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3 - Die Sprechbegabung 

 

 

Von tierischen Signalen zu menschlichen Symbolen

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Wollen wir die technische Entwicklung des Frühmenschen in ihrem vollen Ausmaß begreifen, dann müssen wir davon ausgehen, daß sie tief im menschlichen Organismus wurzelte, auf den Eigenschaften seiner Primaten-Vorfahren aufbaute und viele Fähigkeiten hinzufügte, die jenen fehlten.

Manuelle Geschick­lichkeit hatte einen wesent­lichen Anteil an dieser Entwicklung, aber geistige Geschicklichkeit, Erinnerungs­vermögen, Lern­vermögen und die Fähigkeit, zu antizipieren, spielten eine noch größere Rolle; und jene Fortschritte, die sich auf Symbole bezogen, hatten weit größere Bedeutung als die Entwicklung von Werkzeugen.

Um sich aus dem Tierzustand zu erheben, mußte der Mensch vor allem sich selbst verändern; und die Haupt­instru­mente seines erwachenden Bewußtseins waren seine eigenen Gesten und Laute, die sich in denen seiner Artgenossen widerspiegelten und sie nachahmten. Das Verständnis für diese ursprünglichen Bedingungen wurde weitgehend zurückgedrängt, da unsere eigene Kultur übertriebenen Nachdruck auf mehr praktische Interessen legt.

Diese Akzentuierung behinderte unsere Interpretation sowohl der Sprache als auch der Technik; denn wie der viktorianische Forscher John Morley richtig erkannte, legt der moderne Mensch mehr Wert auf »Sachbezogenheit« als auf »Wortbezogenheit« und reduziert aus dieser Einstellung heraus schöpferischen Überschwang, spontane motorische Aktivität, zweckfreies Spiel und ästhetische Gestaltung willkürlich auf »Werkzeuge«, »Arbeit«, »Kampf ums Dasein« und »Überleben«. 

Schlimmer noch, er hat die frühzeitige, beharrliche Suche nach einem Bedeutungsmuster, das all den separaten und unvermeidlich vergänglichen Tätigkeiten einen Sinn gäbe, übersehen. Der Frühmensch besaß, im Gegensatz zu seinen heutigen Nachfahren, nicht viel »know-how«, ihn beschäftigte weit mehr das »know-why«. Und wenn seine voreiligen Antworten sich allzuoft als ein magisches Spiel mit Worten erwiesen, so machte doch die Tatsache, daß er diese Worte produzierte, selbst seine trivialsten Handlungen signifikant.

In der Einschätzung von Funktion und Zweck der Sprache neigt unsere Generation dazu, am falschen Ende zu beginnen: Wir halten uns an ihre wertvollsten spezialisierten Charakteristika, ihre Eignung, abstrakte Begriffe zu bilden, exakte Beobachtungen und bestimmte Aussagen zu vermitteln, als stellten sie die ursprünglichen Motive für die Verwendung von Worten dar.

Aber die Sprache war ein Mittel zur Widerspiegelung und Erweiterung des Lebens, lange bevor sie für die begrenzten Zwecke geistiger Kommunikation geformt werden konnte. Gerade jene Eigenschaften der Sprache, die den logisch denkenden Positivisten ein Ärgernis sind — ihre Vagheit, ihre Unbestimmtheit, ihre Mehrdeutigkeit, ihre emotionale Färbung, ihre Bezugnahme auf unsichtbare Objekte oder nicht verifizierbare Ereignisse, kurz, ihre »Subjektivität« —, zeigen, daß sie von Anfang an ein Mittel war, den lebendigen Organismus menschlicher Erfahrung zu umfassen und nicht bloß das dürre Gerippe definierbarer Ideen. Umfangreiche Lautäußerung muß der nüchternen verständlichen Sprache lange vorangegangen sein.

Glücklicherweise hat der Mensch sich im langwierigen Prozeß der Herausbildung einer komplexen Sprach­struktur nicht von den Irrationalitäten des Lebens, von dessen Widersprüchen, von den unerforschlichen und unerklärbaren kosmischen Mysterien abgewandt — wie es heute viele im Namen der Wissenschaft tun. Die Fülle archaischer mythologischer Überlieferung weist — noch deutlicher als das Ritual — auf eines der frühesten menschlichen Anliegen hin. Was die Bemühungen betrifft, die Emotionalität auszuschalten, in der Annahme, die Berücksichtigung emotionaler Werte führe notwendigerweise zur Verfälschung der Wahrheit, so übersieht dieser Standpunkt die Tatsache, daß gerade die »Trockenheit« sogenannter objektiver Beschreibung an sich schon ein Anzeichen für einen unglücklichen negativen Zustand sein mag, der ebensolche Gefahren der Entstellung in sich trägt: Außer für die begrenzten Zwecke exakter Beobachtung ist diese Methode nicht unbedingt erstrebenswert. Im Sexualleben beispiels­weise führt diese Strenge zu Impotenz und Frigidität; in den allgemein menschlichen Beziehungen bewirkt sie die charakter­istischen Entartungen des Bürokratismus und Akademismus.

In Anbetracht der ursprünglichen Kondition des Menschen erwies sich die Errungenschaft der artikulierten Sprache, sobald sie sich von tierischen Signalen und repetitiven ritualisierten Handlungen genügend unter­schied, als sein größter Sprung in den vollmenschlichen Zustand, obwohl man sich diesen Sprung im Zeit­lupen­tempo vorstellen muß, da er wahrscheinlich mehr Zeit und Aufwand erforderte als jede andere Entwicklungs­phase der Kultur. Mit Hilfe des stimmlichen Ausdrucks erweiterte der Mensch den Bereich der sozialen Gemeinschaft und der gegenseitigen Sympathie. Und als er schließlich das Stadium verständlicher Sprache erreichte, schuf er eine üppig wuchernde Symbolwelt, zum Teil unabhängig vom steten Wechsel der täglichen Erfahrung, ablösbar von jeder spezifischen Umwelt oder Gelegenheit und unter ständiger menschlicher Kontrolle, wie es noch auf Jahrtausende kein anderer Lebensbereich werden konnte: das Reich der Bedeutung. Hier, und hier allein, herrschte der Mensch uneingeschränkt.

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Diese symbolische Welt entsprach der sinnlich wahrgenommenen, ging aber in mancher Hinsicht über sie hinaus, denn sie konnte im Bewußtsein festgehalten und nachgerufen werden, nachdem die Quelle der Empfindungen verschwunden und die visuelle Erinnerung an sie verblaßt war. Hätten Worte sich kristallisiert, so wie sie ausgesprochen wurden, und Ablagerungen hinterlassen wie Muscheln oder Scherben, so hätte der Paläontologe der Werkzeugherstellung des Frühmenschen kaum Beachtung geschenkt: Die spröden Ablager­ungen von Wörtern in all ihren Entwicklungsstadien hätten seine Aufmerksamkeit gefesselt, wenngleich die schiere Masse dieses Wörterhaufens ihn überwältigt hätte, und die Interpretation der lebendigen Bedeutungs­struktur hätte ihm ebenso Rätsel aufgegeben wie die etruskischen Funde den modernen Sprachforschern.

Wie sich herausstellte, erwies sich die am wenigsten greifbare, ätherischste Schöpfung des Menschen vor der Erfindung der Schrift, der bloße Hauch seines Geistes, als die ausbaufähigste menschliche Errungenschaft; jeder weitere Fortschritt in der Kultur, selbst die Herstellung von Werkzeugen, hing von ihr ab. Die Sprache öffnete nicht nur die Pforten zum Bewußtsein, sondern verschloß auch zum Teil die Kellertür zum Unbewußten und hemmte das Eindringen der Geister und Dämonen dieser Unterwelt in die zunehmend gut gelüfteten und beleuchteten Gemächer der oberen Stockwerke. Daß diese gewaltige innere Transformation jemals außer acht gelassen und der radikale Wandel, den sie bewirkt hatte, der Werkzeugherstellung zugeschrieben werden konnte, erscheint heute als unglaubliches Versäumnis.

Leslie White sagte richtig: »Die Fähigkeit, Symbole zu bilden, die vor allem in der artikulierten Sprache zum Ausdruck kommt, ist die Basis und Substanz allen menschlichen Verhaltens. Sie war das Mittel, womit die Kultur hervorgebracht wurde, und das Mittel zu deren Perpetuierung seit den Anfängen der Menschheit.« Das »Universum der Sprache« war das früheste menschliche Modell des Weltalls.

 

        Die Dinge ergeben einen Sinn  

 

Nur durch Andeutungen und unvollkommene Analogien kann man, selbst in der Vorstellung, den kritischen Augenblick in der Entwicklung des Menschen erfassen, da die äußerst abstrakten, aber fixierten Signale, die die Tiere benützen, durch bedeutungs­volle Gesten von größerer Aussagekraft und schließlich durch eine komplexe, geordnete Sprache ersetzt wurden.

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Bei der Erörterung des Rituals versuchte ich darzustellen, wie das »Denken« beschaffen war, bevor der Mensch es in Worte fassen konnte; aber nur von Gehirnverletzungen Genesene besitzen ein schattenhaftes Äquivalent dieser Erfahrung — sobald sie jedoch Worte dafür finden, leben sie nicht mehr in der vorsprach­lichen, vormenschlichen Welt.

Nicht daß es dem tierischen Bewußtsein an rationalen Assoziationen und an gesammeltem Wissen, verstärkt durch bestimmte Signale und passende Reaktionen, fehlen würde. George Schaller berichtet, daß er bei einer unerwarteten Begegnung mit einem furchterregenden Gorillamännchen sein Leben vermutlich dadurch rettete, daß er sich an die Bedeutung einer Gorilla-Geste erinnerte: Langsames Kopfschütteln ist das Signal für Abbruch der Feindseligkeiten. Als Schaller auf diese Weise den Kopf schüttelte, wandte der Gorilla sich ab.

Tatsächlich hat die Natur den Weg gebahnt für die frühesten Versuche des Menschen, Bedeutung auszu­drücken; denn es gibt eine ursprüngliche Semantik, die allen spezifischen Signalen und Zeichen voraus­geht. Die »Semantik der konkreten Existenz«, wie man sie nennen könnte, ist grundlegend für alle Sprachen und Interpretationsarten.

Jedes Gebilde, sei es ein Stern oder ein Stein, eine Fliege oder ein Fisch, spricht für sich selbst: Form, Größe und Charakter identifizieren und symbolisieren es in seiner Konkretheit; durch Assoziation bestimmen Form und Charakter seine Bedeutung für andere, höhere Organismen, die ihm begegnen. Ein Löwe sagt »Löwe« durch seine Gegenwart, weit eindringlicher als das Wort »Löwe«, selbst wenn man es schreit; und sein Gebrüll, eine Abstraktion, warnt durch Assoziation vor der Gefahr, die von ihm droht. Es bedarf keiner Worte, eine Antilope in die Flucht zu jagen. Frei umherstreifende Tiere leben in einer Umwelt voller Bedeutungen; von der richtigen Deutung dieser mannigfachen konkreten Bedeutungen hängt ihr physisches Überleben ab. Mit Hilfe eines elementaren Systems von Signalen — Schreien, Gebell, Gesten — übermitteln sie ihren Artgenossen Botschaften: Friß! Flieh! Kämpfe! Folge mir!

