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10 - Erfindungen und die Künste 

Mumford-1970

 

 

   Zwei Technologien  

269-300

Da die Megamaschine im wesentlichen eine unsichtbare Organisation war, berichten uns die historischen Auf­zeich­nungen nichts Besonderes über ihre Existenz; was wir wissen, besteht aus Einzelheiten, die zusamm­en­gefügt werden müssen.

Jene, die die Maschine entwarfen, waren sich natürlich nicht bewußt, daß es eine Maschine war; denn wie konnten sie sie als solche identifizieren, wenn die wenigen Maschinen, die existierten und alle weit primitiver angelegt waren, keinen Hinweis lieferten? 

Doch einer Sache können wir gewiß sein: Da die Ingangsetzung einer solchen Maschine einer großen Zahl menschlicher Arbeits­kräfte bedurfte, konnte sie sich nur in wenigen prosperierenden Ackerbauregionen entwickeln, die für die städtische Zivilisation geeignet waren, mit deren Möglichkeiten, eine zahlreiche Bevölkerung auf kleinem Raum zu erhalten und zur Arbeit zu zwingen. Ohne diesen stetigen Zustrom von Arbeitskräften konnte die Maschine so wenig funktionieren wie eine Wassermühle an einem ausgetrockneten Fluß.

Das erklärt, wieso die Megamaschine als Produktionsmechanismus sich in dünnbesiedelten besiedelten Gebieten nie durchgesetzt hat. Gab es einmal die Megamaschine, so mögen viele kleinere Gemeinschaften auf Stammes- oder feudaler Grundlage, von den Shilluks in Afrika bis zu den polynesischen Königreichen im Pazifik, viele einzelne Eigenschaften des Königtums nachgeahmt haben; doch als Arbeitsorganisation versagte die Megamaschine in diesen Gebieten; und wenn dennoch Beweise für ihr Vorhandensein existieren, wie es vermutlich die Steinstatuen der Osterinsel und sicherlich die Städte und Straßen der peruanischen und Maya-Reiche sind, dann muß man annehmen, daß diese Regionen einmal dichter bevölkert waren als heute.

Kurz, eine Miniatur-Megamaschine ist ein Widerspruch in sich, fast ein komisches Konzept, abgesehen selbst von der Schwierigkeit, in kleineren Gemeinschaften die nötige Entsozialisierung und Entpersönlichung der einzelnen Elemente zu erzielen. Wenn es schließlich doch gelang, die Megamaschine allgemein durchzusetzen, so nur durch die Übertragung ihrer Attribute auf ihre nichtorganischen Äquivalente aus Holz oder Metall.

Einmal erfunden, erfuhr die ursprüngliche Megamaschine keine weitere Verbesserung als Gesamt­mechan­ismus, obwohl verschiedene Teile durch Übung einen höheren Grad von Automatik erreicht haben mögen. Doch die unsichtbare Maschine, als reibungslos funktionierender Arbeitsapparat, hat weder an Umfang noch an Präzision der Leistung je wieder den hohen Standard des Pyramidenzeitalters übertroffen. Die makedonische Phalanx war um nichts besser »mechanisiert« als die sumerische Phalanx zweitausend Jahre zuvor; noch war die römische Phalanx mehr kräftesparend als die makedonische; und zweitausend Jahre später stand das berühmte britische militärische Karree, wenngleich mit Musketen ausgerüstet, als Kriegsmaschine auf keinem höheren Niveau als seine Vorgänger.

In dieser spezifischen Hinsicht blieb die Erfindung in einem frühen Stadium stehen. Doch dieses Verharren ist zum Teil ein Hinweis auf die adäquate Leistung der Megamaschine, wenn die Bedingungen für sie günstig waren. Denn die großen Errungenschaften in der Bautechnik, vom Bau des mesopotamischen Kanalsystems — unlängst von Thorkild Jacobsen und seinen Mitarbeitern aufgefunden — bis zur Chinesischen Mauer, wurden auf die gleiche Art unter königlicher Macht mit Hilfe ihrer örtlichen Funktionäre und Beamten erzielt. Keine kleine Gemeinschaft konnte sich an derartige Unternehmungen heranwagen, selbst wenn ein traditionsgebundener Ältestenrat auf solch eine Idee gekommen wäre.

Der technologische Fortschritt bewegte sich lange Zeit außerhalb des Bereichs der Megamaschine; und er war zum Großteil eine Fortsetzung der gleichen Art kleiner, auf empirischem Wissen beruhender und durch allgemein menschliche Erfahrung gereifter Unternehmungen, die zur Domestizierung von Pflanzen und Tieren geführt und das Energiepotential der menschlichen Gemeinschaft gewaltig vergrößert hatten.

Diese Fortschritte waren weit weniger spektakulär als die riesigen Konstruktionen und Destruktionen der Megamaschine; und die meisten von ihnen waren, wie die Landwirtschaft, das Werk vieler kleiner Leute, die ihre Erfahrungen miteinander teilten, ihre Tradition aufrechterhielten und mehr auf Qualität und menschlichen Wert ihrer Produkte bedacht waren als auf bloß quantitative Entfaltung von Macht und materiellem Reichtum. Die handwerkliche Tradition wie auch die älteren gesellschaftlichen Erfindungen, Sprache und Ackerbau, waren nie ausschließlich in der Hand einer selbstsüchtigen Minderheit, die die zentralisierte Organisation beherrschte.

Fast vom Beginn der Zivilisation an haben, wie wir heute sehen, zwei ungleichartige Technologien Seite an Seite existiert: die eine demokratisch und dezentralisiert, die andere totalitär und zentralisiert.

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Die demokratische Erscheinungsform, die auf Handwerks­arbeit in kleinem Maßstab beruhte, hielt sich in einer Vielzahl von kleinen Dörfern am Leben, in Partnerschaft mit Ackerbau und Viehzucht, wenngleich sie sich auch auf die wachsenden Landstädte ausdehnte und schließlich in die Großstädte eindrang. Handwerkliche Spezialisierung und Austausch durch Handel waren für diese Wirtschaft notwendig, wie schon in paläolithischen Zeiten; so mögen wohl spezielle Rohstoffe, Kupfer oder Eisen für den Schmied, Mineralien für glasierte Tonwaren oder besondere Farbstoffe für Baumwoll- oder Leinengewebe, von außen gekommen sein, doch die meisten Ressourcen und die Fertigkeit, sie zu nutzen, waren daheim zu finden. Soweit es Neuerungen gab, kamen sie allmählich, ohne die überlieferten Formen zu stören.

Um den Kontrast zwischen demokratischer und autoritärer Technik klarzumachen, möchte ich den Begriff Demokratie in diesem Kontext erklären, da ich das autoritäre System bereits charakterisiert habe.

Demokratie ist ein Begriff, der heute durch wahllosen Gebrauch verwischt und verzerrt ist, oft mit gönnerhafter Geringschätzung behandelt, wenn nicht töricht angebetet, als wäre es ein Heilmittel für alle menschlichen Leiden. Das Grundprinzip der Demokratie ist die Auffassung, daß die allen Menschen gemeinsamen Wesenszüge, Bedürfnisse und Interessen Vorrang haben vor denen einzelner Organisationen, Institutionen oder Gruppen. Damit sollen die Ansprüche größerer natürlicher Begabungen, besonderer Kenntnisse und Erfahrungen oder technischen Könnens nicht geleugnet werden; selbst primitive demokratische Gruppen anerkennen manche oder alle dieser Vorzüge. Doch Demokratie besteht darin, das Ganze über die Teile zu stellen; und letztlich können nur lebendige Menschen das Ganze verkörpern und ausdrücken, ob sie nun allein oder mit Hilfe anderer handeln. »Eine Institution ist der verlängerte Schatten eines Menschen.«* — Ja: aber nur des Teils eines Menschen.

Demokratie, so wie ich den Begriff hier verwende, ist selbstverständlich am aktivsten in kleinen Gemein­schaften und Gruppen, deren Mitglieder in engem Kontakt sind, als Gleichberechtigte frei miteinander verkehren, und in denen jeder jeden persönlich kennt; sie ist in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil der anonymen, entpersonalisierten, im wesentlichen unsichtbaren Form der Massenverbindung, Massen­komm­unikation und Massenorganisation. Doch sobald Menschen in großer Zahl beteiligt sind, muß die Demokratie entweder äußerer Kontrolle und zentralisierter Leitung weichen oder sich der schwierigen Aufgabe zuwenden, die Entscheidungs­gewalt an eine Vertretungs­körperschaft zu delegieren.

Die erste Wahl ist die leichtere; oder besser gesagt, es ist kaum eine Wahl, sondern das, was automatisch eintritt, wenn nicht genügend Anstrengungen gemacht werden, die herkömmliche spontan-demokratische Entscheidungsweise auf eine höhere Stufe vernünftiger Organisation zu heben. 

* (d-2005:)  Ein Zitat von Ralph Waldo Emerson ?

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Die historische Erfahrung beweist, daß es viel einfacher ist, die Demokratie durch ein institutionelles Arrangement zu ersetzen, das nur jenen Autorität verleiht, die auf der obersten Stufe der sozialen Hierarchie stehen. Dieses System erzielt in seinen ersten Stadien oftmals einen hohen Grad mechanischer Wirksamkeit, jedoch um einen exorbitanten Preis an menschlichen Verlusten.

Leider konnten die Formen und Methoden der totalitären Technik nicht auf die Megamaschine beschränkt werden; denn wo immer die Bevölkerung in großen Städten konzentriert war, wo immer eine große Organisation des landlosen und zunehmend traditionslosen Proletariats entstand, fanden Zwangsmethoden Eingang in die Arbeit des Handwerks und »mechanisierten« sie fortschreitend — das heißt, sie »mechanisierten« die menschliche Individualität. Die massenweise Eingliederung des Proletariats in spezialisierte Werkstätten und Fabriken, unter Anwendung von heute als »modern« geltenden Methoden, ist, wie Rostovtseff zeigte, für die hellenistische und die römische Welt hinlänglich erwiesen, doch muß sie zu einem viel früheren Zeitpunkt eingesetzt haben. So begannen die Praktiken der Megamaschine selbst die menschlicheren Institutionen, die aus einer früheren Wirtschaftsform stammten, zu durchdringen.

Beide Arten der Technik hatten ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Die demokratische Technik hatte die Sicherheit, die sich aus einer begrenzten Tätigkeit unter direkter Kontrolle der Beteiligten, im gewohnten Ablauf und in vertrauter Umgebung, ergibt; aber sie hing völlig von den örtlichen Bedingungen ab und konnte stark beeinträchtigt werden durch Naturereignisse, Ignoranz oder schlechte Verwaltung, ohne die Möglichkeit, von anderswo Hilfe zu bekommen. Die autoritäre Technik, an große Organisationen gewohnt und imstande, mit größeren Menschenmassen zu operieren und sich durch Handel oder Eroberungen auf andere Regionen auszubreiten, war besser geeignet, Überschuß zu produzieren und zu verteilen — unter Herrschern, die genügend politische Intelligenz besaßen, um für eine gerechte Verteilung zu sorgen. Doch die Megamaschine zerstörte die Erfolge ihrer eigenen Leistung, an der Arbeitsstätte wie im Staat, durch Habgier und sadistische Ausbeutung. Im Idealfall hätte jede Arbeitsweise der anderen etwas geben können; aber weder die eine noch die andere vermochte auf Dauer eine wirksame Kooperation herzustellen.

Während die kleine Agrargemeinschaft demokratische Technik vorzog, half die zunehmende Verwendung von Metallen — zuerst Kupfer, dann Bronze und schließlich Eisen —, die mit dem Aufstieg und der Ausbreitung des Königtums zusammenfiel, die autoritäre Form zu entwickeln und sie mit der Zeit auf andere Wirtschaftszweige zu übertragen. Die fortwährenden Kriege spornten an sich zu Fortschritten in der Metallverarbeitung an; und in den Bergwerken, Schmelzereien und Gießereien herrschten im Produktions­prozeß die gleichen harten Zwänge und die gleichen heroischen Anstrengungen, die bis dahin die besondere Eigenheit der militärischen Organisation gewesen waren.

