ist jene Gefahr noch immer nicht gebannt; denn ungezügelte Kreativität in Wissenschaft und Erfindung hat unbewußte dämonische Triebe verstärkt, die unsere gesamte Zivilisation in einen Zustand gefährlicher Unausgeglichenheit versetzt haben, zumal wir in diesem kritischen Augenblick die frühesten menschlichen Formen moralischer Disziplin und Selbstbeherrschung als Beleidigung unserer Vernunft über Bord warfen.

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Die »Instruktionen« an unsere militärischen und politischen Führer, atomare, bakterielle und chemische Mittel zur totalen Ausrottung der Menschheit zu finden, haben denselben psychologischen Status wie die Botschaften, die das Xosa-Mädchen empfing: Es sind selbstinduzierte Halluzinationen, die mutwillig allen historischen Geboten menschlicher Erfahrung trotzen. Die Tatsache, daß diese Träume unter dem pseudorationalen Mäntelchen der modernen Wissenschaft vorgebracht und als Maßnahmen zur »Rettung der Nation« hingestellt werden, ändert nichts an ihrer bodenlosen Bösartigkeit und Irrationalität, an ihrer totalen Widersinnigkeit, selbst vom Standpunkt des tierischen Selbsterhaltungsinstinkts. Aber zum Unterschied von dem bedauernswerten Fehler der Xosa wäre dieser kolossale Irrtum oder »Unfall«, für den das Pentagon und der Kreml bereits fein säuberlich die Lunte gelegt haben, nie wieder gutzumachen.

 

  Die urzeitliche Kunst der Ordnung  

 

Wir müssen endlich einen Pfad über den zerbrochenen Damm geordneter Tätigkeit finden, der heute versunken und fast unsichtbar ist und zur menschlichen Kultur geführt hat. Wir müssen im Geist die Kluft zwischen der unmittelbar aufgefaßten Welt des Tieres mit ihrem begrenzten Bereich und ihren zwangsläufigen Entscheidungen einerseits und dem ersten befreienden Aufleuchten menschlicher Intelligenz anderseits überbrücken, einer Intelligenz, die zum Teil noch vom Nebel des Unbewußten umhüllt und stellenweise von Träumen durchbrochen war. Wir müssen dem Frühmenschen durch sumpfiges Gelände folgen, wo ihm Hunderttausende Jahre lang nur einige wenige schlüpfrige Hügel erprobter Erfahrung Halt boten, die ihn ermutigten, weiterzugehen, bis er den schmalen Streifen festen Bodens am anderen Ufer erreichte.

Wie brachte der Mensch es fertig, diesen Damm zu bauen? Das Aufschichten jener ersten Steine quer durch den bodenlosen Morast des Unbewußten war sicherlich eine größere Leistung als der spätere Bau von Steinbrücken oder sogar von Kern­reaktoren. Wie ich zu zeigen versuchte, mag die frühe Intelligenz des Menschen ihm einen Vorteil gegenüber seinen tierischen Rivalen gegeben haben, indem er ihn bis zu einem gewissen Grad von fixierten Instinktzwängen befreite, doch diente sie ihm weniger gut bei der Meisterung der schweifenden Eingebungen seiner überaktiven Psyche; jedenfalls geben uns seine späteren Aufzeichnungen einigen Grund für diese Folgerung. Seine innere Unordnung wurde schwerlich dadurch aufgewogen, daß er auf gut Glück lebte, sich bei der Nahrungssuche, beim Graben und Sammeln mehr auf den Zufall verließ als auf planvolles Vorgehen und die eine Woche schlemmte, die nächsten hungerte.

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Rein organische Funktionen produzieren in der Tat ihre eigene Art von Ordnung und innerem Gleichgewicht; die tierischen Instinkte sind ihrem Wesen nach funktional und zweckmäßig und daher in ihrem Zusammenhang rational, das heißt, der Situation angemessen und dem Überleben, der organischen Erfüllung und der Fortpflanzung der Spezies förderlich. Der Mensch aber mußte diese Impulse auf einer höheren Ebene — erhellt durch das Bewußtsein — wieder einsetzen und neu gestalten; und um diese Umwandlung zu ermöglichen, war er gezwungen, seinen täglichen Aktivitäten eine Form von geordneter Folge und Struktur zu geben, indem er lernte, das unmittelbar Sichtbare mit Vorangegangenem oder später Folgendem zu assoziieren — anfangs zweifellos mit rein körperlichen Funktionen, wie etwa der Wahrnehmung, daß grünes Obst, heute genossen, morgen Magen­schmerzen »bedeutete«.

Es muß eine lange Periode gegeben haben, in der die keimenden Fähigkeiten des Frühmenschen ihn bis an die Grenze bewußt abstrahierender Intelligenz brachten, so wie sein zielloses Gebrabbel bis an die Grenze der Sprache ging — wo er verwirrt innehielt, weil er manches eben noch nicht auszudrücken vermochte. Wir alle haben schon die Erfahrung dieses schmerzlichen Zustandes gemacht, wenn uns ein Name oder ein Wort entfallen ist oder wenn wir auf einer höheren Ebene eines beginnenden Denkprozesses merken, daß eine dämmernde Einsicht nicht formuliert werden kann, weil dazu ein neuer Wortschatz notwendig ist. Beim Frühmenschen muß diese Unfähigkeit, diese Frustration verstärkt worden sein durch das Fehlen genau bestimmter Gesten, die als Notbehelfe oder Analogien hätten dienen können. Lange bevor der Mensch Worte artikulierte, war er gezwungen, eine andere Ausdrucksform zu finden.