In Swifts Lagadischer Akademie schlägt die Sprachschule vor, die Wörter überhaupt abzuschaffen; in der neuen »Pop«-Sprache, von den Professoren der Akademie erfunden, treten Dinge an die Stelle von Wörtern. Wie so oft in der Satire, weist dies auf die wichtige Tatsache hin, daß die konkrete Erfahrung jedes Tieres, einschließlich des Menschen, auch ohne Dazwischenschaltung von Symbolen »einen Sinn ergibt«, sofern das Lebewesen wach und empfänglich ist.

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Diese Swiftsche »Symbolik der Dinge« hat tatsächlich tiefe Spuren in der Sprache hinterlassen, von denen nur eine speziell konstruierte Sprache wie die der Mathematik sich freimachen konnte; denn die »Symbolik der Dinge« ist im wesentlichen die Sprache der Mythen, der Metaphern, der bildenden Kunst und schließlich der alten Hieroglyphenschrift. Wie verfeinert auch die höchsten Abstraktionen des Malers oder Bildhauers sein mögen, immer schöpfte die Kunst aus der Symbolik des Konkreten.

Symbolfiguren sind in erster Linie lebende Figuren. Ein König wird durch einen Stier dargestellt, weil der Stier physische Kraft, sexuelle Potenz und Dominanz verkörpert. Diese Methode der Darstellung stützt sich sogar zum Teil auf Abstraktionen, wie eine Untersuchung von Backhouse aus dem Jahre 1843 zeigt, die Sollas in Ancient Hunters zitiert: »Eines Tages beobachteten wir eine Frau, die Steine aneinanderfügte; sie waren flach, oval, etwa fünf Zentimeter lang, mit roten und blauen Linien in verschiedenen Richtungen markiert. Sie stellten, wie wir erfuhren, abwesende Freunde dar, und ein Stein, größer als die anderen, repräsentierte eine dicke Frau auf Flinders Island.«

Diese Art der konkreten Darstellung ist nicht völlig verschwunden. Während ich dies schreibe, vermittelt eine Anordnung steinerner Briefbeschwerer auf meinem Schreibtisch immer noch die gleichen primitiven Botschaften von fernen Orten und verstorbenen Menschen. Das Pinguinmännchen, das seinen Wunsch nach Paarung anzeigt, indem es einen Stein zu einem auserwählten Weibchen hinrollt, bedient sich eines Symbols. Wäre jedoch die menschliche Kommunikation innerhalb dieses konkreten Bezugsrahmens verblieben, so wäre das »Sprechen« wie ein Schachspiel mit wirklichen Läufern und Springern gewesen, bei dem ein Zug mit dem Turm eine ganze Armee von Bauern erfordert hätte. Erst als die Semantik der als abstrakt aufgefaßten Dinge symbolischen Lauten gewichen war, besaß der Verstand ein wirkungsvolles Mittel, um Erfahrung zu repräsentieren.

Von diesem Gesichtspunkt war es äußerst wichtig für die geistige Entwicklung, daß der Mensch, nachdem er seinen ursprünglichen Platz in der Tierwelt verlassen hatte, zu einem weit größeren Territorium Zutritt besaß als irgendein anderes Tier; er war nicht nur mit der Fähigkeit ausgestattet, einen größeren Teil der konkreten Welt fesselnder Erscheinungen und identifizierbarer Gegenstände — Steine, Pflanzen, Tiere und Menschen — wahrzunehmen, sondern diese waren auch in überwältigender Menge und Vielfalt vorhanden. Hätte der Mensch ursprünglich eine Welt bewohnt, so eintönig wie ein Wolken­kratzerviertel, so ausdruckslos wie ein Parkplatz, so leblos wie eine automatisierte Fabrik, dann ist es zweifelhaft, ob er genügend differenzierte Sinneseindrücke empfangen hätte, um Bilder zu behalten, eine Sprache zu formen und Gedanken zu entwickeln.

Die jüngsten Forschungen über die Kommunikation unter geselligen Tieren und Vögeln haben gezeigt, welch ein großer Unterschied zwischen den verschlüsselten Mitteilungen dieser Lebewesen und selbst den einfachsten Formen menschlicher Sprache besteht. Von Frisch, der einen bestimmten Code, den der sozial hochentwickelten Honigbienen, gelöst hat, stellt deren Tanzritual nicht einer Sprache gleich, obwohl es wahrhaft symbolische Kommunikation ist.

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Tiersignale werden bedeutungslos, wenn sie von der konkreten Situation, die sie hervorruft, losgelöst werden. Außerdem stammen diese Signale hauptsächlich aus der vergangenen Erfahrung der Spezies: Sie nehmen weder neue Erfahrung vorweg, noch erschließen sie einen Weg zu ihr. Konrad Lorenz weist darauf hin, daß die Tiere, als Ergänzung ihres dürftigen Vokabulars und ihrer fixierten Reaktionen, gelernt haben, andere Tiere genauer zu beobachten und deren Absichten aus den feinsten physiologischen Indikatoren »abzulesen« — aus einem unwillkürlichen Zittern oder aus dem Hauch eines Sekrets.

Der Mensch muß sich in einem sehr ähnlichen Zustand befunden haben, ehe er lernte, sein Ausdrucks­repertoire zu erweitern; ja, diese körperlichen Signale sind immer noch nützlich im zwischenmenschlichen Kontakt, besonders wenn es sich um einen persönlichen Gefühlszustand handelt, der aus einem Zucken, einem Stirnrunzeln oder Erröten abgelesen werden kann. Aber als Spätling unter den Primaten hatte der Mensch das starre Instinktvokabular weitgehend abgelegt; gerade der Mangel an präformierten Reflexen zwang ihn, neue Gesten und Laute zu erfinden, die in ungewohnten Verbindungen angewandt und von seinen Artgenossen verstanden werden konnten.

Und da erwies sich der Widerstand des Menschen gegen fügsame Anpassung, seine Rebellion, wie Patrick Geddes es nannte, als Ansporn zu Erfindungen. Aber mit diesem Streben waren endlose Schwierigkeiten verbunden; denn wenn er auch mehr Ausdauer im Plappern besaß als jeder Affe, so kann doch die Muskelkontrolle, die diesen Strom infantiler Laute in artikulierte Sprache verwandelte, nicht leicht erreicht worden sein.

Ehe phonetische Symbole geformt wurden, mögen Traumbilder als eine Art Ersatzsprache gedient haben: die einzige Symbolsprache, die der Mensch von Anfang an besaß und die ihm doch bis heute geblieben ist, nur geringfügig modifiziert durch aktuelle Erfahrungen und Erinnerungen. Nun aber, da uns die Psychoanalytiker einen Schlüssel zur Traumsymbolik gegeben und uns einiges über die seltsame, absichtlich irreführende Funktionsweise dieser Sprache gelehrt haben, begreifen wir, welch eine verwirrende Ausdrucksweise sie ist und wie wenig sie sich als Denkinstrument eignet. Denn der Traum kann Gedanken nur in der verfremdeten Form von Ereignissen darstellen, als bizarre Maskerade. Der Traum war möglicherweise der erste Schimmer einer Bedeutung, die über die Sinne hinausging; aber nur wenn er, durch Worte und Bilder, mit bewußter Erfahrung verbunden wurde, konnte er sinnvoll genutzt werden.

Will ich also die Erfolge des Menschen mit der Sprache erklären, dann muß ich zu zwei Punkten zurückkehren, die ich bereits angeführt habe. Erstens: Der Mensch mußte vor allem seine eigene befreite Persönlichkeit entwickeln und bilden; und die Sprache taugte besser als jede Kosmetik oder Chirurgie dazu, das neue, nichttierische Ich zu identifizieren und zu definieren und ihm einen umgänglicheren Sozialcharakter zu geben.

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Zweitens: Die tiefe Befriedigung, ja infantile Lust an der Wiederholung, einer der hervorstechendsten biologischen Wesenszüge des Frühmenschen, schuf die Grundlage für die Sprache wie auch für das Ritual, wobei dieses auf einem niedrigeren Niveau weiterhin als universelles gesellschaftliches Bindemittel nützlich blieb.

Die Sprache, so ist anzunehmen, ist aus vielen einzelnen Experimenten und Versuchen entstanden, wobei es viele Rückfälle in Inkohärenz und Mißverständnisse gab; es spricht alles dagegen, daß sie sich an nur einem Ort oder zu einer bestimmten Zeit entwickelt hat, durch irgendeine einzelne Tätigkeit oder Methode, oder um nur eine einzelne Funktion zu erfüllen. Von Zeit zu Zeit mag ein plötzlicher Ausbruch phonetischer Erfindung oder semantischer Einsicht stattgefunden haben — etwa die Trennung langer Lautketten in einzelne Wörter, wie Jespersen meint.

Eine historische Bestätigung findet diese Hypothese vom Auftreten einzelner Sprachgenies in der Leistung eines analphabetischen Cherokee-Häuptlings namens Sequoyah, der ein zusammengesetztes Silbenalphabet mit vielen neuen Zeichen erfand, um die Sprache seines Stammes in Schrift zu übertragen. Aber der beste Beweis für die Erfindungsgabe des Frühmenschen ist das Produkt selbst. Keine noch so komplexe Maschine, die je gebaut wurde, kommt an die Einheitlichkeit, Vielfalt, Anpassungs­fähigkeit und Effizienz der Sprache heran — ganz zu schweigen von ihrer einzigartigen Fähigkeit methodischen Wachstums, die aus dem menschlichen Organismus selbst stammt.

Zu Beginn also waren Ritual und Sprache die Hauptmittel zur Erhaltung der Ordnung und zur Etablierung der menschlichen Identität; eine Stärkung der kulturellen Kontinuität und Vorhersagbarkeit, die Grundlage für weitere Kreativität, war der Beweis ihres Erfolges. Später wurden diese Funktionen zum Teil von der bildenden Kunst, der Baukunst, der sozialen Organisation, den Moralnormen und dem kodifizierten Recht übernommen. Und in dem Maß, als die anderen Künste sich entwickelten, konnte die Sprache ihre spezifische Funktion besser erfüllen: Erfahrung in Begriffen und Begriffsstrukturen von zunehmender Komplexität zusammenzufassen. Mit Hilfe der Sprache organisierte jede Gruppe allmählich ihre unmittelbaren Eindrücke, Erinnerungen und Erwartungen zu einem hochgradig individualisierten und artikulierten Modell, das weiterhin neue Erfahrungen erfaßte und absorbierte, wobei es ihnen seinen eigenen idiomatischen Stempel aufdrückte. Hauptsächlich durch die Schaffung dieser komplizierten Bedeutungs­strukturen meisterte der Mensch schließlich — obwohl immer noch unzulänglich — die Kunst, Mensch zu werden.