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In der Jagd und in der Landwirtschaft war Arbeit eine geheiligte Funktion: Zusammenwirken mit den Naturkräften, Anrufung der Götter der Fruchtbarkeit und organischen Fülle, deren Gunst die Bemühungen der menschlichen Gemeinschaft unterstützen sollte; fromme Begeisterung und kosmische Wunder verbanden sich mit schwerer Muskelanstrengung und strengem Ritual. Für jene aber, die in die Megamaschine einbezogen waren, hörte die Arbeit auf, eine heilige Funktion zu sein, die freiwillig ausgeführt wurde und, sowohl in der Tätigkeit als auch in den Ergebnissen, Lustgewinn brachte — sie wurde zum Fluch.

Im Buch Genesis verbindet Gott diesen Fluch mit der Vertreibung Adams aus der tropischen Üppigkeit des Gartens Eden, denn diese hatte im Zusammenhang mit dem Getreideanbau die Notwendigkeit zur Folge, den harten Boden umzugraben. Zweifellos war es für frei umherziehende nomadische Hirten, wie die Juden es waren, natürlich, diesen Fluch mit den ungewohnten rauhen Pflichten des Ackerbaus zu assoziieren: Kain, den Bauern, zu erniedrigen und Abel, den Hirten, zu erhöhen. Doch diese Interpretation verschleiert die historischen Tatsachen. In Wirklichkeit waren es der Bergbau, die Mechanisierung, der Militarismus und die sich daraus ergebenden Beschäftigungen, die die tägliche Arbeit freudlos machten und sie in unerbittliche, geisttötende Plackerei verwandelten.

Wo immer Werkzeuge und physische Kraft frei, aus eigener Initiative der Arbeiter angewandt wurden, war die Arbeit abwechslungsreich, rhythmisch und häufig zutiefst befriedigend, so wie jedes sinnvolle Ritual befriedigend ist. Die zunehmende Fertigkeit brachte unmittelbare subjektive Befriedigung, und das Gefühl der Meisterschaft wurde durch das fertige Produkt bestätigt.

Der Hauptgewinn des Arbeitstages war nicht der Lohn, sondern die Arbeit selbst, die in einem sozialen Milieu vor sich ging. In dieser archaischen Ökonomie gab es eine Zeit der Mühe und eine Zeit der Entspannung, eine Zeit des Fastens und eine Zeit der Feste, eine Zeit disziplinierter Anstrengungen und eine Zeit ungebundener Spiele. Indem der Arbeiter sich mit seiner Arbeit identifizierte und sie perfekt auszuführen trachtete, formte er seinen eigenen Charakter um.

Alles Lob der Herstellung und Verwendung von Werkzeugen, das fälschlich schon auf den Frühmenschen bezogen wurde, ist vom Neolithikum an gerechtfertigt und müßte sogar noch verstärkt werden in bezug auf die späteren Errungenschaften des Handwerks. Der Schaffende und das geschaffene Produkt standen in Wechselwirkung zueinander. Bis in die Neuzeit bahnte sich, abgesehen vom esoterischen Wissen der Priester, Philosophen und Astronomen, der Großteil menschlichen Denkens und menschlicher Vorstellung seinen Weg durch menschliche Hände.

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Unter der demokratischen Technik bestand die einzige Beschäftigung, die lebenslange Aufmerksamkeit erforderte, darin, ein ganzer Mensch zu werden, fähig, seine biologische Rolle zu erfüllen und sich am sozialen Leben der Gemeinschaft zu beteiligen, die menschliche Tradition aufzunehmen und weiterzugeben und aus freien Stücken die feierlichen Handlungen, die er ausführte, die Nahrung, die er pflanzte, die Bilder, die er formte, und die Geräte, die er schnitzte oder bemalte, zu höherer ästhetischer Perfektion zu bringen. Jeder Bereich der Arbeit war Lebenswerk. Diese archaische Einstellung zur Arbeit war weit verbreitet; und trotz aller Bemühungen, die der westliche Mensch seit dem sechzehnten Jahrhundert unternommen hat, um diese grundlegende Kultur zu verderben und zu zerstören, lebte sie in ländlichen Gemeinden und auch in den Enklaven von Stammes­gemeinschaften fort, die zu Beginn unseres Jahrhunderts noch intakt waren. Franz Boas vermerkte das hohe Ansehen, das die Handwerkskunst bei angeblich primitiven Völkern genießt; und Malinowski entdeckte die gleiche Haltung bei seinen fast neolithischen »Korallengärtnern«.

Die Maschinenkultur in ihrer ursprünglichen Form der Sklavenarbeit besaß diese lebenssteigernden Eigenschaften nicht; sie konzentrierte sich nicht auf den Arbeiter und sein Leben, sondern auf das Produkt, auf das Produktionssystem und auf die daraus resultierenden materiellen oder finanziellen Gewinne. Ob von der Peitsche des Aufsehers oder vom unerbittlichen Lauf des modernen Fließbands angetrieben, sorgen die von der Megamaschine abgeleiteten Prozesse für Schnelligkeit, Gleichförmigkeit, Standardisierung und Quantifizierung. Wie sich das auf den Arbeiter oder auf den ihm nach Arbeitsschluß noch verbleibenden Lebensrest auswirkt, ist denen, die diese mechanischen Arbeitsgänge leiten, egal. Die Zwänge, die dieses System hervorbringt, sind ärger als die direkte Sklaverei, doch gleich dieser erniedrigen sie im Endeffekt die Herrschenden wie die Beherrschten.

In der Haussklaverei konnte es noch zur Herstellung persönlicher Beziehungen zwischen dem Sklaven und seinem Herrn kommen; und dies konnte zur Wiedererlangung der Freiheit führen, da der Günstling unter den Sklaven, etwa in Rom, außerhalb des Hauses Lohndienste leisten durfte. Vermögen erwerben und sich schließlich freikaufen konnte. Sklaven, die Kunstwerke herstellten — eine Tätigkeit, die in der Produktion der Antike viel größeren Raum einnahm als in der modernen —, erlangten innere Freiheit und persönliche Befriedigung, so daß ihr Leben sich nicht grundlegend von dem der Freien unterschied, die solchen Berufen nachgingen; ja, im Griechenland des fünften Jahrhunderts und auch anderswo arbeiteten sie Seite an Seite.

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Doch überall dort, wo Arbeitsweisen vorherrschten, die sich aus der Megamaschine ableiteten, wurde die Arbeit zum Fluch, auch wenn die Arbeiter dem Gesetz nach frei waren; und in vielen Unternehmungen war sie eine Strafe, selbst wenn der Arbeiter kein Verbrechen begangen hatte.

Die stärkere Verwendung von Metall beseitigte diesen Fluch nicht, wenngleich sie faktisch bessere und billigere Werkzeuge wie auch Waffen lieferte. Denn Förderung, Aufbereitung und Schmelzung von Erzen erforderte, ebenso wie die weitere Verarbeitung der Metalle, fortgesetzte physische Anstrengung unter weit unhygienischeren und drückenderen Bedingungen als jene, unter denen die Bauern und die Handwerker der mehr häuslichen Gewerbe ihre Arbeit verrichteten. In der kleinen Werkstatt hatten der Tischler, der Lederarbeiter, der Töpfer, der Spinner und der Weber, obwohl ebenfalls oft übermäßigen Beschränkungen unterworfen und ökonomisch ausgebeutet, den Vorteil menschlicher Kameradschaft, mehr oder weniger nach Familienart und oft sogar mit Unterstützung der Familie.

Doch die Bergmannsarbeit unter Tage war immer schon eine unangenehme, gefährliche Tätigkeit, die den Menschen physisch zugrunde richtete, besonders wenn sie mit den primitiven Werkzeugen und Geräten durchgeführt wurde, die bis zum sechzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung und manchenorts noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein vorherrschten. Physischer Zwang, Krankheit und Verletzungen machten den Bergbau auf Schritt und Tritt einem Schlachtfeld ähnlich: Sowohl die Landschaft als auch der Bergmann trugen die Narben dieser Tätigkeit, selbst wenn letzterer am Leben blieb. Von frühester Zeit an war, wie Mircea Eliade hervorhebt, das Blutopfer eine rituelle Begleiterscheinung der Metallurgie. Der Fluch des Krieges und der Fluch des Bergbaus sind fast auswechselbar: im Tod vereint.

Es gibt eine Menge historischen Beweismaterials für diese Verbindung. Wenn auch Bauern manchmal zwangsweise zur Berg­werks­arbeit eingezogen wurden, genauso wie zum Kriegsdienst, war diese Arbeit so abstoßend, daß man sie die längste Zeit nur Sklaven und Kriminellen zumutete: Es war »Kerker, verschärft durch Strafarbeit«, keine Arbeit für freie Menschen.

Als der Machtkult seinen Einflußbereich vergrößerte, führte der verstärkte Metallbedarf im Krieg — der bekanntlich am meisten Metall verschlingt — zur Ausdehnung dieser Sklaverei und dieser Opferriten auf weitere Bereiche. Und wenn Gordon Childe meint, die Metallarbeiter seien die ersten kompletten Spezialisten gewesen, dann hat diese Arbeitsteilung das Ihre dazu beigetragen, die Arbeit zum Fluch zu machen, der das Leben mit Bitterkeit erfüllte und es obendrein verkürzte. Mit dem »Fortschritt« der Zivilisation wurde dieses System brutalisierter Schwerarbeit nach dem Vorbild der strafweisen Fron im Bergwerk und auf der Galeere allmählich auf die gewöhnlicheren Bereiche des täglichen Lebens übertragen.

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Auf seinen Ursprung zurückgeführt, ist der Fluch der Arbeit der Fluch der Megamaschine: ein Fluch, über die Periode der Dienstverpflichtung hinaus auf das ganze Leben ausgedehnt. Dieser Fluch gab den Anstoß zu dem kompensierenden Traum vom Goldenen Zeitalter, teils Erinnerung, teils Mythos: das Bild eines Lebens, in dem es keinen Kampf, kein Wetteifern gab, in dem die wilden Tiere keine Bedrohung darstellten und selbst der Mensch zu seinem Nächsten gütig war. Dieser Traum erscheint zuerst auf einer akkadischen Schrifttafel; und viel später wurde er in die Zukunft projiziert, als ein Weiterleben im Himmel, wo alle Arbeit aufhören und jedermann sich eines Daseins in sinnlicher Schönheit, materiellem Reichtum und endloser Muße erfreuen würde — ein überhöhtes, verallgemeinertes Spiegelbild dessen, was in den großen Palästen und Tempeln, zu deren Erhaltung und Mehrung die Megamaschine erfunden wurde, tatsächlich gegeben war.

Mit der zunehmenden Arbeitsteilung in vielen städtischen Gewerben schrumpfte der Tätigkeitsbereich des einzelnen Arbeiters ein, und die Chance, die Beschäftigung zu wechseln, wie im jahreszeitlichen Zyklus der Landwirtschaft, schwand zusehends. Schon sehr früh nahm die Stadt, einst al s Ebenbild des Himmels konzipiert, viele Merkmale eines Militärlagers an: eines Orts der Abgeschlossenheit, des täglichen Drills, der Bestrafung. Tag für Tag, jahraus, jahrein, an eine einzige Beschäftigung, eine einzige Arbeitsstätte gekettet, ja, letztlich auf einen einzigen Handgriff beschränkt zu werden, der nur Teil einer Serie solcher Handgriffe ist — das war das Los des Arbeiters.

Jede spezialisierte Beschäftigung brachte nun, eben durch die Spezialisierung, ihre typischen »berufsbedingten Körperfehler« hervor — schiefe Haltung, überentwickelte Muskeln, bleiche Hautfarbe, Kurzsichtigkeit, Herzerweiterung oder Staublunge, mit den dazugehörigen Krankheiten und bleibenden Deformierungen. Allzuoft waren diese Leiden chronisch und hartnäckig; eine höhere Sterblichkeit zeigte die verringerte Lebendigkeit an. Bis in unsere Zeit hinein blieb die Lebenserwartung des englischen Landarbeiters, der oft in überfüllten Unterkünften lebte, minderwertige Nahrung erhielt und ständig Wind und Regen ausgesetzt war, größer als die des Fabrikarbeiters, obwohl dieser einen viel höheren Lohn bekam und auch bessere Wohnbedingungen hatte.

Unter solchen Umständen war der Fluch der Arbeit keine leere Phase. In der ägyptischen Darstellung der Vorteile, deren die Schreiber sich vor allen anderen Berufen erfreuten, wurden die Nachteile der Spezialisierung angeführt, von denen ein Beruf nach dem anderen betroffen wurde: tägliche Mühsal, Schmutz, Gefahr, Müdigkeit am Abend. Gelehrte, die meinen, diese Aufzählung wäre stark übertrieben und das Dokument sei eine Satire, wissen zu wenig über die wirklichen Bedingungen der städtischen Arbeiterklassen aller Zeiten.