Was konnten unsere Urahnen in diesem Zustand tun? Sie müssen zu der einzigen damals möglichen Annäherung an die Sprache getrieben worden sein: zum Gebrauch des ganzen Körpers. Kein einzelner Körperteil reichte aus, denn die Organe der Sprache und der Kunst mußten noch mobilisiert und ausgebildet werden. Auf dieser niedrigen Stufe finden sich bei vielen Tierarten sowohl Ausdrucksformen als auch Rudimente von Kommunikation. In der Literatur finden wir ein spätes Beispiel einer primitiven Lösung der sonst unerträglichen Frustration durch Sprachlosigkeit: Hermann Melvilles Geschichte vom britischen Seemann Billy Budd. Von einem schurkischen Denunzianten öffentlich des Verrats beschuldigt, findet Budd nicht genügend starke Worte, um seine Empörung auszudrücken oder seine Unschuld zu beteuern. Mit gelähmter Zunge antwortet er seinem Beschuldiger in der einzigen Sprache, deren er mächtig ist: indem er Claggart mit einem tödlichen Schlag niederstreckt.

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So muß der Frühmensch seine Sprachlosigkeit zunächst durch Gesten und Handlungen, verbunden mit rauhen Schreien, über­wunden haben; seine Körperbewegungen, soweit sie absichtlich waren, erregten Aufmerksamkeit und antwortende Reaktionen, wie das beharrliche »Schau her!« des Kleinkindes, wenn es etwas Neues gelernt hat. Die Festlegung von Bedeutungen war keine individuelle Entdeckung, sondern eine gemeinschaftliche Leistung, die gemeinsam durchgeführt wurde, bis Gestik und Geräusche genügend Form hatten, um voneinander getrennt und weitergegeben zu werden.

Es wäre nun nicht verwunderlich, wenn diese ersten Bemühungen um Ausdruck — zum Unterschied von direkten Signalen — keinem wie immer gearteten praktischen Zweck gedient hätten, sondern, wie auch bei anderen Tieren, hormonal bedingte Reaktionen auf jahreszeitliche Ereignisse gewesen wären. Wahrscheinlich besaß der Mensch ein Bewußtsein vom Himmel, von den Jahreszeiten, von der Erde und von der Sexualität, lange bevor er seiner selbst bewußt war. Wurden solche Tätigkeiten von einer ganzen Gruppe mit starker emotioneller Anteilnahme ausgeführt, tendierten sie zu Rhythmus und Gleichklang; und da der Rhythmus selbst organische Befriedigung verschafft, trachteten die Menschen nach Wiederholung, die wiederum eine weitere Belohnung in Form gesteigerter Geschicklichkeit mit sich brachte.

Solche formativen Bewegungen und Gesten, wenn sie oft genug am gleichen Ort oder im gleichen Ereignis­zusammenhang — Sonnenaufgang, Neumond, Sprießen der Pflanzen — wiederholt wurden, begannen somit Bedeutung zu erlangen, obwohl diese pantomimischen Rituale wahrscheinlich unendlich oft wiederholt werden mußten, ehe sie durch Assoziation gefestigt wurden, um außerhalb des unmittelbaren Milieus gemeinsamer Erfahrung verwendbar zu sein. Jung erinnert uns daran, daß die Menschen auch heute noch Gedanken ausführen, lange bevor sie sie verstehen; und unter der Schwelle des Bewußtseins mag eine Krankheit einen psychischen Konflikt ausdrücken, der noch nicht seinen Weg zur Oberfläche gefunden hat.

Am Anfang war das Wort? Nein: Am Anfang war, wie Goethe erkannte, die Tat; sinnvolles Verhalten nahm bedeutungsvolle Sprache vorweg und ermöglichte sie. Aber die einzige Verhaltensweise, die neue Bedeutung erlangen konnte, wurde gemein­schaftlich durchgeführt, gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Gruppe, ständig wiederholt und so durch Wiederholung vervollkommnet — mit anderen Worten, es war ein Ritual.

Mit der Zeit wurden solche Handlungen ausgesondert und ihre exakte Ausführung für unantastbar erklärt; diese Aussonderung und Unantastbarkeit gaben ihnen die neue Eigenschaft der »Heiligkeit«.

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Bevor so etwas wie zusammenhängende Rede entstand, produzierte der Frühmensch vermutlich Sequenzen miteinander verbundener Aktionen, die viele Charakteristika der verbalen Sprache hatten und von gemeinsamen Gefühlen begleitet waren, die später religiös genannt wurden. Die Proto-Sprache des Rituals begründete eine strenge Ordnungs­struktur, die später auf viele andere Ausdrucksformen der menschlichen Kultur übertragen wurde.

In all seinen vielen Manifestationen weist das Ritual Merkmale auf, die angeboren sein können; denn man findet sie beim nichterlernten Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern ebenso wie bei primitiven Stammesgruppen: ein Bedürfnis nach Wiederholung, eine Tendenz, Gruppen zu bilden, deren Mitglieder aufeinander reagieren und einander nachahmen, und Freude an spielerischer Darstellung oder Vorspiegelung. Sympathie, Mitgefühl, Nachahmung, Identifizierung — dies sind die Elemente, mit denen eine Anthropologin wie Margaret Mead die Übermittlung aller Kultur charakterisiert. Sie sind bei den Säugetieren allgemein festzustellen, bei den Primaten stärker ausgeprägt und erfahren beim Menschen noch weitere Entfaltung. Im Bereich des Rituals ließen diese Elemente Muster und geordnete Sequenzen entstehen, die memoriert, wiederholt und jüngeren Altersgruppen übermittelt werden konnten. Sicherlich liegt hier der Ursprung gemeinsam anerkannter Bedeutung; denn Benennung, Beschreibung, Bericht, Befehl und rationale Verständigung sind erst relativ spät hinzugekommen. Es ist fast sicher, daß die Menschen sich zuerst durch gemeinschaftliche Körperbewegungen ausgedrückt haben.

Diese .Interpretation des frühmenschlichen Verhaltens beruht, wie ich betonen möchte, nicht auf reiner Vermutung. Denn das Urmenschliche Ritual muß vor dem älteren Hintergrund tierischen Verhaltens gesehen werden: Das Werberitual vieler Tiere und Vögel, die emotionellen Schreie, die in sexueller Erregung ausgestoßen werden, das Wolfsrudel, das den Mond anheult, die Gesänge der Gibbons, die schon Darwin beeindruckten, die nächtlichen Tänze der Elefanten — all das unterstützt die Annahme, daß das Ritual in der menschlichen Entwicklung älter ist als die Sprache und eine unentbehrliche Rolle spielte.

