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11 - Pioniere der Mechanisierung

Mumford-1970

 

 

  Der benediktinische Segen 

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Nun gelangen wir zu einem der sonderbarsten Paradoxe der Geschichte: zu der Tatsache, daß gewisse – fehlende – Komponenten, die zur Erweiterung des Bereichs der Maschine notwendig waren, um deren Effizienz zu steigern und sie nicht nur für die Herrschenden und Kontrollierenden, sondern letztlich auch für die Arbeiter akzeptabel zu machen, in Wirklichkeit von den jenseits-orientierten transzendentalen Religionen geliefert wurden, besonders vom Christentum.

Einige dieser Komponenten waren durch die axialen Philosophien ausgeformt worden. Der Konfuzianismus, mit seiner Betonung des Rituals, der Kindespflicht, der Mäßigung und des Lernens legte den Grundstein für die beispielhafte bürokratische Organisation des kaiserlichen China, die sich nicht lediglich auf Status und Privilegien stützte, sondern sich durch ein Prüfungs­system aus allen Klassen rekrutierte. Der erste größere Versuch, die Maschine auf neuer Grundlage wieder aufzubauen, mit stärkerer Betonung auf lebensähnlichen Mechanismen und weniger auf der Umformung der Menschen zu Maschinenteilen, wurde von der christlichen Kirche gemacht. Dem ist es weitgehend zu verdanken, daß die westliche Zivilisation den technischen Erfindungs­reichtum Chinas, Koreas, Persiens und Indiens einholte und dann überholte.

Das Christentum stellte nicht bloß die ursprünglichen Kräfte wieder her, die in der Megamaschine vereint waren, sondern fügte genau das eine Element hinzu, das gefehlt hatte: die Ausrichtung auf moralische Werte und soziale Ziele, die über die etablierten Formen der Zivilisation hinauswiesen. Indem das Christentum theoretisch der auf Zwang beruhenden Macht entsagte, vermehrte es die Macht in einer Form, in der sie durch Maschinen erweitert und wirksamer kontrolliert werden konnte.

Die Folgen dieser Mutation sind erst seit dem siebzehnten Jahrhundert zur Gänze sichtbar geworden; aber der Ort, wo der Wandel sich erstmals abzeichnete, war, wie es scheint, das benediktinische Kloster. In dieser neuen Institution wurde alles, was die Maschine bisher nur unter Berufung auf göttlichen Auftrag, unterstützt von gewaltigen militärischen und paramilitärischen Organisationen, zu leisten vermochte, nun in kleinem Maßstab getan, durch kleine Gruppen von Männern, die auf freiwilliger Basis angeworben wurden und die Arbeit – ja das ganze technologische System – nicht als Fluch des Sklaven, sondern als moralische Verpflichtung eines freien Menschen akzeptierten.

Dieser Wandel ergab sich aus der Tatsache, daß in Westeuropa vom dritten Jahrhundert an das Interesse an den Gütern und Leistungen der »Zivilisation« fortschreitend nachgelassen hatte, ein Prozeß, der von einem Massenauszug aus den städtischen Machtzentren, wie Rom, Antiochia und Alexandrien, begleitet war. Kleine Gruppen sanfter, friedlicher, bescheidener, gottesfürchtiger Männer und Frauen aus allen Klassen zogen sich vom lärmenden Tumult und der Gewalt der Welt zurück, um eine neue Lebensform zu finden, die der Rettung ihrer Seelen dienen sollte. Waren sie in Gemeinschaften organisiert, dann führten diese Gruppen in die tägliche Routine ein neues Ritual geordneter Aktivität ein, eine neue Regelmäßigkeit in der Arbeit und ein Maß an berechenbarem und vorhersagbarem Verhalten, das bis dahin unerreichbar gewesen war.

Der Benediktinerorden, von Benedikt von Nursia im sechsten Jahrhundert gegründet, unterschied sich von vielen ähnlichen Mönchsorganisationen darin, daß er zu den üblichen Pflichten ständigen Betens, des Gehorsams gegenüber den Oberen, des Gelübdes der Armut und der täglichen wechselseitigen Prüfung des Verhaltens hinaus eine besondere Verpflichtung hinzufügte: die tägliche Arbeit als Christenpflicht. Manuelle Arbeit war für mindestens fünf Stunden im Tag vorgeschrieben; und wie bei der Organisation der ursprünglichen menschlichen Maschine stand eine Gruppe von zehn Mönchen unter der Oberaufsicht eines Dechanten.

Als selbstverwaltete ökonomische und religiöse Gesellschaft organisiert, legte das Benediktinerkloster eine grundlegende Ordnung fest, so streng wie jene, die die früheren Megamaschinen zusammengehalten hatte; der Unterschied lag im bescheidenen Umfang, in der freiwilligen Zugehörigkeit und in der Tatsache, daß auch die härteste Disziplin selbstauferlegt war. Von den zweiundsiebzig Artikeln, aus denen die benediktinischen Ordensregeln bestehen, handeln neunundzwanzig von Disziplin und Strafen, während sich zehn auf die interne Verwaltung beziehen – zusammen mehr als die Hälfte.