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All das Elend, das der Autor schildert, war natürlich noch schlimmer in jenen Berufen, die unter Dach, in schlecht beleuchteten, ungelüfteten Räumen ausgeübt wurden — im Gegensatz zum ärmsten Landarbeiter, der sich frei bewegen konnte. Man nehme das Schicksal des Webers: »Er kann die (freie) Luft nicht atmen. Verkürzt er den Tag des Webens, wird er mit fünfzig Riemen geschlagen. Er muß dem Torwächter Nahrung geben, damit dieser ihn das Licht des Tages sehen läßt.« Diese Stelle zeigt klar, daß die Disziplin der Megamaschine, Tausende Jahre bevor sie die Fabrik des achtzehnten Jahrhunderts erreichte, schon die städtische Werkstatt erfaßt hatte.

Waren die Arbeitsbedingungen unter der Megamaschine erdrückend, so blieben sie auch in vielen gewöhn­lichen Berufen allezeit schlimm genug, wenngleich das Bild nicht einheitlich düster war; in bestimmten Perioden und Kulturkreisen — im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts oder im Florenz des zwölften Jahrhunderts nach Christus, um nur die bekanntesten Beispiele anzuführen — war es ausgesprochen hell. Ist es verwunderlich, daß aus solchen deprimierenden Umständen nicht nur das Gefühl erwuchs, die Arbeit sei an sich ein Fluch, sondern auch, das wünschenswerteste Leben wäre eines, in dem Zaubermaschinen und Roboter alle notwendigen Verrichtungen aus eigener Kraft, ohne jede menschliche Beteiligung, ausführten? Kurz, die Idee des mechanischen Automaten, der allen Befehlen gehorcht und alle Arbeit verrichtet.

Dieser Traum verfolgte die Menschheit die ganze Geschichte hindurch, in Hunderten Märchen und Volkssagen abgewandelt, lange bevor er sich zur modernen Losung verdichtete: »Möge die Automation jede Arbeit abschaffen.« Oft war dieser Traum von einem anderen begleitet, in dem es darum geht, die Menschheit von einem zweiten Fluch zu erlösen, den die Megamaschine den Volksmassen auferlegt hat: vom Fluch der Armut. Das Füllhorn des Überflusses, das Gelobte Land, wo ein unerschöpflicher Vorrat an Nahrung und Gütern durch bloßes Winken mit der Hand hervorgezaubert wird; mit anderen Worten, der zeitgenössisch infantile Himmel einer ewig expandierenden Wirtschaft — und ihres Endprodukts, der Überflußgesellschaft.

Der Fluch der Arbeit war eine wahre Heimsuchung für jene, die unter die Herrschaft der autoritären Technik gerieten. Doch der Gedanke, alle Arbeit abzuschaffen, die Geschicklichkeit der Hand ohne die Vorstellungskraft des Geistes auf eine Maschine zu übertragen — diese Idee war nur der Traum eines Sklaven und enthüllte eine verzweifelte, aber phantasielose Sklavenhoffnung; denn sie ignorierte die Tatsache, daß Arbeit, die nicht auf Muskelkraft beschränkt ist, sondern alle Funktionen des Geistes mit einschließt, kein Fluch, sondern ein Segen ist. Keiner, der je seine Lebensarbeit gefunden und ihre Belohnung gekostet hat, würde eine solche Phantasie nähren, denn sie würde Selbstmord bedeuten.

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     Kam die Erfindung zum Stillstand?  

 

Die autoritäre Produktions- und Kriegstechnik, die die Zivilisation stützte, erreichte, wie die meisten Interpreten der Geschichte der Technik meinen, früh in der Eisenzeit, die ungefähr um 1200 vor Christus beginnt, einen Höhepunkt rein mechanischer Leistungsfähigkeit. An der Richtung dieses Fortschritts und den Ergebnissen dieser Meisterschaft lassen die Weisen der Antike keinen Zweifel aufkommen: »Die Eisenzeit«, sagte Albius Tibullus im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Wiederholung von Hesiods Klage, »singt nicht das Loblied der Liebe, sondern des Raubes . . . Von ihr kommt Blut, von ihr das Gemetzel, und der Tod rückt näher.«

Sicher hielten die meisten Zeitgenossen Tibulls diese Beschreibung für »hysterisch«, doch im fünften Jahrhundert unserer Zeitrechnung konnten die bösen Folgen nicht länger ignoriert werden; und die Spuren, die die Eisenzeit hinterließ, und sei es nur darum, weil sie die Kapazität der Megamaschine verstärkte und erweiterte, sind heute noch vorhanden. Doch wenn Historiker den ganzen Umfang der Erfindungen dieser Periode mit dem vergleichen, was in Westeuropa seit dem achtzehnten Jahrhundert vor sich ging, suchen sie gewöhnlich nach einer Erklärung für etwas, das ihnen als eigentümliche technische Rückständigkeit erscheint, die sie fragen läßt: Was hat die Erfindung zum Stillstand gebracht? Damit verschließen sie den Weg zu einer Untersuchung, die ich mit der Frage eröffnen möchte: War die Erfindung wirklich zum Stillstand gekommen?

Doch zuerst wollen wir untersuchen, welchen Einfluß das Eisen selber hatte. Für die Herstellung von Grab- und Schneid­werkzeugen sowie von Kriegswaffen bot Eisen große Vorteile vor anderen Metallen. Insoweit erleichterte es die Arbeit oder hob zumindest die Arbeitsproduktivität. In der Landwirtschaft war die eiserne Haue eine gewaltige Verbesserung gegenüber der Knochen- oder Steinhaue, und mit dem Spaten, der Schaufel und der eisernen Spitzhacke erhielt der Bauer Werkzeuge, mit denen er jeden Boden bearbeiten konnte; und die Eisenaxt war so effizient, daß man sie - neben der Ziege - für die rücksichts­lose Zerstörung des Waldbestandes im ganzen Mittelmeerraum verantwortlich machen könnte.

Fritz Heichelheim meint außerdem, daß die Verwendung von Eisen zunächst der sozialen Nivellierung gedient haben muß, indem sie die Existenzbedingungen der arbeitenden Klassen verbesserte und mit Hilfe des Eisenpflugs die Kultivierung tieferliegender Bodenschichten ermöglichte, die schwerer und fruchtbarer sind.

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Doch die wachsende Eisenproduktion verbilligte auch die Ausrüstung der Armeen und war eine Versuchung für die Herrscher, sich an größere Eroberungen heranzuwagen. Derselbe Erforscher des klassischen Zeitalters stellt fest, daß »die Bevölkerung des Mittelmeerraums zwischen 201 und 31 vor Christus infolge der römischen Eroberungskriege, der Bürgerkriege, der sozialen Revolutionen und der Sklavenjagd zahlenmäßig zurückging«.

Nach heute herrschender Auffassung verharrte die Technologie, nachdem die Verwendung von Eisen allgemein geworden war, zwischen 100 vor Christus und 1500 nach Christus auf einem toten Punkt; statt eines kumulativen Fortschritts mit einer Zunahme der Erfindungen sei ein Nachlassen der Aktivität auf technischem Gebiet eingetreten. Selbst ein so kompetenter Historiker der Technik wie R. J. Forbes teilt diese Auffassung und erklärt sie, wie andere auch, mit dem Vorherrschen der Sklaverei, die angeblich den Hauptanreiz zur Produktion arbeitsparender Maschinen beseitigte. Dies ist, in vielen Punkten, eine äußerst zweifelhafte Erklärung. War es nicht eine arbeitsparende Maschine, Eli Whitneys Baumwoll­entkernungs­maschine, die die Nachfrage nach Sklaven in den Baumwollstaaten Nordamerikas erhöhte?

Anderseits wird manchmal dieser angebliche Mangel an technischen Erfindungen und an Initiative darauf zurückgeführt, daß die Oberklasse manuelle Arbeit verachtete, da man in der Antike meinte, nur theoretische Studien, frei vom Makel manueller Arbeit und vulgären Nutzens, seien eines freien Geistes würdig. Selbst Archimedes, dieser Fürst unter den Technikern, scheint diese Auffassung geteilt zu haben, obwohl der Krieg ihm eine Reihe genialer Erfindungen zur Abwehr der Syrakus angreifenden römischen Flotte entlockte.

Doch die patrizische Verachtung der Arbeit, die sich sogar auf den Handel erstreckte, war keineswegs absolut: Die aristokratische Jugend Athens lernte Lebensweisheit von einem alten Steinmetz namens Sokrates. Auch verhinderte diese Verachtung nicht die Entstehung einer aktiven Kaufmannsklasse. Nichts hielt die freien Arbeiter, Selbständigen oder Meister kleiner Werkstätten davon ab, Maschinen zu erfinden, wenn sie genügend Interesse daran hatten. Die Handwerker, die für den ägäischen Exporthandel arbeiteten und Tonwaren und Textilien nach einer Methode erzeugten, die der Massenproduktion näher war als der Einzelanfertigung für einen individuellen Käufer, müssen ihre Arbeitsvorgänge bereits unterteilt und spezialisiert haben. Mit einigen wenigen weiteren Schritten hätte man solche Tätigkeit Maschinen übertragen können, wie es in Europa zwischen dem fünfzehnten und dem neunzehnten Jahrhundert geschah.

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Obwohl die Oberklasse tatsächlich mit Verachtung auf »niedere mechanische Beschäftigung«, wie sie es nannte, herabblicken mochte, waren nur in der Metallurgie und bei öffentlichen Großbauten Sklaverei und Zwangsarbeit vorherrschend. Ja selbst unter dem Regime der Tyrannen gab es genügend Spielraum für Baumeister und Handwerker, um Verbesserungen einzuführen; und verschiedene Verbesserungen wurden tatsächlich eingeführt.

Das Fehlurteil unserer Zeit rührt daher, daß die größten technologischen Errungenschaften der antiken Welt auf dem Gebiet der Statik und nicht der Dynamik lagen: in der Baukunst, nicht in der Mechanik; in Bauwerken, nicht in Maschinen. Wenn der Historiker in früheren Kulturen einen Mangel an Erfindungen entdeckt, so deshalb, weil er darauf beharrt, als Hauptkriterium des technischen Fortschritts die speziellen Arten von Kraftmaschinen und Automaten anzusehen, auf die der westliche Mensch sich heute festgelegt hat, während er wichtige Erfindungen wie die Zentralheizung und das Wasserklosett als unbedeutend ansieht oder sie in seiner Unwissenheit sogar unserer eigenen industriellen Revolution zuschreibt.

Ohne Zweifel hatten die Sklaverei und auch die von der Oberklasse demonstrierte Verachtung der Arbeit schädliche Auswirkungen, indem sie den Arbeiter als Mensch entwerteten und wahrscheinlich dessen eigenes Interesse an seiner Arbeit verminderten. Shakespeares grausame Karikatur der »Rüsselschnauze« und des »Hungerleider«, als wären körperliche Gebrechen und Unterernährung Anlaß zur Belustigung, fanden Widerhall in Tausenden ähnlichen Spottnamen. Diese Haltung sowie institutionelle Barrieren mögen das Interesse an technischen Erfindungen entmutigt haben; aber das ist nicht die ganze Wahrheit.

Der allgemeine Glaube, daß es zwischen der Vervollkommnung der Megamaschine in der Eisenzeit und ihrem Wiederaufleben in unserer Zeit keine nennenswerten technischen Fortschritte gegeben habe, ist zum Teil darauf zurückzuführen, daß heutige Beobachter dazu neigen, die Produktivität der antiken Welt zu unterschätzen. Es muß auf vielen Gebieten, neben der Landwirtschaft, einen verläßlichen Überschuß gegeben haben, der die kostspieligen Kriege und die massive Städtezerstörung erlaubte, die laufend stattfanden; und dieser Überschuß war zum beträchtlichen Teil ein Ergebnis technischer Erfindungen.

Das Hauptzentrum dieser Erfindungen war Griechenland — eben das Land, wo Arbeit als sklavisch und eines freien Bürger unwürdig galt. Dennoch ist es kaum ein Zufall, daß gerade dort neue technische Erfindungen gemacht wurden; denn es war eine Kultur, deren wichtigste Städte, besonders Athen, schon zu einem frühen Zeitpunkt die Institution des Königtums in Frage stellten und stürzten.