Ehe sie ein verständliches Wort stammeln konnten, haben die primitiven Hominiden vermutlich gegrunzt oder im Chor geheult; bevor der Mensch singen lernte, hatte er sich wahrscheinlich dem Tanz und der dramatischen Pantomime hingegeben. All diesen Tätigkeiten lag die strikte Ordnung des Rituals zugrunde: Die Gruppe tat dieselben Dinge, am selben Ort, in derselben Art, ohne auch nur um Haaresbreite abzuweichen. Die Bedeutungen, die aus einem derartigen Ritual erwuchsen, hatten einen anderen Status — denn sie implizierten einen höheren Grad an Abstraktion — als die sichtbaren und hörbaren Signale, mit deren Hilfe die Tiere sich verständigen und lernen; und mit der Zeit befreite diese höhere Abstraktionsstufe die Bedeutungsinhalte vom Hier und Jetzt.

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Vor langer Zeit schrieb mir ein Freund, ein angesehener Psychologe, über mein Buch Technik und Zivilisation und stellte fest: »Ich war stets erstaunt über das weitverbreitete und spontane Auftreten regelmäßig sich wiederholender Handlungen — mehrmaliges Berühren von Dingen, Zählen von Schritten, Wiederholen von Worten und so weiter — bei Kindern, gewöhnlich Knaben. Bei Erwachsenen erscheint es als Symptom eines unbewußten Schuldgefühls. Es ist dem magischen und dem religiösen Ritual verwandt, liegt aber noch tiefer. Man findet es beim Kleinkind, das eine Geschichte in genau den gleichen Worten wiederholt haben will — es ist die elementarste Form der Mechanisierung und steht im Gegensatz zur Unberechenbarkeit des Impulses.«

Dreißig Jahre vergingen, bevor ich es wagte, diesem Hinweis nachzugeben. Heute glaube ich nur noch hinzufügen zu müssen, daß das Gruppenritual, historisch gesehen, grundlegender war als irgendeiner der späteren Akte, die mein Freund anführt. Wenn möglicherweise das Schuldgefühl ursprünglich aus den häufigen »kriminellen« Träumen des Menschen entstanden ist, so mag die mechanische Ordnung des Rituals eine wohltuende Alternative zur Zwangsneurose gewesen sein. Ich glaube, mit Hilfe des Rituals hat der Frühmensch zum ersten Mal seine eigene Fremdheit entdeckt und überwunden, sich mit kosmischen Ereignissen außerhalb der Tierwelt identifiziert und die Unruhe, die ihm seine große, weitgehend noch nicht nutzbare Hirnkapazität bereitete, gemildert. In einem viel späteren Stadium sollten sich diese anfänglichen Impulse unter dem Begriff der Religion zusammenfügen.

Taten sprechen immer noch »deutlicher als Worte«, und die Bewegungen und Gebärden des Rituals waren die frühesten Vorboten der menschlichen Sprache. Was noch nicht mit Worten ausgedrückt oder in Lehm und Stein geformt werden konnte, das tanzte oder mimte der Frühmensch; wenn er mit seinen Armen flatterte, war er ein Vogel; wenn die Gruppe einen Kreis bildete und sich in gemessenen Schritten drehte, mochte sie der Mond sein. Kurz, was Andre Varagnac so treffend als »Technologie des Körpers«, ausgedrückt in Tanz und mimischer Bewegung, bezeichnete, war sowohl die früheste Form aller technischen Ordnung als auch die früheste Manifestation expressiver und mitteilbarer Inhalte.

War das unverbrüchliche Schema des Rituals erst einmal etabliert, so bot es die Sicherheit einer verläßlichen Ordnung, einer Ordnung, die der primitive Mensch anfangs in seiner drückenden unmittelbaren Umwelt nicht fand, nicht einmal im Sternen­himmel. Es gab Zeiten — lange Perioden, die bis zur Entstehung der antiken Zivilisationen reichten —, in denen das Zunehmen und Abnehmen des Mondes oder die Wiederkehr der Sonne nach der Wintersonnenwende von Gefahren begleitet schien und kollektive Sorge erregte.

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Ehe der Mensch außerhalb seiner selbst Ordnung entdecken konnte, mußte er sie zuerst durch ständige Wiederholung in seinem Inneren herstellen. Dabei kann die Rolle, die die rituelle Exaktheit spielte, kaum überschätzt werden. Der ursprüngliche Zweck des Rituals war es, Ordnung und Bedeutung zu schaffen, wo sie nicht existierten; sie zu sichern, wenn sie erreicht, und sie wiederherzustellen, wenn sie verloren­gegangen waren. Was ein altmodischer Rationalist für »sinnloses Ritual« halten würde, war nach dieser Interpretation vielmehr die uralte Grundlage aller Ordnungs- und Bedeutungsformen.

Auf Grund einer althergebrachten engen Assoziation neigen wir heute dazu, Ritual mit Religion zu verknüpfen, ja es sogar als die spezielle Sprache der Religion zu bezeichnen, da die höchsten — kosmischen und göttlichen — Mysterien, mit denen die Hochreligionen sich auseinandersetzen, durch Worte nur verschleiert und lächerlich gemacht werden können.

Aber das Ritual durchdringt das ganze Leben: Jede Handlung, die sich zu formalisierter Wiederholung eignet — wenn es auch nicht mehr ist, als einmal in der Woche mit einem Freund Mittag zu essen oder bei einer öffentlichen Zeremonie formelle Abendkleidung zu tragen —, birgt die Grundzüge des Rituals in sich: sowohl die ursprüngliche Herstellung von Bedeutung durch einen repetitiven Akt als auch die spätere Aushöhlung oder Verschiebung der Bedeutung durch mechanische Wiederholung, wenn der ursprüngliche Anlaß wegfällt oder der ursprüngliche Impuls abstirbt. Da die rituelle Ordnung heute weitgehend einer mechanischen Ordnung gewichen ist, hat die gegenwärtige Revolte der jüngeren Generation gegen die Maschine es sich zur Gewohnheit gemacht, Unordnung und Zufälligkeit zu fördern; aber auch dies ist zu einem Ritual geworden, genauso zwanghaft und »sinnlos« wie die Routine, die man abzuschaffen versucht.

