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4 - Finder und Erzeuger 

 

 

   Das Elefantenkind  

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Wenn ich Traum, Ritual, Sprache, gesellschaftlichen Verkehr und soziale Organisation als primäre Faktoren der früh­mensch­lichen Entwicklung ansehe und nicht sosehr die Werkzeuge, will ich damit nicht sagen, daß diese Faktoren vom Gesamtbereich der menschlichen Tätigkeiten separiert waren. Noch weniger glaube ich, daß der Frühmensch sich an einen geschützten Ort zurückzog und seine Tage damit verbrachte, über seinen Eindrücken zu brüten und seine Träume durchzuspielen, bis er schließlich die bedeutungsvolle Pantomime und die verständliche Rede gebar.

Die gegenwärtige Auffassung von der Aufgabe der Sprache akzeptiert nur mit umgekehrter Betonung die Feststellung Kenneth Oakleys, eines Fachmanns auf dem Gebiet prähistorischer Technik, der meinte, die langsame Verbesserung der Chelléen-Werkzeuge sei wahrscheinlich ein Zeichen dafür, daß es noch keine Sprache gegeben habe. wikipedia  Kenneth_Oakley *1911-1981

Die Langsamkeit der Entwicklung, ehe die Sprache der individuellen Erfahrung durch Mitteilbarkeit Kohärenz verlieh, wurde von Leroi-Gourhan richtig erklärt. Er sagte: »Hätte die geringste Lücke je die allmähliche Erlernung der grundlegenden Techniken unterbrochen, so hätte alles noch einmal von vorne begonnen werden müssen.«

Bevor es die Sprache gab, dürften nur allzuoft solche Lücken entstanden sein; und das Bedürfnis, derartige Rückschläge zu vermeiden, kann sehr wohl als Grund für die Sorge angesehen werden, die allen Kulturen bis heute eigen ist: Nicht zu verlieren, was die Ahnen erreicht hatten. Tradition war wertvoller als Erfindung. Den geringsten Gewinn zu bewahren war weit wichtiger, als neuen zu erzielen und dabei zu riskieren, den alten zu vergessen oder zu verlieren. Nicht Nostalgie, sondern die Notwendigkeit, die schwer errungenen Kultursymbole zu bewahren, hat den Menschen dazu bewogen, die altererbte Vergangenheit als unantastbar zu behandeln: als zu wertvoll und gleichzeitig zu verwundbar, um leichtfertig etwas daran zu ändern.

Jedenfalls ergibt selbst die Verbesserung, die man an den Acheuléen-Werkzeugen nach den Hundert­tausenden Jahren täppischer Versuche im Chelleen feststellt, noch sehr primitive Artefakte, die gewöhnlich allzu leichtfertig als Jagdwaffen angesehen werden; obwohl, wie es auf einem Museumsschild heißt, das »als Waffe bezeichnete Stück manchmal Spitzhacke und auch Bohrer genannt wird, wahrscheinlich aber als Stoßwaffe diente und als solche eigentlich als Dolch gedacht gewesen sein könnte«.

Aber waren die frühesten Menschen in erster Linie Jäger? Diese Frage verdient Beachtung, wenn wir den richtigen Stellenwert der frühen Werkzeugherstellung ermitteln wollen. Fast alle »Waffen« der Urzeit, die man der Jagd zuschreibt, haben als Werkzeuge eine plausiblere Funktion, wenn wir sie mit dem Nahrungsammeln und Fallenstellen in Verbindung bringen — Tätigkeiten, die in wärmeren südlichen Klimazonen sogar während der Eiszeiten zum Überleben ausgereicht haben mögen. Was als Handaxt oder als Faustkeil bezeichnet wird, wäre auch zum Ausgraben von Knollen oder zum Töten eines in einer Falle gefangenen Tieres verwendbar.

Diejenigen, die noch immer an der Ansicht festhalten, der Frühmensch sei auf die Jagd spezialisiert gewesen, haben nicht genügend bedacht, daß er ein Allesfresser war, oder erklärt, wie er eine Vorliebe für Fleisch entwickeln konnte, eher er gelernt hatte, entweder Waffen aus Knochen, Stein und Holz zu formen oder große Tiere ohne solche Hilfsmittel zu töten. Auch erklären sie nicht, warum die Nahrung der Menschheit zu allen Zeiten überwiegend vegetarisch war. Sogar Leakeys Demonstration dessen, was ein heutiger Mensch mit groben Knochen- oder Steinwerkzeugen und -waffen vollbringen kann, wie sie etwa den Australopithecinen zugeschrieben werden, beweist nicht, daß eine kleinere, schwächere Kreatur mit einem dürftigeren Gehirn und Zähnen, die zum Kauen von rohem Fleisch ungeeignet waren, es ebenso konnte.

Lautet nicht die Antwort, daß der Frühmensch hauptsächlich von seinem Verstand lebte? Am Anfang nützte ihm sein »Köpfchen« mehr als seine Wildheit oder sein verbissener Eifer. Gibt es irgendeinen Zweifel, daß der Mensch in den frühesten Stadien seiner »Jäger«-Laufbahn gezwungen war, zu tun, was die Pygmäen von Afrika noch heute tun, um Resultate zu erzielen, die sonst weit über seinem technischen Horizont gelegen wären — raffinierte Fallen und eine kühne Strategie zu ersinnen, wie die Pygmäen sie anwenden, um Elefanten zu fangen und zu töten, indem sie sich in Gruben verstecken, von wo aus sie, sobald der Elefant gefangen ist, dessen weichen Bauch von unten mit den ihnen verfügbaren Waffen attackieren. Nur in allernächster Nähe und bei einem leichter verwundbaren Tier als dem Elefanten hätte ein Faustkeil überhaupt einen größeren Nutzen als irgendein ungeformter Stein.

Schlingen und Fallen konnten mit bloßen Händen aus Schilfrohr, Ranken und jungen Zweigen gemacht werden, lange bevor der Mensch eine Axt besaß, mit der er die legendäre Keule des Höhlenmenschen — eine Waffe, die weder jemals gefunden wurde noch auf alten Höhlenzeichnungen zu sehen ist! — zurechthacken oder aus frischem Hartholz einen hölzernen Speer schnitzen konnte.

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Als Kolumbus die Westindischen Inseln entdeckte, verwendeten die Eingeborenen immer noch »Fallen und Schlingen aus Reben und andere Netzvorrichtungen«, um Wild zu fangen.

Am häufigsten wurde die spitze Handaxt wahrscheinlich als Grabwerkzeug verwendet, um saftige Wurzeln zu bekommen und genügend tiefe Gruben auszuheben. Über die gesamte Phase des Fallenstellens als Vorstufe zur Jagd hat Julius Lips viel Beweis­material zusammengetragen. Die Ureinwohner von Feuerland stellten Vogelschlingen her; und was größere Fallen betrifft, so müssen sie vor dem Steinspitzenspeer und vor Pfeil und Bogen dagewesen sein, obwohl sie natürlich keine Spuren hinterließen, außer daß sie Teil einer weitverbreiteten menschlichen Tradition wurden.

Aber Fallenstellen ist wie der Nestbau eine noch ältere Kunst, die von so verschiedenen Organismen praktiziert wird wie etwa der fleischfressenden Pflanze und der Spinne. »Eine große Vielfalt von Waffen primitiver Art, wie Fallen oder Pferche«, meint Daryll Förde, »wurde schon lange angewandt ... Die Hauptarten von Netzen (zum Jagen und Fischen) und die grundlegenden Techniken ihrer Herstellung sind so weit verbreitet, daß sie, ebenso wie das Seilwerk, aus dem sie hergestellt werden, zu den ältesten Erfindungen des Menschen gezählt werden müssen.« Selbst Vorrichtungen, mit denen man Tiere aus weiter Entfernung fangen kann — die Gleitschlinge (Lasso) und die Bola —, scheinen ebenso alt zu sein, was aus der Tatsache zu erkennen ist, daß die Gleitschlinge auf allen Kontinenten gefunden wurde.

A.M. Hocart berichtet, er habe einen »Primitiven« gesehen, wie er einen Stock von einem Baum abbrach, das Ende mit seinen Zähnen zuspitzte und nach Knollen grub. Während ich dies schreibe, kommt ein Bericht aus Australien über einen bis jetzt unbekannten Stamm, die Bindibu, die »ihre Füße als Klammern und Ambosse und ihre fest zusammengepreßten Kiefer als kombinierte Feilen und Messer beim Herstellen von Werkzeugen verwenden«, ja sogar Steine mit ihren Zähnen absplittern. Die Hand diente lange Zeit als Schale, Schaufel oder Kelle, ehe spezielle Werkzeuge »zur Hand« waren. In der Morgendämmerung der Zivilisation im Nahen Osten wurde der Boden mit der Spitzhacke aufgebrochen, aber es wurde kein Spaten gefunden — oder auf Bildern dargestellt —, um in der Erde zu graben oder Erde in einen Korb zu füllen.

Was ich hier betonen möchte, ist die große Zahl technischer Leistungen, die der Mensch allein durch Gebrauch seiner Körper­organe vollbringen kann: graben, kratzen mit den Fingernägeln, hämmern mit den Fäusten, Fasern drehen, Fäden spinnen, weben, flechten, knüpfen, Unterschlupf aus Zweigen und Blättern bauen, Körbe herstellen, Töpfe machen, Lehm modellieren, Früchte schälen, Nußschalen öffnen, Gewichte aufheben und transportieren, Fäden und Fasern mit den Zähnen abschneiden, Häute durch Kauen weichkneten, Wein mit nackten Füßen aus den Trauben pressen.

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 Obwohl haltbare Knochen- oder Steinwerkzeuge ihn im Laufe der Zeit bei vielen dieser Tätigkeiten wirksam unterstützten, waren sie doch nicht unbedingt notwendig. Wo geeignete Muschelschalen und Kürbisse verfügbar waren, gab es bis ins mittlere Paläolithikum keine anderen vergleichbaren Schneidwerkzeuge oder Behälter.

Wenn man auf diese Weise aus den noch verbliebenen Praktiken primitiver Völker rückschließt, besonders indem man die über die ganze Welt verbreiteten Merkmale beachtet, sieht man, daß viele technische Fortschritte sowohl notwendig als auch möglich waren, ehe adäquate angefertigte Werkzeuge, Utensilien und Waffen erfunden wurden. In der frühesten Phase der technischen Entwicklung schuf die geschickte Benutzung der Körperorgane, ohne irgendeinen Teil — nicht einmal die Hand — in ein beschränktes, spezialisiertes Instrument zu verwandeln, eine ganze Skala von Verwendungsmöglichkeiten des Körpers, Hunderttausende Jahre bevor es auch nur die Andeutung einer vergleichbaren Garnitur spezialisierter Steinwerkzeuge gab. In der frühesten Phase des Menschen als Finder und Erzeuger war, wie bereits gesagt, er selbst sein größter Fund uns ein erstes formbares Artefakt. Kein abgeschlagener Kiesel vor dem Auftreten des Homo sapiens stellt einen ähnlichen Beweis technischer Befähigung dar.

 

 

   Urzeitliches Forschen  

Durch das Nahrungsammeln wurde der Mensch auch zum Sammeln von Informationen angeregt. Diese beiden Bestrebungen gingen Hand in Hand. Da er nicht nur neugierig, sondern auch ein Nachahmer war, mag er das Fallenstellen von der Spinne gelernt haben, das Korbflechten von Vogelnestern, den Dammbau von den Bibern, das Wühlen von den Kaninchen und die Kunst, Gift zu verwenden, von den Schlangen. Zum Unterschied von den meisten Tieren zögerte der Mensch nicht, von anderen Lebewesen zu lernen und ihre Art zu kopieren; durch die Aneignung ihrer Ernährungsweise und ihrer Methoden der Nahrungs­beschaffung vervielfachte er seine eigenen Überlebenschancen. Obwohl er zuerst keine Bienenstöcke aufstellte, zeigt eine Höhlenmalerei, daß er den besser geschützten Bären nachahmte und Honig zu sammeln wagte.