Der freiwillige Verzicht des Mönchs auf seinen eigenen Willen kam jenem gleich, den die frühere Megamaschine ihren mensch­lichen Bestandteilen aufgezwungen hatte. Autorität, Unterwerfung und Unterordnung unter höhere Anweisung waren integrale Komponenten dieser vergeistigtem und moralisierten Megamaschine. Der Benediktiner­orden nahm, indem er auf einer Vierundzwanzig-Stunden-Basis arbeitete, sogar eine spätere Phase der Mechanisierung vorweg; denn nicht nur brannten nachts im Schlafraum die Lichter, sondern die Mönche schliefen in Tageskleidung, wie Soldaten im Kampf, um sofort für kanonische Pflichten bereit zu sein, die ihren Schlaf unterbrachen.

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In gewisser Hinsicht war diese Ordnung strenger und umfassender als die jeder Armee, denn es waren keine periodischen Erleichterungen und Vergnügungen erlaubt. Diese systematischen Entbehrungen und Versagungen gingen, zusammen mit Regelmäßigkeit und Reglementierung, in die Disziplin der späteren kapitalistischen Gesellschaft über.

In einer Zeit, da die alte städtische Wirtschaft am Zusammenbrechen war und da Selbsthilfe und landwirtschaftliche Produktivität die einzige Alternative zu hilflosem Verhungern oder elender Unterwerfung unter Sklaverei und Leibeigenschaft darstellten, war es vermutlich die praktische Notwendigkeit, sich selbst zu versorgen, die Benedikt ursprünglich veranlaßte, auf der Verpflichtung zu manueller Arbeit zu beharren. Aber was auch immer die unmittelbaren Ursachen waren, im Endeffekt kam etwas heraus, das sowohl den privilegierten Klassen als auch den unterdrückten Arbeitern in den früheren städtischen Kulturen gefehlt hatte: ein ausgeglichenes Leben, eine Lebensform, die, wenngleich auf niedrigem geistigen Niveau, sich nur in der primitiven Dorfkultur erhalten hatte. Die vom Mönchstum geforderten Entsagungen und Enthaltungen galten der Stärkung der frommen Andacht; sie hatten nicht den Zweck, den herrschenden Klassen mehr Güter oder mehr Macht zu geben.

Physische Arbeit beanspruchte nicht mehr den ganzen Tag; sie wechselte ab mit emotionaler Vereinigung in Gebet und Choral­gesang. Hier wich der Arbeitstag des Sklaven, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang dauerte, dem Fünfstundentag – mit einer Fülle von Freizeit, die nicht in erster Linie arbeitssparenden Maschinen zu verdanken war. Diese neue Lebensordnung erhielt eine ästhetische Steigerung durch die Schaffung weiträumiger Gebäude, wohlgepflegter Gärten, blühender Felder; und die manuelle Arbeit wurde ergänzt durch geistige Beschäftigungen wie Lesen, Schreiben, Diskutieren sowie durch die Planung der verschiedenen landwirtschaftlichen und gewerblichen Tätigkeiten der Klostergemeinschaft. Die gemeinsame Arbeit profitierte vom gemeinsamen Denken.

Die Ordnung und Regelmäßigkeit im Tagesablauf der Mönche — jede Verrichtung erfolgte in bestimmter Reihenfolge und zu festgelegter Zeit, den sieben »kanonischen Stunden« — basierte auf dem Stundenglas, der Sonnenuhr und später der mechanischen Uhr. Vom Kloster griff die Gewohnheit der Zeitmessung auf den Marktplatz über, wo sie im klassischen Zeitalter vielleicht entstanden war; vom vierzehnten Jahrhundert an richtete eine ganze Stadt ihre Tätigkeiten nach dem Läuten der Kirchenglocken.

So übernahm des Benediktinerkloster innerhalb seiner eigenen Mauern die Disziplin und die Ordnung, die die große kollektive Arbeits­maschine ursprünglich als ein Attribut beherrschender weltlicher Macht eingeführt hatte.

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Doch zugleich hat das Kloster die Disziplin rationalisiert und humanisiert: Denn nicht nur hielt es sich im Rahmen menschlicher Maßstäbe — bloß zwölf Mitglieder waren notwendig, um ein Kloster zu bilden —, es hatte auch das einstige streng organisierte Gefüge der Zivilisation aufgegeben: rigorose Arbeitsteilung, Klassenausbeutung, Absonderung, Massenunterdrückung und Sklaverei, lebenslange Fixierung an eine einzige Beschäftigung oder Aufgabe, zentralisierte Kontrolle.

Jedes körperlich gesunde Mitglied des Klosters hatte die gleiche Pflicht, zu arbeiten; jedes erhielt den gleichen Anteil am Ertrag der Arbeit, wenn auch der Überschuß hauptsächlich für Bauten und Ausrüstung bestimmt war. Diese Art von Gleichheit und Gerechtigkeit war kaum zuvor für eine zivilisierte Gemeinschaft charakteristisch, sie war nur in der primitiven oder archaischen Kultur üblich: Jedes Mitglied erhielt den gleichen Anteil an Gütern und Nahrungsmitteln sowie ärztliche Hilfe und Pflege, einschließlich zusätzlicher Begünstigungen, wie Fleischkost im hohen Alter. So war das Kloster ein frühes Modell des Wohlfahrts­staates.