 

  Die Kunst der Vorspiegelung  

 

Als der Mensch erst einmal begonnen hatte, seine tierischen Begrenzungen zu überschreiten, wurde die geistige Übereinstimmung zu einer unentbehrlichen Voraussetzung für gegenseitige Hilfe. Das Ritual begünstigte eine soziale Solidarität, die sonst durch die ungleiche Entwicklung der menschlichen Talente und die frühzeitige Entstehung individueller Unterschiede vielleicht verloren­gegangen wäre. Hier sorgte die rituelle Handlung für den gemeinsamen emotionellen Widerhall, der den Menschen besser zu bewußter Kooperation und systematischer Gedankenbildung befähigte.

Im Rahmen gemeinsamer Erfahrungen löste sich Bedeutung in symbolischer Form erstmals von den täglichen Aktivitäten des Erkennens eßbarer Pflanzen oder feindlicher Tiere. Die Bedeutung, in Pantomime und Tanz verkörpert, übertrug sich zum Teil auf die spontanen Schreie, die die gemeinsame Aktion begleiteten; und diese nahmen ihrerseits durch Wiederholung bestimmtere und bewußtere Formen an.

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Anhand zeitgenössischer Berichte über primitive Völker kann man sich diese zeitlichen Gruppen vorstellen, wie sie sich versammeln, einander gegenüberstehen, die gleichen Gesten wiederholen, auf die gleichen Gesichtsausdrücke reagieren, sich im Takt bewegen und die gleichen spontanen Laute ausstoßen — Laute der Freude, der Trauer und der Ekstase: Die Mitglieder der Gruppe sind miteinander eins. Dies mag einer der sichersten Wege gewesen sein, die ins Reich der Sprache führten, lange bevor die Erfordernisse der Großwildjagd die Sprache zu einem Hilfsmittel für kooperative Angriffe machten.

Zweifellos brauchte die Entwicklung des Rituals unzählige Jahre, ehe so etwas wie bestimmte, assoziierte und abstrahierbare Bedeutungen dem Bewußtsein auch nur aufdämmerten. Aber das Verblüffende, das die Auffassung, wonach das Ritual der Ursprung aller anderen Kulturformen ist, anschaulich macht, ist die Feststellung, die der berühmte Sprachphilosoph Edward Sapir in bezug auf die australischen Ureinwohner gemacht hat: Wie arm eine Kultur hinsichtlich Bekleidung, Behausung oder Werkzeug auch sein mag, weist sie doch ein reich entwickeltes Zeremoniell auf.

Es ist keine bloße Spekulation, sondern eine Schlußfolgerung von hohem Wahrscheinlichkeitsgrad, wenn man annimmt, daß der Frühmensch weit mehr durch die sozialen Aktivitäten des Rituals und der Sprache als nur durch Gebrauch von Werkzeugen zur Blüte gelangt ist; und daß Herstellung und Verwendung von Werkzeugen im Vergleich zum zeremoniellen Ausdruck und zur Sprachbildung lange rückständig blieben. Die wichtigsten Werkzeuge des Menschen waren zu Anfang solche, die er seinem eigenen Körper entnahm: formalisierte Laute, Vorstellungsbilder und Bewegungen. Und sein Bemühen, diese Güter mit anderen zu teilen, förderte die soziale Solidarität.

Lili Pellers scharfsinnige Beobachtung des Spiels von Kleinkindern gibt besonderen Aufschluß über die Funktion des Rituals im Leben des Frühmenschen. Nüchterne, beharrliche Wiederholung, die einem Erwachsenen, wie sie betonte, äußerst lästig wäre, ist nichtsdestoweniger ungeheuer erfreulich für ein Kind — wie so viele erschöpfte Eltern bemerken, wenn sie gedrängt werden, dasselbe Spiel oder dieselbe Geschichte ohne Abweichungen unzählige Male zu wiederholen.

»Das frühe Spiel«, schreibt Lili Peller, »ist repetitiv, weil es sehr intensives Vergnügen bereitet.« Hat der Frühmensch dieses elementare kindliche Vergnügen nicht gleichfalls gekannt und weidlich ausgekostet? Wilde Spontaneität und monotone Wiederholung sind für die ganz Jungen gleichermaßen natürlich und lustvoll; und da diese natürliche Neigung zu Formen, die fixiert und wiederholt werden können, so tief verwurzelt und subjektiv so befriedigend war, ist es wahrscheinlich, daß sie den Grundstock für die ganze menschliche Entwicklung lieferte.

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Kurz, das Verlangen nach ritueller Exaktheit, die subjektive Befriedigung durch den wiederholten Ritus, die Sicherheit, die erwartete Antwort zu suchen und zu empfangen, all das war ein Gegengewicht zur ungeheuren Sensitivität des Menschen, zu seiner psychischen »Offenheit« und Labilität und ermöglichte so die Höherentwicklung seines Geistes. Aber die Bedingungen für das Ritual gehören der Kindheit der Gattung an, und zu einem mechanischen Ritual zurückzukehren, in dem Wiederholung, frei von potentiellem Sinn oder Zweck, die einzige Quelle der Befriedigung ist, würde Regression auf eine infantile Stufe bedeuten.

Was ist also der größere Irrtum — die grundlegende Bedeutung des Rituals für den Frühmenschen, der noch auf keine andere Weise Sinn auszudrücken vermochte, zu übersehen, oder die Gefährdung der menschlichen Entwicklung durch moderne mechanische Massenrituale zu verkennen? In diesen nämlich wurde die Ordnung gänzlich auf die Maschine übertragen, und keine Vorgangsweise wird verinnerlicht oder akzeptiert, sofern sie nicht der Maschine dient. Der bestechende Gedanke, den Marshall McLuhan zum Lob der Massenmedien vorbrachte — die Mittel seien faktisch der Sinn —, zeigt eine Rückkehr zum Ritual der infantilsten vormenschlichen Stufe an.