Die menschliche Gesellschaft gründete sich aber von Anfang an nicht auf eine Jagd-, sondern auf eine Sammelwirtschaft, und die Existenz des Menschen hing, wie Förde betont, zu 95 Prozent vom Sammeln seiner täglichen Nahrung ab.

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Unter diesen Bedingungen wurden seine außergewöhnliche Neugier, seine Erfindungsgabe, seine Lernfähigkeit und sein gutes Gedächtnis genutzt und entwickelt. Daß er unausgesetzt pflückte und auswählte, identifizierte, sammelte und forschte, auf seine Jungen achtgab und sich um seinesgleichen kümmerte — all das hat mehr zur Entwicklung der menschlichen Intelligenz beigetragen, als gelegentliches Zurechtschlagen von Werkzeugen es vermocht hätte.

Wieder hat die Überbetonung des erhalten gebliebenen materiellen Beweisstücks, des Steinwerkzeugs, in den meisten Theorien zu einer Unterschätzung der prähistorischen Ausstattung mit organischen Hilfsmitteln geführt, die wahrscheinlich am meisten zur frühen Technologie beigetragen haben. Um die Gefahr willkürlicher Spekulation zu vermeiden, haben sich viele nüchterne Gelehrte mit einer wahren Steinmauer umgeben, die vieles verbirgt, aus dem wir Wesentliches über die Natur und die Gewohnheiten des Frühmenschen erfahren können. Das Wesen, welches jene Gelehrten als den Urmenschen hinstellen, Homo faber, der werkzeugherstellende Mensch, ist ein Spätankömmling. Vor ihm steht, selbst wenn man von dem besonderen Beitrag der Sprache absieht, der findende Mensch, der den Planeten erforschte, ehe er zu arbeiten begann, und der sich selbst fand und schmückte, bevor er anfing, die Schätze der Erde auszuschöpfen.

Der Frühmensch neigte in seiner Beschäftigung mit sich selbst vielleicht zu oft dazu, sich Wunschträumen hinzugeben und von Alpträumen geplagt zu werden; und diese nahmen wahrscheinlich beängstigend zu, als sein Geist sich weiterentwickelte. Aber von Anfang an rettete ihn ein Umstand vor jeder Neigung zu stumpfer Anpassung an seine Lebensbedingungen: der Umstand, daß er vor allem ein neugieriges Tier war; ruhelos durchforschte er jeden Teil seiner Umgebung und begann mit dem nächstliegenden, seinem eigenen Körper: Er roch und schmeckte, suchte und sammelte, verglich und wählte aus. Dies ist die Eigenschaft, von der Kipling in der Erzählung Das Elefantenkind (in der Sammlung Das kommt davon) humorvoll Gebrauch machte: die unersättliche Neugierde des Menschen.

Die meisten unserer gängigen Definitionen der Intelligenz umfassen Problemlösung und Konstruktion, also Leistungen, die mehr oder minder von der nur durch den Gebrauch der Sprache erworbenen Abstraktions­fähigkeit abhängen. Aber wir übersehen eine andere Art geistiger Leistung, die allen anderen Tieren geläufig ist, aber vermutlich im Menschen ihre stärkste Ausprägung erfährt: die Fähigkeit, die charakteristischen Formen und Strukturen unserer Umwelt zu erkennen und zu identifizieren, den Unterschied zwischen einem Frosch und einer Kröte, zwischen einem giftigen und einem eßbaren Pilz schnell zu entdecken. In der Wissenschaft ist dies die Aufgabe der Taxonomie; der Frühmensch aber muß unter dem bloßen Druck des täglichen Existenzkampfes ein scharfsinniger Taxonom gewesen sein.

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Er muß viele intelligente Identifizierungen und Assoziationen durchgeführt haben, lange bevor er Worte formte, die ihm halfen, dieses Wissen für künftige Zwecke in seinem Gedächtnis zu behalten. Intimer Kontakt mit der Umwelt und Verständnis für sie trägt, wie Adolf Portmann zeigte, ganz andere Früchte als intelligente Manipulation, aber ebenso reale. Die Identifizierung von Strukturen als ein notwendiger Teil der Umwelt­forschung stimulierte die aktive Intelligenz des Menschen.

Es gibt in der Tat gute Gründe für die Annahme, daß der Mensch eine große Vielfalt von Nahrungsmitteln, weit über den Bereich aller anderen Tiere hinaus, gebrauchte, ehe er zweckdienliche Werkzeuge erfand. Solange die Vorstellung vom Frühmenschen als Jäger vorherrschte, wurde die bedeutsame Tatsache übersehen, daß der Mensch ein Allesfresser ist. Sein botanischer Wortschatz dehnte sich mit der Zeit auf Gifte und Heilmittel aus; er gewann sie manchmal aus Quellen, die keinem modernen Menschen je in den Sinn kämen, wie etwa von der giftiger Raupe, welche die afrikanischen Buschmänner benützen.

Der Botaniker Oakes Ames hatte sicherlich recht mit seiner Behauptung, daß der Frühmensch bereits ein großes botanisches Wissen besaß, das er von verwandten Primaten und Hominiden erworben hatte (der Gorilla ernährt sich von mehr als zwei Dutzend Pflanzen); und der Mensch fügte eine Menge hinzu, nicht nur durch Verwendung von Wurzeln, Stengeln, Nüssen, die entweder ekelhaft schmeckten oder im Rohzustand giftig waren, sondern auch durch Versuche mit den Eigenschaften von Kräutern, die andere Tiere »instinktiv« zu meiden scheinen. Unter den ersten Worten, die die Kinder der australischen Ureinwohner lernen, sind »gut zum Essen« und »nicht gut zum Essen«.

Leider können wir kaum zu schätzen wagen, wie nahe das Wissen, das sich bis zum Spätpaläolithikum angehäuft hatte, dem Punkt kam, an dem die überlebenden Primitiven halten. Verstanden es die Jäger des Magdalenien bereits wie die Buschmänner, ihre Pfeile, je nach Größe und Stärke des gewählten Opfers, mit mehr oder weniger starken Giften zu überziehen, die aus der Amaryllis, dem Skorpion, der Spinne oder der Schlange gewonnen wurden? Durchaus möglich. Aber offenbar ist diese Beobachtungskunst, die auch in der primitiven Medizin zum Ausdruck kommt, von derselben Art, die Wissenschaft ermöglicht; und um die weitere Entwicklung zu erklären, muß man annehmen, daß die Erwerbung dieser Fähigkeit vielleicht noch länger gedauert hat als die Entstehung der Sprache.

Was ich bei diesen undeutlichen, aber zweifelsfreien Beweisen betonen möchte, ist das Maß an intelligenter Unterscheidung, Einschätzung und Erfindungsgabe, das sie enthüllen: nicht weniger, als in der Entwicklung des Rituals und der Sprache drinsteckt, und weit mehr, als bis zum Spätpaläolithikum in die Anfertigung von Steinwerkzeugen eingegangen ist.

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Anfangs waren wahrscheinlich die einzigen Tiere, die der Frühmensch aß, kleine Lebewesen — Nagetiere, Schildkröten, Frösche und Insekten, die mit der Hand gefangen werden konnten, so wie es heute noch kleine primitive Stämme in der Wüste Kalahari und im australischen Busch tun, deren dürftige paläolithische Ausstattung — Steine, Wurfstöcke, Bogen — wahrscheinlich später durch Blasrohre und Bumerangs ergänzt wurde. Sofern der primitive Mensch größere Tiere tötete, wie es die Knochenhaufen in weit voneinander entfernten Höhlen anzeigt, ist eher anzunehmen, daß sie aus dem Hinterhalt oder in der Falle erlegt wurden und nicht durch Jagd. Nur überlegene soziale Koordination und List konnten das Fehlen wirksamer Waffen aufwiegen.

Was dem Speisezettel des Frühmenschen, außer vielleicht in tropischen Gegenden, an Quantität fehlte, glich er, dank seinen beharrlichen Experimenten, durch Mannigfaltigkeit aus. Aber die neuen Speisen brachten mehr mit sich als körperliche Ernährung: Die ständige Übung des Suchens, Kostens, Auswählens, Identifizierens und vor allem des Beobachtens der Resultate — die manchmal Krämpfe, Krankheit und früher Tod gewesen sein müssen — war, wie schon gesagt, ein wichtigerer Beitrag zur geistigen Entwicklung des Menschen, als Jahrhunderte des Feuersteinschleifens und der Großwildjagd es gewesen sein konnten. Ein solches Suchen und Experimentieren erforderte eine Menge motorischer Aktivität; und diese forschende Nahrungssuche, neben Ritual und Tanz, muß in ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Menschen besser gewürdigt werden.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel für die Art, in der die Intelligenz sich entwickelt haben muß, ehe der Mensch in größerem Ausmaß Werkzeuge oder materielle Ausrüstung besaß, wie etwa die Jäger der Aurignac-Zeit. Man findet eine ausgezeichnete Beschreibung wahrhaft primitiver Ökonomie, in der außer Sprache und Tradition fast jede Spur von Kultur fehlt, in Elizabeth Marshalls Bericht über die Buschmänner in der Wüste Kalahari.

In der Trockenzeit, wenn furchtbarer Wassermangel herrscht, pflücken die Buschmänner eine Pflanze namens bi wegen ihrer wasserhaltigen Wurzel und bringen sie zurück zum werf, der Mulde, die ihnen als Behausung dient, solange es noch nicht heiß ist. Die Pflanze wird abgeschabt und das Abgeschabte ausgepreßt. Die Menschen trinken den ausgepreßten Saft. Dann graben sie für sich selber flache Gruben im Schatten. Sie urinieren auf die abgeschabten bi-Stücke und füllen die Gruben mit dem feuchten Brei; dann legen sie sich in die Gruben und verbringen so den Tag, während die aus dem Urin verdampfende Feuchtigkeit ihre eigene Körperfeuchtigkeit bewahrt. Werkzeuge spielen in diesem Prozeß, außer beim Schaben, keine Rolle; aber die Einsicht in die Kausalität und die feine Beobachtung, die diesem Verfahren zugrunde liegen, lassen auf hohe Intelligenz schließen.

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Hier wurde die Strategie des Überlebens durch sorgfältige Beobachtung eines so wenig offensichtlichen Prozesses wie der Verdunstung entwickelt, unter Ausnützung aller verfügbaren Stoffe, einschließlich des Wassers aus dem eigenen Körper, um ihm entgegenzuwirken.

Darin sehen wir drei Aspekte des Geistes am Werk, die ebenso mit der Entwicklung der Sprache wie mit der Anpassung an die Umwelt verflochten sind: Identifizierung, Unterscheidung und Einsicht in die Kausalität. Die letztgenannte, die der westliche Mensch allzuoft als seinen spezifischen und erst kürzlich errungenen Triumph ansieht, kann in der primitiven Existenz nie gefehlt haben; eher beging der Frühmensch den Fehler, die Rolle der Kausalität zu überschätzen oder falsch auszulegen und sowohl zufällige Ereignisse als auch autonome organische Prozesse, etwa Krankheiten, dem absichtlichen Eingreifen böser Menschen oder Dämonen zuzuschreiben.

Zum Unterschied von den späteren Jägervölkern, die den weithin wandernden Bison- und Rentierherden folgten, müssen die frühen Sammler relativ seßhaft gewesen sein; denn ein solches Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben erfordert eine genaue Kenntnis der Umwelt mit ihrem Wechsel der Jahreszeiten und ein wohlfundiertes Wissen über die Eigenschaften der Pflanzen, Insekten, Kleintiere und Vögel, wie es nur in generationslangem Aufenthalt in einem Gebiet, das klein genug ist, um in allen Ecken und Enden durchstöbert zu werden, erlangbar ist. Nicht Lederstrumpf, sondern Thoreau ist das zeitgenössische Beispiel eines wahrhaft primitiven Menschen.