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Sobald die Sprache einmal in jeder Tätigkeit vermittelte, konnte der Mensch der Aufforderung Whitmans, wieder mit den Tieren zu leben, nicht mehr nachkommen, ohne seine Verbindungen mit der wirklichen Welt zu verlieren — mit jener, die er in seinem eigenen Denken aufgebaut hatte. Die symbolisch, hauptsächlich durch Sprache organisierte Welt wurde für alle spezifisch menschlichen Tätigkeiten wichtiger, wesentlicher als die rohe »Außenwelt«, die unmittelbar von den Sinnen aufgenommen wurde, oder die private »Innenwelt«, die sich im Traum manifestierte. So wurde die Übermittlung der Sprache von Generation zu Generation die Hauptaufgabe der elterlichen Fürsorge, und das Erlernen der Sprache der Gruppe wurde für die Sippen­organisation wichtiger als die physische Blutsverwandtschaft. Weit mehr als die Werkzeuge hat die Sprache die menschliche Identität konstituiert.

Sogar wenn alles sonstige Wissen um die Geschichte des Menschen verloren gegangen wäre, würden Wortschatz, Grammatik und Literatur aller jetzigen Sprachen von einem Geist zeugen, der unendlich hoch über dem Niveau jedes anderen Lebewesens liegt. Und wenn als Folge einer plötzlichen Mutation die Nachkommenschaft der gesamten Menschheit taubstumm geboren würde, wäre das Resultat fast so verhängnisvoll wie das einer nuklearen Kettenreaktion.

Die meisten Werkzeuge, die bis vor fünftausend Jahren hergestellt wurden, waren nach heutigen Begriffen überaus primitiv. Aber, wie bereits gesagt, die damaligen Sprachen der Ägypter und Sumerer waren in ihrer Struktur keineswegs primitiv, wie auch die Sprachen der niedrigsten heute bekannten Stämme nichts Primitives an sich haben. Frühviktorianische Beobachter »wilder« Völker waren kaum bereit, ihnen eine Sprache zuzutrauen — selbst Darwin irrte hier. Als er den Eingeborenen von Feuerland zuhörte — kleinen Gruppen, fast ohne alle materielle Kultur außer dem Feuer, nur mit einem Seehundfell zum Schutz gegen Kälte bekleidet —, hielt er ihre Sprache kaum für menschlich. Aber ein englischer Geistlicher, Thomas Bridges, der von 1861 bis 1879 bei einem dieser Stämme, den Yahgans, lebte, registrierte ein Vokabular von dreißigtausend Yahgan-Wörtern.

An ihrer Technik gemessen, hätten die Yahgans kaum noch die Stufe der Biber erreicht; nur ihre Sprache wies sie als Menschen aus. Obwohl ein anderes Volk, die australischen Arunta, vierhundertfünfzig Hand- und Armzeichen entwickelte, bewiesen nur ihre gesprochenen Worte hinlänglich, daß sie mehr waren als außergewöhnlich intelligente und ausdrucksfähige Tiere.

Viele unzivilisierten Sprachen sind, wie Benjamin Whorf zeigte, von einer grammatikalischen Komplexität und metaphysischen Subtilität, die an sich von dem überwältigenden Bedürfnis ihrer Träger zeugen, das Rohmaterial der Erfahrung zu einem verständlichen, reichgegliederten Ganzen zu formen, das die gesamte sichtbare und unsichtbare Wirklichkeit umfaßt.

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Diese gewaltigen symbolischen Strukturen wurden durch Laute gebildet und übermittelt eine Höchst­leistung des Abstrahierens, Assoziierens, Memorierens, Wiedererkennens und Erinnerns, die zuerst eine mühsame kollektive Anstrengung erfordert haben muß. Diese Anstrengung setzte sich lange nach der Erfindung der Schrift in der Umgangssprache fort, und sie findet in jeder lebenden Sprache heute noch statt.

Die Periode, in der die ursprünglichen Sprachen entstanden, scheint demnach die Zeit der intensivsten geistigen Tätigkeit der Menschheit gewesen zu sein einer Tätigkeit, die auf so hohem Abstraktionsniveau vermutlich bis zur Neuzeit nicht ihresgleichen hatte. Ohne solch eine beharrliche Konzentration auf die Bildung des Geistes und die Intensivierung des Bewußtseins hätten alle Werkzeuge der Welt den Menschen nicht über das Niveau der Ameisen und Termiten emporgehoben. Die Erfindung und Vervollkommnung der Sprache war das Werk unzähliger Generationen, die materiell in sehr dürftigen Umständen lebten, weil der Geist des Menschen tagaus, tagein mit Wichtigerem beschäftigt war und die anderen Komponenten der Kultur warten mußten.

So sehr ich auch die grundlegende Bedeutung von Traum, Ritual und Mythos für die Entstehung der Sprache und deren soziale Funktion betont habe, übersehe ich doch nicht die Rolle, welche die materiellen Interessen des primitiven Menschen in seiner Entwicklung gespielt haben. Nachdem die anfänglichen Versuche verbaler Symbolisierung einigen Erfolg gezeitigt hatten, würde man natürlich erwarten, daß diese neue Errungenschaft auf viele andere Bereiche menschlicher Tätigkeit übertragen worden wäre, zu deren immensem Vorteil. Aber meiner Meinung nach fand diese sekundäre Anwendung erst relativ spät statt: Die primäre Anstrengung mag mehr als eine Million Jahre gedauert haben, wenn wir die Spezialisierung und Lokalisierung der Sprachfunktionen und die koordinierte motorische Kontrolle im Gehirn mitrechnen; diese Auffassung wurde von Dr. Wilder Penfield und anderen Forschern während der letzten dreißig Jahre vertreten.

Wenn man die Entwicklung der Sprache hypothetisch rekonstruiert, ist man natürlich versucht, sie mit einem spezifischen Bedürfnis oder mit einer spezifischen Lebensweise in Verbindung zu bringen. Ein Linguist, Revesz, geht dabei so weit, zu sagen, daß »Sprache erst entstand, als sie notwendig war, und zu Zwecken, für die sie benötigt wurde«. Aber außer in dem Sinn, daß alle organischen Tätigkeiten, auch die unbewußten, zweckvoll sind, ist das keineswegs erwiesen. Jene, die an der utilitaristischen Erklärung festhalten, verbinden den erweiterten Gebrauch von Sprache mit der vermehrten Verwendung von Werkzeugen und der starken Zunahme der Gehirnkapazität, die vor etwa hunderttausend Jahren eingetreten ist.

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Zweifellos bestand eine Wechselwirkung; aber die Werkzeugherstellung als solche fördert die verbale Ausdrucksfähigkeit nur wenig, und das meiste erforderliche Wissen kann ohne verbale Instruktion weitergegeben werden, so wie man beispielsweise einen Knoten machen lernt.

Manche Anthropologen und Biologen neigen heute dazu, die Entstehung der Sprache mit den kooperativen Jagdtechniken in Verbindung zu bringen, die in der Eiszeit entstanden sein müssen, als der Mensch in Europa und Asien gezwungen war, Großwild zu jagen das Wollhaarmammut, den Bison, das Rhinozeros und das Pferd. Diese Hypothese ist um so attraktiver, als es scheint, daß die Gehirnradiation ungefähr zu jener Zeit Stattgefunden hat. Oberflächlich betrachtet, scheint die Jagd eine bessere Erklärung zu bieten als die bloße Werkzeugherstellung; man kann tatsächlich vermuten, daß damals eine extrem primitive Form der Kommunikation entstand: Befehlsworte. Diese Form hat sich bis heute im Imperativ erhalten: ein nützliches Vokabular, aber keine Sprache.

Doch das hypothetische Vokabular der Jagd kann, wie das spätere ähnliche Vokabular der militärischen Organisation, in einige wenige Laute gefaßt werden; die Notwendigkeit einer prompten Reaktion beseitigt jede Möglichkeit der Vervollkommnung oder Nuancierung. Auch für die Abstimmung des Vorgehens in der Umzingelung und Erlegung von Wild benötigt man nur einige wenige verständliche Wörter und Laute. Das war zweifellos schon ein wertvoller Beitrag zur Kommunikation, besonders für eine Sprache, die dazu bestimmt war, das Handeln durch dringliche Weisung, Warnung, Ermahnung oder Untersagung zu kontrollieren; und es ist immer noch nützlich in Situationen der Gefahr, wenn die Notwendigkeit prompten Handelns den Imperativ, Kürze und Gehorsam erfordert. Doch sogar zum Zweck der organisierten Jagd und Nahrungssuche benötigte man mehr als ein Häuflein einfacher Wörter für die unmittelbaren Aufgaben; denn eine Jagd will geplant sein, besonders wenn das Wild in einen Hinterhalt gelockt oder in eine Falle getrieben werden soll. In der Höhlenkunst gibt es vereinzelte Hinweise auf das Durchspielen der Jagdsituation im Ritual, wahrscheinlich als vorbereitende Probe oder auch als nachfolgende Feier.

Hier möchte ich noch einmal nachdrücklich hervorheben, daß formale gemeinschaftliche Zeremonien für die Schaffung und Verfeinerung des Wortschatzes und der Grammatik des paläolithischen Menschen von wesentlicher Bedeutung waren, zumindest von der Aurignac-Kultur an. Denn während die »Sprache des Konkreten« und Befehlswörter für unmittelbare Zwecke ausreichen mögen, kann nur eine umfassende Sprachstruktur die Vergangenheit in Erinnerung rufen, die Zukunft vorwegnehmen oder das Unsichtbare und das Entfernte ausdrücken. Eine allgemeine Überlegenheit in symbolischem Denken hat möglicherweise dem Homo sapiens einen Auslesevorteil gegenüber dem früheren Neandertaler gegeben.

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Obwohl die Wörter die Bausteine der Spracharchitektur sind, macht doch der Inhalt eines Wörterbuchs noch keine Sprache; und das karge Vokabular der Befehlswörter, die man zum Jagen braucht, ist bestenfalls als Annäherung an Sprache zu bezeichnen. Getrennt von der Jagdtätigkeit, die diesen Wörtern einen Sinn gab, wären sie genauso nutzlos wie der Lockruf eines Vogels außerhalb der Paarungszeit. Der gleiche Einwand gilt übrigens in noch höherem Maße für jene Theorien, welche die Entstehung der Sprache auf Interjektionen, Füllwörter oder Imitationslaute zurückführen.

Es ist sogar wahrscheinlich, daß der Sammler einen bedeutenderen Beitrag geleistet hat als der Jäger mit seinen Befehlswörtern, denn er hat vielleicht noch vor den Eiszeiten eine der frühesten und nützlichsten Funktionen der Sprache beigesteuert: Identifizierung durch Benennung. Diese Phase der Identifizierung ist eine der frühesten im Sprechenlernen des Kindes. Muster­identifizierung und Wiedererkennen sind die ersten Schritte zur Erkenntnis.