Durch wechselnde Beschäftigung im Laufe des Tages überwand diese Lebensform einen der schlimmsten und hartnäckigsten Mängel der orthodoxen »Zivilisation«: die lebenslange Beschränkung auf eine einzige Art von Arbeit und die ganztägige ausschließliche Konzentration darauf, bis zur völligen Erschöpfung. Solche Erleichterung und gleichmäßige Verteilung der Arbeit, solche Förderung abwechslungsreicher Tätigkeit hatte es bis dahin nur in traditionellen, kleinen, anspruchslosen Gemeinschaften gegeben, die jedoch der Vorteile einer reicheren intellektuellen und geistigen Entwicklung entbehrten. Nun wurde dies zu einem Modell gemeinsamer Anstrengungen auf höchster kultureller Ebene.

Durch seine Regelmäßigkeit und Effizienz legte das Kloster den Grundstock für kapitalistische Organisation wie für weitere Mechanisierung; noch bedeutsamer ist, daß es dem gesamten Arbeitsprozeß, ganz abgesehen vom materiellen Ertrag, einen moralischen Wert hinzufügte. Zugegeben, das Mönchstum hatte diese bewundernswerten Resultate durch eine Übersimplifizierung des menschlichen Problems erzielt. Vor allem hatte es die primäre Form menschlichen Zusammenlebens – das der Geschlechter – ausgeschaltet und damit nicht beachtet, daß vitale Männer und Frauen, die, um sich fortzupflanzen, notwendigerweise die Fleischeslust schätzen müssen, dem Beispiel des Klosters nicht in allem folgen konnten. Andere ideale Gemeinschaften mit ähnlich bemerkenswerten ökonomischen und technischen Errungenschaften, etwa die Shaker-Kolonien in den Vereinigten Staaten, sollten später an dem gleichen Hindernis scheitern.

Leider leistete die sexuelle Askese der Klosterorganisation einen verzerrenden Beitrag zur Entwicklung der Mechanisierung: Später wurde die Trennung zwischen Fabrik und Amt auf der einen und dem Heim auf der anderen Seite ebenso charakteristisch wie die zwischen den frühesten archetypischen Junggesellenarmeen für Krieg und Arbeit und den gemischten Agrargemeinschaften, aus denen sie sich rekrutierten.

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Die Lehre des Ameisenhügels, daß spezialisierte Arbeit am besten von Geschlechtslosen verrichtet wird, fand zunehmende Anwendung in menschlichen Gemeinschaften, und die Maschine selber tendierte dazu, ein Mittel der Entmännlichung und Entweiblichung zu werden. Diese antisexuelle Haltung kennzeichnet auch den Kapitalismus und die Technik. Heutige Pläne für künstliche Befruchtung und Retorten-Schwangerschaften spiegeln dies wider. Die natürlichen Triebe durchbrachen früher oder später die mönchische Ordnung: Sowohl die Lust nach Macht als auch die Macht der Lust erwiesen sich als schwer kontrollierbar.

Doch das benediktinische System demonstrierte, wie rationell die tägliche Arbeit durchgeführt werden konnte, wenn sie kollektiv geplant und eingeteilt wurde, wenn Zusammenarbeit an die Stelle von Zwang trat und wenn der ganze Mensch — von der Sexualität abgesehen — eingesetzt wurde; vor allem, wenn Art und Menge der Arbeit von höheren Bedürfnissen der menschlichen Entwicklung bestimmt wurden. Mit ihrem eigenen Beispiel widerlegten die Benediktiner die sklavische Auffassung, alle Arbeit sei ein Fluch und manuelle Arbeit eine besondere Erniedrigung. Sie bewiesen, daß Arbeit — ohne spezielle Gymnastik, wie die Griechen sie eingeführt hatten — zur Gesundheit des Körpers und zum Gleichgewicht des Geistes beiträgt. Mit der Moralisierung des Arbeitsprozesses steigerte das Kloster dessen Produktivität; und der Begriff le travail Bénédictin wurde sprichwörtlich für eifrige Leistungsfähigkeit und Gewissenhaftigkeit.

Manuelle Arbeit wurde nun nicht mehr mit geistloser Schinderei gleichgesetzt; und die geistigen Übungen hörten aus dem gleichen Grunde auf, vom Körper losgelöste Kopfarbeit zu sein, die nur ein Minimum der organischen Fähigkeiten nutzt, ein bloßes Spiel mit abstrakten Elementen, dem der Gebrauch der Sinne und die ständige Überprüfung abstrakter Gedanken durch relevante konkrete Erfahrung und bewußtes Handeln fehlen. Indem es die Arbeit als selbstverständliche tägliche Pflicht akzeptierte, verminderte das Kloster deren Last: Arbeit, Studium und Gebet gingen Hand in Hand. Und lautete das Motto der Benediktiner: »Arbeiten heißt beten«, so bedeutete dies, daß die Aufgaben von Ritual und Arbeit endlich übertragbar und auswechselbar waren; doch war jeder Teil des Lebens auf einen höheren Zweck gerichtet.