 

Das detaillierte Wissen, das aus dieser Erforschungsweise resultierte, muß von schweren Verlusten betroffen gewesen sein, solange es keine Sprache gab. Aber lange bevor auch nur an die roheste Form der Kultivierung zu denken war, muß der Mensch ein enzyklopädisches Inventar seiner Umwelt erlangt haben: Welche Pflanzen eßbare Samen oder Früchte trugen, welche nahrhafte Wurzeln oder Blätter hatten, welche Nüsse ausgelaugt oder geröstet werden mußten, welche Insekten genießbar waren, welche Fasern zäh genug zum Zerbeißen waren, und tausend andere Entdeckungen, von denen sein Leben abhing.

All diese Einsichten weisen nicht nur auf Neugierverhalten, sondern auch auf Abstraktions­vermögen und die Fähigkeit qualitativer Beurteilung hin. Wenn man aus späteren Beweisen Schlüsse ziehen kann, war dieses Wissen zum Teil bereits ziemlich unabhängig und hatte nichts mehr mit der Sicherung des physischen Überlebens zu tun. Levi-Strauss zitiert einen Beobachter der Penobscot-Indianer, der herausfand, daß diese ein äußerst exaktes Wissen über Reptilien besaßen, aber keinen Gebrauch davon machten, nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn sie Zaubermittel gegen Krankheit oder Besessenheit suchten.

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Bestehen wir darauf, die Jagd als Hauptnahrungsquelle des Frühmenschen und das Behauen von Steinen als seine hauptsächliche manuelle Beschäftigung zu betrachten, so erscheint der kulturelle Fortschritt unerklärlich langsam, denn die feinen Solutreen-Werkzeuge wurden im wesentlichen auf die gleiche Weise hergestellt wie die groben aus dem Acheuleen: Man schlug Stein gegen Stein.

Dieses Schneckentempo wurde durch die Praxis, paläolithische Werkzeuge und Waffen in Museen aufzubewahren, ein wenig verschleiert; dort liegen sie eng nebeneinander und weisen in kurzen Abständen erhebliche Verbesserungen auf. Würden je 30 Zentimeter ein Jahr repräsentieren, so müßten diese Verbesserungen entlang einer Strecke von grob geschätzt 150 Kilometern aufgereiht sein, von denen nur die letzten fünf bis zehn eine Periode rapiden Fortschritts bezeichnen würden. Nimmt man aber an, daß die Werkzeugherstellung mit den Australopithecinen begonnen hat, so ist der Fortschritt dreimal so langsam, und der die Gehirnentwicklung fördernde »Selektionsdruck«, der angeblich von der Werkzeugherstellung ausging, erscheint noch fragwürdiger.

 

Dem üblichen klischeehaften Modell fehlen all die Kenntnisse und Fertigkeiten, die der Frühmensch durch Erforschung seiner Umwelt erworben und durch Beispiel weitergegeben hat. Daß er sich durch Sammeln ernährte, wozu er kaum Werkzeuge benötigte, erklärt wahrscheinlich, wieso diese sich so langsam entwickelten. Seine besten und lange Zeit einzigen Werkzeuge waren, wie Daryll Förde zeigt, Stöcke, »mit denen er Früchte von den Bäumen holte, Schaltiere von Felsen losbrach und in der Erde nach Nahrung grub«.

Doch die langandauernde Bewohnung und intensive Ausbeutung eines kleinen Gebiets förderte nicht nur die Vermehrung des Wissens, sondern auch die Stabilität des Familienlebens; und die bessere Pflege der Jungen unter solchen Bedingungen dürfte die Übermittlung erlernten Verhaltens durch Imitation erleichtert haben. Darwin war beeindruckt von der Fähigkeit primitiver Völker, Laute und Körperbewegungen genau nachzuahmen und im Gedächtnis zu behalten. Diese Eigenschaften scheinen auf eine gewisse Seßhaftigkeit hinzuweisen. Das spricht für Carl Sauers Behauptung, der paläolothische Mensch sei in der Hauptsache kein umherschweifender Nomade gewesen, sondern ein ortsgebundenes, familienerhaltendes, Kinder pflegendes seßhaftes Wesen, das normalerweise das Lebensnotwendige anhäufte und speicherte und höchstens mit der Jahreszeit von offenen Lichtungen oder der Prärie in den Wald oder von der Talsohle hinauf auf die Hügel zog.

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Ein solches Leben würde, wenn meine ursprüngliche Hypothese stimmt, erklären helfen, wieso es dem Frühmenschen möglich war, dem Ritual und der Sprache so viel von seiner Zeit und Mühe zu widmen. »Die historische Tradition«, bemerkt der Philosoph Whitehead, »wird der Nachwelt durch die unmittelbare Erfahrung der physischen Umgebung überliefert« — voraus­gesetzt natürlich, daß diese Umgebung kohärent und stabil bleibt. Unter solchen Umständen ist die materielle Akkumulation gering, aber die immaterielle Akkumulation, die keine sichtbaren Spuren hinterläßt, kann beträchtlich sein.

Einerseits scheint die ursprüngliche Methode des Menschen, von Futtersuche und Sammeln zu leben, eine hoffnungslos sinnleere, karge, angsterfüllte und jeder Kultur bare Existenz gewesen zu sein. Anderseits aber trug sie Früchte und hinterließ tiefe Spuren im menschlichen Leben; denn gerade wegen seiner Lebensbedingungen muß der Futtersammler die natürliche Umwelt gründlicher durchstöbert haben, als es bis zum neunzehnten Jahrhundert je wieder der Fall war; und wenn er auch oft unter der Kargheit und Härte der Natur litt, so erfuhr er doch auch zuzeiten ihre Freigebigkeit, wenn die Mittel zum Leben ohne viel Planung und auch ohne besondere körperliche Anstrengung erreichbar waren.

Sammeln, Zusammentragen und Anhäufen gingen Hand in Hand; und einige der frühesten Höhlenfunde zeugen davon, daß der primitive Mensch nicht nur Nahrung und Leichen aufbewahrte. In den Höhlen des Peking-Menschen fand man Steine, die von weither geholt worden waren, doch zu keinem erkennbaren Zweck; indessen stellt Leroi-Gourhan fest, daß an zwei Fundstellen der Perigord-Periode Klumpen von Bleiglanz gefunden wurden. Sie waren, wie später Edelsteine, wegen ihrer leuchtenden Oberfläche und ihrer kubischen Kristallstruktur gesammelt worden.

Diese ersten Bemühungen des Menschen, seine Umwelt zu meistern — so fruchtlos sie auch scheinen mögen, hält man nach sichtbaren Resultaten Ausschau —, hinterließen ihre Spuren in allen nachfolgenden Errungenschaften der Kultur, wenngleich der konkrete Zusammenhang nicht festgestellt werden kann. Dazu möchte ich nochmals Oakes Ames zitieren: 

»Studiert man die komplizierten Methoden der Zubereitung mancher Pflanzen, die dazu dienten, die Monotonie der Kost zu brechen, so wird es ziemlich klar, daß der primitive Mensch die Eigenschaften eßbarer und narkotischer Pflanzen nicht nur durch Zufall erkannte. Er muß ein scharfer Beobachter von Zufällen gewesen sein, um Gärung, Wirkung und Vorkommen von Alkaloiden und toxischen Harzen sowie die Kunst des Röstens und Brennens zu entdecken, die ihm die gewünschte Narkotisierung oder angenehme Aromata (Kaffee) verschafften. Der Gärung und dem Feuer schuldet die Zivilisation außerordentlich viel.« 

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Doch ehe das Wissen durch die Sprache weitergegeben werden konnte, von geschriebener Überlieferung ganz zu schweigen, mochte es gut und gern tausend Jahre gedauert haben, um einen einzigen Erfolg zu registrieren.

Dieses Stadium des Suchens und Sammelns war also ein Vorspiel zur späteren Kunst des Ackerbaus und der Metallverarbeitung; und heute noch sammeln die Menschen alle möglichen Dinge, von Briefmarken und Münzen bis zu Waffen und Knochen, Büchern und Gemälden, so daß wir als Endprodukt dieser ältesten Manifestation menschlicher Kultur eine spezielle Institution, das Museum, schaffen mußten, um solche Sammlungen unterzubringen. Dies läßt vermuten, daß die Grundlagen einer gewinnsüchtigen Gesellschaft vor jenen einer Überflußgesellschaft gelegt wurden. Wenngleich aber die Sammlerwirtschaft zu Raffsucht und Geiz, Geheimnistuerei und Habsucht führte, brachte sie unter günstigeren Umständen ein großartiges Gefühl der Befreiung mit sich, sobald die elementarsten Bedürfnisse unmittelbar befriedigt waren — ohne all die umfassenden Vorbereitungen und die mühseligen körperlichen Anstrengungen, die schon die Jagd erfordert.

Vielleicht stammen aus dieser urzeitlichen Sammlerwirtschaft die Menschheitsträume von einem mühelosen Überfluß: Träume, deren man sich jäh erinnert, wenn man beim Beerensammeln, beim Pilzesuchen oder beim Blumenpflücken mehr findet, als man mitnehmen kann. So sonnig verbrachten Stunden haftet ein unschuldiger Zauber an, wie ihn nur noch Gold- oder Diamanten­sucher empfinden können, wenn auch nicht mit der gleichen Unschuld. Selbst in einem sehr naturfernen Bereich scheint dieser uralte Hang durch: Die Anziehungskraft, die der Supermarket auf die heutige Generation ausübt, kann zum Teil darauf zurückgeführt werden, daß er eine mechanische Nachbildung jenes früheren Eden ist - bis man zur Kasse kommt.

Wenn wir aber dem Finden vor dem Erzeugen, dem Sammeln vor dem Jagen den Vorrang geben, sollten wir nicht in den Fehler verfallen, die Jagd als Unterhaltsquelle des Frühmenschen durch das Nahrungssammeln zu ersetzen. »Seiner Natur nach ist der Mensch ein Allesfresser«, erinnert uns mit Recht Daryll Förde, »und wir werden vergeblich nach reinen Sammlern, reinen Jägern oder reinen Fischern suchen.« Der Frühmensch verließ sich nie auf eine einzige Nahrungsquelle oder eine einzige Lebensform: Er verbreitete sich über den ganzen Planeten und erprobte das Leben unter radikal unterschiedlichen Bedingungen, behauptete sich in günstigen und ungünstigen Verhältnissen, in gemäßigtem und in rauhem Klima, in eisiger Kälte und in tropischer Hitze. Seine Anpassungsfähigkeit, seine Unspezialisiertheit, seine Fähigkeit, mehr als eine Antwort auf ein und dasselbe Problem der tierischen Existenz zu finden — all das war seine Rettung.

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   Der technische Narzißmus  

In den Vorstellungen unseres ungeheuer produktiven — und ungeheuer vergeuderischen und destruktiven — Zeitalters befangen, neigen wir dazu, dem Frühmenschen ein zu reichliches Maß unserer eigenen Gier und Aggressivität zuzusprechen. Allzuoft stellen wir gönnerhaft die kleinen, verstreuten Gruppen der frühen Steinzeit als in einen verzweifelten Kampf ums Dasein, in erbarmungslose Konkurrenz mit anderen ebenso einsamen und wilden Wesen verwickelt dar. Selbst erfahrene Anthropologen zogen aus dem Aussterben des einst weitverbreiteten Neandertalers den voreiligen Schluß, der Homo sapiens müsse ihn ausgerottet haben, obwohl sie mangels an Beweisen doch zumindest die Möglichkeiten hätten offen lassen sollen, daß eine neuartige Krankheit, eine Vulkankatastrophe, eine Nahrungsverknappung oder hartnäckige Fixierungen und mangelnde Anpassung die Ursache gewesen sein könnten.