Was wir brauchen, um zu zeigen, wie schließlich eine vollausgebildete Sprache entstand, ist eine Erklärung von der Art jener, die in jüngster Zeit die Darwinsche Evolutionslehre übertrumpft hat: ein zusammengesetztes Modell, das die vielen unterschiedlichen Faktoren, die auf den einzelnen Stufen der Menschheitsentwicklung zur Sprache beitrugen, umfaßt und auf einen Nenner bringt und alles, was wir über Spracherwerb — und Sprachverlust — des heutigen Menschen wissen, mit dem verbindet, von dem wir vermuten, daß es schon zu einem frühen Zeitpunkt in den Familien und Stämmen dazu beigetragen hat, diesen speziellen Aspekt der Kultur nach und nach auf den höchsten Grad der Vollendung zu bringen. Ich besitze nicht die linguistische Qualifikation für diese Aufgabe; möglicherweise besitzt sie bislang noch niemand. Aber sogar ein inadäquater Versuch, das Gesamtbild grob zu skizzieren, mag nützlicher sein als ein exakt gezeichnetes Fragment, das keinen Bezug auf den prähistorischen Sozialhintergrund hat.

 

  Die Geburt der menschlichen Sprache  

 

Die Biographie von Helen Keller, die blind und taubstumm geboren wurde und in ihrer frühen Entwicklung fast bis zum neurot­ischen Zusammenbruch frustriert war, wirft einen Lichtstrahl auf den Ursprung der Sprache. Obwohl häufig angeführt, ist dies zu wichtig, um übergangen zu werden.

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Fast sieben Jahre lang lebte Helen in Dunkelheit und geistiger Isolierung, nicht nur ohne Anhaltspunkte zur Identifizierung ihrer Umwelt, sondern oft von wilder Wut erfüllt, weil sie ihre Gefühle nicht artikulieren oder mitteilen konnte. Zwischen ihr und der Außenwelt gingen keinerlei verständliche Botschaften hin und her. (Sehr ähnliche Zustände wurden vor kurzem unter Laboratoriumsbedingungen experimentell erforscht; und selbst eine kurze Periode einer derartigen blinden und stummen Gefangenschaft, in der weder Botschaften ausgetauscht noch auch nur sensorische Hinweise empfangen werden, kann einen raschen Zusammenbruch der Persönlichkeit verursachen.)

Dann kam für Helen Keller der berühmte Augenblick, da sie plötzlich die Wahrnehmung von Wasser mit den symbolischen leichten Schlägen, die ihre Lehrerin ihr auf die Handfläche gab, verbinden lernte. Dadurch dämmerte in ihr die Bedeutung eines Wortes auf: Sie fand einen Weg, Symbole mit Dingen, Wahrnehmungen, Handlungen und Ereignissen zu verkoppeln. Der abgenützte Terminus Durchbruch trifft auf diesen Augenblick sicherlich zu.

Man kann nicht sagen, wo, wann oder wie ein solcher Durchbruch in der Entwicklung des Menschen stattgefunden hat, oder wie oft die Öffnung in eine Sackgasse geführt und den Menschen verwirrt zurück­geworfen haben mag. Gewiß, der Mensch vor der Entstehung der Sprache war in einer besseren Lage als Helen Keller; denn seine Ohren und Augen waren offen, und die Dinge um ihn herum hatten Bedeutung, bevor die Wörter ihnen Flügel gaben.

Aber in anderer Hinsicht besaß die kleine Helen dem Urmenschen gegenüber einen großen Vorteil: die intelligente Gesellschaft anderer Menschen, die im Vollbesitz der Kunst waren, Zeichen und Symbole zu verwenden, nicht nur in Form von Lauten, sondern auch durch Gestik und Berührung. Daher ist die Lage des Urmenschen ungefähr mit der Helen Kellers vergleichbar, und man kann annehmen, daß jener in einem ähnlichen Moment damit meinen wir viele wiederholte Momente in vielleicht Tausenden und Abertausenden Jahren eine ähnliche Erleuchtung erfuhr und wie sie von den neuen Möglichkeiten, welche die Wörter eröffneten, verblüfft war. Sobald einmal die tierischen Signale in komplexe menschliche Botschaften übersetzt werden konnten, erweiterte sich der gesamte Horizont der Existenz.

Bei der Bewertung dieses letzten Schrittes, der einen ausgedehnten und kontinuierlichen Dialog zwischen dem Menschen und der von ihm bewohnten Welt, wie auch zwischen den Mitgliedern einer Gruppe ermöglichte, darf man die Fortdauer des vorhin beschriebenen früheren Stadiums nicht vergessen. Ich meine das fundamentale Bedürfnis nach autistischem Ausdruck: eine äußere Manifestation der beständigen neuralen Aktivität des menschlichen Organismus und dessen erhöhte Empfänglichkeit.

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Dieses orale Bedürfnis wurde, wie Edward Tylor vor langer Zeit scharfsinnig bemerkte, bewundernswert illustriert durch den Fall von Laura Bridgman, 

»die, da sie sowohl blind als auch taubstumm war, Worte nicht einmal durch Beobachtung der Mundbewegungen nachahmen konnte. Doch vermochte sie Laute zu stammeln, wie etwa <Hu-u-f-f> für Erstaunen und eine Art Kichern oder Grunzen als Zeichen der Befriedigung. Wenn sie nicht berührt werden wollte, pflegte sie <F!> zu sagen. Ihre Lehrer versuchten sie an der Bildung unartikulierter Laute zu hindern, aber sie empfand den starken Wunsch, sie von sich zu geben, und pflegte sich manchmal einzuschließen, um >sich an einer Überfülle von Lauten zu erfreuen<«.

Ein letzter Schritt blieb noch zu tun; doch der ging so langsam vor sich, daß die Resultate schon lange in Verwendung waren, bevor sie ins Bewußtsein eindrangen. Dies war der Übergang von der Umsetzung unmittelbar wahrgenommener Gegenstände und Vorgänge in Symbole zur Schaffung neuer Wesenheiten und Situationen im Geist, allein durch Kombination von Symbolen. In diesem letzten Wandel waren es nicht mehr die einzelnen Wörter oder Sätze, die Bedeutung übermittelten, sondern die durch Wortkombinationen gebildeten Strukturen, die je nach Sprecher, Anlaß und Inhalt variierten.

Daß abstrakte Laute wirkliche Menschen, konkrete Orte und Gegenstände ins Bewußtsein rufen konnten, war die fundamentale magische Eigenschaft der Sprache; aber eine noch stärkere Magie lag darin, daß die gleichen oder ähnliche Laute, anders organisiert, vergangene Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen oder ganz neue Erfahrungen zu projizieren vermochten. Dies war der Übergang von den geschlossenen Codes der Tierwelt zu den offenen Sprachen der Menschen — ein Übergang voll unendlichen Möglichkeiten, die endlich den unermeßlichen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns entsprachen. Als die Sprache diesen Punkt erreicht hatte, wurden sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft zu einem lebenden Teil der Gegenwart.

In der weiteren Entwicklung der Sprache blieben deren Hauptkomponenten — autistischer Ausdruck, soziale Gemeinschaft, Gruppenidentifikation und intelligente Kommunikation — erhalten und in Wechselwirkung; in der lebendigen Sprache sind sie immer noch fast untrennbar, obwohl für die praktischen Zwecke der Informationsübermittlung die drei erstgenannten wenig oder gar keine Bedeutung haben. Der ursprünglich expressive Aspekt der Sprache, der in Färbung, Tonfall, Rhythmus und Betonung der Worte fortlebt, kann nur im mündlichen Gespräch zur Geltung gebracht werden; und der Mensch würde ein wichtiges Element seines Wesens einbüßen, wenn er durch einseitige Kommunikation und pragmatische Überbetonung des abstrakten Denkens den Kontakt mit jenen Teilen seiner Natur, die sich zu solcher Verarbeitung nicht eignen, verlöre.

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Und wie wichtig war dieser intime Ausdrucksbereich in der Entwicklung des Menschen! In der ursprünglichen Formung des menschlichen Charakters, in der Herstellung der Gruppenidentität und in der Herausbildung eines Solidaritätsbewußtseins, das nicht nur auf Verwandtschaft oder auf dem gemeinsamen Bewohnen eines bestimmten Gebietes beruhte, spielte das begriffliche Denken eine geringe Rolle. Die formative Funktion der Sprache in der Entwicklung eines vollmenschlichen Ichs geht verloren, wenn die Sprache auf ein bloßes Kommunikationssystem reduziert wird. Sprachen zeigen trotz ihrem Reichtum an abstrakten Begriffen immer noch Spuren ihrer ursprünglichen Aufgabe: der Disziplinierung des Unbewußten, der Herstellung einer kohärenten, stabilen Sozialordnung, der Festigung des sozialen Zusammenhalts.

Man beachte, wie die feinsten Nuancen in Tonfall und Aussprache, die alle Wörter und Sätze färben, die »In-Gruppe« kennzeichnen, sei es die eines Stammes, einer Kaste, eines Dorfes, einer Region oder einer Nation; während ein bestimmter Wortschatz sehr schnell Status und Beruf enthüllt, ohne daß weitere Beweise nötig wären. Keine andere Kunst übertrifft die Sprache darin, jedes Gruppenmitglied zu einem Beitrag zu ermutigen; keine andere Kunst drückt Individualität so bestimmt und so ökonomisch aus.

Während Vögel Warnlaute benutzen, um andere aus ihrem Territorium auszuschließen, diente die Sprache dem Menschen lange Zeit als vereinheitlichendes Mittel, um seine einzelnen Gemeinschaften in ihren Grenzen zu halten. Jede Gruppe ist von einer unsichtbaren Mauer des Schweigens umgeben, da die benachbarten andere Sprachen sprechen. Die Vielzahl existierender Sprachen und Dialekte (insgesamt etwa viertausend), trotz der vereinheitlichenden Wirkung von Handel, Transport und Reiseverkehr, weist darauf hin, daß die Ausdrucks- und Gefühlsfunktionen der Sprache für die Bildung einer Kultur ebenso wichtig waren wie die Funktion der Kommunikation; zumindest verhinderten sie ein Verflachen der menschlichen Möglichkeiten durch Mechanisierung. Daher sind Eroberer stets darauf bedacht, die Volkssprache der Besiegten zu unterdrücken; und das wirksamste Verteidigungsmittel gegen eine solche Unterdrückung ist, wie Rousseau als erster feststellte, die Wiederbelebung der Nationalsprache und ihrer Literatur.

 

  Die Pflege der Sprache  

 

Unsere Spekulationen über die Anfänge der Sprache wären wertlos, könnten sie nicht auf eine Anzahl zeitgenössischer Beobachtungen stützen obgleich die Sprachentwicklung der letzten hunderttausend Jahre zweifellos genetische Veränderungen bewirkt hat, die im Gesichtsausdruck und im Geplapper des Kleinkindes, ehe es Worte zu bilden beginnt, festgehalten sind.

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Nachahmung, »Artbewußtsein«, Identifikation, rituelle Ordnung — wo und wann hat das begonnen? Niemand kann es sagen. Wenn Jespersen den Ursprung der Sprache im Liebesspiel aufspürt, kann man dies, ähnlich wie die Befehle der Jäger, als eine von Hunderten verschiedenen Quellen akzeptieren; aber die archetypische Situation des Sprechenlernens liegt, wie er auch selbst erkannte, in der Beziehung von Mutter und Kind. Schon früh entwickelt das Kind die körperlichen Ansätze zu symbolischem Ausdruck — Greifen und Packen, Gurgeln und Lächeln, Heulen und Plärren.