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Selbst in den Epen Homers sind die Könige kaum mehr als Provinzhäuptlinge, die in Herrenhäusern, ähnlich denen des späteren feudalen Europa, wohnten; sie waren keine höheren heiligen Wesen, die göttliche Vorrechte übten; und der griechische Mythos, obgleich er vielleicht mesopotamische Wurzeln hatte, barg niemals ernstlich den »blöden Unsinn« — um Herodots zornige Charakterisierung zu gebrauchen —, der mit dem Königtum verbunden war. Selbst auf dem Höhepunkt der hellenischen Stadtkultur blieben die demokratischen Normen des Dorfes in Kraft; und typischerweise war es eine Handvoll energischer freier Männer und nicht eine Massenarmee, die die Bergpässe bewachte oder die tüchtigen griechischen Kriegs­galeeren bemannte.

Tatsache ist, daß die meisten Komponenten späterer komplexer Maschinen von den Griechen zwischen dem siebenten und dem ersten vorchristlichen Jahrhundert erfunden oder mit Hilfe von ihnen erfundener Vorrichtungen und mechanischer Elemente hergestellt wurden. Darunter waren zwei entscheidende Erfindungen: die Schraube und die Drehbank.

Die Erfindung der Schraube durch die Griechen, vermutlich im siebenten Jahrhundert vor Christus, machte eine ganze Reihe anderer Erfindungen möglich. Archimedes wendete das Prinzip der Schraube bei der Wasserpumpe an; und dies erschloß neue Gebiete in ganz Nordafrika und Vorderasien für die Landwirtschaft. Spätere Bewässerungsmaschinen, die einst als typisch orientalisch angesehen wurden, sind in Wirklichkeit, wie Heichelheim uns erinnert, im dritten Jahrhundert vor Christus dank den hellenistischen Fortschritten in der Mathematik erfunden worden. Später als Archimedes erfand Ktesibius Saug- und Druckpumpen, die bald in Gebrauch kamen, während Archytas, der mutmaßliche Erfinder der Schraube, die Geometrie auf die Mechanik anwendete, wie andere auf die Architektur. Dies war weder das erste noch das letzte Beispiel für die Wechselwirkung zwischen den exakten Wissenschaften und der Maschine.

Die Erfindung der Drehbank war ein Fortschritt von ähnlicher Bedeutung, da exakt gedrehte und gebohrte Zylinder und Räder das Kernstück jeder rotierenden Maschine bilden. Obwohl weder Zeit noch Ort dieser Erfindung genau bestimmt werden kann — manche Fachleute schreiben sie der Frühzeit Mesopotamiens zu —, ist es wahrscheinlich, daß die maschinell gedrechselte Spindel der Schraube voranging; auf jeden Fall wäre der Übergang von der menschlichen zur nichtmenschlichen Maschine ohne die Drehbank kaum zu bewerkstelligen gewesen.

Wenngleich die Drehbank nur sehr allmählich vervollkommnet wurde, war sie doch von Anfang an ein ebenso bedeutendes arbeitsparendes Gerät wie das Fahrzeug auf Rädern oder das Segelboot und wegen ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ebenso wichtig. Unmittelbare Produkte der Drehbank waren Hebevorrichtungen, Flaschenzüge, Winden und Ladebäume, die zum Aufladen von Gütern und zum Segelhissen gebraucht wurden; doch auch in der klassischen griechischen Tragödie schien sie eine Rolle zu spielen:

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  Den Gott, der im kritischen Augenblick in menschliche Angelegenheiten eingriff, nannte man den Gott aus der Maschine, denn er wurde wirklich mit Hilfe einer Maschine durch die Luft getragen und zu Boden gelassen. Läßt die Tatsache, daß das griechische Publikum an dieser Vorrichtung nichts Unpassendes fand, nicht vermuten, daß es die Maschine als über­natürliche Kraft ansah?

Schraube und Drehbank waren überragende Erfindungen, zu denen noch viele andere hinzukamen. Das Metallstanzen zur Herstellung von Münzen war eine griechische Erfindung des siebenten Jahrhunderts, die die wirtschaftlichen Transaktionen revolutionierte, wenn auch die weitere Anwendung des Stanzvorgangs beim Drucken noch viele Jahrhunderte auf sich warten ließ. Was die ungeheure Geschicklichkeit betrifft, welche die Griechen beim Gießen von Bronzestatuen bewiesen, indem sie die Methode des »Wachsabschmelzens« verwendeten, so weist dies allein schon die Behauptung von der angeblichen technischen Indifferenz und Unfähigkeit der Griechen zurück. Denkt man an Cellinis Bericht über die Schwierigkeit, seinen Perseus, eine relativ kleine Figur, zu gießen, so kann man die großartige technische Meisterschaft ermessen, die das Gießen weit größerer Bronzestatuen in Griechenland ermöglichte.

In der Bewunderung für die vollendete Form des griechischen Tempels vergessen die Interpreten der Architektur häufig die erfinderische Bautechnik, die notwendig war, um die schweren Steinblöcke für den Parthenon die steilen Hänge der Akropolis hinaufzubringen. Nicht weniger erstaunlich war die Behauung und Einpassung der massiven Grundsteine des Apollotempels in Delphi; diese Steinblöcke, mit glatter Oberfläche, doch völlig ungleichmäßig, zusammengefügt wie ein Puzzlespiel, ohne Zement, konnten jedem Erdbeben widerstehen; wer die Einkerbungen und die genaue Paßarbeit an diesen Steinen betrachtet, wird nicht versucht sein, die griechische Bautechnik zu unterschätzen.

Man muß einräumen, daß diese brillanten technischen Innovationen nicht immer unmittelbar angewandt wurden, ebensowenig wie die Luftsäule des Hero von Alexandrien; und wir wollen auch nicht die parallel erfolgten, ebenso originellen Erfindungen in China, Indien und Persien vergessen - Erfindungen, welche die erstaunlichen Leistungen dieser Völker in Bildhauerei und Architektur erklären helfen. Doch es ist zweifelhaft, ob die technischen Fortschritte, die nach dem elften Jahrhundert in Westeuropa gemacht wurden, ohne diese lange Reihe vorangegangener Leistungen möglich oder auch nur denkbar gewesen wären.

Und zuletzt die revolutionärste all dieser mechanischen Erfindungen — offenkundig auch eine griechische —: die Wassermühle. Das ursprüngliche Modell dieser Erfindung könnte mit Alexanders Armeen aus Indien gekommen sein, wo kleine Wasserräder als buddhistische Gebetsmühlen verwendet wurden.

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Doch ist es wieder kaum ein Zufall, daß die Wassermühle als praktische Erfindung, nicht als magisches Spielzeug, aus Griechenland stammt, aus jener Kultur, die hartnäckig die demokratische Technik des archaischen Dorfes bewahrt hatte und sich niemals der totalitären Ideologie des Königtums unterwarf, die von Alexander dem Großen und späteren hellenistischen »Heilskönigen« wiederbelebt wurde.

Das bestätigt sich auch darin, daß die Athener ebensowenig die andere notwendige Komponente der Megamaschine akzeptierten: eine geschulte permanente Bürokratie. Die Athener übten, als stolzes Merkmal ihrer Bürgerfreiheit, gemeinsam die Verwaltungs­funktionen aus, die sonst an spezialisierte Beamte hätten delegiert werden müssen; und anstatt die Verwaltungs­tätigkeit zu einer lebenslangen Aufgabe zu machen, ließen sie die Ämter rotieren. So war die Kraftmaschine, in ihrer reinen Form, die nicht einmal tierischer Antriebskraft bedurfte, eine griechische Erfindung: der erste erfolgreiche Versuch, die kollektive menschliche Maschine als Energiequelle für produktive Arbeit zu ersetzen.

Nach den verfügbaren Beweisen dürfte die früheste Wassermühle, heute Norse genannt, klein und horizontal gewesen sein, nur für den Hausgebrauch geeignet, dafür durch jeden kleinen Bach zu betreiben. Sie mag wohl ein Beitrag des griechischen Bergdorfes gewesen sein; denn die früheste Erwähnung der Wassermühle in der Literatur findet sich in einem Vers aus dem ersten Jahrhundert von Antipater von Thessalonike (Saloniki), wie folgt:

»Hört auf zu mahlen, ihr Frauen, die ihr an den Mühlen arbeitet; schlaft lange, auch wenn das Krähen des Hahns die Dämmerung ankündet. Denn Demeter hat den Nymphen befohlen, die Arbeit eurer Hände zu tun, und sie drehen, auf das Rad springend, dessen Achse, die mit ihren umlaufenden Speichen die schweren, gehöhlten nysirischen Mühlsteine rollt. Wir genießen wieder die Freuden des einfachen Lebens, lernen uns an Demeters Früchten ergötzen, ohne zu arbeiten.«

Diese genaue Beschreibung eines oberschlächtigen Wasserrads würde tatsächlich, obwohl es von einem Historiker der Technik ohne Begründung bestritten wurde, auf ein viel früheres Datum der Erfindung hinweisen, da das unterschlächtige Rad aller Wahr­scheinlichkeit nach der ältere und weniger effiziente Typus ist. Bei vorsichtigster Schätzung muß man annehmen, daß es ein- bis zweihundert Jahre dauerte, ehe eine solche Erfindung einem Dichter, selbst einem an Ort und Stelle, auffiel und ihm solch ein lyrisches Loblied auf einen offenbar eindeutigen Erfolg entlockte. Wahrscheinlich war die kleinere, einfachere Mühle noch früher erfunden worden; sie ist auf den Hebriden bis ins neunzehnte Jahrhundert erhalten geblieben.

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Es muß einem klar sein, daß mit dieser Erfindung die Plackerei des häuslichen Mahlens, zumindest im Prinzip, ein Ende hatte, wenn auch Handmühlen noch in Gebrauch blieben. Die Möglichkeiten der Wasserkraft als arbeitsparende Einrichtung wurden begriffen. Wenn diese Erfindung sich trotzdem nicht rasch im ganzen Mittelmeerraum ausgebreitet hat, dann mögen eher die geographischen Bedingungen als menschliche Trägheit dafür verantwortlich sein; denn in Griechenland trocknen die Bergbäche im Sommer oft zu Rinnsalen, wenn nicht gänzlich aus; auch zu anderen Jahreszeiten kann man sich ohne Mühlwehr oder Mühlgraben nicht auf sie verlassen.

Obwohl der Verwendungsbereich der Wassermühle notwendigerweise be schränkt war, ist doch ihre Ausbreitung und großzügige Anwendung dort, wo dies möglich war, heute durchaus bestätigt. Die Entdeckung von sechzehn Wassermühlen, auf acht symmetrischen Ebenen aufgestellt, bei Barbegal, in der Nähe von Aries, aus der Zeit von 308 bis 316, beweist, wie Bertrand Gille unterstreicht, daß unter Diokletian und Konstantin eine Knappheit an Sklavenarbeitern zur Einführung von Kraftmaschinen in großem Maßstab führte, die das System sowohl der Sklaven- als auch der freien Heimarbeit durch ein auf mechanischen Antriebskräften basierendes ersetzten. Vielleicht ist dies der erste historische Nachweis einer vollmechanisierten Massen­produktion, obwohl ein anderer Dichter, Ausonius von Bordeaux, nur kurze Zeit später über die Verwendung von Wassermühlen beim Sägen von Kalkstein im Moseltal berichtet. Es gibt keinen Grund, an zunehmen, daß die dokumentarisch für das elfte Jahrhundert nachgewiesene massenhafte Verwendung von Wassermühlen eine neue Wiedererfindung war.

Obwohl ich die drei wichtigsten Erfindungen der Griechen hervorgehoben habe, weil sie unterschätzt wurden, muß ich noch andere, von ihnen ab geleitete erwähnen, wie etwa den Holzbohrer, die Rolle, die Winde und die Schraubenpresse zum Auspressen von Öl und Wein. Sie zeigen, daß die übliche Einschätzung dieser Periode als technologisch rückständig — infolge der Sklaverei — nur eine stereotype akademische Beurteilung ist, die sich leider fixiert hat, ehe die Gegenbeweise ans Licht kamen.

Was für die Griechen zutrifft, ist nicht minder auf viele Erfindungen in anderen Ländern und späteren Jahrhunderten anwendbar. Sie waren lange Zeit außerhalb des Blickfelds, manche gewiß deshalb, weil sie nicht in Büchern verzeichnet waren oder als Überreste erhalten geblieben sind. Im Industriemuseum zu Doylestown in Pennsylvania gibt es eine ganze Reihe scharfsinniger früher amerikanischer Erfindungen, vornehmlich aus Holz, zur Vereinfachung der Hausarbeit und Erleichterung der Feldarbeit. Doch ebenso wie die Maschine zum Zerkleinern von Futterrüben sind die meisten dieser Vorrichtungen mit der Entwicklung in Anbau und Fütterung verschwunden und wären ohne solche Museen längst vergessen.