Das ursprüngliche Bedürfnis nach Ordnung und deren Erlangung durch zunehmend formalisierte repetitive Handlungen halte ich für die Grundlage der ganzen Kulturentwicklung. Wo diese Ordnung genügend solid und verläßlich wurde, hatte der Mensch eine gewisse Kontrolle über seine eigenen irrationalen Eingebungen, einige Sicherheit gegenüber den störenden Zufällen der Natur und nicht zuletzt eine Möglichkeit, das sonst oft unberechenbare Verhalten seiner Mitmenschen vorherzusehen; schließlich eine gewisse Fähigkeit, diese Ordnung auf die natürliche Umwelt zu übertragen und massenhaft Beweise für Ordnung in den Bewegungen der Planeten und in der grundlegenden Organisation des ganzen Kosmos zu entdecken. Wo jedoch diese Ordnungs­struktur im Geist zusammenbricht, wie bei manchen Gehirnverletzungen, werden die gewöhnlichsten Geschehnisse, wie Kurt Goldstein zeigte, unbegreiflich und angsterregend.

Man darf aber den sozialen Nutzen der urzeitlichen Rituale, aus denen so viele andere menschliche Handlungsweisen hervor­gegangen sind, nicht überschätzen, so großartig und weitreichend sie auch waren. Denn das Ritual enthielt immer schon einiges von eben der Irrationalität, deren Überwindung es diente.

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Susanne Langer betonte in ihrer geistvollen Darstellung des symbolischen Rituals als wichtigen Faktors der menschlichen Entwicklung ganz richtig, daß der Geist des Frühmenschen mehr vermochte, als Sinneseindrücke aufzunehmen und zu registrieren oder die Inhalte seiner Umgebung zu bezeichnen und einzu­ordnen: Er erschuf eine sinnvolle Welt, einen ganzen Kosmos, mit dessen Formung und Handhabung er einen Erfolg erzielte, der ihm in der Umgestaltung seines natürlichen Lebensraums lange Zeit versagt blieb.

Doch all diese Bemühungen hatten eine negative Seite, die man nicht übersehen darf, einen Aspekt, der noch heute sichtbar ist. Der Autor des Buches Philosophy in a New Key hat es verabsäumt, den Bodensatz an ungeheuerlicher Absurdität, magischem Hokuspokus, kindischem Selbstbetrug und paranoider Aufgeblasenheit zu beachten, der in vielen hochgeschätzten Zeremonien aller Zeiten enthalten ist. Obwohl das Ritual einen ordentlichen Kanal für die unbewußten Impulse des Menschen darstellte, hat es häufig die Anwendung der Intelligenz gehemmt und die Entwicklung des Bewußtseins behindert. Nur zu oft fallen Rituale, gerade durch ihren Erfolg, in den Automatismus unbewußter Existenz zurück und verzögern so die menschliche Entwicklung.

Nehmen wir ein bekanntes archäologisches Beispiel. Was sollen wir von den zweihundert Handabdrücken in der paläolithischen Höhle bei Gargas halten, die zum großen Teil schwere Verstümmelungen aufweisen, mit zwei, drei oder vier fehlenden Fingern? Solche Abdrücke wurden in der ganzen Welt gefunden, in Amerika, Indien, Ägypten und Australien; und sie lassen auf ein Kultritual schließen, wie etwa das bei manchen Stämmen heute noch übliche Ausschlagen von Zähnen, das oft das Leben erschwert haben muß. Obwohl Ordnung und Bedeutung zuerst im Ritual Form angenommen haben mögen, muß man einräumen, daß auch Unordnung und Verblendung darin enthalten waren und lange Zeit in magischen Handlungen, die selbst disziplinierten Geistern nicht völlig fremd sind, ihren Stellenwert behielten.

Die amputierten Finger sowie andere Formen ritueller Operationen, wie etwa die Kastration, weisen auf einen Zug hin, der keine Parallele im Tierreich hat: das selbstauferlegte Opfer. Obwohl die Opferformen oft detailliert beschrieben worden sind, wurden sie bis heute nicht zufriedenstellend erklärt; das gilt auch für das Schuldgefühl, auf das sowohl das Opfer als auch die rituelle Wiederholung so oft zurückgeführt werden. In diesen finsteren Winkel der menschlichen Psyche ist das Licht des Bewußtseins noch nicht gedrungen.

Wenn das hohe Alter ritueller Bräuche noch bewiesen werden müßte, so würde die Schwierigkeit, den selbst in einem fortgeschrittenen Stadium der Zivilisation existierenden rituellen Formalismus abzulegen, es mehr als plausibel machen. Lange nachdem Sprachen mit großer grammatikalischer Komplexität und metaphysischer Subtilität entstanden waren, hing die Gepflogenheit des formalen Wiederholens, die nach dieser Hypothese einst so nötig war, um Bedeutungen zu schaffen, dem verbalen Ausdruck an.

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Sogar späte Dokumente, wie die ägyptischen Grabinschriften oder die sumerischen und akkadischen Epen, enthalten jene einfache Magie, die ursprünglich abstrakte Bedeutungen schuf: Feststehende Phrasen von manchmal beachtlicher Länge werden so oft wiederholt, daß der gelangweilte moderne Übersetzer es vorzieht, sie wegzulassen und mit ein paar Punkten auf ihr Vorhandensein hinzuweisen. Doch um zu dieser Einsicht zu kommen, müssen wir nicht fünftausend Jahre zurückgehen. In traditionellen Balladen und Liedern verschafft uns die Wiederholung des Refrains die gleiche Befriedigung; und die Tatsache, daß solche Refrains oft aus sinnlosen Silben bestehen, verbindet sie nur noch enger mit den Praktiken des primitiven Menschen; denn Wörter erhalten Bedeutung durch Gebrauch und Assoziation, und die ersten Sätze des Menschen waren möglicherweise unsinniger als irgend etwas von Edward Lear.