Durch Körperbewegungen, Stimme und Gesichtsausdruck ruft das Baby eine Reaktion des für ihn wichtigsten Teils der Umwelt, seiner Mutter, hervor; und hier beginnt der grundlegende menschliche Dialog. Zuerst sind Mutter und Milch eins. Aber an dem Punkt, wo »Mama« die Mutter und nicht Milch bringt, und wo »Milch« die Milch und nicht die Mutter bringt, entsteht eine langsam begriffene, aber oft wiederholte Situation, die Helen Kellers plötzlichem Durchbruch entspricht: Bestimmte Laute stehen für Dinge, Beziehungen, Handlungen, Gefühle und Wünsche. Hier brechen die unausgegorenen »Wauwau«- und »Dingdong«-Theorien über den Ursprung der Sprache völlig zusammen, denn das wahre Symbol, eine Verbindung zwischen innerem Bedürfnis und äußerer Erfahrung, tritt endlich hervor.

Diese intime Familiensituation scheint vielleicht weit entfernt von dem gemeinschaftlichen rituellen Ausdruck, den Susanne Langer und ich für grundlegend halten; sie ist es jedoch nicht, wenn man bedenkt, daß die Erziehung des Kleinkindes, noch bevor es aus den Armen der Mutter entlassen wird, im Umkreis einer größeren Erwachsenengruppe stattfindet. Margaret Mead hat dieser erweiterten Umgebung, in der die Mutterschaft fungiert, gebührende Beachtung geschenkt. Sie bemerkt: »Wenn ein Manus-Kind von einem Erwachsenen oder einem älteren Kind ein Wort sprechen lernt, ..... stimmt der Lehrer einen nachahmenden Singsang an: Das Kind sagt >pa piven<, der Erwachsene sagt >pa piven< ..... bis zu sechzigmal. Hier kann man sagen, daß Lernen in der Nachahmung einer spezifischen Handlung steht ..... Nachahmung dieser Art beginnt wenige Sekunden nach der Geburt, wenn eine der beistehenden Hebammen .... den Schrei des neugeborenen Kindes imitiert.« 

Dies ist die erste »Einprägung« von Ordnung, moralischer Autorität und Bedeutung.

 

Weder die erste noch auch die hundertste Assoziation zwischen Wort, Bewegung, Gestik und traum­geleitetem inneren Zustand dürfte den ersten schwachen Schimmer von zusammenhängender Bedeutung erzeugt haben. Wahrscheinlich brauchte es Jahre und Jahrhunderte solchen Bemühens, getragen nur von Handlungen, die lange Zeit um ihrer selbst willen genossen wurden, um die Sprache hervorzubringen.

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Ohne die Grundlage eines starren, ja zwanghaften Rituals hätte das unerwartete Resultat — sinnvolle Laute — nie erzielt werden können: eine ganze Welt von Bedeutungen, die eine zunehmend bedeutungsvolle Welt offenbarte. Was immer auch ihre vielen möglichen Quellen waren, die Herausbildung der Sprache war keine Reihe glücklicher Zufälle, kein Ferienhobby und keine Erholung nach der Arbeitszeit: Sie war vielmehr die ununterbrochene, zielbewußte Beschäftigung des Frühmenschen vom Moment seines Auftauchens an.

Ohne diese mühsamen, imitativen, repetitiven Anstrengungen, die, wie ich annehme, in einem ursprünglich wortlosen, aber nicht lautlosen Ritual begannen, wäre die feine Koordinierung der Sprechorgane niemals ausreichend artikuliert geworden, um die stabilen phonetischen Elemente des Sprechens zu produzieren: Sprechen wäre eine unzusammenhängende Folge von Lauten geblieben, unnachahmbar und nutzlos. Deshalb war ein bestimmtes Maß an mechanischem Drill selbst für die einfachste Sprache essentiell; und ein solcher Drill muß weit durchgängiger gewesen sein als die Werkzeugherstellung oder die Jagd.

Aber wir dürfen den wichtigen Zusammenhang zwischen aller physischer Bewegung und dem Sprechen­lernen nicht übersehen; dieser Zusammenhang wurde auch von Psychologen entdeckt. Sie haben festgestellt, daß Kinder, deren Sprechfähigkeit verzögert oder gestört ist, diese durch Wiedereinübung des motorischen Verhaltens zurückgewinnen können, indem man sie wieder Kriechhaltung einnehmen läßt, jenes Stadium, das für gewöhnlich die ersten Sprechversuche begleitet oder ihnen ein wenig vorangeht.

Die australischen Ureinwohner scheinen diese wichtige Verbindung lange vor den modernen Forschern entdeckt zu haben — wie es aus der Sicht unserer Hypothese über den Primat des Rituals wahrscheinlich ist. Sobald ein Kind ein Jahr alt ist, berichten die Berndts, gerade bevor es sprechen lernt, pflegen die Großeltern ihm die Schritte eines einfachen Tanzes beizubringen. Auf diese Weise rekapitulieren die alten Leute eben die Assoziation, die zuerst zusammenhängendes Sprechen ermöglicht hat; das ist um so eher wahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß der primitive Tanz selbst eine repetitive Aktivität ist. Offensichtlich ist das Kind zum Ritual und zum Sprechen fähig, lange bevor es zur Arbeit fähig ist. Marxistische Linguisten haben diese offenkundige biologische Tatsache hartnäckig übersehen.

Während der Mensch sich auf diesem Weg von tierischen Signalen zu zusammenhängender menschlicher Sprache befand, konnte er unmöglich sein Ziel erraten, ehe er es schließlich erreicht hatte und die Resultate sah;

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tatsächlich besitzen wir erst heute ausreichende Information, um diesen Weg in feiner Gesamtheit zu überblicken und die unsichtbaren Etappen dieser Reise mit unserer Vorstellungsgabe einzufügen. Hatte der Mensch erst einmal die Anfänge der Sprache geschaffen, gab es kein Zurück mehr: Er mußte auf Biegen oder Brechen am Sprechen festhalten, denn er hatte viele seiner vorsprachlichen tierischen Reaktionen für immer verloren.

Bezeichnenderweise fehlen sogar schon den Schimpansen gewisse wichtige Instinktreaktionen: Sie verstehen nicht, sich zu paaren oder ihre Jungen zu pflegen, wenn sie nicht in der Gegenwart älterer Tiere aufgewachsen sind und den richtigen Kniff durch Nachahmung lernen. Wenn eine Gehirnverletzung die Sprechzentren in Mitleidenschaft zieht, ist auch der Rest der Persönlichkeit gestört, sofern nicht, wie es manchmal vorkommt, andere Teile des Gehirns diese spezielle Funktion übernehmen. Ohne sprachliche Assoziation ist die Welt, die man sieht, nicht länger so bedeutungsvoll, wie sie es für andere Tiere ist. In einem Fall beobachtete ich, daß der durch Senilität bedingte Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu sprechen, sogar die Illusion der Blindheit hervorrief: Was das Auge aufnahm, war »unsichtbar« geworden; es ergab »keinen Sinn« mehr. Fehlen die Worte, so verschwinden auch die Bedeutungsformen, die andere Tiere verwenden.

Die Sprache unterscheidet sich von isolierten Gesten und Zeichen, wie zahlreich diese auch sein mögen, dadurch, daß sie eine komplexe, weitverzweigte Struktur bildet, die in der Gesamtheit ihrer Begriffe ein Weltbild oder umfassendes symbolisches Gerüst darstellt, das viele Aspekte der Realität zu decken vermag; es ist keine statische Darstellung wie ein Bild oder eine Skulptur, sondern ein Film von Dingen, Ereignissen, Prozessen, Ideen und Zwecken, in dem jedes Wort von einer reichen Aura ursprünglich konkreter Erfahrung umgeben ist und jeder Satz einen gewissen Grad an Neuheit mit sich bringt, sei es auch nur deshalb, weil seine Bedeutung sich je nach Zeit und Ort, Intention und Empfänger verändert. Im Gegensatz zur Auffassung Bergsons ist die Sprache die am wenigsten geometrische und am wenigsten statische aller Künste.

Bei vielen primitiven Völkern haben Anthropologen entdeckt, daß der Stamm es als seine schwere Verantwortung empfindet, durch Rituale und Zaubersprüche, die tagtäglich mit peinlicher Genauigkeit durchgeführt werden, dafür zu sorgen, daß die Sonne wieder aufgeht und das Universum nicht auseinanderfällt. Dies ist eine weitaus intelligentere Auffassung von der tatsächlichen Aufgabe der Sprache als der moderne Glaube, auf die Beherrschung von Worten komme es nicht an, das Bewußtsein sei eine Illusion, und jedes menschliche Verhalten könne mit Hilfe geeigneter mechanischer Apparaturen und symbolischer Abstraktionen in ein quantitatives, von Subjektivität befreites System übersetzt werden, das keiner weiteren menschlichen Interpretation mehr bedürfe.

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Zu dieser Annahme ist nur noch eine Frage zu stellen: Wieviel Bedeutung bleibt in der Welt bestehen, wenn der wissenschaftliche Beobachter seinen eigenen subjektiven Beitrag eliminiert? Kein mechanisches System kennt die Bedeutung von Bedeutung.

Noch ein weiterer Punkt sollte vielleicht betont werden. Wir haben guten Grund, anzunehmen, daß nur in dem Maße, als Laute und Wörter standardisiert und fixiert werden können, aus ihren verschiedenen Kombinationen und Sequenzen individualisierte Bedeutungen ableitbar sind. Soll die unendliche Zahl von Variationsmöglichkeiten, die durch die Sprache gegeben sind, genutzt werden, müssen die Wörter selbst relativ konstant bleiben, so wie zur Bildung komplexer Proteinmoleküle die Kohlenstoff-, Sauerstoff-, Wasserstoff- und Stickstoff-Atome unter normalen Bedingungen stabil bleiben müssen. Offenbar waren es nicht die Wörter selbst als separate Bedeutungsträger, sondern ihre Kombinationsfähigkeit, die es der Sprache ermöglichte, jede Funktion des menschlichen Lebens, jeden Aspekt der menschlichen Umwelt und jeden Impuls der Menschennatur zu durchdringen.

Dies legt eine andere Interpretation des Zusammenhangs zwischen exakten Wortformeln und Magie nahe als die übliche: nämlich, daß Wörter ursprünglich nicht bloß ein Mittel zur Ausübung von Magie, sondern an sich die archetypische Form der Magie waren. Der richtige Gebrauch von Wörtern schuf erstmals eine neue Welt, die unter menschlicher Kontrolle zu stehen schien: Jede Abweichung von der sinnvollen Ordnung, jede Sprachverwirrung war für diese Magie verhängnisvoll. Die Leidenschaft für mechanische Präzision, die der Mensch heute in Wissenschaft und Technik einfließen läßt, stammt ursprünglich, wenn ich richtig vermute, aus der uralten Magie der Wörter. Nur wenn das richtige Wort an der richtigen Stelle verwendet wurde, wirkte der Zauber.