Bis zum relativ späten Paläolithikum gibt es kaum Beweise dafür, daß der Mensch in der Gestaltung seiner Wohnstätte auch nur halb so erfolgreich war wie die Biene, obwohl er wahrscheinlich schon ein symbolisches Heim hatte, wie den ausgehöhlten werf des afrikanischen Buschmanns oder die gekreuzten Stöcke der Somali, worin vielleicht die Idee Verkörperung fand, bevor der erste Unterstand gebaut, die erste Feuerstelle aus Lehm gestampft oder die ersten Giebeldach-»Häuser« gebaut wurden, deren Umrisse man aus Höhlenzeichnungen aus dem Magdalenien gefunden hat.

Aber es gab außer der Sprache noch eine Sphäre, in der alle Charakteristika, die ich herausgestellt und erörtert habe, zur Geltung kamen: Alte Höhlenfunde zeigen, daß eines der Phänomene, die der Mensch am eifrigsten untersuchte und am erfolg­reichsten veränderte, sein eigener Körper war. Es verhielt sich ähnlich wie mit der Sprechfähigkeit: Der Körper war nicht nur der am leichtesten zugängliche Teil der Umwelt, sondern auch jener, der den Menschen unausgesetzt faszinierte und an dem er ohne viel Mühe radikale, wenn auch nicht immer vorteilhafte Veränderungen vornehmen konnte.

Zwar hat die griechische Mythologie die Entdeckung der modernen Psychologen, daß der Jugendliche in sein eigenes Bild verliebt ist (Narzißmus), vorweggenommen, aber der Frühmensch liebte sonderbarer­weise dieses Bild nicht als solches: Er behandelte es vielmehr als Rohmaterial für seine »Selbstverbesserung«, in dem Bestreben, seine Natur zu verändern und einem anderen Selbst Ausdruck zu verleihen. Man könnte sagen, er trachtete danach, seine physische Erscheinung zu korrigieren, fast bevor er noch sein ursprüngliches Selbst erkannt hatte.

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Diese Neigung geht möglicherweise auf die weitverbreitete Praxis der Körperpflege bei Tieren, besonders bei den Affen, zurück. Ohne diesen beharrlichen kosmetischen Trieb, bei dem Lecken und Pieken kaum von Streicheln und Liebkosen zu unterscheiden sind, wäre das frühe Sozialleben des Menschen ärmer gewesen; tatsächlich hätte das lange Haupt- und Gesichtshaar vieler Rassen sich ohne aufmerksame Pflege in ein unangenehm verfilztes, verlaustes und sichtbehinderndes Bündel verwandelt. Solch ein grotesker Haarwuchs ließ das wilde indische Mädchen Kamala, als es gefangen wurde, tierischer erscheinen als die Wölfe, die es aufgezogen hatten.

Aus der allgemeinen Verbreitung von Schmuck, Kosmetik, Körperverzierung, Masken, Kostümen, Perücken, Tätowierungen und Hauteinritzungen bei allen Völkern bis in unsere Zeit kann man. wie schon bemerkt, schließen, daß diese charakterverändernde Praxis sehr alt ist; und daß der nackte, unbemalte, unverformte und unverzierte menschliche Körper entweder eine extrem frühe oder eine extrem späte und seltene kulturelle Errungenschaft ist.

Nach den heute lebenden Primitiven — unseren eigenen Kindern oder den wenigen Gruppen, die sich bei ihrer Entdeckung noch im Steinzeitstadium befanden — zu urteilen, gab es keine Körperfunktion, die nicht schon früh Neugierde erweckt und zum Experimentieren angeregt hätte. Der Frühmensch beobachtete mit Achtung und oft mit Scheu die Ausflüsse und Exkremente des Körpers: nicht nur das Blut, dessen ungehemmtes Ausströmen das Leben kosten konnte, sondern auch die Placenta oder die Eihaut des Neugeborenen, den Urin, den Kot, den Samen und die Menstruationsblutung. Alle diese Phänomene erweckten entweder Verwunderung oder Angst und galten in gewissem Sinn als heilig; und die Luft, die der Mensch aushauchte, wurde der höchsten Manifestation des Lebens gleichgesetzt: der Seele.

Dieses infantile Interesse, das heute noch bei gewissen erwachsenen Neurotikern auftritt, muß im Tagesablauf des primitiven Menschen recht viel Zeit in Anspruch genommen haben, wenn wir die vielen Spuren, die dies in unserer Kultur hinterlassen hat, im vollen Ausmaß beachten. Einiges von dieser Beschäftigung mit den eigenen Abfallprodukten mag sich mit der Zeit als nützlich erwiesen haben, so etwa wenn der Buschmann heute noch Urin zum Gerben von Leder verwendet, wie auch die römischen Metallgießer die Walkerde mit Urin mischten. Kroeber bezeichnet all diese Züge als »rückständig im Vergleich zu fortgeschrittenen Kulturen«; als er dies schrieb, konnte er nicht ahnen, daß wenige Jahre später Schriftsteller und Maler der sogenannten fortgeschrittenen westlichen Kultur ihre eigene Auflösung durch Wiederbelebung dieses infantilen Symbolismus ausdrücken würden.

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Die Struktur des menschlichen Körpers erweckte, nicht weniger als dessen Funktionen und Exkremente, sehr früh den Wunsch, sie zu modifizieren. Das Schneiden, Flechten, Kräuseln oder Verkleben der Haare, die Beschneidung der männlichen Vorhaut, die Durchbohrung des Penis, die Extirpation der Hoden, selbst das Anbohren des Schädels, all das gehörte zu den erfinderischen Experimenten, die der Mensch an sich selbst durchführte, vermutlich durch magische Vorstellungen beeinflußt, lange bevor er Wolle vom Rücken der Schafe schor oder den grimmigen Stier durch Kastration in einen fügsamen Ochsen verwandelte, in einem religiösen Zeremoniell, in dem das Tier als Ersatz für ein Menschenopfer gedient haben mag.

Oberflächlich betrachtet, scheinen diese Bemühungen in die Rubrik der »brotlosen Künste« zu fallen, wie meine Großmutter solche unergiebigen Praktiken häufig zu nennen pflegte. Doch sind sie nicht unähnlich der Bekundung »zweckloser Neugier«, die Thorstein Veblen für das sicherste Zeichen wissenschaftlichen Forschungsdrangs hielt, oder den noch erstaunlicheren Parallelen in »nutzlosen Experimenten«, die heute in vielen biologischen Laboratorien angestellt werden, wie etwa dem Versuch mit Hunden, die man zu Tode schindet, um festzustellen, welche körperlichen Veränderungen unter Schockwirkung eintreten. Der primitive Mensch, weniger kultiviert, aber vielleicht viel humaner, gab sich damit zufrieden, die grausamsten Torturen an sich selbst zu erproben; und es stellte sich heraus, daß manche dieser Verstümmelungen keineswegs wertlos waren.

Was den Menschen bewog, an seinem eigenen Körper zu experimentieren, ist schwer zu ergründen. Viele dieser primitiven Körpertransformationen erforderten schwierige und schmerzhafte chirurgische Eingriffe und waren oft sehr gefährlich, zieht man die Wahrscheinlichkeit einer Infektion in Betracht. Doch Tätowierungen, Hauteinritzungen und Veränderungen an den Geschlechts­organen sind alle, wie Abbe Breuil berichtete, in der von ihm erforschten Höhle bei Albacete in Spanien zu finden. Dazu kommt, daß solche chirurgischen Operationen nicht nur den Körper deformierten, sondern auch seine Fähigkeiten herabsetzten; davon zeugt ein Negerschädel aus dem späten Pleistozän, bei dem die mittleren oberen Schneidezähne ausgeschlagen sind, was eine gewollte Behinderung des Essens darstellte. Diese Form der Selbstverstümmelung ist in mehreren Stämmen bis heute üblich geblieben.

Zu all dem scheint noch hinzuzukommen, daß der erste Angriff des primitiven Menschen auf seine Umwelt vermutlich ein Angriff auf seinen eigenen Körper war; und daß er seine ersten Versuche, durch Magie Wirkungen zu erzielen, auf sich selbst richtete. Als wäre das Leben unter diesen rauhen Bedingungen nicht schwer genug gewesen, härtete er sich mit solchen grotesken und qualvollen Verschönerungsversuchen noch mehr ab.

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Ob Schmuck oder Operation — keine einzige dieser Praktiken stellte einen direkten Beitrag zum physischen Überleben dar. Sie sind vielmehr der früheste Beweis für eine noch tiefere Tendenz des Menschen: der Natur seine eigenen Bedingungen aufzuzwingen, und seien sie noch so sinnlos. Zugleich stellen sie den ersten bewußten Versuch der Selbstbeherrschung und Selbstverwirklichung dar, ja sogar — wenngleich häufig in perverser und irrationaler Form — der Selbstvervollkommnung.

Doch dürfen die technologischen Implikationen der Körperveränderung und -Verzierung nicht übersehen werden. Möglicherweise wurde der Übergang vom rein symbolischen Ritual zu-einer wirksamen Technik durch Chirurgie und Körperverzierung erschlossen. Hauteinritzung, Zahnextraktion, Hautbemalung, gar nicht zu reden von späteren Vervollkommnungen wie Tätowierung, Lippendehnung, Ohrenverlängerung und Schädelverformung, waren die ersten Schritte zur Emanzipation des Menschen von dem selbstgenügsamen tierischen Dasein, das die Natur ihm geboten hatte. Unsere eigenen Zeitgenossen sollten über diese Feststellung nicht erstaunt und noch viel weniger schockiert sein. Obwohl wir von ganzem Herzen die Maschine verehren, wird in den technisch fortgeschrittenen Ländern für Kosmetika, Parfüms, Haarpflege und kosmetische Chirurgie kaum weniger Geld ausgegeben als für Erziehung, und noch vor gar nicht so langer Zeit waren Barbier und Chirurg in einer Person vereinigt.

Doch irgendwie, auf noch nicht ganz geklärte Weise, mag die Kunst der Körperverzierung der Hominisierung förderlich gewesen sein. Denn sie waren von einem aufdämmernden Sinn für formale Schönheit begleitet, der sonst nur beim Laubsänger zu finden ist. Captain Cook sagte über die Ureinwohner von Feuerland: »Sind sie es auch zufrieden, nackt zu sein, so sind sie doch sehr darauf bedacht, gut auszusehen. Ihre Gesichter waren bunt bemalt; die Augenregion war im allgemeinen weiß und der andere Teil des Gesichts mit horizontalen roten und schwarzen Streifen geschmückt; doch es gab kaum zwei Männer von gleichem Aussehen. Männer wie Frauen trugen Ketten aus Kügelchen, die aus Muscheln oder Knochen gemacht waren.«

 

Niemals sind wir so sicher, es mit einem Wesen zu tun zu haben, das gedacht und gehandelt hat wie wir selbst, wie wenn wir neben seinen Gebeinen, selbst dann, wenn Werkzeuge fehlen, die ersten Halsketten aus Zähnen und Muscheln finden. Sucht man nach dem ersten Beweis für das Rad, dann wird man seine früheste Form nicht im Feuerbohrer oder in der Töpferscheibe entdecken, sondern in den hohlen Elfenbeinringen aus der Aurignac-Zeit. Und es ist nicht ohne Bedeutung, daß drei der wichtigsten Komponenten der modernen Technik — Kupfer, Eisen und Glas — zuerst als Perlenschmuck dienten, vielleicht mit magischer Bedeutung, Tausende Jahre bevor sie industriell verwendet wurden. So fand man, obwohl die Eisenzeit erst um 1400 vor Christus begann. Eisenperlen schon aus der Zeit um 3000 vor Christus.

Wie Sprache und Ritual, war die Körperverzierung ein Versuch, menschliche Identität, menschliche Signifikanz und menschliche Zwecke zu etablieren. Ohne diese wären alle anderen Handlungen und Arbeiten vergeblich gewesen.