 

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Die Vermehrung der Maschinen

Von der Organisierung der täglichen Pflichten, jede zu ihrer bestimmten Stunde, gingen die Benediktiner einen Schritt weiter: zur Vermehrung und kombinierten Anwendung von Maschinen.

Indem sie sich von der entmenschlichten Routine der kollektiven Maschine, der alten Arbeits- oder Kriegsarmee, emanzipierten, entdeckten die Mönche die wahren Anwendungsmöglichkeiten und Vorteile der Maschine. Denn ihr neuer Typus war nicht mehr eine menschenfressende Megamaschine, wie jene der Pharaonen, sondern ein arbeitsparendes Gerät, das menschliche Muskelkraft zum Teil ersetzte. Dies war einer der größten Triumphe der neuen Disziplin.

Hatten die Benediktiner auch geholfen, den Fluch entkräftender manueller Arbeit zu bannen und deren Last zumindest innerhalb der eigenen Gemeinschaft gleichmäßiger zu verteilen, als es je zuvor geschehen war, so hegten sie doch nicht die Illusion, daß alle Formen der Arbeit gleichermaßen ein Segen seien. In ihrer Praxis müssen sie erkannt haben, was Emerson aus eigener Erfahrung lernte - und ich selbst hundert Jahre nach Emerson - , nämlich, daß selbst eine der dankbarsten Form manueller Arbeit, die Gartenarbeit, wenn sie längere Zeit ausgeübt wird, den Geist abstumpft. Während ein Tag, mit Gartenarbeit verbracht, das beste Beruhigungs- und Schlafmittel ist, werden doch alle höheren Funktionen des Geistes durch schwere Arbeit eingeschläfert; ja, physische Müdigkeit hat mehr zur Verhinderung von Rebellionen gegen die harten Anforderungen der täglichen Fron beigetragen als Trunksucht und brutale Unterdrückung. Selbst der sanfte Emerson sagte scharfsinnig über die Arbeits­trupps, die in fünfzehn- bis sechzehnstündiger Arbeit für einen Hungerlohn die ersten Eisenbahnen bauten: »Dies diente besser als die Polizei der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung.«

Die wahre Lösung dieses Problems war, wie die Mönche im elften Jahrhundert entdeckten, die Erfindung und Anwendung arbeitsparender Maschinen. Dies begann mit der systematischen Verwendung von Naturenergie, wie in der mit Pferdekraft betriebenen Tretmühle, der Wassermühle und später der Windmühle. Die Erfindung von Maschinen ging Hand in Hand mit deren Zusammenfassung in großen Arbeitseinheiten.. Die Hauptzüge dieses Rationalisierungsprozesses sind in den alten Bauplänen für das Kloster St. Gallen zu finden, die Verfall und Zerstörung des ursprünglichen Gebäudekomplexes überlebt haben. Es ist bemerkenswert, daß unter dem zentralisierten Verwaltungssystem, das im zwölften Jahrhundert von den Zisterziensern eingeführt wurde, der Bau neuer Klöster nach einem Standardplan vor sich ging.

Die Mechanisierung im Rahmen der Klöster war selber ein Teil der allgemeinen Rationalisierung, die den ganzen technologischen Prozeß umfaßte, und erst in letzter Zeit ist dies in seiner vollen Bedeutung gewürdigt worden. Der Übergang zur freien Produktion, nicht nur auf Werkzeugen und Handarbeit beruhend, sondern stark auf arbeitsparende Maschinen sich stützend, begann um das zehnte Jahrhundert und war zunächst durch die stete Zunahme der Wassermühlen in Europa gekennzeichnet.

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Schon 1066, als Wilhelm der Eroberer England in Besitz nahm, gab es dort achttausend Wassermühlen für weniger als eine Million Menschen. Selbst wenn man die Leistung einer solchen Mühle auf nur 2,5 PS im Durchschnitt schätzt, war dies doppelt so viel Energie wie die gemeinsame Kraft der hunderttausend Menschen, welche die Große Pyramide gebaut hatten, und wahrscheinlich mehr als das Zwanzigfache pro Kopf der Bevölkerung.

Obwohl nicht genügend Unterlagen vorhanden sind, um hier mehr als nur vage Schätzungen zu geben, können wir nun vielleicht verstehen, warum die ersten effektiven arbeitsparenden Maschinen nicht aus den technisch fortgeschrittenen Reichszentren kamen, sondern von den barbarischen Völkern in den Randgebieten, die sich den heiligen Mythen des Gottkönigtums niemals völlig unterworfen hatten: das heißt von Griechenland und Gallien und von Rom nach dem Zusammenbruch seines Weltreichs.

André Varagnac hob hervor, daß sowohl die keltischen als auch die germanischen Stämme hartnäckig an ihren demokratischen Bräuchen festhielten und sich den Versuchen Roms, ihnen die unpersönlichen Formen einer »mechanisierten« Zivilisation aufzuzwingen, widersetzten. Varagnac fügte hinzu, daß diese Barbaren im sogenannten finsteren Mittelalter technisch erfinderisch waren; und tatsächlich, als die Megamaschine zerfiel, begannen neue spezialisierte Maschinen und Handwerkskünste sich zu vermehren; und in Ermangelung überschüssiger Arbeitskräfte in Westeuropa fiel der Pferdekraft und der Wasserkraft eine wachsende Rolle zu.