Robert Braidwood bemerkt, daß eine ähnliche Standardisierung relativ früh in der paläolithischen Kultur in der Formung von Werkzeugen zu finden ist. War einmal eine gute, funktionsgerechte Form der Handaxt erreicht, so wurde sie wiederholt und nicht willkürlich geändert. Während die beiden Formen der Standardisierung einander zweifellos mit der Zeit wechselseitig verstärkten, war doch die Standardisierung der Sprache wichtiger, und es scheint, vergleicht man das Tempo ihrer Verbesserung und Entwicklung, daß sie zuerst eingesetzt hat.

Ohne die strenge Standardisierung, ohne die Betonung magischer Korrektheit hätten sich die frühesten Worte des Menschen vielleicht spurlos in Luft aufgelöst, lange bevor die Schrift erfunden werden konnte. Wahrscheinlich waren Ehrfurcht und Respekt vor dem Wort wie vor dem magischen Zauber notwendig, um die Sprache vor Zerfall oder Verstümmelung in der mündlichen Weitergabe zu bewahren.

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Im formativen Stadium der Sprache war dieser Zwang zur Genauigkeit entscheidend; die Sprache war als solche »heilig« und unverletzlich.

Wäre Bedeutung nicht in Wörtern standardisiert und stabilisiert, so daß es Generationen, ja Jahrhunderte dauert, bis Änderungen allgemein akzeptiert werden, spräche jeder Mensch bald eine private Sprache, zu der, wie beim Kleinkind, nur jene einen Schlüssel hätten, die in allerengstem Kontakt zu ihm stehen. Und wenn die Wörter sich so schnell änderten wie die Ereignisse, die sie beschreiben, befänden wir uns wieder in einem vorsprachlichen Stadium, unfähig, Erfahrungen in unserem Geist festzuhalten. Denn die einzelnen Wörter sind Behälter; und wie ich in The City in History bemerkte, können Behälter ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie sich langsamer ändern als ihr Inhalt.

Was Revesz bei einem späteren Stadium der Sprachentwicklung bemerkt, gilt fast von Anfang an: »Ohne die verbale Formulierung subjektiver Erfahrung und ethischer Grundsätze ist das Selbstbewußtsein unvollständig, desgleichen die Selbsterkenntnis und die Selbstkontrolle.« Das subjektive Ordnen von Erfahrung erreichte in der Sprache, durch Intensivierung des Bewußtseins und der Vernunft, eine höhere Stufe, als es in Ritualen und Tabus möglich war.

Leider findet in unserer Zeit ein umgekehrter Prozeß statt. Das gegenwärtige Unvermögen, die Wörter »gut« und »böse«, »höher« und »niedriger« in der Beurteilung von Handlungen zu verwenden, als ob solche Unterscheidungen irreal und solche Wörter unsinnig wären, führte zu einer völligen Demoralisierung des Verhaltens. Doch die direktive und formative Funktion der Sprache ist so wichtig, daß die wesentlichen menschlichen Werte sich nun in verdrehter Form heimlich wieder durchsetzen: Intellektuelle Verwirrung, Verbrechen, Perversion, Entwürdigung, Folter und wahlloses Morden sind in der Sprache vieler Zeitgenossen »gut« geworden, während rationales Denken, Mäßigung, persönliche Rechtschaffenheit und liebevolle Freundlichkeit »schlecht« und hassenswert wurden. Diese Negation und Korruption der Sprache ist ein Sprung in eine viel tiefere Finsternis als jene, aus der der Mensch auftauchte, als er erstmals die Sprache erlangte.

Wir können nun vielleicht verstehen, warum einer der größten und einflußreichsten Moralisten, Kung Fu-tse, sich zweier bestimmter Mittel bediente, um die soziale Ordnung seiner Zeit auf gesunder Basis wiederherzustellen. Das eine war die Wiederbelebung des alten Rituals, das andere die Klärung der Sprache. Dies waren die beiden ältesten Mittel sozialer Zusammenarbeit und Kontrolle, die für alle weiteren Fortschritte der Humanisierung von entscheidender Bedeutung sind.

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War der Aufbau der komplexen Sprachstrukturen die zentrale Leistung der menschlichen Kultur, so muß diese Bemühung, wie viele Linguisten heute meinen, schon bei den ersten Hominiden eingesetzt haben. Aber die Schwierigkeit, nicht bloß ein paar Dutzend Wörter, sondern eine hochorganisierte Struktur zu schaffen, die in ihrer zweckmäßigen Selbstlenkung einem lebenden Organismus vergleichbar ist und fast alle Aspekte der Erfahrung zu erfassen vermag, indem sie nicht nur Dinge identifiziert, sondern auch Prozesse, Funktionen, Verhältnisse, Mechanismen und Ziele interpretiert, muß unermüdliche Anstrengung gekostet haben.

Zu dieser Anstrengung lieferte glücklicherweise die Sprache selbst, gerade durch ihre Erfolge, den notwendigen zusätzlichen Antrieb. Diese Konzentration auf die Sprache erklärt vielleicht die relative Langsamkeit der Entwicklung anderer notwendiger Kulturinstrumente während fast einer halben Million Jahre. Und heute, da in allen Kunstgattungen der umgekehrte Prozeß rasch vor sich geht Absinken der artikulierten Sprache in schlampige Grammatik, unartikuliertes Murmeln und willentlich geschriebenes Kauderwelsch , können wir vielleicht die ungeheure Anstrengung ermessen, die erforderlich war, um jene komplexe Bedeutungsstruktur zu schaffen, welche es primitiven Gruppen ermöglichte, menschlich zu werden.

Keine moderne technologische Vorrichtung übertrifft in der Artikulation ihrer Teile oder in ihrer funktionalen Tauglichkeit die Qualitäten auch nur der unbedeutendsten Sprache. Levy-Bruhl betont, daß in der Sprache des kleinen Ngeumba-Stammes in New South Wales »verschiedene Endungen anzeigen, ob eine Handlung in der unmittelbaren, der jüngeren oder der ferneren Vergangenheit stattgefunden hat, ob sie in Kürze, in naher oder in fernerer Zukunft stattfinden wird, ob es eine Wiederholung oder Fortsetzung der Handlung gegeben hat oder geben wird«. Diese subtilen Unterscheidungen sind gewiß nicht primitiv: Eine solche Feinheit, auf die Werkzeugherstellung angewandt, hätte schon in einem viel früheren Stadium als dem Solutreen mit seinen wohlgeformten lorbeerblattförmigen Lanzenspitzen vollendete Artefakte hervorgebracht.

Sobald die Sprache sich über einen bestimmten Punkt hinaus entwickelt hatte, mag sie den Menschen wie ein Spiel in Anspruch genommen haben, vielleicht sogar auf Kosten ihrer Anwendung für praktische gesellschaftliche Zwecke — obwohl die ausgeprägte Verwandtschaftsorganisation des primitiven Menschen sicherlich eine komplexe Sprachstruktur voraussetzte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Konversation neben dem Sexualverkehr das Lieblingsvergnügen des Frühmenschen. Primitive Völker glänzen durch Konversation und genießen sie; und bei Bauernvölkern, wie etwa den Iren, gilt sie immer noch als die gesellschaftliche Tätigkeit par excellence. 

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  Mythos als »linguistische Krankheit« 

 

Diese allgemeine Darstellung des Ursprungs der Sprache verfolgte den Zweck, jene prälogischen und präutilitären Funktionen herauszustreichen, die in den konventionellen Definitionen der Sprache als Mittel begrifflichen Denkens und organisierter Intelligenz ignoriert werden. Schon die Sprachen in der Morgendämmerung der Zivilisation hatten einen hohen Grad terminologischer Exaktheit und grammatikalischer Differenzierung erreicht, ohne bereits effiziente Instrumente des Denkens zu sein; und obwohl genaue symbolische Beschreibung für effektive Kommunikation und Kooperation unerläßlich war, ließ diese Errungenschaft lange auf sich warten. Der bemerkenswerteste Beitrag der industriellen und landwirtschaftlichen Technologie von der neolithischen Phase an war die Befreiung des Gedankens aus seiner hilflosen Versunkenheit in Traum und Mythos.

Max Müller war vielleicht der einzige systematische Linguist, der mit meiner Interpretation sofort einverstanden gewesen wäre; allerdings wurden unserer beider Auffassungen von den originellen Intuitionen des großen neapolitanischen Philosophen Giambattista Vico vorweggenommen. Müller erfaßte intuitiv die wichtige Rolle, die Metapher und Mythos in der frühen Sprachbildung spielten, als die Sprache noch nicht hauptsächlich der Übermittlung spezifischer Informationen diente, sondern den primitiven Menschen befähigen sollte, jeden Teil seiner Erfahrung mit Bedeutung zu erfüllen und das Geheimnis seiner eigenen Existenz zu bewältigen.

Als Müller die aufsehenerregende Behauptung aufstellte, die Mythologie sei eine »Krankheit der Sprache«, kam er der Aufklärung der Rolle, die der Traum in der Herausbildung der Wortsymbolik gespielt hat, sehr nahe. Aber er interpretierte die Fakten in umgekehrter Reihenfolge: Die »Krankheit« — Traumsymbole und Traummythen — war, wie wir heute annehmen, eine der Quellen, aus der abstraktere Sprachformen abgeleitet wurden. Als Vehikel verständiger Mitteilung war somit die rationale Sprache der letzte Keim in einem verlängerten Zyklus menschlichen Wachstums vom Unbewußten zum Bewußtsein, von unmittelbaren konkreten Darstellungen und Assoziationen zu organisierten geistigen Strukturen, deren erste Blüte die »Mythologie« war. Zusammenhängender verbaler Diskurs, rationales Sprechen, abstrakte Symbolik und analytische Aufgliederung waren unmöglich, solange diese Blumen nicht verwelkt und die Blätter abgefallen waren.

In The Science of Thought faßte Müller diese grundlegende Idee in folgende Worte: »Es war absolut unmöglich, die Welt außerhalb des eigenen Ich zu erfassen und zu halten, zu erkennen und zu verstehen, zu begreifen und zu benennen, außer durch diese fundamentale Metapher, diese universelle Mythologie, dadurch, daß unser Geist in das objektive Chaos einströmte und es in unserer eigenen Vorstellung neu erschuf.«

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 Niemand hat diese ursprüngliche Leistung der Sprache besser beschrieben oder eine bessere Begründung der Tatsache gegeben, daß der rationale Gebrauch der Sprache so lange verzögert wurde und ihre Anwendung auf Zählen, Sortieren, Ordnen, Definieren und exaktes Beschreiben einen so langwierigen Umweg machte. Die Begriffe Metapher und Mythologie kennzeichnen das ursprüngliche Wesen der Sprache und beziehen sich auf die frühen Stadien, in denen der Übergang von ungeordneten symbolischen Trauminhalten, zeremoniellen Assoziationen des »festlichen Spiels« und des religiösen Ritus zur reich strukturierten Welt definierbarer Bedeutungen und bewußter Zwecke sich vollzog. In der Entwicklung der Sprache war der Gedanke sozusagen ein nachträglicher Einfall.