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   Stein und Jäger  

Die Eiszeit, von den Geologen Pleistozän genannt, erstreckte sich über die letzten Millionen Jahre und begrub einen großen Teil der nördlichen Hemisphäre unter Gletschern. Vier lange Kälteperidoden wechselten mit kürzeren Zeiträumen milderen Klimas ab — eines wärmeren, feuchteren, wolkenreicheren. Unter solch extremen Bedingungen trat der Frühmensch auf, vervollkommnete seine anatomische Struktur, so daß es ihm möglich wurde, aufrecht zu gehen, zu sprechen und zu produzieren; vor allem lernte er, diese Eigenschaften in den Dienst einer höher sozialisierten und humanisierten Persönlichkeit zu stellen.

Daß der Mensch am Rande der Eisdecke — »mit knapper Not« — überlebte, zeugt sowohl von seiner Zähigkeit als auch von seiner Anpassungsfähigkeit. Die Beweise für Feuer und Jagd reichen 500.000 Jahre zurück, die für Werkzeug­herstellung vielleicht noch weiter. Welche Schwächen der Urmensch auch gehabt haben mag, er war jedenfalls sehr abgehärtet. Für viele Tiere waren diese Bedingungen sehr schwierig. Manche überwanden sie, indem sie sich eine dicke Wolldecke zulegten, wie das Mammut und das Rhinozeros; und der Mensch, sobald er genügendes Geschick im Jagen besaß, schützte sich nicht bloß mit den Fellen besser ausgestatteter Tiere, sondern stückelte diese Felle nach Eskimo-Art zu mehr oder minder passenden Kleidungsstücken zusammen.

In der Schlußperiode der Eiszeit, die vor rund hunderttausend Jahren begann, verengte sich der geographische Horizont, während der menschliche Horizont sich erweiterte. Arnold Toynbees These, wonach harte Lebensbedingungen den Menschen zu Leistungen anspornen, die durch das leichtere Leben in den Tropen nicht gefördert werden, gilt hier, wenn überhaupt. Um die Mitte dieser Periode trat eine neue Spielart der menschlichen Spezies auf, der Homo sapiens: und er erzielte auf allen Gebieten der Kultur größere Fortschritte als seine Vorfahren in einer zehnmal so langen Zeit — und sei es auch nur, weil die letzten Schritte sich stets als die leichtesten erweisen.

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Die relative Schnelligkeit des menschlichen Fortschritts in einer Periode, in der — bis etwa 10.000 vor Christus — die physischen Existenzbedingungen oft überaus schwierig waren, läßt zweierlei vermuten: weitere genetische und soziale Veränderungen, die die Intelligenz förderten, und solche Fortschritte in der Schaffung sprachlicher und bildlicher Symbole, daß erworbene Gewohnheiten und Kenntnisse besser als je zuvor übermittelt werden konnten. Für beides gibt es reichliche Beweise in den Malereien und Artefakten, die in den Höhlen Frankreichs und Spaniens entdeckt wurden. Diese Entdeckungen revolutionierten das Bild vom Frühmenschen; aber die alte Vorstellung von seiner Tierhaftigkeit ist so tief verwurzelt, daß man noch heute zu. »Höhlenmensch« als erstes »Keule« assoziiert.

Bis zu dieser Phase gibt es keinen Hinweis auf berufliche Spezialisierung und daher auch keinen handwerk­lichen Anreiz zur Verbesserung der Steinwerkzeuge; die Zeiträume, in denen wirkliche Verbesserungen eintraten, sind in Kategorien nicht von zehn-, sondern von fünfzigtausend Jahren zu messen. Seit dem mittleren Pleistozän, meint Braidwood, ist zumindest die Standardisierung behauener Werkzeugen gesichert.

Dies zeigt, daß die »Benutzer Vorstellungen von einigen idealen Standardformen für einen bestimmten Zweck (oder bestimmte Zwecke) entwickelt hatten und diese Formen gut reproduzieren konnten«. Braidwood sieht darin ganz zu Recht sowohl einen Sinn für künftige Verwendungsmöglichkeit als auch eine Fähigkeit, Symbole zu schaffen, in denen ein sichtbares oder hörbares Dies sich auf ein unsichtbares Jenes bezieht.

Das ist das Äußerste, was über die früheste technologische Errungenschaft des Menschen gesagt werden kann. Die rohen Formen, die die Acheuleen-Kultur kennzeichneten, blieben mehr als zweihunderttausend Jahre unverändert, und die ein wenig verbesserten Geräte der darauf folgenden Levallois-Phase hielten sich fast ebenso lange — vierzigmal so lang wie die gesamte Periode der geschriebenen Geschichte. Selbst der Neandertaler, der eine große Hirnschale besaß und seine Toten begrub — vor ungefähr fünfzigtausend Jahren —, hat nicht gerade ungestüme Fortschritte gemacht.

Aber vor etwa dreißigtausend Jahren änderte sich die Zeitskala. Vorbehaltlich neuer Funde, die diese provisorischen Schätzungen modifizieren könnten, läßt sich sagen, daß von da an die Kulturstadien einander in Intervallen von drei- bis fünftausend Jahren folgen: Das sind sehr kurze Phasen, verglichen mit den früheren. Die Kälte der letzten Eiszeit bewirkte tiefgehende Veränderungen im pflanzlichen und im tierischen Leben der nördlichen Halbkugel, denn die Vegetationsperiode wurde so kurz, wie sie heute am Polarkreis ist, und Gruppen, die sich hauptsächlich durch Sammeln ernährten, hatten die Wahl, entweder in wärmere Zonen auszuwandern oder ihre Lebensweise zu ändern und von den großen Herdentieren zu leben, die ebenfalls in der Kälte ausharrten.

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Unter diesem Druck wurden große und rasche Fortschritte in der Werkzeugherstellung gemacht, es begann der Steinbruch und sogar der Bergbau, und die beträchtlich erhöhte Geschicklichkeit in der Steinbearbeitung läßt auf Spezialisierung und möglicher­weise auf lebenslange Berufsausübung schließen.

So wurde der paläolithische Mensch durch die harten Bedingungen des Eiszeitklimas keineswegs entmutigt, sondern vielmehr zu höheren Leistungen angespornt, und sie scheinen sogar sein Gedeihen gefördert zu haben, denn sobald er einmal die Kunst der Großwildjagd meisterte, war er mit Proteinen und Fett reichlicher versorgt als aller Wahrscheinlichkeit nach je zuvor. Die großen Skelette des Aurignac-Menschen zeugen — wie der hohe Wuchs unserer heutigen Jugend — von reichlicher Ernährung. Durch Scharfsinn und Kooperation im Anlegen von Fallgruben für große Tiere, durch Erzeugung oder Ausnützung von Waldbränden, die große Herden in Panik versetzten, durch Vervollkommnung ihrer Steinwaffen, so daß sie dicke, für feuergehärtete Speerspitzen undurchdringliche Felle durchbohren konnten, und zweifellos durch Nutzung der Kälte zur Konservierung der Fleischvorräte, meisterten diese neuen Jäger die Umwelt wie nie zuvor und vermochten sogar, dank vermehrter Fettzufuhr, die langen Winter zu überdauern. War diese Existenz auch mühselig und die Lebensspanne vermutlich kurz, so gab es doch Zeit für Reflexion und Erfindungen, für Ritual und Kunst.

Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, muß ich hier abermals betonen, daß die Festlegung auf Steinwerkzeuge die Aufmerksamkeit von den technischen Fortschritten in der Verwendung von Leder, Sehnen, Fasern und Holz abgelenkt hat und insbesondere der Grund dafür war, daß nicht genügend Gewicht auf die daraus hergestellte hervorragende Waffe gelegt wurde, die eine bemerkenswerte Fähigkeit zu abstraktem Denken enthüllt. Denn vor etwa 30.000 bis 15.000 Jahren erfand und vervollkommnete der paläolithische Mensch Pfeil und Bogen. Diese Waffe war die erste wirkliche Maschine.

Bis dahin waren Werkzeuge und Waffen bloße Verlängerungen des menschlichen Körpers gewesen, wie der Wurfstock, oder Nachahmungen spezialisierter Organe anderer Lebewesen, wie der Bumerang. Aber Pfeil und Bogen haben in der Natur nicht ihresgleichen; sie sind ein so eigenartiges, spezifisches Produkt des menschlichen Geistes wie die Wurzel aus minus eins. Diese Waffe ist eine reine Abstraktion, in physikalische Form übertragen; zugleich aber stützte sie sich auf die drei Hauptquellen der primitiven Technik: Holz, Stein und Tierdärme.

Nun hatte ein Lebewesen, das klug genug war, die potentielle Energie einer gespannten Bogensaite zu benutzen, um einen kleinen Speer (Pfeil) über die normale Wurfdistanz hinaus zu schleudern, eine neue Stufe des Denkens erreicht.

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Dies war ein Fortschritt gegenüber einem einfacheren Gerät, einem Mittelding zwischen Werkzeug und Maschine, dem Wurfstock. Doch diese Kombination aus Querholz und Wurfspieß war so wirksam, daß sie Captain James Cook zu der Bemerkung veranlaßte, sie sei über eine Entfernung von etwa 50 Meter zielsicherer und tödlicher als seine eigenen Musketen des achtzehnten Jahrhunderts.

Diese technischen Verbesserungen erfolgten gleichzeitig mit gleichwertigen Fortschritten in der Kunst; deren Vorstufen liegen freilich im Dunkel, denn plötzlich treten wohlgeformte Darstellungen auf, aus einem »Nichts«, das noch nicht adäquat beschrieben werden kann. Aus der Natur dieser Fortschritte kann man auf eine sogar noch entscheidendere Verbesserung in der älteren Kunst der Sprache schließen, mit jener verfeinerten Differenzierung der Bedeutung von Ereignissen in Zeit und Raum, wie die späteren Sprachen sie aufweisen. Die erste Flöte, ein Instrument, das wir mit Pan assoziieren, erscheint auf einem Bild aus dem Magdalenien, auf dem eine sehr panähnliche Figur zu sehen ist, entweder ein maskierter Zauberer oder ein Phantasiewesen, halb Mensch, halb Tier, wie Pan selbst. Aber wer weiß, wann zum ersten Mal ein musikerzeugendes Rohr erfunden wurde?

»Ukwane holte seinen Jagdbogen hervor, und indem er das eine Ende auf eine trockene Melonenschale aufsetzte, begann er mit einem Schilfrohr über die Sehne zu streichen und erzeugte einen Ton.« 

Dieses Bild, dem vorhin erwähnten ausgezeichneten Buch über die Buschmänner entnommen, zeugt von einem früheren Zusammenhang zwischen Kunst und Technik: Es führt uns zu einem Punkt zurück, da Prometheus und Orpheus Zwillinge waren, ja beinahe siamesische Zwillinge. Vielleicht war der Bogen sogar zuerst als Musikinstrument verwendet worden, ehe der schwingende Darm an eine der vielen späteren Anwendungsweisen denken ließ: als Jagdwaffe, als Mittel zur Erzeugung einer rotierenden Bewegung beim Feuerbohrer oder beim Bogenbohrer. Diese hypothetische Geschichte des Bogens würde dann mit der Rückkehr zu seinem ursprünglichen Ausgangspunkt bei der letzten exquisiten Verfeinerung der Cremona-Geige enden.

Pfeil und Bogen können als archetypisches Modell für viele spätere mechanische Erfindungen dienen, als Übersetzung menschlicher Bedürfnisse — doch nicht notwendigerweise organischer Fähigkeiten — in ablösbare, spezialisierte, abstrakte Formen. Wie bei der Sprache ist der Schlüsselbegriff ablösbar. Und doch entsprang das Federn des Pfeils, das die Treffsicherheit der Waffe garantierte, wahrscheinlich einer rein magischen Identifizierung des Pfeils mit den Flügeln eines lebenden Vogels. Das ist einer jener Fälle, wo der Magieglaube den Menschen weiter in die Irre führte, weil er in mancher Hinsicht tatsächlich Nutzen brachte. Aber vom Bogen und bis zur nächsten Maschine, der Töpferscheibe, scheinen etwa zehn- bis zwanzigtausend Jahre verstrichen zu sein.