In der eotechnischen Phase, wie ich sie in dem Buch Technics and Civilization genannt habe, war diese Verbreitung von frei verfügbarer Energie ein weit größerer Beitrag zur Technologie als die pharaonische Methode des Einsatzes riesiger Menschen­massen. Wo immer Wasser floß oder Wind wehte, konnte man Antriebsmaschinen installieren und die Sonnenenergie und die Erdrotation in den Dienst des Menschen stellen. Das kleinste Dorf oder Kloster konnte diese neuen Maschinen ebensogut verwenden wie die größte Stadt; und die Anwendung solcher Mittel nahm unverkennbar zu. Sie trugen sowohl unmittelbar zur Entstehung als auch zur späteren Prosperität der freien Städte bei, wo freie Arbeit sich nun in Zünften und Gilden organisieren konnte, die weitgehend von feudalen oder königlichen Institutionen unabhängig waren.

Doch für das Kloster, in seiner Orientierung auf das Jenseits, gab es einen besonderen Anreiz, die Mechanisierung weiterzutreiben. Die Mönche suchten, wie Bertrand Gille hervorhob, unnötige Arbeit zu vermeiden, um mehr Zeit und Kraft für Meditationen und Gebete zu haben; und wahrscheinlich legte die Gewohnheit des Rituals ihnen mechanische (repetitive und standardisierte) Lösungen nahe.

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Obwohl sie zu regelmäßiger Arbeit erzogen waren, übertrugen sie auf die Maschine gerne jene Arbeitsgänge, die den Geist nicht beanspruchten. Lohnende Arbeit behielten sie für sich: Kopieren von Manuskripten, Illustrieren, Schnitzen. Nichtlohnende Arbeit überließen sie der Maschine: Schleifen, Hämmern, Sägen. Mit dieser Unterscheidung bewiesen sie ihre Überlegenheit über viele unserer Zeitgenossen, die beide Arbeitsarten der Maschine zu übertragen suchen, auch wenn dadurch das Leben geistlos und sinnlos wird.

 

   Maschinen für die Freizeit  

 

Um keinen Zweifel am Ausmaß der Mechanisierung im Zisterzienserkloster zu lassen, will ich hier ausführlich Bertrand Gille zitieren, der wiederum in seiner Patrologia Latina Mignes Bericht über den heiligen Bernhard heranzieht:

»Der Fluß ergießt sich in die Abtei, soweit die Mauer, die als Wehr wirkt, es ihm erlaubt. Er strömt zunächst in die Getreidemühle, wo er dazu dient, das Getreide unter dem Gewicht der Räder zu zermahlen und unter das feine Sieb zu schütteln, welches das Mehl von der Kleie trennt. Hernach strömt er in das nächste Gebäude und füllt den Kessel, in dem das Wasser erhitzt wird, um das Bier für die Mönche zu bereiten, sollte des Weines Fruchtbarkeit nicht die Arbeit des Winzers belohnen.

Jedoch der Fluß hat seine Arbeit noch nicht getan, denn jetzt wird er in die Walkmühlen gelenkt, die der Getreidemühle folgen. In der Mühle hat er die Nahrung der Brüder vorbereitet, und seine Pflicht ist es nun, bei der Herstellung ihrer Kleider zu dienen. Das verweigert der Fluß nicht, noch verweigert er irgendeine Aufgabe, die man von ihm verlangt. So hebt und senkt er abwechselnd die schweren Hämmer und Schlegel, oder, um es genauer zu sagen, die hölzernen Füße der Walkmühlen. Wenn er durch rasches Wirbeln alle Räder in schnelle Drehung versetzt hat, schäumt er und sieht aus, als hätte er sich selber gemahlen. 

Nun tritt der Fluß in die Gerberei ein, wo er viel Mühe und Arbeit der Bereitung des Materials für das Schuhwerk der Mönche widmet; dann teilt er sich in viele kleine Arme und strömt in emsigem Lauf durch verschiedene Abteilungen, überall Ausschau haltend nach solchen, die zu irgendwelchen Zwecken seine Dienste fordern, sei es zum Kochen, Drehen, Zermahlen, Bewässern, Waschen oder Schleifen; er bietet stets seine Hilfe an und verweigert sie nie. Zuletzt, um vollen Dank zu ernten und nichts ungetan zu lassen, trägt er den Abfall fort und läßt alles sauber zurück.«

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Das ist, wie Gille nachdrücklich hervorhebt, kein vereinzeltes Schaustück mittelalterlicher Technologie: »Die meisten frühen Abteien hatten ein ausgedehntes Wassersystem dieser Art«, und die »Abtei Fontenay in Burgund hat heute noch ihre Fabrik, einen großen Bau mit vier Räumen, vom Ende des zwölften Jahrhunderts«. Ich kenne keine bessere Beschreibung der rationellen Verwendung einer Antriebskraft für eben jene mühseligen Arbeiten, die durch ihre Monotonie die menschliche Energie erschöpfen und den Tonus des gesamten Organismus herabsetzen. So wurde von den Benediktinerklöstern zur Zeit von Bernard de Clairvaux, lange bevor im zwölften Jahrhundert in ganz Europa die Städte wieder aufblühten, eine ganze Reihe technologischer Fortschritte eingeführt, die Arbeitskräfte für andere Zwecke freisetzten und einen ungeheuren Beitrag zur Gesamtproduktivität des Handwerks leisteten.