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So wie unser maschinennärrisches Jahrhundert es verabsäumt hat, die Obst- und Gemüsezucht im Gleichschritt mit den technischen Erfindungen weiterzuentwickeln, so zögert es auch, die Präparierung von Nahrungsmitteln durch Salzen, Räuchern, Kochen, Brauen, Destillieren als einen weiteren Bereich der Erfindungen anzuerkennen. Die anschaulichen Berichte aus Mesopotamien und aus Ägypten über die Verbesserung des Biers lassen ähnliche Bemühungen auf anderen Gebieten vermuten. Wenn wir das erste Auspressen von Olivenöl oder die Herstellung der ersten Wurst auch nicht genau datieren können, so finden wir doch Hinweise auf beides in der klassischen griechischen Literatur. Die Wurst ist ein so bewundernswertes Mittel zur Konservierung von Fleisch in nützlicher Form, daß sie bis heute weiterexistiert, ohne jede Verbesserung, bis die zweifelhafte Plastikhaut eingeführt wurde. Keine dieser konkreten Verbesserungen sollte übergangen werden, weil sie in anderen Begriffen als denen technischer Erfindungsgabe und Produktivität zu erfassen ist.

So haben wir auch, allzusehr im industriellen Massendenken befangen, technologische Neuerungen in anderen Bereichen vergessen. Eine Vielfalt römischer chirurgischer Instrumente, hochspezialisiert, erinnert uns, daß die Erfindung hier nicht aufhörte; und Herodots Schilderung einer Reihe von Gebärmutteroperationen, die an Konkubinen des Königs von Lydien vorgenommen wurden, läßt auf die Entdeckung einer wirksamen Anästhesie schließen — ein Berufsgeheimnis, das von den Priestern in Delphi geteilt wurde, die einen grauen Star operierten, nachdem sie den Patienten in Schlaf versetzt hatten. Doch leider war das Geheimnis in beiden Fällen so wohl gehütet, daß es nicht an spätere Generationen überliefert wurde.

 

     Umfassendere Aufzeichnungen   

 

Bevor ich das Bild früher technischer Errungenschaften abrunde, die unser Zeitalter, ohne sie weiter zu beachten, in sich aufgenommen hat, möchte ich auf eine wichtige Ursache für die Verzögerung sowohl der technischen als auch der sozialen Entwicklung hinweisen, die von den Historikern der Technik bisher vernachlässigt wurde — eine viel ernstere Ursache als die Sklaverei, nämlich die wiederholten, ja chronischen Verwüstungen und Zerstörungen durch Kriege.

Diese kolossale Negation muß den vielen positiven Fortschritten entgegengehalten werden. Mit dem Niederbrennen von Dörfern und der Schleifung von Städten ist mehr ausgelöscht worden als nur Gebäude und Werkstätten: nämlich die Tradition der Handwerkskunst, die Berufsgeheimnisse, die neuen Erfindungen und zugleich das Gefühl einer sicheren Zukunft, das die Menschen veranlaßt, wertvolle Tage ihres Lebens für einen späteren Erfolg zu opfern.

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Unter diesen ständigen Angriffen konnte nur ein Teil der technischen Tradition erhalten bleiben und überliefert werden, auch dann, wenn die Arbeiter nicht getötet, sondern versklavt wurden. Denn mit der Sklaverei kam es zum Verlust der Initiative und aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem gewissen Maß rachsüchtiger Sabotage — »bewußter Zurückhaltung von Können«.

Da handwerkliches Können zum großen Teil in den Köpfen aufbewahrt war und nur dann wirksam wurde, wenn geeignetes Material vorhanden war und die Arbeitsmethode durch Beispiel und verbale Anleitung weitergegeben wurde, müssen die Verluste, die der Krieg verursachte, sehr groß gewesen sein — unermeßlich groß. Den Krieg als eine Ursache der allgemeinen technologischen Verzögerung zu übersehen und sich auf seine Nebenprodukte zu konzentrieren — auf die Sklaverei und die Verachtung der herrschenden Klassen für die nützlichen Künste —, heißt sekundäre Faktoren als primäre behandeln.

Am wenigsten beachtet wurden die technologischen Errungenschaften im Bereich der häuslichen Fertigkeiten: die allmähliche, aber ständige Verbesserung der Utensilien und Einrichtungen, die der häuslichen Bequemlichkeit dienen und den Komfort erhöhen. Ich weise auf eine Vielfalt von Erfindungen hin, angefangen von Textilien und Eßbesteck bis zu Stühlen und Betten. Wenn die Formen mancher dieser Gegenstände, etwa der Krüge, unverändert geblieben sind, so deshalb, weil es an ihnen nichts mehr zu verbessern gab. Die entarteten oder dummen Phantasien in den Gestaltung von Möbeln, Töpferwaren und Bestecken, mit deren gräßlicher Modernität man die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen zu erregen sucht, beweisen durch den Kontrast reichlich die Güte des Alten.

Betrachten wir die Möblierung der Häuser und die Ausstattung der Küchen, dann entdecken wir, daß der ganze Horizont der Erfindungen sich schon sehr früh erweitert hat. Der Schwalbenschwanz etwa ist eine alte ägyptische Erfindung, die Schubladen — auch eine nützliche Erfindung — vor dem Auseinanderfallen bewahrte. Der Korbstuhl, in der Form dem modernen chinesischen Bambusstuhl ähnlich, wurde ebenfalls in Ägypten erfunden, während die Etrusker vor der römischen Eroberung sowohl Stühle als auch Bettgestelle aus Bronze herstellten, Tausende Jahre bevor das Eisenbett als einzigartiges Merkmal des technischen Fortschritts in der viktorianischen Ära gepriesen wurde.

Viele geniale Erfindungen für Kinderpflege, individuelle Hygiene und landwirtschaftliche Leistungs­steigerung stammen aus der scheinbar erfindungslosen Zeit des Interregnums, nachdem das Pferd eingeführt und Eisen zum wichtigsten industriellen Metall geworden war. Selbst eine unvollständige Liste der Erfindungen oder Adaptionen für den Alltag müßte den Klappsessel, den Kindersessel (griechisch), die Badewanne, die Dusche, die Warmluftheizung, die Wasserleitung, das Wasserklosett, die Kanalisierung, den Dreschflegel, die Nähmaschine, das Faß, das Butterfaß, die Pumpe, das Hufeisen, den Steigbügel, den Mörteltrog, den Schubkarren und nicht zuletzt das Papier anführen.

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 Man beachte, daß nur ein Teil dieser Erfindungen als Maschinen bezeichnet werden kann. Viele sind, wie bei ihren häuslichen oder landwirtschaftlichen Verwendungszwecken zu erwarten, Utensilien oder Gebrauchsgegenstände, entwickelt aus der alten neolithischen Behälterkunst, von der ich bereits gesprochen habe.

Die Stadt — selber eine komplexe soziale Erfindung mit vielen differenzierten Elementen — war Schauplatz vieler anderer Erfindungen, die sowohl funktional als auch, was mindestens ebenso wichtig ist, sinnvoll waren. Das öffentliche Bad, der Sportplatz, das Theater, der Park — das alles waren wirkliche Erfindungen; zwar keine mechanischen, aber deshalb nicht minder nützlich. In unserer modernen Versessenheit auf Dynamik, Industrieproduktion und schnellen Transport haben wir übersehen, daß ein Leben ohne stabile Behälter auseinanderfallen würde, wie unser Leben es heute tatsächlich tut. Auf der ganzen Welt wurden die Städte bedenkenlos dem Privatauto geopfert — obgleich der Einzeltransport mit dem Auto der schlechteste Ersatz für ein komplexes Transportnetz ist, das man braucht, um die Stadt zu versorgen — und zu retten.

Ich möchte dieses lange, angeblich fortschrittslose Interregnum von einem ganz anderen Gesichtspunkt als von dem der Produkt­ivität einer kurzen Betrachtung unterziehen. Bisher habe ich zu zeigen versucht, daß die tatsächliche Produktivität, sowohl was Erfindungen als auch was deren Anwendung betrifft, unterschätzt wurde, weil der Westen heute auf Werkzeuge und Maschinen fixiert ist. Aber selbst wenn man dies berücksichtigt, bleiben noch bestimmte Gebiete, auf denen das Fehlen technischen Fortschritts keinen plausiblen rationalen Grund zu haben scheint: zum Beispiel Glas. Die ersten Glasperlen stammen von etwa 4000 vor Christus; und die Kultur, die den Brennofen und den Erzschmelzofen erfand, hätte durchaus die Glasherstellung vorantreiben können; denn deren Hauptmaterial, Sand, ist viel leichter zu beschaffen als metallhaltiges Gestein. Aber abgesehen von Perlen sind die frühesten Gegenstände aus Glas erst 2500 vor Christus nachweisbar und die ersten Glasgefäße noch viel später.

Vom Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts liegen Beweise für Glasbläserei vor; und kaum ein Jahrhundert später berichtet Seneca als Neuigkeit über, »die Verwendung von Glasfenstern, die das volle Tageslicht durch eine durchsichtige Scheibe hereinlassen«. Doch obwohl es keine ernsten technischen Hindernisse für die Herstellung von Fensterglas gab und Bedürfnis nach besserem Licht in Häusern, Läden, Schreibstuben und Werkstätten bestand, scheint durchsichtiges Fensterglas selbst in Rom eine Seltenheit gewesen und es in europäischen Wohnhäusern bis ins sechzehnte Jahrhundert und länger geblieben zu sein.

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Diese Säumigkeit ist um so mysteriöser, als erst 1965 eine riesige Glasplatte, schätzungsweise mehr als acht Tonnen schwer, in einer Höhle in der Nähe von Haifa gefunden wurde, die aus der Zeit zwischen 400 und 700 nach Christus stammt. War dies eine einmalige technologische Leistung, wie die Säule aus chemisch reinem Eisen, die in Indien gefunden wurde, oder war es ein normales Projekt, das durch einen Ausbruch bewaffneter Gewalt zunichte gemacht wurde? Auf jeden Fall datiert die Verwendung von Glas für eine große Vielfalt von Zwecken, von Vasen und chemischen Destillierkolben bis zu Brillengläsern und Spiegeln, erst vom dreizehnten Jahrhundert an - das übrigens selber fälschlich als Periode müßiger theologischer Dispute und technischer Stagnation angesehen wird, trotz der von Lynn Thorndike gefundenen Gegenbeweise.

Gewiß, es bestand damals eine unerklärliche Rückständigkeit auf manchen Gebieten, wo technische Fortschritte ohne Beeinträchtigung bestehender sozialer Einrichtungen oder der Handwerkstraditionen leicht möglich gewesen wären. Aber diese Rückständigkeit ist vielleicht zum Teil mit der Theorie zu erklären, die ich als Begründung der Rückständigkeit in der Werkzeug­herstellung vor der spätpaläolithischen Kultur herangezogen habe: Das Interesse konzentrierte sich mehr auf andere Bereiche — religiöses Ritual, Magie, Literatur, bildende Kunst. Waren die grundlegenden Handwerkszweige und die einfachen Maschinen einmal etabliert, so kamen technologische Fortschritte hauptsächlich durch erhöhte Geschicklichkeit, Entwicklung der Form, Verfeinerung der Details zustande. Ästhetische Phantasie oder funktionale »Richtigkeit« zu opfern, um den Ausstoß zu verdoppeln oder auch nur den Produktionsprozeß zu beschleunigen, widersprach der Mentalität der noch nicht mechanisierten Zivilisation - ob sie nun demokratisch oder autoritär war.

Nicht etwa, daß Quantität ganz und gar vernachlässigt wurde: Das Interesse an ihr kam mit dem Kapitalismus und dem Fernhandel. Sogar bei symbolischen Gegenständen mochten Quantität und Billigkeit eine Rolle spielen. Indem man einen Artikel verkleinert herstellte, wie zum Beispiel eine Tanagra-Figur, wurde es möglich, eine größere Anzahl dieser Produkte zu niedrigerem Preis auf den Markt zu bringen. Im allgemeinen bremste die Bedachtnahme auf Qualität lange Zeit die Produktion; aber wenn sie auch den Ausstoß verminderte und den Kreis potentieller Konsumenten verkleinerte, glich sie doch die Rechnung aus, indem sie verhinderte, daß die Güter rasch veralteten, und so eine wichtige Ursache der Vergeudung eliminierte. Trägt man den Widersprüchen zwischen autoritärer und demokratischer Technik Rechnung, dann erhält man ein genaueres Bild von der technischen Entwicklung als jenes, das auf einem oberflächlichen Vergleich zwischen der vergangenen und der modernen Technologie beruht.