Hier ist wieder Spekulation zulässig, weil positive Beweise immer fehlen werden. Genetiker können heute bis zu einer Viehrasse zurückzüchten, die der Urform des Auerochsen nahekommt; aber es besteht wohl kaum Hoffnung, bis zum primitiven Menschen zurückzüchten zu können, geschweige denn bis zu dem Moment, da aus zeremoniellen Handlungen erstmals Bedeutung entstand. Obwohl der Übergang von Gestik und Körperbewegung zu Tanz und Gesang und vom Gesang zur Sprache plausibel erscheint, haben alle drei sich wahrscheinlich gemeinsam entwickelt, und die Reihenfolge zeigt möglicherweise nur die Unterschiede im Entwicklungstempo an.

Dennoch hat Maurice Bowra wahrscheinlich recht, wenn er meint, die große Zahl primitiver Tänze, die ohne Worte auskommen und auch so völlig verständlich sind, zeige, daß dies die ursprüngliche Reihenfolge der Entwicklung war; um so mehr, als die erhaltenen Lieder, Gebete und Rituale einen extrem beschränkten Wortschatz haben und oft archaische, nicht mehr verständliche Ausdrücke verwenden, ohne daß ihre Wirksamkeit zerstört würde.

Kurz, abergläubische Ansichten und Riten, die früheren Interpreten wie James Frazer als Folgen irrigen Denkens erschienen, waren nicht unglückliche Zufälle, die die menschliche Kultur hemmten, sondern die Basis stabiler sozialer Ordnung und jedes rationalen Interpretationssystems. Der Akt selbst war rational und der Zweck gültig, auch wenn der Inhalt es nicht war. Was Huizinga vom Spiel sagt, gilt auch für die frühmenschliche Ausdrucksform des Rituals: das Ritual schafft Ordnung und ist Ordnung; ja es ist wahrscheinlich die Urform der Vorspiegelung, die aus der menschlichen Kultur nicht wegzudenken ist: Spiel, Drama, Zeremonie, Wettkampf, der gesamte Bereich symbolischer Handlungen beruhen darauf. Giambattista Vicos Aphorismus, man verstehe nur das wirklich, was man selbst erschaffen könne, gilt besonders für diese früheste Form des Schaffens.

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Das Ritual erschloß den Weg für das Verständliche und das Bedeutungsvolle und schließlich für konstruktive Leistungen jeder Art.

Diese wichtige Funktion des Rituals wurde vor langer Zeit von Friedrich Schiller erkannt, obwohl er sie, der romantischen Revolte gegen Tradition und Konvention aller Arten folgend, in geringschätzigen Worten beschrieb: »Was immer war und immer wiederkehrt und morgen gilt, weil's heute hat gegolten! ... und die Gewohnheit nennt er seine Amme

Gewohnheit war in der Tat die Amme des Menschen. Lange bevor das Abschlagen und Schleifen von Steinen Hand und Auge in eine feste Kette von Reflexen gebunden hatte, muß das Ritual Ordnung hergestellt, die Vergangenheit bewahrt und die neuent­deckte Welt zusammengehalten haben. Aber für die Durchsetzung des Rituals mußte der Mensch einen Preis zahlen: die Tendenz, die Güter der Vergangenheit zu überschätzen, die Furcht, sie durch Neuerungen, und seien sie noch so gering, zu zerstören. Insofern hatte Schiller recht. Die Gewohnheit selbst ist, um es paradox auszudrücken, die am meisten gewohn­heitsbildende aller Drogen; und das Ritual ist Gewohnheit mit Gruppenverstärkung. Sobald das Ritual erst einmal eine Basis für andere Ordnungsformen geschaffen hatte, bestand der nächste Schritt — abgesehen von der Entstehung der Sprache — darin, einen großen Teil seiner Zwangsmechanismen auf die Welt außerhalb der menschlichen Persönlichkeit zu projizieren; und dieser Prozeß mag ebenso lange gedauert haben wie die ursprüngliche Umsetzung von Handlungen in Bedeutungen.

Bis jetzt habe ich das Ritual um der Verständlichkeit willen so dargestellt, als wäre es eine unabhängige Reihe kollektiver Handlungen; man muß jedoch sehen, daß diese Handlungen von Anfang an eine spezifische Qualität besaßen: Sie hatten mit dem Heiligen zu tun. Mit »heilig« meine ich frei vom Druck der bloßen Selbsterhaltung und Selbstbewahrung, dank einer wichtigen Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. War das Ritual die früheste Form der Arbeit, so war es heilige Arbeit; und der Ort, an dem es vollzogen wurde, war ein heiliger Ort — durch eine Quelle, einen großen Baum oder Stein, eine Höhle oder Grotte gekennzeichnet. Jene, die im Vollzug dieser heiligen Arbeit geübt waren, entwickelten sich zu Schamanen, Magiern, Hexern und schließlich zu Königen und Priestern: Spezialisten, die vom Rest des Stammes abgehoben waren durch ihre überlegenen Talente, ihre Fähigkeit, zu träumen oder Träume zu deuten, die Ordnung des Rituals zu beherrschen und die Zeichen der Natur zu interpretieren.

Die Schaffung dieses Reichs des Heiligen, eines Reichs für sich, das als Verbindungsglied zwischen Sichtbarem und Unsicht­barem, Gegenwärtigem und Ewigem diente, war einer der entscheidenden Schritte in der Wandlung des Menschen. Es ist anzunehmen, daß diese drei Aspekte des Rituals, der heilige Ort, die heiligen Handlungen und die heiligen Kultführer, sich von Anfang an gemeinsam entwickelten und im gegebenen Augenblick in den Dienst der Religion traten.