Wie groß diese Entlastung war, läßt sich aus der Zahl der Feiertage erkennen, deren sich die Arbeiter im Mittelalter erfreuten. Selbst in rückständigen Bergbaugemeinden machten noch im sechzehnten Jahrhundert die Feiertage die Hälfte aller Tage aus; in ganz Europa belief sich die Gesamtzahl der Feiertage, einschließlich der Sonntage, auf 189, eine Zahl, die jene des kaiserlichen Rom überstieg. Nichts weist deutlicher auf einen Überschuß an Nahrung und menschlicher Energie, wenn auch nicht an materiellen Gütern hin. Moderne arbeitsparende Maschinen haben bisher nicht mehr geleistet.

Mit der Einführung der in Persien erfundenen Windmühle im zwölften Jahrhundert nahm die Kraftversorgung in Gebieten, die sich auf diese Energiequelle stützen konnten, stark zu; im fünfzehnten Jahrhundert war jede fortgeschrittene Stadt mit einer Batterie von Windmühlen umgeben. Diese Entwicklung muß mit der großen moralischen und politischen Leistung in Zusammenhang gebracht werden, von der sie begleitet war: mit dem allmählichen Rückgang von Sklaverei und Leibeigenschaft, bis diese schließlich in allen fortgeschrittenen Ländern Europas völlig abgeschafft wurden.

Der erste Schritt, den Christentum und Islam unternommen hatten, indem sie den Sklaven als gleichwertiges Mitglied in die religiöse Gemeinschaft aufnahmen, fand nun seine Krönung durch die erstmals in der Geschichte der Zivilisation vor sich gehende Abschaffung der Sklaverei. Weitgehend als Resultat des technologischen Fortschritts, den zuerst das Mönchstum in Verfolgung eines heiligen Lebens vorangetrieben hatte, wurden die »unmöglichen« Voraussetzungen für die Abschaffung der Sklaverei, die Aristoteles in einer berühmten Stelle seiner Politik genannt hatte, endlich erfüllt:

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»Denn wenn jedes Instrument auf Befehl oder in Voraussicht des Willens seines Herrn seine besondere Aufgabe erfüllen könnte (wie man es von den Statuen des Daedalus erzählt) oder wenn es wie die Dreifüße Vulkans, in der Erzählung des Dichters, sich selbstgelehrt auf göttlicher Bahn bewegte; wenn das Weber­schiffchen so webte und die Leier von selbst spielte, dann würde weder der Meister Gehilfen, noch der Herr Sklaven brauchen.« Diese Erfüllung war nun näher gekommen.

Infolge dieser Verbindung von geordneter Lebensweise und technischer Meisterschaft gediehen die Benediktinerklöster; sie tauschten ihre Überschußprodukte gegen jene anderer Anstalten ihres Ordens in ganz Europa und investierten überdies einen so großen Teil ihres Kapitals in prunkvolle Abteikirchen und andere Bauten, daß sie die Mißbilligung empfindsamerer Christen­menschen auf sich zogen, die sahen, daß der freiwillige Verzicht der Mönche auf Privateigentum mehr als wettgemacht wurde durch den auf Kollektiveigentum beruhenden gemeinschaftlichen Wohlstand - zu dem sich mit der Zeit reichlichere Nahrung und feinere Getränke gesellten, einschließlich solcher destillierten Liköre wie Brandy und jene Magenbitter, die heute noch die Namen der Benediktiner und der Kartäuser tragen.

In der Führung dieser Wirtschaftsunternehmungen erwies sich die Art von Ordnung, die zuerst die Andachten geregelt hatte, als anwendbar auf Evidenzhaltung und genaue Kalkulation. Im zwölften Jahrhundert war die Rationalisierung, die das Kloster erzielt hatte, reif zur Übertragung auf weltliche Berufszweige. Denn die Benediktiner hatten bewiesen, was der englische Evangelist John Wesley viele Jahrhunderte später betonen sollte: daß christliche Sparsamkeit, Nüchternheit und Stetigkeit unvermeidlich zu weltlichem Erfolg führen. Die meisten Gewohnheiten, die Max Weber irrtümlich als typische Züge des kalvinistischen Protest­antismus ansah, waren bereits im mittelalterlichen Zisterzienserkloster ausgebildet.