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In der Zwischenzeit halfen die Verbesserung der Geräte und die Erfindung mannigfaltiger, mit Werkzeugen hergestellter Gegenstände den paläolithischen Handwerkern auf dreierlei Art. Erstens brachte die Regelmäßigkeit der erforderlichen Anstrengungen ein disziplinierendes Element in das sprunghafte Leben des Jägers; zweitens zwang die Unnachgiebigkeit der harten Materialien den Handwerker, sich auf seine Umwelt einzustellen und zu erkennen, daß rein subjektive Wünsche oder magische Rituale wirkungslos bleiben, wenn sie nicht mit Einsicht und Anstrengung verbunden sind — beides war notwendig. Drittens schließlich stärkte die zunehmende Geschicklichkeit des paläolithischen Menschen sein Selbstvertrauen und brachte unmittelbare Belohnung: nicht bloß Freude an der Arbeit, sondern auch den vollendeten Gegenstand — seine eigene Schöpfung.

Nun, da ich die allzu einseitige Vorstellung von der frühesten menschlichen Wirtschaft genügend ausgeglichen habe, ist es an der Zeit, die positive Rolle zu würdigen, die der Stein in den Frühstadien der menschlichen Entwicklung tatsächlich gespielt hat. Der Stein unterschied sich von der übrigen Umwelt durch seinen spezifischen Charakter, seine Härte und Dauerhaftigkeit. Flüsse mögen ihren Lauf ändern. Bäume mögen, vom Blitz getroffen fallen oder. verbrennen, aber steinerne Gebilde und Säulen blieben feste Wahrzeichen in einer sich wandelnden Landschaft. In der ganzen Menschheitsgeschichte war der Stein Faktor und Symbol der Kontinuität; und gerade seine Härte, Farbe und Struktur scheinen den Frühmenschen fasziniert und herausgefordert zu haben. Steinesuchen mag mit dem Nahrungssammeln Hand in Hand gegangen sein, lange bevor Feuerstein und Kiesel, die sich besonders zur Werkzeugherstellung eigneten, erkannt und geschickt verwendet wurden.

Der Abbau von Feuerstein und die Herstellung von Steinwerkzeugen gaben dem Menschen den ersten Begriff von systematischer, unablässiger Arbeit. Daß das Graben nach Feuerstein mit Rentierschaufeln schwere Muskelanstrengung erfordert, kann ich persönlich bezeugen, da eine meiner Aufgaben als Marinerekrut 1918 darin bestand, auf unserem Inselstützpunkt in Newport, Rhode Island, in einen Hügel aus Feuerstein hineinzugraben. Selbst mit einer stählernen Spitzhacke war das keine leichte Aufgabe; so mag sehr wohl die hoffnungsvolle, autosuggestive Bestärkung durch die Magie notwendig gewesen sein, um den Frühmenschen zu dieser zermürbenden Anstrengung zu ermutigen, wiewohl sie eine Sonderbelohnung in Form eines gewissen männlichen Stolzes einbrachte: eines Stolzes, der dem Bergmann bis zum Automationszeitalter anhaftete.

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Zum Teil durch Steinbearbeitung lernte der Frühmensch, das »Realitätsprinzip« zu respektieren: die Notwendigkeit beharrlicher, intensiver Anstrengung, um einer fernen Belohnung willen, im Gegensatz zum Lustprinzip, demzufolge man momentanen Impulsen gehorcht und unmittelbare Befriedigung erwartet - bei geringer Anstrengung. Wäre der paläolithische Mensch dem Stein so gleichgültig gegenübergestanden wie der zivilisierte Mensch lange Zeit seiner organischen Umwelt, dann hätte die Zivilisation niemals Gestalt angenommen; denn diese war, wie wir bald sehen werden, ursprünglich ein Steinzeitartefakt, mit Steinwerkzeugen und von Männern mit steinharten Herzen geformt.

 

   Jagd, Ritual und Kunst  

Hinter der glänzenden Handfertigkeit und der ausdrucksreichen Kunst, welche die letzten Phasen der paläolithischen Kultur kennzeichnen, lag die durch Spezialisierung auf Großwildjagd bestimmte Lebensweise. Eine solche Beschäftigung erforderte ein größeres Maß an Kooperation und diese wiederum eine größere Anzahl von Fährtensuchern, Treibern und Tötern; und das setzt eine Stammes- oder Sippenorganisation voraus. Einzelne Familiengruppen mit weniger als fünfzig Mitgliedern, von denen nur eine Minderheit aus erwachsenen Männern bestand, hätten es kaum bewältigen können. Das Jägerleben in der Eiszeit hing notwendiger­weise von den Wanderungen der großen Herden ab, die auf der Suche nach frischem Weideland waren; doch es gab darin feste Bezugs- und Stützpunkte — Wasserläufe, Quellen, Lagerplätze, Sommerweiden, nicht zuletzt Höhlen und im späten Paläolithikum sogar kleine Siedlungen mit Häusern.

Waren Neugier, Schlauheit, Anpassungsvermögen, Gewöhnung und Wiederholung — zusammen mit Geselligkeit — die Haupt­tugenden des Frühmenschen, so brauchte der Mensch der späteren Altsteinzeit noch andere Eigenschaften: Mut, Phantasie, Gewandtheit und die Bereitschaft, Unerwartetem zu begegnen. In einem kritischen Augenblick der Jagd, wenn ein gereizter Büffel, schon verwundet, die ihn umzingelnden Jäger angriff, war die Fähigkeit, unter dem Kommando des erfahrensten und mutigsten Jägers gemeinsam zu handeln, die Bedingung dafür, daß man einer Verletzung oder einem jähen Tod entging. Diese Situation hatte keine Parallele im Nahrungssammeln oder in den späteren Formen der neolithischen Landwirtschaft.

Das ähnlichste moderne Gegenstück zur paläolithischen Großwildjagd ist wahrscheinlich die Art und Weise, wie vor mehr als einem Jahrhundert der Pottwalfang betrieben wurde. Ohne die Phantasie allzu sehr zu strapazieren, findet man in Melvilles Moby Dick die psychischen und sozialen Parallelen zur paläolithischen Jagd.

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Hier wie dort waren bei der Verfolgung unerschrockener Mut und die Fähigkeit des Führers, Befehle zu erteilen, sowie exakter Gehorsam notwendig, sollte das Wagnis gelingen; und Jugend war dafür wahrscheinlich eine bessere Qualifikation als Alter und Erfahrung.

Führertum und Loyalität, diese Schlüssel zu militärischem Erfolg und großangelegter Organisation, gediehen in diesem Milieu. Beide Momente sollten in einer späteren Periode technologische Konsequenzen haben.

Aus diesem kulturellen Komplex heraus betritt schließlich eine Führerpersönlichkeit, der Jägerhäuptling, die Bühne der Zivilisations­geschichte — im Gilgamesch-Epos und auf der prädynastischen ägyptischen Jagdbildtafel. Wie wir bald sehen werden, war diese Kombination aus gefügiger ritueller Konformität — ein frühes und stark ausgeprägtes Merkmal — und heiterem Selbstvertrauen, kühner Führung und nicht zuletzt einer gewissen wilden Bereitschaft zum Töten die wesentliche Voraussetzung für die größte frühe Errungenschaft der Technik: die kollektive menschliche Maschine.

Zum Unterschied von der Nahrungssuche brachte die Jagd, dies sei vermerkt, eine tückische Gefahr für die sanftere, zärtliche, lebensfreundliche Natur des Menschen mit sich: die Notwendigkeit, immer wieder zu töten. Der mit einer Steinspitze versehene Speer oder Pfeil, imstande, entfernte wie nahe Ziele zu treffen, vergrößerte die Reichweite des Tötens und scheint vorerst Bedenken in bezug auf seine Wirkungen erweckt zu haben. Selbst vor den Höhlenbären, die er aus ihren Schlupfwinkeln vertrieb und zu Nahrungszwecken erlegte, hegte der paläolithische Mensch eine heilige Furcht, wie später vor seinen Totemtieren. Schädel solcher Bären wurden in einer Anordnung gefunden, die auf einen Kult schließen läßt. Wie manche Jägerstämme es bis zum heutigen Tag tun, baten die paläolithischen Jäger möglicherweise die getöteten Tiere um Vergebung, rechtfertigten sich mit Hunger und schränkten das Töten auf das unbedingt Notwendige ein. Jahrtausende verstrichen, bis der Mensch sich am Leben seiner Artgenossen verging, ohne die Entschuldigung zu haben, sie zu magischen oder anderen Zwecken fressen zu müssen.

Doch der Zwang, die brutaleren männlichen Eigenschaften zu kompensieren, könnte, wie Jung es deutet, die Erweiterung der femininen Komponente im männlichen Unbewußten zur Folge gehabt haben. Die sogenannten Muttergottheiten in der paläolithischen Kunst mögen den instinktiven Versuch des Jägers darstellen, die berufsbedingte Überbetonung des Tötens durch eine verstärkte Neigung zu sexuellem Genuß und schützender Zärtlichkeit aufzuwiegen. Mein Sohn Geddes bemerkte während seines Militärdienstes, daß gerade die schlechtesten und gröbsten Charaktere in seiner Einheit, Kindern gegenüber die größte Sanftmut zeigten: eine ähnliche Kompensation.

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Das systematische Töten von Großwild hatte auf den paläolithischen Menschen wahrscheinlich noch eine andere Wirkung: Er wurde mit der Tatsache des Todes nicht in langen Intervallen, sondern tagtäglich konfrontiert. In dem Maße, als er sich mit seinem Opfer identifizierte, war er gezwungen, sich' auch seinen eigenen Tod vorzustellen, desgleichen den Tod seiner Familienangehörigen, Verwandten und Stammesgenossen. Hier mag, vom Traum weiter angeregt, der Ursprung der irrigen Bemühungen des Menschen liegen, sein Leben in der Vorstellung zu verlängern, indem er annahm, daß die Totep, obwohl physisch von der Bildfläche verschwunden, in gewissem Sinn immer noch weiterlebten, beobachteten, eingriffen, Rat gäben: manchmal wohlwollend, als Quelle von Weisheit und Wohltat; in nicht wenigen Fällen aber sind die Geister der Verstorbenen, die einem im Traum erscheinen, voll Bosheit und müssen ausgetrieben oder versöhnt werden, damit sie kein Unglück bringen. Vielleicht waren die der Erinnerung dienenden Künste der Malerei und der Plastik, die nun zum ersten Mal aufblühten, bewußte Versuche, den Tod zu überlisten. Das Leben vergeht, aber das Bild bleibt und fährt fort, das Leben anderer zu bereichern.

Ein Großteil der paläolithischen Kunst ist in Höhlen erhalten geblieben; und manche der Bilder und Skulpturen, die dort gefunden wurden, — etwa zehn Prozent der Gesamtzahl — dürften mit magischen Ritualen zusammenhängen, die Erfolg bei der Jagd beschwören sollten. Aber die Künstler, die diese Bilder unter schwierigsten Bedingungen malten, von der rauhen Unterlage nicht abgeschreckt, ja manchmal deren Konturen nutzend, müssen ihre Fertigkeit in einer langen Praxis anderswo als an den Höhlenwänden erworben haben. Dies wird bestätigt durch eine Erfahrung, die Leo Frobenius bei einer Gruppe afrikanischer Pygmäen gemacht hat. Als er einmal vorschlug, auf Elefantenjagd zu gehen, versicherten die Pygmäen, die Bedingungen seien ungünstig, und lehnten den Vorschlag ab. Doch am nächsten Morgen entdeckte er, daß die Jäger sich an einem geheimen Ort versammelt hatten. Nachdem sie die Umrisse eines Elefanten auf den geglätteten Boden gezeichnet hatten, stießen sie einen Speer hinein und sprachen dabei eine Zauberformel. Erst dann waren sie bereit, auf die Jagd zu gehen.