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     Der Vorrang der Kunst   

 

Das ganze Bild der »Rückständigkeit« ändert sich, sobald wir aufhören, frühere Technologien mit den provinziellen Maßstäben unserer eigenen machtbezogenen Kultur zu messen, mit ihrer Anbetung der Maschine, ihrer Vorliebe für Gleichförmigkeit, Massenproduktion und Massenkonsum und ihrer Geringschätzung von Individualität, Vielfalt und Auswahl, sofern diese nicht den Erfordernissen der Megamaschine entsprechen.

Wendet man die heutigen Kriterien an, dann waren tatsächlich alle Kulturen vor unserer eigenen erfindungsarm. Doch sobald wir erkennen, daß in der Handwerksproduktion, selbst wenn sie der Megamaschine diente, das Schwergewicht des Erfindens auf dem Künstlerischen lag, dann kehrt sich das Verhältnis zwischen den beiden Technologien um. In ästhetischer und symbolischer Hinsicht ist unsere gegenwärtige Kultur jämmerlich erfindungsarm geworden, seit das Handwerk und die damit verbundene Volkskunst im neunzehnten Jahrhundert ihre Lebenskraft verloren haben. Die Endprodukte in Malerei und Bildhauerei, zumindest jene, die sich am besten verkaufen, sind auf ein Niveau herabgesunken, das tief unter dem der frühesten paläolithischen Schnitzereien liegt.

Während utilitaristische Erfindungen bis zum neunzehnten Jahrhundert langsame und sporadische Fortschritte machten, waren ästhetische Erfindungen, die sich in einer Fülle von Stilen, Mustern und Formen ausdrückten, für jede Kultur, auch die bescheidenste, kennzeichnend. Wie schon bei den ersten Schritten, mit denen der Mensch sich über seine stummen tierischen Vorfahren erhob, sind bisher stets die stärksten menschlichen? Energien in die Kunst des Ausdrucks und der Kommunikation geströmt; hier, und nicht in der Manufaktur oder im Maschinenbau, war die Hauptsphäre der Erfindung.

Selbst eine oberflächliche Bestandaufnahme der ästhetischen Erfindungen zwischen 3000 vor Christus und 1800 nach Christus wäre eine gewaltigere Aufgabe, als eine Geschichte der Technik im eigentlichen Sinn des Wortes zu schreiben. Es wäre nicht weniger als eine umfassende Enzyklopädie aller Künste, der des Volkes wie der des Palastes; nicht nur als räumliche Formen, sondern als die Sprachen des menschlichen Geistes, in ihrem Reichtum und ihrer Subtilität der gesprochenen Sprache vergleichbar.

Ästhetische Erfindung spielte in den Bemühungen des Menschen, eine sinnvolle Welt zu errichten, eine ebenso große Rolle wie die praktischen Bedürfnisse; und auf Grund der Anforderungen, die sie stellte, war sie auch ein wichtiger Stimulus für die Technik. Die größten technischen Errungenschaften der antiken Zivilisation nach Vollendung der neolithischen Domestizierung lagen im Bereich der Baukunst und der häuslichen Künste.

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Vom frühesten sumerischen Zikkurat an war die Architektur Schauplatz einer Folge größerer Erfindungen; jedes Bauwerk war durch die Kombination von Volumen, Masse, Farbe, Ornamentik, Material eine neue Erfindung, die Vorstellungen von menschlichen und kosmischen Beziehungen ausdrückte und abwandelte. Die Pyramide, der Obelisk, der Turm, das Gewölbe, die Kuppel, der Kirchturm, der Kreuzgang, der Strebebogen, das bunte Glasfenster, das alles sind Beispiele ungebundener technischer Kühnheit, die nicht durch physische Bedürfnisse oder Verlangen nach materiellem Reichtum ins Spiel gebracht wurden, sondern durch das viel tiefere Streben nach Signifikanz.

Mag auch die Architektur, mit ihrer Verbindung vieler Künste und ihrer organischen Komplexheit, sehr wohl als Musterbeispiel ästhetischer Erfindungsgabe dienen, so weisen doch alle anderen Künste, selbst alltägliche Töpfe und Textilien, den gleichen Einfallsreichtum auf. Kein Produkt, auch kein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand, wurde als vollendet angesehen, wenn er nicht in Farbe und Form den unverkennbaren Stempel menschlichen Geistes trug. Diese Menge ästhetischer Erfindungen schneidet günstig ata im Vergleich mit der Gesamtmenge mechanischer Erfindungen in den letzten paar Jahrhunderten. Doch sie verdrängten keineswegs die Technik, wie die moderne Wirtschaft die Kunst verdrängt; die beiden Erfindungsweisen standen vielmehr in Wechselwirkung.

Die heutige Trennung von Kunst und Technik ist daher eine moderne Fehlleistung. Bevor die Maschine unsere ganze Aufmerk­samkeit in Anspruch nahm, bestand eine kontinuierliche Wechselwirkung zwischen quantitativer Ordnung und Arbeits­effizienz einerseits und qualitativen Werten und Zwecken, die die menschliche Persönlichkeit widerspiegelten, anderseits. Dem schöpferischen Ausdruck subjektiver Form die Bezeichnung Erfindung verweigern, heißt die Einheit des Organismus und die Rolle der menschlichen Persönlichkeit leugnen.

Die Herstellung von Musikinstrumenten, angefangen von der Hirtenflöte, der Trommel und der Harfe, ist mindestens so alt wie die Kunst des Webens. Vielleicht ist es kein Zufall, daß eine der frühesten Erkenntnisse in der mathematischen Physik Pythagoras' Entdeckung des Zusammenhangs zwischen der Länge einer schwingenden Saite und der Höhe des von ihr erzeugten Tones war. Weit entfernt davon, rückständig zu sein, brachten di e subjektiven Künste nicht nur neue Formen und Stile hervor, sondern stimulierten auch ihrerseits mechanische Erfindungen. So konstruierte Hero von Alexandrien eine Windmühle, um eine Orgel anzutreiben, und später wurde Dampf erzeugt, um einen Orgelblasbalg in Gang zu bringen, lange bevor eine der beiden Kräfte benutzt wurde, um eine Mine auszupumpen.

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Die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Technik blieb zu beider Vorteil in den langen Zeiten handwerk­licher Kleinproduktion erhalten. Die Geige, deren Vervollkommnung nicht nur die Barockmusik, sondern auch alle spätere Orchestermusik so viel verdankt, war an sich eine außergewöhnliche Erfindung; denn das einfach aussehende Instrument, wie es in Cremona hergestellt wurde, bestand aus siebzig einzelnen Teilen, deren jeder seiner Funktion entsprechend aus besonders gewähltem, präpariertem und geformtem Holz bestand; und die Kompositionen waren ebenso Erfindungen wie die Instrumente, auf denen sie gespielt wurden.

Schon die oberflächlichste historische Betrachtung der Künste enthüllt eine Fruchtbarkeit in der Erfindung von Formen, die bis zum neunzehnten Jahrhundert in der militaristischen Maschinentechnik nicht ihresgleichen hatte; und die Entwicklung neuer ästhetischer Formen stellte neue Ansprüche an den technischen Erfindungsgeist, wie in der langen Reihe der Textilerfindungen, historisch beginnend bei den Webern von Damaskus über die Teppichweberei des Mittelalters bis zu den komplizierten ornamentalen Mustern, die den Anstoß zum Jacquardwebstuhl gaben; dieser unterstreicht übrigens meine frühere Behauptung, denn die komplexe Lochkartensteuerung des Jacquardstuhls diente als Modell für die spätere Erfindung von Sortier- und Rechenmaschinen.

Kurz, auch in den Epochen, die rückblickend als Zeiten der Stagnation erscheinen, hielt der Fortschritt in den dekorativen, symbolischen und expressiven Künsten an. Lange vor der Dampfmaschine und dem mechanischen Webstuhl wurden hier die ersten großen Fortschritte in quantitativer Produktion gemacht: nicht nur dank der Druckerpresse, sondern auch in den Künsten des Gravierens, Radierens und Lithographierens, die es ermöglichten, Bilder — oft solche der größten Künstler — in beliebiger Menge und zu erschwinglichen Preisen für den privaten Hausgebrauch herzustellen.

So waren nicht nur ästhetische, sondern auch mechanische Erfindungen zum Zweck der Erzielung oder Vervollkommnung rein ästhetischer oder symbolischer Ergebnisse charakteristisch für einen großen Teil der noch nicht automatisierten Produktion. Dieser Beitrag wurde selbst in seinen technischen Implikationen von jenen unterschätzt, die Technik auf die Eroberung von Zeit, Raum und Energie zu reduzieren pflegen. Jene Handwerkstraditionen, die vor allem mündlich und durch persönliches Beispiel weitergegeben wurden, konnten nicht so leicht verlorengehen oder zerstört werden, da sie weltweite Verbreitung hatten. Wenn China jemals vergessen hätte, wie man glasierte Töpfe herstellt, dann hätten Japan oder Italien einspringen können. Wären alle Werkstätten einer Stadt niedergebrannt worden, dann hätten die einzelnen Handwerker, sofern sie mit ihren Werkzeugen entkommen waren, sie ersetzen können. Der Krieg mag weitere Verbesserungen verzögert haben, aber die neolithische Technologie, mit ihrer weltweiten Verbreitung, konnte nicht vollständig unterdrückt werden, bis die Megatechnik ebenso universal geworden war.

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Um eine so weitverbreitete Tradition zu zerstören, muß man die ihr zugrunde liegende Kultur und die menschliche Persönlichkeit restlos vernichten. Und dieses Ergebnis wurde schließlich, nach dem sechzehnten Jahrhundert, durch »die Erfindung der Erfindungen« erzielt, die der Maschine den Vorrang gab, der einst dem Handwerker-Künstler gehört hatte, und die Persönlichkeit auf numerierte Bestandteile reduzierte, die auf die Maschine übertragen werden konnten.

Ironischer-, aber auch tragischerweise geschah dies gerade an dem Punkt, wo die demokratische Technik, die in den kleinen Werkstätten konzentriert war, endlich über genügend mechanische Kraft gebot, um es mit den Leistungen der Megamaschine aufzunehmen. Mit der Einführung kleiner Kraftmaschinen, die die quantitative Produktion hätten erhöhen können, ohne die ästhetische Sensibilität und die persönliche Kreativität zu untergraben, hätte die Blüte der Kunst, die in Europa vom dreizehnten Jahrhundert an zu verzeichnen war, ihre Fortsetzung finden können. Eine echte Polytechnik war im Entstehen, imstande, die Ordnung und Leistungsfähigkeit der Megamaschine mit der schöpferischen Initiative und der Individualität des Künstlers zu versöhnen. Doch innerhalb weniger Jahrhunderte wurde das ganze System durch die neue unpersönliche Marktwirtschaft und die Auferstehung der totalitären Megamaschine in neuer Form unterminiert.

Im Handwerk gab es viele Prozesse, die ohne weiteres durch die Maschine verkürzt, vereinfacht oder vervollkommnet werden konnten, so wie zum Beispiel die Töpferei durch die Erfindung der Töpferscheibe vervollkommnet worden war. Wer, wie ich, einmal das Vergnügen hatte, zuzusehen, wie ein altmodischer Drechsler in den Chiltern Hills in England einen trockenen Holzklotz mit einer Axt in zwei gleiche Teile spaltete und dann auf einer mechanischen Drehbank mit Leichtigkeit und Präzision ein Stuhlbein drechselte, wird wissen, daß es keine unbedingte Feindschaft zwischen Handwerk und Maschine gab. Ganz im Gegenteil; unter persönlicher Kontrolle war die Maschine ein Segen für den freien Arbeiter.

Zwei Denker haben im vorigen Jahrhundert sehr schnell begriffen, daß eine fortgeschrittene Technologie, mit kleinen Maschinen und billiger Elektrizität arbeitend, den Vorteil bietet, die intime menschliche Größenordnung und damit auch die gemeinschaftliche Zusammenarbeit in engem persönlichen Kontakt wiederherzustellen, ohne auf die Vorteile rascher Kommunikation und Beförderung zu verzichten: Peter Kropotkin und Patrick Geddes.