 

   Das Gleichgewicht des Mittelalters  

 

Zusammenfassend: Die Verpflichtung der Benediktiner zu »Arbeit und Gebet« hatte mehr vollbracht, als nur den alten Fluch der Arbeit aufzuheben. Denn die Produktivität dieses Systems bewies auch die ökonomische Bedeutung eines methodisch geordneten Lebens; und diese Lehre wurde von den Handwerkern und Händlern jener Zeit sehr wohl beherzigt. Der venezianische Kaufmann Luigi Cornaro sah — in seinem klassischen Essay über die Erreichung eines hohen Alters — in Ordnung und Enthaltsamkeit die Garantie nicht nur für ein erfülltes Leben, sondern auch für finanziellen Erfolg. Diese protestantischen Tugenden sind viel älter als der Kalvinismus.

Was das Kloster begonnen hatte, führten die Gilden des Mittelalters fort; sie schufen nicht nur eine neue Basis für den Zusammen­schluß in Gewerbe und Handel, sondern verliehen auch der Arbeit die in der Religion wurzelnden ästhetischen und moralischen Werte, die ihr ganzes Leben beherrschten.

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Sie waren autonome Körperschaften, die allgemeine Normen der Arbeitsleistung und der Regelung von Löhnen und Preisen festlegten. Mit dem allmählichen Verschwinden von Sklaverei und Leibeigenschaft, gefördert und beschleunigt durch den Mangel an Arbeitskräften im vierzehnten Jahrhundert, nach der Pest, verbesserte sich der Status des Arbeiters, und der Bedarf an Maschinen wuchs. Daß nach einem dreißig- bis fünfzigprozentigen Bevölkerungs­rückgang die Produktivkraft Europas innerhalb eines Jahrhunderts wiederhergestellt war, zeigt, welch reiche menschlichen und mechanischen Energien vorhanden waren.

Diese Transformation war entscheidend; es besteht also keine Notwendigkeit, sie zu übertreiben. Die Verbindung der Arbeit mit moralischen Regeln, ästhetischen Formen und sozialer Sicherheit wurde in den Gilden ebensowenig zu Ende geführt wie in den Klöstern. Mit der Anhäufung von Reichtum, besonders im Großhandel sowie in Bergbau- und Seefahrtsunternehmungen, wuchs die wirtschaftliche Kluft zwischen armen und reichen Gilden. In dem Versuch, das eigene Gewerbe gegen auswärtige Konkurrenz zu schützen und sich vor Erschütterungen zu sichern, beschränkten die Gilden nicht nur die Zahl ihrer Mitglieder, sondern wehrten sich auch nur zu oft gegen technische Fortschritte, die sich außerhalb des gesetzlichen Schutzes der städtischen Zentren entwickelten; und wie heute noch manche Gewerkschaften, kümmerten sie sich nicht um die wachsende Zahl von Gelegenheits­arbeitern, die durch Armut oder mangelnde Ausbildung benachteiligt waren. Die Fortschritte in Produktivität und Kreativität waren also ungleichmäßig; doch das Gesamtresultat ist eindrucksvoll, bis zum 16. Jahrhundert, das einen Wendepunkt darstellt.

Dank dieser entstehenden Wirtschaft, die Handwerkskunst mit Mechanisierung und Kraftmaschinen verband, ergab sich eine Art Gleichgewicht, das größere Möglichkeiten für ein vielseitiges menschenwürdiges Leben bot, als die frühere Technik es je vermocht hatte; in Regionen wie den Niederlanden kam es zu vielen Verbesserungen in Verkehr, Landwirtschaft und Gewerbe. Das Tempo der technischen Entwicklung beschleunigte sich im Vergleich zu den vorangegangenen drei Jahrtausenden, ohne Verlust der ästhetischen Fähigkeiten, die einst allzu ausschließlich zum Nutzen der oberen Klasse entwickelt worden waren. Im sechzehnten Jahrhundert hatte die Druckerpresse das Klassenmonopol des Wissens eliminiert, und die Reproduktionstechniken des Drückens, Radierens und Kupferstechens hatten die Herstellung von Bildern neuerlich demokratisiert, während auf einem Gebiet nach dem anderen materielle Güter, die einst einer kleinen Kaste vorbehalten waren, nun breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich wurden; ja, die Kraftmaschine versprach alle diese Vorteile bis an ihre theoretischen Grenzen zu erweitern.

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In vielen Bereichen wurde bis zum siebzehnten Jahrhundert ein schönes Gleichgewicht zwischen ländlichen und städtischen, organischen und mechanischen, statischen und dynamischen Komponenten hergestellt. Was dieser Lebensform an Macht fehlte, wurde in Zeit aufgewogen: Denn selbst die Alltagsprodukte waren für lange Dauer bestimmt; und die großartigen Bauwerke brauchten nicht nur Jahrhunderte zur Vollendung, sondern waren auch dafür geplant, Jahrhunderte zu überdauern. So gut gelang dies, daß viele von ihnen am Ende des Zweiten Weltkrieges, umgeben von den Trümmern zerstörter moderner Bauten, stehen geblieben waren.

Anders als die Kontinuität, die in der Kunst und Architektur des frühen Ägypten nach der Pyramidenzeit erreicht wurde, blieb die Kontinuität im Mittelalter inmitten fortwährenden Wechsels von Inhalten und Formen bewahrt; und über Jahrhunderte reichendes Wirken stand in radikalem Gegensatz zu der jeweils nur auf eine Generation angelegten Zwangswirtschaft der Pharaonen oder zu jener der absoluten Monarchen, wie Ludwigs XIV. oder Peters des Großen, die im siebzehnten Jahrhundert eine ähnliche Machtvoll­kommenheit beanspruchten.