Diese zufällige Entdeckung wirft ein Licht auf bestimmte Aspekte von Ritual und Kunst des Paläolithikums. In der Altsteinzeit wurde die Jagd nicht auf gut Glück betrieben: Sie erforderte Planung, wohlbedachte, sorgfältig geprobte Strategie, genaue, graphisch darstellbare Kenntnis der Anatomie des gejagten Tieres, eine Kenntnis wie jene, die, in den Illustrationen zu Vesalius verkörpert, den Fortschritten der Chirurgie und der Medizin in unserer Zeit voranging.

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Ein ähnliches magisches Ritual findet man, wie Sollas zeigte, bei den Ojibwa-Indianern in Nordamerika, wo der Schamane das zu jagende Tier auf den Boden zeichnete, das Herz zinnoberrot bemalte (wie man es auch auf europäischen Höhlenmalereien häufig findet), und eine Linie vom Herzen bis zum Mund des Tieres zog; entlang dieser Linie sollte der Zauber fließen, um den Tod des Tieres zu gewährleisten. Im gleichen Sinn begrüßten die Mandan-Indianer George Catlin als Medizinmann, weil seine Zeichnungen »die Bisons herbeiriefen«.

»Unlängst«, so berichtet Fernand Windeis in seiner Studie über die Höhlen von Lascaux, »verbrachten Ethnologen einige Monate bei einem Wüstenstamm in Australien und brachten von dort Filme zurück. Auf einem dieser Filme ist ein Stammeshäuptling zu sehen, wie er die Wand seiner Höhle bemalt ... Der Anblick ist verblüffend. Der Film zeigt nicht einen Künstler bei der Arbeit, sondern einen Priester oder Zauberer beim Gottesdienst. Jede Geste ist von Gesängen und Ritualtänzen begleitet, und diese nehmen in der Zeremonie einen weit wichtigeren Platz ein als die Malerei.«

Wenn Tanz, Gesang und Sprache sich vom Ritual herleiten, wie ich behauptet habe, so kann es sich mit dem Malen ebenso verhalten: Ursprünglich waren alle Künste heilig, denn nur um der Vereinigung mit heiligen Kräften willen nahm der Mensch die Anstrengungen und Opfer auf sich, die zur Erzielung ästhetischer Vollkommenheit nötig waren. Die Verbindung von Tanz, Ritual und graphischer Bewegung ist vielleicht die Erklärung für die mysteriösen makkaroniartigen Muster an den Wänden mancher Höhlen; diese abstrakten Bilder könnten ein Nebenprodukt ritueller Gesten sein — eine Handlung, an der Wand festgehalten, so wie heute auf dem Film.

Vollzog der Jäger ein magisches Ritual, so deshalb, weil er dabei sowohl die Einsicht als auch die Fertigkeit erlangte, die zur Erfüllung seiner Aufgabe notwendig waren. Die Linienführung der Bisonzeichnungen von Altamira oder der Hirsche von Lascaux verrät feine sensorisch-motorische Koordination, gepaart mit einem scharfen Blick für kleinste Details. Das Jagen erfordert, wie jedermann, der es einmal versucht hat, weiß, ein hohes Maß an visueller und akustischer Aufmerksamkeit auf die geringste Bewegung im Gras oder im Laub, verbunden mit der gespannten Bereitschaft, prompt zu reagieren. Daß der Jäger des Magdalenien diese Stufe sensorischer Lebhaftigkeit und ästhetischer Spannung erreicht hatte, zeigt sich nicht nur im plastischen Realismus seiner hochabstrakten Darstellungen, sondern auch in der Tatsache, daß viele Tiere in Bewegung abgebildet sind. Dies war eine höhere Leistung als die statische Symbolisierung.

Einer der Zwecke, ein Tier realistisch abzubilden, war, es zu »fangen«; und gab es einen größeren Triumph, als es in Bewegung zu fangen, die schwierigste Erprobung der Fähigkeit eines Jägers im Umgang mit dem Assegai oder mit Pfeil und Bogen? In der Porträtkunst sagt man heute noch »eine Ähnlichkeit einfangen«.

Doch die Steinzeitkunst war nicht allein ein Faktor praktischer Magie; sie war zugleich eine höhere Form von Magie eigener Art, so wunderbar wie die Magie der Worte, ja noch geheimnisvoller und heiliger.

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Wie das Innere der von Naturkräften geformten und gewölbten Höhle selbst, die dem Menschen die ersten Einblicke in die Möglichkeiten symbolischer Architektur gewährte, erschlossen diese Bilder eine Welt von Farben und Formen, die über den ästhetischen Bereich natürlicher Objekte hinausging, weil sie als unvermeidbare Beigabe die Persönlichkeit des Menschen mit einschloß.

War diese Kunst nicht bloß magisch und geheiligt, sondern darüber hinaus ein Kultgeheimnis, das nicht allen Stammes­angehörigen offenstand? Der schwierige Zugang zu den bemalten Wänden, der oft gefährliche Kletterei erforderte, mag mehr anzeigen als eine Initiationsprüfung. Hat vielleicht die Elite vorsätzlich fast unzugängliche Höhlen gewählt, um die Kunst, Bilder zu malen, für ihren eigenen Gebrauch zu hüten - ein frühes Äquivalent der esoterischen Sprache und des unverletzlichen Tempelheiligtums späterer Priesterschaften? Steckt eine Erinnerung an die Form der Höhle in dem geheimen Zugang zum Inneren einer ägyptischen Pyramide? Diese Fragen werden immer unbeantwortet bleiben; doch es ist wichtig, daß wir sie weiterhin stellen, um diesbezügliche positive Beweise, die vielleicht noch gefunden werden, richtig würdigen zu können.

Etwas von diesem Mysterium der Höhle umgibt alle großen Augenblicke des Lebens, bis hinauf in unsere eigene entheiligte moderne Kultur: Geburt, Geschlechtsverkehr, Einführung in neue Lebensphasen und Tod. Und bedeutete das Einfangen einer Ähnlichkeit Macht über die Seele, wie viele Primitive heute noch glauben, so mag dies erklären, warum das menschliche Gesicht in den Höhlenmalereien so auffallend fehlt, wenngleich schemenhafte Gestalten mit Masken oder vogelähnlichen Zügen vorkommen. Diese Unterlassung ist nicht auf ungenügende Kunstfertigkeit zurückzuführen, sondern auf die vermeintliche magische Gefahr für die abgebildete Person. Der finster drohende Blick und die protestierende Geste, auf die ich stieß, als ich einmal aus gehöriger Distanz einen Eingeborenen Hawaiis auf einem Markt in Honolulu photographierte, erinnerten mich daran, wie tief verwurzelt die Angst vor der Abbildung ist.

Man schöpft die Bedeutung der paläolithischen Kunst nicht voll aus, indem man einige, wenn auch nicht alle Höhlenzeichnungen auf magische Rituale bezieht. In seiner umfassenden Untersuchung der Höhlenkunst, die ebenso reich an Beweisen wie fruchtbar an neuen Hypothesen und umsichtig in der Beurteilung ist, leitet Leroi-Gourhan aus Charakter und Anordnung der Bilder und Zeichen den Schluß ab, daß die Höhenkünstler bestrebt waren, ihre neuen religiösen Perspektiven zu formulieren, die auf der Polarität des männlichen und des weiblichen Prinzips beruhten. Sicherlich gingen diese Bilder weit über jeden praktischen Versuch hinaus, die Fortpflanzung des Jagdtieres zu fördern und die erfolgreiche Jagd zu sichern.

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Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen die Ausübung dieser Kunst verbunden war, ist kaum daran zu zweifeln, daß ein Glaube von höchster Bedeutung, der für die menschliche Entfaltung wichtiger schien als Nahrung und körperliche Sicherheit, die Quelle dieser Höhlenmalerei gewesen sein muß. Nur im Streben nach einem sinnvolleren Leben konnte der Mensch eine derartige Hingabe aufbringen oder bereitwillig und ohne zu klagen solche Opfer auf sich nehmen.

Mit der Bildhauerei kam ein anderes Interesse ins Spiel und wurde möglicherweise eine andere Funktion erfüllt. Hier könnte die furchtlose Behandlung des menschlichen Körpers, einschließlich weiblicher Akte, die bis zu den Ägyptern nicht ihresgleichen haben, auf eine vormagische Kultur hinweisen. Ich bin nicht so sicher wie manche Interpreten, die meinen, die Zeichnungen, die angeblich trächtige Tiere darstellen, seien Versuche, auf magische Weise größere Nahrungserträge zu erzielen. Diese Erklärung steht im Widerspruch zu den Beweisen einer strotzenden Überfülle dieser Tiere, die ein kleiner Jägerstamm keinesfalls dezimieren konnte.

Doch die Bildhauerei weist auf einen ganz anderen Interessen- und Gefühlsbereich hin: Die geschnitzten, einander gegenüberstehenden Steinböcke, die in Le Roc-de-Sers gefunden wurden, scheinen kaum etwas anderes zu symbolisieren als sich selbst, und die »Venus« von Laussei ist in jeder Hinsicht, von Kopf bis Fuß, eine Frau. Stellte die Bildhauerkunst die Alltagserfahrung dar, während die Malerei sich mehr an Traum, Magie und Religion hielt?

Das einzige, was wir mit einiger Sicherheit über diese Phase der menschlichen Entwicklung sagen können, ist, daß die Jagd die künstlerische Phantasie befruchtet hat. Und endlich stand dem überaktiven Nervensystem des Menschen ein Material zur Verfügung, das seinen Möglichkeiten entsprach. Die Gefahren der Großwildjagd brachten kräftige, selbstbewußte Menschen hervor, mit raschen emotionellen Reaktionen, einer Adrenalinproduktion, die durch Furcht, Erregung und Wut stimuliert wurde, und vor allem mit gut abgestimmter Koordination, die ihnen beim Malen und Schnitzen ebenso zugutekam wie beim Erlegen von Tieren. Beide Arten von Geschick, beide Arten von Sensitivität wurden ins Spiel gebracht.

So war die Jagd im großen Stil, die einerseits kühnes Handeln verlangte und unempfindliche Härte im Zufügen von Schmerz und im Töten förderte, anderseits von einer Zunahme an ästhetischer Sensibilität und emotionalem Reichtum begleitet - Vorspiel zu weiterem symbolischem Ausdruck. Die Kombination dieser Charakterzüge ist nicht ungewöhnlich. Daß mörderische Grausamkeit und höchste ästhetische Vollendung nicht unvereinbar sind, hat uns eine lange Reihe historischer Beispiele gelehrt, die sich von China bis zu den Azteken Mexikos, vom Rom Neros bis zum Florenz der Medici erstreckt, nicht zu vergessen unsere Zeit, die mit hübsch arrangierten Blumenbeeten an den Eingängen der nazistischen Vernichtungslager aufwartet.

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Wie hart und gefährlich das Jägerleben auch war, es entfesselte die Phantasie und lenkte sie auf die Kunst; vor allem scheint sie, wenn man aus den spärlichen Funden Schlüsse ziehen kann, durch eine üppige Entfaltung der Sexualität gekennzeichnet, die sich uns in den weit verbreiteten Bildern der nackten weiblichen Gestalt darbietet, wobei das Interesse sich auf die Vulva, die Brüste und das Gesäß konzentriert, die nicht nur in der berühmten Venus von Willendorf, sondern auch in vielen anderen Figuren vergrößert und vergröbert dargestellt sind.

Diese Figuren werden gewöhnlich als Muttergottheiten bezeichnet, und viele Ethnologen meinen, sie seien der Mittelpunkt eines religiösen Kults gewesen. Damit unterstellt man diesen Figuren aus der frühesten Kulturepoche eine Bedeutung, die sie in einer viel späteren Kultur hatten. Genau genommen erlaubt dies nur den Schluß auf ein verstärktes Bewußtsein der Sexualität und das Bestreben, sie mittels symbolischer Darstellungen festzuhalten und ihre Wirkung im Geist zu verlängern, anstatt sie in der unmittelbaren Kopulation abzureagieren. Der Geschlechtsverkehr, die früheste Form der sozialen Vereinigung und Kooperation, wurde nun vom Geist gesteuert und bereichert.