In seinem Buch Felder, Fabriken und Werkstätten umriß Kropotkin diese potentielle neue Ökonomie. Es ist interessant, daß Norbert Wiener, dessen eigene wissenschaftliche Arbeit die Automation förderte, zwei Generationen später, ohne die früheren Analysen von Kropotkin, Geddes und mir selbst zu kennen, diese Möglichkeiten wiederentdeckte.

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Doch die vorherrschenden Kräfte des neunzehnten Jahrhunderts, einschließlich des autoritären Kommunismus von Karl Marx, verharrten auf der Seite der großen Organisationen, der zentralisierten Leitung und der Massenproduktion, ohne im Arbeiter mehr zu sehen als einen Bestandteil der Megamaschine. So wurden diese Möglichkeiten nur im modernen amerikanischen Haushalt mit seinem Aufgebot an automatischen Heiz- und Kühlanlagen, Waschmaschinen, Mixern, Schleif­maschinen, Teppichklopfern, Polier- und Reinigungsgeräten zum Teil ausgeschöpft.

Bis jetzt konnte kein freies Handwerk in einem autoritären Wirtschaftssystem überleben, das auf komplexen Maschinen beruht, die kein einzelner Arbeiter kaufen oder kontrollieren könnte, und das »Sicherheit« und »Überfluß« nur im Austausch gegen Unterwerfung verspricht. Der Philosoph A. N. Whitehead hat die Bedeutung der Kulminationsperiode im Handwerkswesen des Westens besser erkannt als die meisten Historiker, und seine Worte sind wert, zitiert zu werden:

»Was individuelle Freiheit betrifft, so gab es in der Stadt London im Jahre 1633 mehr Freiheit ... als heute in irgendeiner Industriestadt der Welt. Es ist unmöglich, die Sozialgeschichte unserer Vorfahren zu verstehen, wenn wir uns nicht der ungestümen Freiheit besinnen, die damals in den Städten Englands, Flanderns, des Rheinlands und Norditaliens existierte. In unserem heutigen Industriesystem ist diese Art Freiheit verlorengegangen. Dieser Verlust bedeutet das Schwinden unendlich kostbarer Werte aus dem menschlichen Leben. Das individuelle Temperament kann nicht mehr in ernsthaften Aktivitäten Befriedigung finden. Es bleiben nur unerbittliche Arbeits­bedingungen und triviale Vergnügungen in der Freizeit.«

Abgesehen davon, daß Whitehead das siebzehnte Jahrhundert als Höhepunkt bezeichnet, was für England stimmen mag, aber nicht mehr für die anderen Länder Europas, führt uns seine Charakterisierung an die große Trennungslinie der Geschichte der westlichen Welt heran, an den Punkt, an dem die demokratische Technik von der Autorität, von der Macht und vom großen Erfolg der Megatechnik (Erfolg in deren eigenem engstirnigen Sinn) überwältigt wurde. Doch ehe wir diese Geschichte näher betrachten und ihre Ergebnisse zu erklären versuchen, müssen wir uns mit einer Gegenkraft befassen, die etwa zweitausend Jahre lang am Werk war: der Kraft der großen Religionen und Philosophien, der verschiedenen und doch verwandten Wertsysteme, welche die »Zivilisation« angriffen und deren schwere Last zu erleichtern suchten, indem sie alles Streben nach Veränderung auf die Wandlung nicht der Umwelt, sondern der individuellen Seele lenkten.

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     Die Moralisierung der Macht   

 

Mit der Ausbreitung der städtischen Zivilisation wurde eine ungeheure Menge technischer Möglichkeiten und materiellen Reichtums angehäuft; in vielen Gebieten bot das Leben in diesen Zentren Anreize, Möglichkeiten und Befriedigungen, die über das Maß des archaischen Dorfes hinausgingen. Doch das Gros der Menschheit hat, bis in unsere Zeit hinein, niemals in Städten gelebt, noch war sie bereit, die Art von Leben, wie es dort geboten wurde, als höchstes Gut zu akzeptieren. Sogar die herrschenden Klassen teilten in gewissem Maß die Unzufriedenheit mit den angeblichen Vorteilen der »Zivilisation«, wie die von mir zitierten Dialoge über den Selbstmord zeigen: Sie hatten Güter auf dem Lande, auf denen sie sich zeitweise aufhielten oder wohin sie sich, wenn der ganze komplexe politische Apparat zusammenbrach, zurückziehen konnten, um für die entschwundenen Güter der »Zivilisation« teilweisen Ersatz in der Rückkehr zu den älteren Beschäftigungen des Jagens, Fischens, Pflanzens und Züchtens zu finden.

Die Masse der städtischen Arbeiter muß ihr trauriges Los, soweit sie sich dessen bewußt war, mit einem Gefühl bitterer Enttäuschung betrachtet haben. Mit der Hinnähme der Arbeitsteilung hatte sie ihre eigene individuelle Ganzheit verloren, ohne sie durch Kameradschaft und Kooperation auf einer höheren kollektiven Ebene wiederherstellen zu können. Die Manifestationen der Macht, für die die Megamaschine sorgte, mögen sie zerstreut oder begeistert haben; doch stellvertretendes Leben ist um nichts besser als stellvertretendes Essen: Bestenfalls war der Arbeiter gezwungen, inmitten vom Überfluß zu hungern, und er hatte Grund, sich betrogen zu fühlen. Dieses Gefühl der Enttäuschung über das, was das Leben zu bieten hatte, geht klar aus der frühmesopotamischen Literatur hervor und kehrt immer wieder. Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitel, sagt der Prediger. Und die Höhe aller Eitelkeit ist, »daß sie viele Erfindungen erklügelt haben«. So betrachtet, war die »Zivilisation« ein Übel.

Bei der Untersuchung der Bedingungen, die bewirkten, daß der Bereich der Megamaschine, nachdem der erste Schwung konstruktiver Tätigkeit dem Höhepunkt überschritten hatte, sich nur noch langsam erweiterte, muß man also außer den negativen Folgen der Kriege noch etwas in Betracht ziehen: Die Enttäuschung über Macht und materiellen Reichtum äußerte sich immer wieder im Zusammenhang mit der Entfremdung von einem zweck- und sinnvollen Gemeinschaftsleben. Von dieser Enttäuschung waren mit der Zeit die Ausbeuter ebenso wie die Ausgebeuteten betroffen.

Die herrschenden Klassen erschlafften durch Übersättigung mit den Gütern und Vergnügungen, die sie so rücksichtslos für sich monopolisiert hatten. Viele dieser arroganten Herrscher und ihrer Büttel waren von einer menschlichen auf eine äffische Stufe zurückgefallen:

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   Wie die Affen rissen sie Nahrung an sich, anstatt sie mit der Gruppe zu teilen, wie jene beanspruchten die Stärkeren, unter ihnen auch einen größeren Anteil an Frauen, als ihnen zukam, und ebenfalls wie jene waren sie ständig in einem Zustand gereizter Aggression gegen mögliche Rivalen. Kurz, sie hatten sich ihren spezifisch menschlichen Anlagen entfremdet; und in diesem Sinne hatten die tatsächlichen Gewinne an Macht und Reichtum in eine Sackgasse geführt: Sie brachten keinen äquivalenten Reichtum an Geist hervor.

Zwischen 3500 und 600 vor Christus hatte die physische Schale der Zivilisation sich gefestigt, doch die Kreatur im Inneren, die diese Schale geschaffen hatte, fühlte sich zunehmend beengt und eingeschränkt, wenn nicht unmittelbar bedroht. Die Vorteile großangelegter Organisation und Mechanisierung waren gering im Verhältnis zu den geforderten Opfern. Nur das wachsende Gefühl der Deillusionierung kann die Volksrevolte erklären, die zwischen dem neunten und dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert begann: eine Revolte des inneren Menschen gegen den äußeren Menschen, des Geistes gegen die ihn umgebende Schale. Da diese Revolte sich nicht auf physische Waffen stützte, konnte sie nicht mit Peitschen, Knüppeln oder Fesseln unterdrückt werden; und langsam drohte sie das gesamte Machtsystem, das auf Bodenmonopol, Sklaverei und lebenslanger Arbeitsteilung beruhte, zu zertrümmern.

Der erste Gelehrte, der diese simultane Bewegung beschrieb und ihre Bedeutung erkannte, war der fast vergessene Schotte J. Stuart Glennie, der auch auf die fünfhundertjährigen Zyklen in der Kulturentwicklung hinwies; und sowohl Karl Jaspers als auch ich haben unabhängig voneinander diesen neuen Religionen und Philosophien die Bezeichnung axial gegeben — eine bewußt doppelsinnige Bezeichnung, die sowohl den Gedanken des Wertes enthält, wie in der Axiologie, als auch den der Zentralität, das heißt des Zusammenstrebens aller getrennten Institutionen und Funktionen in der menschlichen Persönlichkeit, um die sie sich drehen.

Die Revolte begann im Geist, und sie ging in aller Stille daran, die materialistischen Annahmen zu bestreiten, die das menschliche Wohlergehen und den Willen der Götter mit zentralisierter politischer Macht, militärischer Vorherrschaft und wachsender ökonomischer Ausbeutung gleichsetzen — symbolisiert in Mauern, Türmen, Palästen und Tempeln der großen städtischen Zentren. In ganz Europa, im Nahen Osten und in Asien — und mehr in den Dörfern als in den Städten — erhoben sich neue Stimmen, die eines Amos, eines Hesiod, eines Lao-tse, die den Machtkult verspotteten, ihn für ungerecht, sinnlos und unmenschlich erklärten und eine neue Art von Werten verkündeten, die Antithese zu jenen, auf denen der Mythos der Megamaschine aufgebaut war.

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Im sechsten vorchristlichen Jahrhundert hatte diese Herausforderung überall Verbreitung gefunden; die gleiche allgemeine Einstellung zum Leben, die gleiche Verachtung für die Güter der Zivilisation, der gleiche Abscheu vor jenen Führern am Hofe, im Militärlager, im Tempel und auf den» Marktplatz, die, wie William Blake sagte, »stets den geistigen Krieg unterdrücken und den physischen fortsetzen möchten«. Und vor allem die gleiche Parteinahme für die Armen und Niedrigen, die bis dahin wehrlosen Opfer der Macht.

Von Indien und Persien bis nach Palästina, nach Griechenland und schließlich nach Rom entzündete sich der neue Geist: ein scheinbar spontaner Ausbruch; und in jedem dieser Länder tauchte eine neue Art Persönlichkeit auf und zog eine weitere Reihe ähnlicher Persönlichkeiten nach sich. Dies war eine Volksbewegung, keine Marotte der Oberklasse. Der Idealmensch war nun nicht mehr ein Held von außerordentlicher körperlicher Größe und Muskelkraft, wie Gilgamesch, Herakles oder Samson; nicht mehr ein König, der sich der Zahl der Löwen, die er getötet hatte, brüstete, oder der Zahl der Könige, die er gedemütigt oder verstümmelt und ihrer Götter beraubt hatte; diese Idealgestalt rühmte sich auch nicht der Zahl der Konkubinen, mit denen er in einer einzigen Nacht geschlafen hatte.

Die neuen Propheten waren Männer von bescheidener, menschlicher Haltung. Sie führten das Leben auf den Maßstab des Dorfes und auf normale menschliche Dimensionen zurück; und aus dieser Schwäche machten sie eine neue Art von Stärke, die der Palast oder der Marktplatz nicht kannte. Diese sanftmütigen, zurückhaltenden, stillen, äußerlich demütigen Männer traten allein oder mit einer Handvoll ebenso demütiger Anhänger auf, unbewaffnet und ungeschützt. Sie bemühten sich nicht um die Unterstützung der Institutionen; im Gegenteil, sie wagten es, den Hochgestellten zu trotzen, sie zu verdammen, sogar ihren Untergang voraus­zusagen, wenn sie in ihrer gewohnten Weise fortführen. »Mene, mene, tekel upharsin.« — »Gewogen und zu leicht befunden.«

Noch unnachgiebiger als die Könige, wagten es die axialen Propheten, von gewohnten Bräuchen und Traditionen abzuweichen, nicht nur von denen der Zivilisation, sondern auch von den Sexualkulten mit ihren Orgien und Opferungen, die aus neolithischen Riten stammten. Ihnen war nichts heilig, was zu keinem höheren Leben führte; und unter höher verstanden sie: sowohl von materiellem Aufwand als auch von tierischen Trieben befreit. Gegen die personifizierte, korporative Macht des Königtums vertraten sie das genaue Gegenteil: die Macht der Persönlichkeit in jeder lebenden Seele.