In diesem gesamten Umwandlungsprozeß begünstigte die »Mythologie« mit ihrer frühzeitigen und konstanten Verbindung zum Ritual das erste Aufblühen der Sprache. Konkrete Prosa scheint in frühen Texten nur in Tempelrechnungen und militärischen Instruktionen auf; ja selbst in diesen ist sie keineswegs rein. War der Zweck, den die Sprache erfüllen sollte, ein praktischer, so war der Kern abstrakter Bedeutung doch zumeist in Metaphern gehüllt. Die archaische Sprache muß, nach den späteren geschriebenen Sprachen zu urteilen, weitgehend doppeldeutig gewesen sein: Allegorische Bedeutung in üppiger Bildhaftigkeit vermengte sich mit zweckvollen Absichten, die lange unter dieser Blüte verborgen blieben.

Nichts könnte diese ursprüngliche Charakteristik besser illustrieren als Malinowskis Interpretation der magischen Formel bei den Trobriand-Insulanern, die eine reiche Taytu-Ernte sichern soll: ein Zauberspruch, der den Delphin beschwört. 

»Wir wissen, daß der Delphin groß und lang ist, so wie es die Knollen werden sollen, daß sein Tummeln in den steigenden und fallenden Wellen mit dem Wiegen und Wogen der üppigen Ranken assoziiert wird, deren reiches Blätterwerk eine große Taytu-Ernte verspricht.« 

Obwohl, oberflächlich betrachtet, keine Organismen einander unähnlicher sein könnten als ein Meerestier und eine Pflanzenart, verkörpert das eine bildlich die abstrakten Eigenschaften der anderen. Nur die Unfähigkeit, solche Vorstellungsbilder festzuhalten, hinderte Wolfgang Köhler zufolge den Schimpansen daran, eine artikulierte Sprache zu entwickeln.

Mit der Annahme, daß die Sprache anfangs von Mythos und Metapher überschwemmt wurde, lieferte Max Müller, wie ich glaube, einen wichtigen Schlüssel zum Großteil der geistigen Tätigkeit des Frühmenschen. Bei allem, was wir von dessen Sprechweise wissen, müssen wir dem Übermaß an Phantasie und Spekulation ebenso Rechnung tragen wie dem ernsthaften Mangel an Interesse für die vielen praktischen Fragen, die heute oft einen großen Teil der menschlichen Lebenskraft in Anspruch nehmen.

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Whitehead erinnert uns in seinem Werk Symbolism mit Recht daran, daß »keine Betrachtung der Symbolik vollständig ist ohne die Erkenntnis, daß die symbolischen Elemente im Leben dazu neigen, wild zu wuchern wie die Vegetation eines tropischen Urwalds«. Aber die Magie selbst bewahrte lange Zeit ein noch primitiveres Merkmal der Sprache, das aus dem Ritual stammte: Ein Großteil aller magischen Formeln besteht aus einer präzisen Aneinanderreihung sinnloser Silben, die bis zum Überdruß wiederholt werden.

Dies ist vielleicht das verborgene Fundament jeder Sprache, das in der Magie, als Geheimnis für die Eingeweihten, unverändert erhalten blieb, als man sich schon längst im Alltag einer verständlichen Sprache bediente. Die Sprache hat sich so weit von diesem Zustand der Magie und des Mysteriums entfernt, daß Malinowski, als er magische Zaubersprüche aufzeichnete, sich außerstande erklärte, »das Unübersetzbare zu übersetzen«, oder den »Sinn sinnloser Wörter« zu finden. Führt uns dies nicht zurück zu den Anfängen der Sprache? Kommt die heutige Wissenschaftssprache in ihrem Bemühen um Exaktheit nicht nahe an den Stil geheimer Ritualformeln heran, die vor Uneingeweihten eifersüchtig gehütet werden? Diese magische Komponente wurde nie aus der Sprache eliminiert; und wie das Ritual selbst mag sie lange Zeit ein hemmender Faktor gewesen sein.

Gleich den noch lebenden »Primitiven« muß auch der Frühmensch sich an den Symptomen der von Müller angenommenen Krankheit erfreut haben: Mythos und Wort-Magie blühten lange Zeit auf Kosten genauer bestimmter Bedeutungen, die mit den operativen Gemeinplätzen der Alltagserfahrung verknüpft waren; denn den meisten primitiven Völkern gelten Tatsachen und magische Dinge als gleichermaßen real. Selbst heute betrachtet, wie Schuyier Cammann berichtet, das mongolische Stammesmitglied die Form seines Zeltes als Himmelsgewölbe und den kreisförmigen Rauchabzug an dessen Spitze als Sonnenpforte oder Himmelstor, während die aufsteigende Rauchsäule der Weltpfeiler oder Weltenbaum, die axis mundi, ist. Nur durch die Abschüttelung dieser mythisch-poetischen Attribute wurde ein Zelt schließlich zu einem bloßen Zelt, ein Loch zu einem Loch und eine Rauchsäule einfach zu Rauch.

Durch eifrige Kultivierung der Metapher hat meiner Meinung nach der primitive Mensch auf spielerische und dramatische Weise die Kunst der Sprache entwickelt, lange bevor er lernte, sie nutzbringend für genaue Beschreibung und Schilderung und schließlich für zielbewußtes organisiertes Denken zu gebrauchen. Selbst die Wörter, die ich unbewußt benutzte, um diese Umwandlung zu beschreiben — Keim, Blüte, Vehikel, Fundament —, zeigen, wieviel Metaphorisches immer noch den relativ nüchternen Formulierungen anhaftet, die nur Information zu vermitteln und nicht emotionale Erregung hervorzurufen trachten.

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Wer nach einer exakten wissenschaftlichen Transkription abstrahierter Vorgänge sucht, wählt ganz richtig die transparenten Symbole der Mathematik. Wer aber die Sprache dazu benutzen möchte, um kosmische Prozesse, organische Funktionen und menschliche Beziehungen als operative, in Wechselwirkung befindliche Ganzheiten zu beschreiben, muß erkennen, daß sie nur sehr lose in der Sprache des Mythos dargestellt werden können: In ihrer dynamischen Komplexität und Ganzheit entziehen sie sich anderen Abstraktions- und Darstellungsformen.

Je näher die Sprache der dichten Konkretheit aller Seinsbeziehungen kommt, desto weniger abstrakt und exakt kann sie sein. Das letzte Wort über menschliche Erfahrung ist die menschliche Erfahrung selbst, ohne Vermittlung von Wörtern; und jede Kreatur weiß im Akt des Lebens etwas vom Leben, das sich der wissenschaftlichen Analyse stets entziehen wird, selbst wenn der Wissenschaftler jede beobachtbare Manifestation des lebenden Organismus auf eine chemische Formel oder eine elektrische Ladung reduziert hat. Daher kann das letzte Verstehen auch nur in der schweigenden Begegnung von Angesicht zu Angesicht zustande kommen. Als Vico das früheste Stadium der menschlichen Entwicklung als Zeitalter der Poesie charakterisierte, nahm er die Beschreibung Jespersens vorweg, der es als Zeitalter des Liedes bezeichnete; aber es war viel eher ein Zeitalter, in dem Tanz, Gesang, Poesie und Prosa, Mythos, Zeremoniell, Magie und nüchterne Tatsachen sich miteinander vermengten und fast ununterscheidbar waren. Gerade dank dem Wesen dieses mythologischen Reichtums besaß es einen Reiz für den noch ungeformten Geist des Menschen. Und schließlich entstand als Reaktion auf unerträgliche subjektive Verwirrung die sonderbare Mythologie unserer Zeit: eine Mythologie, die quantitativen Messungen und logischen Abstraktionen die gleichen magischen Eigenschaften zuschreibt, die der primitive Geist farbigen Redewendungen beimaß.

Aber wir irren, wenn wir unsere eigene hochspezialisierte »Krankheit der Abstraktion«, die in Wittgensteins Sprachanalyse einen Höhepunkt erreichte, in die Ursprünge der menschlichen Sprache hineinlesen. Die Ablehnung von Mythos und Metapher bewirkt eine ebenso große Verzerrung. Das Bemühen, menschliche Erfahrung mit völlig sterilen Instrumenten zu zergliedern, um das geringste Eindringen von Bazillen der ursprünglichen metaphorischen »Krankheit« der Sprache zu verhindern, überträgt die Gefahr auf das Messer das Chirurgen, das im Akt des Entfernens eines Infektionsherdes ungeduldig auch andere Organe entfernt, die für den Patienten lebensnotwendig sind. Etwas für die Kreativität des Menschen, auch in der Wissenschaft, Wesentliches könnte verschwinden, wenn die nach wie vor metaphorische Sprache der Dichtung völlig der denaturierten Sprache des Computers weichen müßte.

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Daß es eine Beziehung zwischen der dynamischen Struktur der Sprache und dem Wesen des Kosmos gibt, ist, wie Benjamin Whorf meinte, höchst wahrscheinlich, obgleich keine einzelne Sprache dieses Wesen vollständig enthüllen kann. Denn der Mensch, der Schöpfer der Sprache, ist selbst ein repräsentatives Modell des Kosmos und verkörpert dessen wichtigste Merkmale auf dem Höhepunkt von Organisation und Selbsterkenntnis. Aber die größere Struktur, die der Mensch entdeckt, ist jene, bei deren Schaffung er notwendigerweise mitgeholfen hat. Wer den Menschen in ein passives Instrument zur Registrierung von Reizen, in eine bloße Aufzeichnungs- und Kommunikationsvorrichtung verwandeln möchte, beraubt seine eigene Philosophie jeder Bedeutung.

  

  Die sprachliche Ökonomie des Überflusses  

 

Ist es erstaunlich, daß der Mensch von den Wundern der Sprache berauscht war? Verlieh sie ihm nicht Kräfte, die kein anderes Tier besaß? Mit der Sprache breitete sich das Licht des Bewußtseins bald über den ganzen Himmel des Menschen aus. Die wirkliche Macht der Sprache ist so bemerkenswert, daß der Mensch oftmals der Versuchung erlag — ähnlich jener, die sich im ersten Jubel über die Entdeckung von »Wunderdrogen« zeigte —, verbale Beschwörungs- und Bannformeln in Situationen anzuwenden, in denen sie keine Wirkung haben konnten: nicht nur um Menschen, sondern auch um natürliche Vorgänge und Objekte zu beeinflussen. Genauso wie bei unseren vielgerühmten Antibiotika erwiesen sich die Nebeneffekte oft als verhängnisvoll.

Noch in historischen Zeiten war das Aussprechen eines geheimen Namens ein Mittel, um Macht zu erlangen. Ägyptische Mythen erzählen, wie die Göttin Inanna einmal durch einen Trick den »wahren« Namen des »allmächtigen« Atum herausfand, sodaß sie ihn in ihrer Gewalt hatte. Im gleichen Geist mag heute ein analphabetischer Stammesangehöriger ein ärztliches Rezept schlucken, statt die Medizin einzunehmen, obwohl in diesem Falle die Kraft der Suggestion die therapeutische Nutzlosigkeit des Papiers aufwiegen könnte. Diese nachhaltigen Fehlanwendungen verbaler Magie zeugen nur von der ursprünglichen berauschenden Kraft des Wortes.