Da manchmal in ein und derselben Höhle Darstellungen des männlichen Phallus und weibliche Figuren mit offener Vulva gefunden werden — eine Verbindung, die bis heute in Hindutempeln vorkommt —, hat man tatsächlich Grund, Ritualhandlungen zu vermuten, die das Interesse an der Sexualität erwecken, fördern und intensivieren sollten; vielleicht sogar Einweihungs- und Aufklärungs­riten, wie sie bei fast allen primitiven Völkern verbreitet sind. Besondere Ermunterung zu sexueller Aktivität könnte dringend notwendig gewesen sein in einem rauhen Klima, dessen lange Winterzeit, manchmal mit kärglicher Ernährung verbunden, die normalen Wirkungen von Frieren und Fasten hervorrief: Nachlassen des sexuellen Interesses und des sexuellen Verkehrs. Da männliche und weibliche Figuren nahe beisammen gefunden wurden, ist man versucht, die Muttergottheit-Erklärung in Frage zu stellen, denn die Tatsache, daß die Figuren klein sind, zeigt an, daß sie dazu bestimmt waren, mitgetragen zu werden, als persönliche Ausstattung, fast so, als wären sie eher häusliche Amulette oder Andenken gewesen als Gegenstände der Gruppenanbetung.

Wir stehen hier vor dem Widerspruch einer stark maskulinen Gesellschaft, von deren Hauptbeschäftigung die Frauen ausgeschlossen waren, außer von der sekundären Tätigkeit des Schlachtens, des Kochens und des Gerbens der Häute, die aber nichtsdestoweniger die besonderen Funktionen und Eignungen der Frau, ihre besondere Fähigkeit zu sexuellem Spiel, Reproduktion und Kinderpflege auf ein Niveau brachte, auf dem die Sexualität sich der Phantasie bemächtigte wie nie zuvor.

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Plastiken und auch die vielfältige Menge erhaltenen Schmucks, von Muscheln bis zu Rentier­halsketten, verraten beträchtliche Anstrengungen, die weibliche Schönheit zu verstärken und die sexuelle Anziehung zu steigern. Hier war eine Gabe, die erst zur vollen Blüte kam, als eine andere Reihe technischer Erfindungen — die der Domestizierung — die Jagd in den Hintergrund gedrängt hatte.

Diese These, wonach die Verbesserung der Waffen und der kollektiven Jagdtechnik von einer Entfaltung der Phantasie in Kunst und Sexualität begleitet war, erhält Unterstützung durch die weite Verbreitung weiblicher Statuetten aus dieser Periode. Wie Graham Clark hervorhebt, kommt der gleiche Typus sexuell überbetonter Figurinen von Frankreich und Italien bis zur südrussischen Steppe vor, »meist aus Mammutelfenbein oder verschiedenen Steinarten hergestellt«, in der Tschechoslowakei auch aus gebranntem Lehm. Clerk meint: »Die Tatsache, daß alle Stücke, deren Herkunft bestimmbar ist, aus Siedlungen — Höhlen oder künstlichen Behausungen — kamen, spricht eher für eine häusliche als für eine öffentliche oder zeremonielle Bedeutung.« Doch Häuslichkeit schließt das Zeremoniell gewiß nicht aus, wie ich in Anbetracht des historischen Beweismaterials über priesterliche Funktionen, die das Familienoberhaupt von Ur bis Rom ausübte, hinzufügen möchte. Heute noch übt in orthodoxen jüdischen Familien der Vater diese Funktion aus.

Zugleich mit der Konzentration der Symbole auf die Sexualität tauchen die ersten Hinweise auf Haus und Herd als Schwerpunkt eines seßhaften Lebens auf: eine Mutante in der Jägerkultur, die in den nachfolgenden Phasen der neolithischen Kultur zur Dominante wurde und es seither geblieben ist. Und es war für die Entwicklung der Technik gewiß von Bedeutung, daß Lehm, außer für den Herdbau, zuerst als Werkstoff für die Kunst verwendet wurde, etwa für die Bisons in der Tuc-d'Audoubert-Höhle, Tausende Jahre bevor die Töpferei erfunden wurde. Dies läßt darauf schließen, daß der paläolithische Mensch sich selber zu domestizieren begann, ehe er Pflanzen und Tiere domestizierte. Das war, neuen Ritual, Sprache und Kosmetik, der erste Schritt zur Transformation der menschlichen Persönlichkeit.

Und an diesem Punkt, wo die symbolischen Künste sich miteinander verbinden und gegenseitig ergänzen, erscheint der Homo sapiens — der wissende, interpretierende Mensch — in der Rolle, die seine gesamte spätere Geschichte kennzeichnet: Er beschränkte sich nicht darauf, unermüdlich seine Nahrung zusammenzukratzen, zu graben und zu sammeln, Werkzeuge herzustellen und zu jagen, sondern löste sich langsam von diesen tierischen Notwendigkeiten ab, tanzte, sang, spielte, malte, modellierte, gestikulierte, mimte, dramatisierte und plauderte — gewiß plauderte er! — und lachte vielleicht zum ersten Mal. Dieses Lachen charakterisiert ihn und seine Überlegenheit besser als die Werkzeuge.

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Wie Lazarus war der paläolithische Mensch endlich ganz aus dem Grabe vorbewußter Existenz gestiegen und er hatte Gründe, zu lachen. Sein Geist, zunehmend von nackter Notwendigkeit, Angst, wirren Träumen und panischer Furcht erlöst, war zu vollem Leben erwacht. Sobald er einmal über Wörter und Bilder gebot, lag kein Teil seiner Welt — der inneren und der äußeren, der belebten und der unbelebten — gänzlich außerhalb seiner Reichweite oder seines geistigen Fassungsvermögens. Der Mensch hatte schließlich ein Artefakt — das Symbol — vervollkommnet, mit dem sein hochorganisiertes Gehirn direkt arbeiten konnte, ohne andere Werkzeuge als jene, die der Körper selbst beistellte. Was die Höhlenzeichnungen aus dem Magdalenien betrifft, zeugen sie von einer noch allgemeineren und vielseitigeren Leistung im Aufbau einer symbolischen Welt.

Diese Gaben waren verstreut und ungleich verteilt; und sie entwickelten sich auch weiterhin ungleichmäßig, so daß keine Verallgemeinerung, die man über den »Menschen« macht, auf das ganze Menschengeschlecht, zu allen Zeiten und an allen Orten, zutrifft — ganz und gar nicht. Doch jeder symbolische Fortschritt hat sich als ebenso übertragbar und mitteilbar erwiesen wie das genetische Erbe, das die menschliche Gattung verbindet; und die vornehmlich soziale Natur des Menschen garantierte, daß mit der Zeit keine Bevölkerung, wie klein, entlegen oder isoliert sie auch war, völlig von diesem gemeinsamen Kulturerbe abgeschnitten blieb.

 

   Rund um das Feuer 

Man kann den Errungenschaften des paläolithischen Menschen nicht gerecht werden, ohne schließlich auf die Hauptentdeckung zurückzukommen, die sein Überleben sicherte, nachdem er sein eigenes haariges Fell verloren hatte: die Verwendung und Erhaltung des Feuers. Abgesehen von der Sprache, ist dies die hervorragendste technische Leistung des Menschen, von keiner anderen Spezies erreicht. 

Andere Lebewesen verwenden Werkzeuge, bauen Wohnstätten, Dämme, Brücken und Tunnels, sie schwimmen, fliegen, führen Rituale aus, kooperieren als Familien bei der Aufzucht der Jungen; die Ameisen führen sogar untereinander Krieg, zähmen andere Spezies und legen Gärten an. Doch nur der Mensch wagte es, mit dem Feuer zu spielen: So lernte er, die Gefahr herauszufordern und seine eigene Angst zu beherrschen; und beides muß sein Selbstvertrauen und seine tatsächlichen Fähigkeiten enorm gesteigert haben.

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In der Eiszeit gab es viele Umstände, die die geistige Aktivität behinderten: ständige Gefahr des Verhungerns, Erschöpfung durch übermäßige Anstrengung und Erstarrung unter der Kälte, die geistige Trägheit und Schlafbedürfnis hervorruft. Aber das Feuer rettete den Menschen, weckte ihn auf und half ihm zudem, sich zu sozialisieren. Außerdem machte die Beherrschung des Feuers dieses nackte Geschöpf von seinem ursprünglichen tropischen Lebensbereich unabhängig. 

Der Herd stand im Mittelpunkt seines Lebens; und sobald er zu sprechen begonnen hatte, vervollkommnete er in endlosen Gesprächen und Erzählungen vor dem Feuer das Mittel der Sprache. Diese uralte Kunst erstaunte mit ihrem Zauber den einfühlenden Proto-Anthropologen Schoolcraft, als er ihr am Lagerfeuer indianischer Stämme begegnete, die er für mürrisch, tierisch, wild — und stumm gehalten hatte. 

Ist es bloßer Zufall, daß die Kulturherde, wo man jetzt die ersten Spuren neolithischer Seßhaftigkeit entdeckt, die Hochlandgebiete Palästinas und Kleinasiens sind, die einst dicht bewaldet waren und reichlich Brennholz lieferten? Vom Feuer angefangen, war der Großteil der für die Weiterentwicklung des Menschen notwendigen Ausstattung — mit Ausnahme von Haustieren und -pflanzen — bereits vorhanden, ehe die letzte Eiszeit — etwa um 10.000 vor Christus — zu Ende ging.

Fassen wir zusammen, was es an paläolithischen Errungenschaften gab, bevor die neolithische Domestizierung deren Wirkungs­bereich ausdehnte und die Mängel ausglich.

Untersucht man allein die materielle Ausstattung, so findet man: Seilwerk, Fallen, Netze, Lederbehälter, Lampen, möglicherweise Körbe, sowie Herden, Hütten, Dörfer; desgleichen spezialisierte Werkzeuge, einschließlich chirurgischer Instrumente, verschieden­artige Waffen, Abbildungen, Masken, gemalte Bilder, graphische Zeichen. Doch noch wichtiger als diese Fülle materieller Erfindungen war die stete Vermehrung der Bedeutungs­träger, des Sozialerbes oder der Tradition, die in Ritual, Brauchtum, Religion, Gesellschaftsstruktur, Kunst und vor allem in der Sprache Ausdruck fanden. Bis zum Magdalenien hatte der Geist nicht nur eine höhere Stufe erklommen, sondern auch eine Kultur hervorgebracht, mit deren Hilfe bis dahin unentdeckte Möglichkeiten ausgedrückt und genutzt werden konnten.

Bei der Untersuchung der paläolithischen Technik war ich darauf bedacht, ein Gegengewicht zur Überbetonung der Werkzeuge und Waffen herzustellen, indem ich mich mehr auf die Lebensweise konzentrierte, die sie hervorbringen halfen. Die Härte der Bedingungen, unter denen der paläolithische Mensch — zumindest in der nördlichen Hemisphäre — lebte, scheint die menschlichen Reaktionen gestärkt und die Entfernung des Menschen von seinem tierischen Ursprung vergrößert zu haben; die Prüfungen haben ihn gefestigt, nicht zerstört.

Unter diesen Bedingungen mögen die Ängste, Befürchtungen und eruptiven Phantasien, die ich als Attribute der lang vergangenen Traumzeit bezeichnet habe, auf ein beherrschbares Maß reduziert worden sein, ähnlich wie die Neurosen vieler Londoner zur Überraschung der Psychiater während der Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg verschwanden. In Not und Gefahr wachsen die Menschen oft über sich selbst hinaus: Ein Unwetter, ein Erdbeben, eine Schlacht können Energien freisetzen und selbstlose Hingabe und Opfer­bereitschaft bewirken, wie sie unter günstigeren Lebensbedingungen nicht hervorgerufen werden. Es wäre verwunderlich, wenn einige der vom paläolithischen Menschen selektiv fixierten Eigenschaften nicht immer noch Teil unseres biologischen Erbes bildeten.

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