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Diese neuen Propheten schätzten die einfachen manuellen Berufe mehr als die hohen Ämter der Schreiber oder Staatsbeamten. »Arbeit«, sagte derVerfasser von Werke und Tage, »ist keine Schande. Es ist der Müßiggang, der eine Schande ist ... Was auch immer dein Los, Arbeit ist das beste für dich.« Amos war ein Schäfer, Hesiod ein Bauer, Sokrates ein Steinmetz, Jesus von Nazareth ein Zimmermann, Paulus ein Zeltmacher. Siddhartha, der Buddha, war zwar ein Prinz, doch verließ er seinen Palast und seine Familie, um in der Waldeinsamkeit eine neue Lebensanschauung zu finden, während Kung Fu-tse, obwohl Gelehrter und von höherem Stand, chronisch arbeitslos war: bei Hofe unerwünscht, trotz seiner höfischen Umgangsformen.

Bemerkenswert ist, daß diese neue Bewegung die offenkundigen Vorteile und Errungenschaften der »Zivilisation« ebenso ablehnte wie deren offenkundige Verirrungen und Übel. Dies war nicht allein eine Revolte gegen das System der Reglementierung, das die Ehrgeizigen und Rücksichtslosen erhöhte und die Fügsamen und Treuen erniedrigte; es war eine Revolte gegen den Pomp und die Eitelkeit weltlichen Erfolgs, gegen alte Rituale, die inhaltslos geworden waren — »leere Wiederholung, wie sie des Heiden Brauch ist« —, gegen gigantische Bilder, imposante Bauten, hemmungslose Völlerei, sexuelle Ausschweifung und Menschenopfer: dies alles entwürdigte den Menschen und ließ den Geist verkümmern. Die neuen Persönlichkeiten wollten überzeugen, nicht befehlen; sie wollten nicht Herrscher, sondern Lehrer sein, jeder ein »Lehrer der Rechtschaffenheit«, der seine Anhänger dazu ermutigte, in sich zu gehen und sich von ihrem eigenen verborgenen Licht leiten zu lassen.

Indem sie sich von den normalen Pflichten zurückzogen, fasteten und meditierten, hatten die neuen Führer in sich selbst die Möglichkeit einer neuen Lebensweise gefunden, die die früheren Wertmaßstäbe umstieß, selbst jene der archaischen Ackerbaugesellschaft mit ihrer Überbetonung der Sexualität und ihrer Beschränkung auf verwandtschaftliche und nachbarliche Beziehungen; doch noch nachdrücklicher wiesen sie die Normen der Zivilisation zurück. Den schwergepanzerten Persönlichkeiten, die das Königtum hervorbrachte, traten die Propheten geistig nackt und physisch unbewaffnet entgegen: lauter Davids gegen die waffenstrotzenden Goliaths der Megamaschine. Die neuen Führer waren verwegen genug, diese nackte Persönlichkeit als Vorbild zur Nachahmung zu präsentieren. Laut Kung Fu-tse, einem der einflußreichsten dieser neuen Propheten, konnten nur jene, die mit Hilfe von Musik, Ritual und Gelehrsamkeit ihre Persönlichkeit zu vervollkommnen suchten, als »vollständige Menschen« bezeichnet werden.

Das Zeitalter, das von diesen Propheten und ihren universalen Religionen und Philosophien eingeleitet wurde, war eine neue Epoche: so entschieden, daß einer der größten Propheten Cäsars Namen vom Kalender verdrängte, nach dem die meisten Völker heute noch die Zeit rechnen.

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Indem sie Gemeinschaft mit anderen ihrer Art anstrebten, ohne Rücksicht auf die Ansprüche der örtlichen Götter oder auf territoriale und sprachliche Grenzen, stellten sie die menschliche Persönlichkeit höher als deren physische und institutionelle Mittel.

Durch direkten, menschlichen Kontakt mittels Wort und Beispiel, durch Disziplinierung und Umorientierung der menschlichen Begierden, durch Ausrichtung der gegenwärtigen Tätigkeit auf ferne Zukunftsziele waren diese Propheten, jeder für sich, zum wahrhaft Menschlichen, zu den Frachten des Geistes zurückgekehrt. Sie nahmen den Faden auf, der fallen gelassen wurde, als der Druck der wachsenden Bevölkerungszahl die neolithischen Kulturen des Nahen Ostens, noch vor Beginn der Zivilisation, zur einseitigen Ausbeutung der Umwelt geführt hatte.

Von den älteren Königen, die sich göttlicher Macht rühmten, hat kein ein ziger spätere Generationen durch eine Veränderung des Charakters dauernd geprägt: ja die bewußte Nachahmung der Persönlichkeit des Königs wäre eine unverzeihliche Sünde, wenn nicht ein Sakrileg gewesen. Während wir ihre prächtigen Grabmäler und Monumente bewundern, müssen wir lächeln, so wie wir die prahlerischen Inschriften, die Ozymandias der Nachwelt hinterließ, ihrer ungeheuren Eitelkeit und ihres kindischen Ehrgeizes wegen belächeln. Welch tiefes Minderwertigkeitsgefühl erforderte solch übertriebene Kompensation? Doch ganz anders war es mit der neuen Art geistiger Führer, »die Kampf ansagten dem Verfall der Zeit; und alle, die nicht weichen, sind Vergangenheit«. Jesaja, Buddha, Kung Fu-tse, Solon, Sokrates, Plato, Jesus, Mohammed — sie und ihresgleichen sind immer noch mehr oder minder lebendig, dauerhafter und unversehrter als irgendein physisches Monument, immer noch erkennbar in Ausdruck und Haltung ihrer unter uns weilenden Nachkommen, als hätte sich der erfolgte Wandel den Genen eingeprägt.

Nur jene, die meinen, die Gesellschaft sei immer schon in wasserdichte Abteilungen getrennt gewesen, können glauben, daß eine so tiefgehende und weitverbreitete Umwandlung wie diese sich nicht auf die Technologie ausgewirkt hätte. Indem die neue Lebensweise die Ziele wie die Mittel der »Zivilisation« diskreditierte, entzog sie dieser, mehr durch Verweigerung und Enthaltung als durch offenen Kampf gegen die herrschenden Klassen, menschliche Energie. Mit der Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen der Entwicklung des Menschen und dem Versuch, seinem Geist eine neue Richtung zu geben, ihn aus den eingefahrenen Radspuren des institutionalisierten Lebens herauszuheben, hatten die neuen Propheten anscheinend einen Weg zur Weiter­entwicklung geöffnet; wiewohl sie tatsächlich, wie ich in meinem Buch <The Transformations of Man> gezeigt habe, nur allzubald vom den Institutionen, die sie bekämpft hatten, wieder aufgesogen wurden.

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Die neue Geisteshaltung ergriff auch das Königtum: zuerst in der Person Buddhas, dann Asokas in Indien und Mark Aurels in Rom. Es waren nicht nur die jüdischen Propheten, die es wagten, Könige zu ermahnen und von ihnen Unterwerfung unter eine höhere Moral zu fordern. Dio Chrysostom (40-115) zögerte nicht, in seinem ersten Diskurs über das Königtum diesem eine Lektion zu erteilen: »Der gute König«, schrieb er, »betrachtet es als sein Amt, den größeren Teil zu haben, nicht am Reichtum, sondern an gewissenhafter Fürsorge und an Besorgnis; darum liebt er die Arbeit mehr, als andere das Vergnügen oder den Reichtum lieben. Denn er weiß, daß Vergnügen zusätzlich zu dem allgemeinen Schaden, den es jenen, die ihm ständig frönen, zufügt, sie auch bald unfähig macht, es zu genießen, während Arbeit, neben den anderen Vorteilen, die sie bringt, auch ständig die Fähigkeit des Menschen, zu arbeiten, vergrößert.«

Hier wurde ein neuer Ton angeschlagen, der in ebenso krassem Widerspruch zu den ursprünglichen Postulaten des Königtums stand wie das Christentum. Ein früher König hätte kaum seinen Ohren getraut, hätte jemand in seiner Gegenwart solche Worte geäußert, denn er betrachtete seine Anstrengungen in der Schlacht stets nur als ein Vergnügen — es sei denn, er wurde besiegt. Doch Mark Aurel sollte wenig später versuchen, nach diesen Grundsätzen zu leben.

Menschliches Leben, so verstanden, war nun nicht mehr billig, sondern unendlich kostbar; es sollte nicht in Jagd nach vergänglichen Gütern verschwendet werden. Dieses neue Vertrauen in die zentrale Rolle der Persönlichkeit verschob das Gewicht von der mechanischen Organisation zu menschlicher Gemeinschaft und gegenseitiger Hilfe; und dies hatte, wie Kropotkin zeigte, seine Auswirkung auch auf die Technik. Vom zwölften Jahrhundert an kann dieser Wandel anhand der Arbeitsweise der mittelalterlichen Gilden in Westeuropa nachgewiesen werden: Ihre Arbeit war an Akte der Nächstenliebe, der Unterstützung und der Freundschaft gebunden — Hilfe für Witwen und Waisen, würdige Bestattungsfeierlichkeiten, Teilnahme an brüderlichen Festen und Zeremonien, Aufführung von Mysterienspielen und Theaterstücken.

Die religiöse und ethische Neuorientierung übte eine starke Wirkung auf die Technik aus: Zuerst half sie, das Schicksal der Sklaven zu erleichtern, dann führte sie zur schrittweisen Abschaffung der Sklaverei. In der friedlichen Arbeit, wenn auch nicht im Krieg, wurde diese Machtquelle der Megamaschine ausgeschaltet und aufgegeben; und diese Reform beschleunigte die Erfindung anderer, nichtmenschlicher Antriebssysteme und Maschinen. Niemand kann bezweifeln, daß dies ein positiver Fortschritt war.

Leider war in Europa die Kirche, die einst die alten Werte der »Zivilisation« radikal angefochten hatte, selbst zu einer Macht geworden, indem sie die bürokratische Verwaltungsorganisation des römischen Staates übernahm.

Mit der Zeit sollte der Papst sogar eine eigene Armee haben und später zu den Zwangsmitteln der Inquisition greifen, ausgestattet mit raffinierten Folterungs­werkzeugen, die in unserer Zeit von den Nazi-Inquisitoren und ihren häßlichen militärischen Nachahmern in anderen Ländern kaum übertroffen wurden.

Mit der Wiedererrichtung des römischen Staates, auf axialer Basis, wurde die römisch-katholische Kirche paradoxerweise selber zu einer Art geistlicher Megamaschine, die für den Ruhm Gottes und die Rettung der Seelen unter einem König von Gottes Gnaden arbeitete. Und wieder, um die Ähnlichkeit zu vervollständigen, ging dies unter einem direkten Stellvertreter der Gottheit vor sich, dem Papst, dessen Proklamationen in Fragen des Glaubens und der Moral, unterstützt von der Priesterschaft, als unfehlbar galten.

Doch zur Zeit, als die neuen Werte der axialen Propheten in gesellschaftlichen Institutionen verkörpert waren und in neuen Architekturformen und Kunstwerken Ausdruck fanden, lagen bereits Skizzen und Entwürfe für einen noch mächtigeren Typus der Megamaschine sozusagen auf dem Reißbrett. Nach Jahrhunderten der Erosion war die Zeit gekommen, die alte Megamaschine völlig zu überholen, sogar in der Armee, wo die Tradition, wenn auch nicht ungebrochen, am treuesten bewahrt worden war.

Um die Megamaschine auf moderner Grundlage wieder aufzubauen, mußte man sowohl die alten Mythen als auch die alte Theologie in eine universalere Sprache übersetzen, die es gestattete, den König als Person zu stürzen und abzuschaffen, damit er in gigantischerer und entmenschlichterer Form als souveräner Staat wiederkehren konnte, mit absoluter, doch keineswegs göttlicher Macht ausgestattet. Aber ehe es dazu kommen konnte, bedurfte es einer langen Periode der Vorbereitung, in der die wichtigsten axialen Religionen, der Buddhismus, der Konfuzianismus, das Christentum und der Islam, eine aktive, wenngleich weitgehend unbewußte Rolle zu spielen hatten.

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