Die operative Magie der Wörter war so wirksam und unwiderstehlich, daß auch dann, als bereits viele andere Erfindungen die Kontrolle des Menschen über die physische Umwelt erweitert und seine Überlebensaussichten vergrößert hatten, das Wort als Hauptquelle menschlicher Kreativität immer noch den Vorrang hatte.

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In den Instruktionen für König Merikere, die im Interregnum zwischen dem Alten und dem Mittleren Königreich Ägypten geschrieben wurden, lesen wir: »Sei ein Meister der Sprache, auf daß du herrschen mögest, denn die Macht (eines Mannes) ist die Zunge, und Sprechen ist mächtiger als Kämpfen.«

In einem früheren Text heißt es, daß die Schöpferkraft Ptahs, des Gottes, der alle anderen Götter erschuf, »die Zähne und Lippen seines Mundes sind, die die Namen aller Dinge aussprechen ... Alle göttliche Ordnung entstand durch das, was das Herz dachte und die Zunge befahl«. Wie James Breasted bemerkte, »ist die außerordentliche Basis dieses frühen Systems (von Hieroglyphen) die fundamentale Annahme, daß der Geist oder das Denken die Quelle aller Dinge ist«. Desgleichen glaubte eine Gruppe von Nordwest­indianern, die von Kroeber erforscht wurden, daß »der oberste Gott der Wiyot weder Sand, noch Erde, Lehm oder Stöcke zur Erschaffung des Menschen brauchte. Gott dachte einfach, und der Mensch war da«. In diesen Beobachtungen liegt eine Wahrheit, die zu erfassen für den modernen Menschen erneut wichtig wäre: »Denken« ist wichtiger als Tun.

Nun steht aber die unmittelbare Wirksamkeit der Sprache in der Beeinflussung menschlichen Verhaltens im Gegensatz zu all den so viel mühsameren Prozessen der Formung und Kontrolle der Umwelt; und gerade dieser Umstand mag den Menschen zu seinem eigenen Nachteil von den Bemühungen abgelenkt haben, sich ein bequemeres Heim zu schaffen. Handwerker, wie der Autor des Ecclesiasticus selbstgefällig bemerkte, werden durch die schwere Arbeit auf dem Felde, in der Schmiede oder in der Töpferwerkstatt für höhere geistige Tätigkeit ungeeignet. Daher leistete der Gott der Genesis, wie Ptah, keine wirkliche Arbeit bei der Erschaffung der Welt. Er sagte nur: »Es werde Licht!«, und es ward Licht.

Ich zitiere diese relativ späten Beispiele für die mächtige Rolle der Sprache, weil wir später sehen werden, daß die immensen technologischen Errungenschaften der Zivilisation lange auf sich hätten warten lassen, wenn nicht uneingeschränkte Ehrfurcht vor der Magie des Wortes, »von oben gesprochen«, als feste Grundlage für eine leistungsfähige kollektive Organisation der Arbeit gedient hätte. Der Mythos der Maschine wäre unvorstellbar und seine Verwirklichung undurchführbar gewesen ohne die Magie der Sprache und die gewaltige Erweiterung ihrer Macht und ihres Wirkungsbereichs durch die Erfindung der Schrift.

Um den entscheidenden Beitrag der Sprache zur Technologie anzuerkennen, braucht man nicht zu leugnen, daß sie letztlich doch den gesamten Prozeß der Erfindung verlangsamt haben mag. Wie Allier meint, könnte die Anwendung verbaler Magie auf den Arbeitsprozeß ein Stagnieren der Technik verursacht haben. »Der Mensch, der an Magie glaubt, verwendet die technischen Methoden, die vor seiner Zeit entdeckt und durch Tradition weitergegeben wurden ... Ihm scheint es, als könnte eine Veränderung sie um ihre Wirksamkeit bringen.«

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Dies ist vielleicht noch ein weiterer Faktor, der die Langsamkeit und Unvollkommenheit der prähistorischen technischen Entwicklung, verglichen mit der Sprache, erklären hilft. Er könnte auch die Schnelligkeit der Erfindungen in den letzten Jahrhunderten erklären, mit der ihnen eigenen Verachtung verbaler Magie und ihrer schamlosen Entheiligung des Wortes.

All diese Blockierungen und Hindernisse sind nicht zu bestreiten. Die Erfindung der Sprache beseitigte sicherlich nicht alle anderen menschlichen Schwächen; im Gegenteil, sie blähte nur allzu leicht das Ich auf und veranlaßte die Menschen, die Wirksamkeit von Wörtern in der Kontrolle der sichtbaren und unsichtbaren Kräfte ihrer Umwelt zu überschätzen. Auch noch nach endlosen Enttäuschungen blieben diese Nachteile in hochentwickelten Gesellschaften bestehen, wie bei dem großen römischen Arzt Galen, der magische Formeln mit rationalen medizinischen Rezepten verband. Lebt dieser Brauch repetitiver Zaubersprüche nicht immer noch in Form von Reklame und Propaganda fort? Wortmagie ist eines der Hauptmittel zur Erlangung von Macht und Status in der Wohlstandsgesellschaft.

Da unser Zeitalter sich des möglichen Mißbrauchs von Worten durch semantische Verwirrung und magischen Aberglauben zutiefst bewußt wurde — vielleicht, weil es sich auf die Depravierung der Sprache durch skrupellosen politischen und kommerziellen Betrug spezialisiert hat —, möchte ich lieber die außerordentliche Natur dieser Erfindung betonen, deren Wunder uns niemals verloren gehen sollten. Wenngleich die Sprache lange Zeit die Energie der Menschen von Handarbeit, Produktion und Umweltveränderung ablenkte, besitzt sie dennoch in sich selbst alle Attribute einer vollendeten Technologie, gewisse erstrebenswerte Eigenschaften mit eingeschlossen, die bis heute noch nicht in das nun im Entstehen begriffene mechanisch-elektronische System umgesetzt worden sind.

Was Freud irrtümlich als die infantile Illusion der Omnipotenz des Gedankens betrachtete, ist tatsächlich eine allzu leichtgläubige Kapitulation vor der Macht von Worten. Doch ihre Omnipotenz oder Omnikompetenz zu leugnen, heißt nicht, ihre wirkliche Funktion zu schmälern, nämlich die Beeinflussung menschlichen Verhaltens und die richtige Interpretation von Naturereignissen, weit über das hinaus, was der tierischen Intelligenz möglich ist. Tatsächlich übertraf die Sprache als technisches Instrument bis zu unserer Zeit jede andere Art von Werkzeug oder Maschine; mit ihrer idealen Struktur und ihrer täglichen Leistung stellt sie immer noch ein — wenn auch unbeachtetes — Modell für alle anderen Arten der Vorfabrikation, Standardisierung und Massenkonsumtion dar.

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Diese Behauptung ist nicht so absurd, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Die Sprache ist zunächst einmal das am leichtesten transportable, speicherbare und zu verbreitende aller sozialen Artefakte; der ätherischeste aller Kulturfaktoren und aus diesem Grund der einzige, der imstande ist, Bedeutungen unbegrenzt zu vermehren und zu speichern, ohne den Lebensraum des Planeten zu beanspruchen. Als die Wörterproduktion einmal richtig in Gang war, leitete sie die erste wirkliche Ökonomie des Überflusses ein, die für laufende Produktion und Erneuerung und für unaufhörliche Erfindungen sorgte und doch eingebaute Kontrollen enthielt, die den modernen Übeln der selbsttätigen Expansion, der rücksichtslosen Inflation und des vorzeitigen Veraltens vorbeugten. Die Sprache ist ein großer Kulturbehälter. Dank der Stabilität der Sprache war jede Generation in der Lage, einen wesentlichen Teil der vorangegangenen Geschichte mit sich zu nehmen und weiterzugeben, selbst wenn sie nicht aufgezeichnet wurde. Und ganz gleich, wie sehr der äußere Schauplatz sich ändert, bewahrt der Mensch durch die Sprache einen inneren Schauplatz, wo er geistig beheimatet und unter seinesgleichen ist.

Obwohl Wörter oft als Werkzeuge bezeichnet werden, könnte man sie genauer als Zellen einer komplexen lebenden Struktur betrachten, als Einheiten, die sich rasch in geordneten Formationen mobilisieren lassen, um gegebenenfalls entsprechenden Zwecken zu dienen. Jedes Mitglied der Gemeinschaft hat Zutritt zu dieser sprachlichen Organisation und kann von ihr Gebrauch machen, nach bestem Vermögen seiner Erfahrung und Intelligenz, seiner emotionalen Empfänglichkeit und seiner Einsicht. An keinem Punkt, außer bei der Erfindung der Schrift, war die Sprache jemals das Monopol einer herrschenden Minderheit, trotz der Klassenunterschiede in ihrem Gebrauch; während das Medium selbst so komplex und so subtil ist, daß kein zentralisiertes Kontrollsystem jemals, selbst nach der Erfindung der Schrift, völlig wirksam war.

Es gibt ein weiteres Attribut der Sprache, das sie auf ein höheres Niveau als jede existierende technologische Organisation oder Einrichtung stellt: nämlich daß sie, um überhaupt zu funktionieren, eine wechselseitige Beziehung zwischen Produzent und Konsument, zwischen Sprecher und Zuhörer erfordert; jede Ungleichheit zerstört in gewissem Maß die Integrität und den Allgemeinwert des Produktes. Anders als bei irgendeinem historischen ökonomischen System kann die Nachfrage nach Wörtern begrenzt sein, ohne das Angebot zu stören; die Kapitalreserven (der Wortschatz) können größer werden und die Produktions­kapazität (Rede, Literatur, allgemeine Bedeutungen) kann weiter zunehmen, ohne jede kollektive Verpflichtung, den Überschuß zu konsumieren. Dieses Verhältnis, das in der spezifischen Form der Sprache, dem Dialog, verkörpert ist, wird nun von einem neuen System der Kontrolle und Einbahn-Kommunikation untergraben, das heute eine elektronische Funktionsweise gefunden hat; und den schwerwiegenden Problemen, die sich daraus ergeben, muß man ins Auge blicken.

Doch obwohl die Bestandteile der Sprache standardisiert und in gewissem Sinne Massenprodukte sind, erreichen sie ein Maximum an Vielfalt, Individualität und Autonomie. Noch keine Technologie kommt diesem Grad der Verfeinerung nahe; die komplizierten Mechanismen des sogenannten Atomzeitalters sind im Vergleich dazu äußerst primitiv, denn sie können nur ein schmales Segment der menschlichen Persönlichkeit, getrennt von deren historischer Totalität, nutzen und ausdrücken.

Fragt man, warum der Frühmensch so lange brauchte, um seine technische Geschicklichkeit und seine materiellen Möglichkeiten zu verbessern, so lautet die Antwort: Weil er sich zuerst auf die wichtigste aller Tätigkeiten konzentrierte. Durch seine Beherrschung der Sprache umfaßte er nach und nach jeden Aspekt des Lebens und gab ihm Bedeutung als Teil eines größeren Ganzen, das er in seinem Geist bewahrte. Nur innerhalb dieses Ganzen konnte die Technik selbst Bedeutung haben. Das Streben nach Bedeutung krönt jede andere menschliche Errungenschaft.

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