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Doch veränderten sich alle diese Komponenten so langsam, daß sie inmitten vieler späterer Veränderungen in der Umwelt oder der Gesellschaftsordnung ihre Kontinuität wahrten. Und man kann die Kräfte­konzentration, die die im vierten Jahrtausend vor Christus entstandenen techno­logischen Zivilisationen ermöglichte, nicht ausreichend verstehen, wenn man diesen kolossalen Wandel nicht vor dem jahrtausendealten Hintergrund der heiligen Rituale betrachtet.

 

  Ritual, Tabu und Moral  

 

Aus dem eben Gesagten folgt, daß das Ritual, obwohl seine Disziplin eine wichtige, ja unentbehrliche Rolle in der menschlichen Entwicklung spielte, sich ohne Zweifel nur um den Preis eines gewissen Kreativitätsverlustes durchsetzte. Die Vorherrschaft des Rituals und aller damit zusammenhängenden Institutionen erklärt daher sowohl die Fakten der frühmenschlichen Entwicklung als auch deren extreme Langsamkeit. Lange Zeit waren die Bremsen weit stärker als die Maschine, die sie kontrollierten.

Wo immer wir auf den archaischen Menschen stoßen, finden wir kein gesetzloses Wesen, das tun kann, was ihm gefällt, wann oder wie es ihm gefällt; wir finden vielmehr eines, das in jedem Augenblick seines Lebens vorsichtig und umsichtig vorgehen muß und, von den Gebräuchen seiner Art geleitet, den übermenschlichen Kräften Ehrfurcht erweist, seien es die alles Sein erschaffenden Götter, die Geister und Dämonen, die mit seiner Erinnerung an die Ahnen verbunden sind, oder die heiligen Tiere, Pflanzen, Insekten und Steine seines Totems. Es läßt sich kaum bezweifeln — obwohl auch dies eine Annahme ist —, daß der Frühmensch jede Phase seiner Entwicklung mit entsprechenden Übergangsriten begleitete, mit jenen fast universellen Zeremonien, die der zivilisierte Mensch jüngst aufgegeben hat, nur um in Eile papierenen Ersatz über Die Pflege und Ernährung von Klein­kindern oder Die Sexualprobleme von Jugendlichen zu schaffen.

Durch Verbote und strenge Enthaltung sowie durch gläubige Fügsamkeit versuchte der Frühmensch, seine Tätigkeit mit den unsichtbaren Kräften, die ihn umgaben, zu verknüpfen, wobei er versuchte, einen Teil ihrer Macht einzufangen, ihre Bosheit abzuwehren und — manchmal durch magische Beschwörung — ihre Hilfe zu erschmeicheln. Nirgends offenbart sich diese umsichtige Haltung vollständiger als in den beiden uralten Institutionen, die Freud mit so viel Argwohn und naiver Feindseligkeit betrachtete: Totem und Tabu.

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Nun weist der Begriff des Totems, wie Radcliffe-Brown und Levi-Strauss hervorhoben, viele Zweideutig­keiten und Wider­sprüche auf, wenn man seine vielfältigen Anwendungsformen untersucht. Aber das gleiche gilt für den ebenso unent­behrlichen Begriff der Stadt; er umfaßt eine Vielzahl verschiedener Funktionen und sozialer Bedürfnisse im Zusammenhang mit Strukturen, die einander nur wenig ähneln. Das verbindende Element zwischen allen Totemformen ist ein spezifisches Verhältnis der Treue zu einem heiligen Objekt oder einer heiligen Kraft, die gläubig respektiert werden müssen. Oberflächlich rational betrachtet, erscheint der Anschluß einer Gruppe an einen Totem-Ahnen als ein Bestreben, die zersetzenden Wirkungen des Inzests in einer kleinen Gemeinschaft zu vermeiden. Deshalb war Heirat innerhalb des Totems verboten, und Sexualverkehr mit einem Mitglied desselben Totems konnte mit dem Tod bestraft werden.

Leider ist diese Erklärung nicht aufrechtzuerhalten. Tatsache ist, daß ein formalisiertes Sexualverhältnis im Zeichen des Totems sich neben der weiterbestehenden normalen Familienstruktur herausbildete, wie sie bei vielen anderen Spezies, sogar bei Vögeln, ebenfalls anzutreffen ist. Das weist auf ein spezifisch menschliches Ambivalenzverhalten — oder sollte man es Komplementär­verhalten nennen? — zwischen den biologischen und den kulturellen Aspekten des Lebens hin. Die komplizierten Verwandtschaftsregeln »primitiver« Völker enthüllen ebenso wie deren Tabus das frühe Bestreben des Menschen, seine tierisch-biologischen Triebe zu zügeln und in eine spezifisch menschliche Form zu bringen, unter der strengen und umsichtigen Kontrolle seiner höheren Gehirnzentren.

Die Struktur der Totem-Zugehörigkeit wurde durch das Tabu bekräftigt: ein polynesisches Wort, das einfach »das Verbotene« bedeutet. Viele Aspekte des Lebens, neben dem Sexualverkehr, fallen in diesen Bereich: gewisse Nahrungsmittel, besonders solche, die von den Totemtieren stammen, Leichen, Frauen während der Menstruation, Häuptlingsspiele, wie das Wellenreiten, oder ein bestimmtes Territorium. Tatsächlich konnte fast jeder Teil der Umwelt durch irgendeine zufällige Assoziation mit Glück oder Unglück tabuisiert werden.

Diese Verbote haben so wenig Bezug zu vernünftigen Praktiken, daß man, gleich Freud, leicht von ihrer unergründlichen Launenhaftigkeit, ihrer willkürlichen Unvernunft und ihrer grausamen Verurteilung harmloser Handlungen überwältigt werden könnte; und man könnte wie Freud zu der Ansicht gelangen, daß die Fortschritte des Menschen im Sinn rationalen Verhaltens proportional seiner Fähigkeit waren, Tabus zu mißachten oder abzuschütteln. Dies ist ein schwerwiegender Irrtum und hat sogar noch schwererwiegende Folgen. Wie Freuds Ablehnung der Religion beruhte dieser Irrtum auf der seltsamen Annahme, daß eine Praktik, die in keiner Weise zur menschlichen Entwicklung beigetragen, ja in manchen Fällen nachweisbar gegen sie gewirkt hat, sich dennoch jahrtausendelang mit unverminderter Stärke halten konnte.

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Freud hat etwas übersehen, das ein besser ausgestatteter Beobachter, Radcliffe-Brown, uns in bezug auf alle Formen des Rituals ins Gedächtnis rief: die Notwendigkeit, zwischen Methode und sozialem Zweck zu unterscheiden. Durch Beschwörung heiliger Mächte, durch Androhung schrecklicher Strafen für die Verletzung eines Tabus entwickelte der Frühmensch Gewohnheiten absoluter Kontrolle über sein Verhalten. Der Gewinn an Gruppensolidarität und vorhersagbarer Ordnung wog lange Zeit hindurch den Verlust an Freiheit auf.

Der vorgebliche Zweck des Tabus mag infantil, pervers, ungerecht sein, etwa daß den Frauen besondere Privilegien, deren die Männer sich erfreuten, verweigert wurden, und der umgekehrte Vorgang bei der Geburt von Kindern. Aber die Gewohnheit, solche Gebote und Verbote genau zu befolgen, war notwendig für den Menschen, um Ordnung und Kooperation in anderen Sphären zu erreichen.

Gegen den regellosen Absolutismus seines Unbewußten brauchte der Mensch eine ebenso absolute regelnde Gegenkraft. Anfangs sicherte allein das Tabu dieses notwendige Gleichgewicht: Es war der früheste »kategorische Imperativ« des Menschen. Gemeinsam mit dem Ritual, mit dem es eng verbunden ist, war das Tabu das wirksamste Mittel zur Gewährleistung der Selbst­kontrolle. Eine solche moralische Disziplin, als Gewohnheit formalisiert, ehe sie als menschliche Notwendigkeit rational begründet werden konnte, war für die menschliche Entwicklung von grundlegender Bedeutung.

Auch hier liefert ein überlebender primitiver Volksstamm, der Stamm der Eualayi in Australien, ein Muster­beispiel mit einem Brauch, von dem uns Bowra berichtet: Sobald ein Kind zu krabbeln beginnt, sucht die Mutter einen Tausendfüßler, kocht ihn halb gar, nimmt dann die Hände des Kindes, klopft mit dem Tausendfüßler drauf und singt dazu:

Sei gut,
Stiehl nicht,
Berühre nicht, was einem anderen gehört,
Laß all das sein,
Sei gut.

Die Mutter übt nicht nur Autorität aus, sondern verbindet dies mit einem potentiell giftigen Tier, indem sie ihren positiven Befehl mit der symbolischen Einprägung drohender Bestrafung koppelt. Dies ist positive Führung, weder willkürlicher Befehl noch Permissivität. So wurden moralische und geistige Ordnung in einem entwickelt.

Die westliche Gesellschaft hat sich so weit von den uralten Tabus gegen Mord, Diebstahl und Notzucht entfernt, daß wir heute mit jugendlichen Delinquenten konfrontiert sind, die keine inneren Hemmungen haben, wahllos andere Lebewesen »zum Spaß« mutwillig zu quälen, während es erwachsene Delinquenten gibt, die imstande sind, die vorsätzliche Ausrottung Dutzender Millionen Menschen zu planen, indem sie, zweifellos gleichfalls zum Spaß, eine mathematische Spieltheorie ausarbeiten.

Der Zustand unserer heutigen Zivilisation ist weit primitiver, weit irrationaler als der jeder bekannten, von Tabus beherrschten Gesellschaft — nur weil es an wirksamen Tabus mangelt. Wenn der westliche Mensch ein unverletzliches Tabu gegen wahllose Ausrottung aufstellen könnte, hätte unsere Gesellschaft einen viel wirksameren Schutz sowohl gegen individuelle Gewalt als auch gegen die immer noch drohenden nuklearen Terror, als ihn die Vereinten Nationen oder die trügerischen Mechanismen der Raketen­abwehrsysteme bieten.

So wie das Ritual, sofern ich es richtig gedeutet habe, der erste Schritt zur wirksamen Expression und Kommunikation durch Sprache war, stellte das Tabu den ersten Schritt zur moralischen Disziplin dar. Ohne diese beiden hätte der Aufstieg des Menschen wahrscheinlich vor langer Zeit sein Ende gefunden, wie so viele mächtige Herrscher und Nationen ihr Dasein in psychotischen Ausbrüchen und lebens­verneinenden Perversionen beendeten.

Die menschliche Entwicklung beruht in jedem Stadium auf der Fähigkeit, Spannungen zu ertragen und deren Lösung zu kontrollieren. Auf der niedrigsten Stufe bedeutet dies die Kontrolle von Blase und Darm; sodann die Kanalisierung körperlicher Begierden und sexueller Triebe in sozial akzeptable Formen. Und schließlich — wie ich hier ausgeführt habe — waren die straffe Disziplin des Rituals und die strenge moralische Schule des Tabus von entscheidender Bedeutung für die Selbstkontrolle des Menschen und im Zusammenhang damit für seine kulturelle Kreativität in allen Bereichen. Nur wer die Regeln einhält, kann mitspielen; und bis zu einem bestimmten Punkt vermehren die Strenge der Regeln und die Schwierigkeit, ohne Verletzung der Regeln zu gewinnen, die Freude am Spiel.

Kurz, die gesamte Existenzsphäre des Frühmenschen, die der moderne wissenschaftliche Geist im Bewußt­sein seiner intellekt­uellen Überlegenheit ablehnt, war die ursprüngliche Quelle seiner Selbst­umformung vom Tier zum menschlichen Wesen. Ritual, Tanz, Totem, Tabu, Religion, Magie — sie lieferten die Grundlage für die spätere Höherentwicklung des Menschen. Sogar die erste große Arbeits­teilung könnte, wie A.M. Hocart hervorhob, im Ritual mit seinen starren Aufgaben und Funktionen festgelegt worden sein, bevor sie auf die Technologie übertragen wurde. 

Und all dies begann »in der lang vergangenen Traumzeit«.

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