Doch der Prozeß der Moralisierung der Arbeit und ihrer Verschmelzung mit allen anderen menschlichen Tätigkeiten wurde niemals vollendet. Denn die einzige universale Institution des Mittelalters in Westeuropa, die christliche Kirche, ergriff in einem kritischen Augenblick des vierzehnten Jahrhunderts mit ihrer ganzen Autorität Partei für die nur auf Macht versessenen Kräfte - Absolutismus, Militarismus und Kapitalismus -, die von den sozialen Verpflichtungen des Klosters, der Gilden und der freien Stadt losgelöst waren. Miteinander errichteten diese Institutionen, wenn auch unbeabsichtigt, die Grundlagen für eine entmenschlichte Technologie und schließlich für etwas noch Verhängnisvolleres, für einen neuen Mythos der Maschine. Wir wollen die Anfänge dieses Prozesses untersuchen.

 

   Die Mechanisierung des Mammon 

 

War die Entwicklung automatischer Kraftquellen einer der entscheidendem Beiträge der klösterlichen Lebensweise, so war der zweite die Herausbildung des kapitalistischen Unternehmens in seiner systematischen modernen Form, wie G.C. Coulton, dieser profunde Kenner des Mittelalters, meint. Während jedoch das Mönchstum ursprünglich einem einzigen Zweck diente, dem Streben nach individuellem Heil. strebte der Kapitalismus in seiner orthodoxen Form die Glorifizierung des Mammon und ein Heil realerer Art an, durch Erweiterung der Möglichkeiten für Profit, Kapitalakkumulation und Luxuskonsum.

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In Verfolgung dieser Ziele ging der Kapitalismus daran, die auf Einschränkung und Enthaltsamkeit gerichteten Bräuche der axialen Religionen zu beseitigen. Daß die ursprüngliche These des Klosters, Entsagung und Selbstverleugnung, ihre kapitalistische Antithese, Habsucht und Gewinnsucht, hervorbrachte, dürfte Karl Marx nicht überrascht haben; dennoch bleibt dies eine der paradoxen Wendungen der Geschichte.

Der Kapitalismus ist natürlich kein modernes Phänomen. Ich verstehe hier unter Kapitalismus die Umsetzung aller Güter, Dienstleistungen und Energien in abstrakte Geldwerte, mit Konzentrierung menschlicher Energie auf Geld und Handel, um Gewinne zu erzielen, die in erster Linie den Besitzenden zufließen, welche bereit sind, ihre Gewinne in neue Unternehmungen zu investieren und von den Einkünften aus bestehenden industriellen und kommerziellen Organisationen zu leben. So allgemein definiert, tritt der Kapitalismus erstmals, in primitiven merkantilen Formen, bald nach dem Königtum auf; und mit wachsenden Kapitalinvestitionen erhält er zunehmend organisierte Form. Obgleich Gewinnmöglichkeiten sich zuerst aus dem Grundbesitz und der Einhebung von Pachtzins ergaben, breitete sich das kapitalistische Unternehmertum bald auf Bereiche wie Schiffbau, Seehandel, Bergbau und Hüttenwesen aus, die große Investitionen erforderten, sofern diese Unternehmungen zu klein oder zu komplex waren, um von der schwerfälligen bürokratischen Staatsorganisation ökonomisch geführt zu werden.

Gründlicheres Studium der mesopotamischen und der ägyptischen Aufzeichnungen führt zu dem Schluß, daß wahrscheinlich der Staatskapitalismus, mit dem Kaufmann als Staatsbeamten, dem Privatkapitalismus, wenn nicht dem Privathandel, vorangegangen ist; und wenn der Kapitalismus vom dreizehnten Jahrhundert an viel von der Disziplin der Klosterorganisation übernommen hat, so folgte er damit nur den früheren Gewohnheiten .der Reglementierung, die von der urzeitlichen Megamaschine herstammten. Der frühe Kapitalist, als Hausherr, Kaufmann oder Spekulant, kann — etwas unfreundlich — mit einem Schakal verglichen werden, der sich von dem weniger begehrenswerten Abfall ernährt, den der königliche Löwe von seiner Beute übriggelassen hat.

Tatsächlich blieben Handel, Industrie und Bankwesen lange Zeit von der Gnade des Souveräns abhängig. Ihre Profite und Privilegien wurden fortwährend geschmälert, in Kriegszeiten durch die Zerstörung der Städte, die Plünderung der Tempel, der Schatzkammern und des Besitzes der Reichen, in Friedenszeiten durch Wucher, Abgaben und übermäßige Steuern, die oft von korrupten Steuerpächtern willkürlich festgesetzt wurden.

Um sich überhaupt entwickeln zu können, mußte das Handelskapital auf einem Gebiet von Reichsgröße operieren und Risken eingehen, an die ein kleiner Kaufmann sich nie herangewagt hätte.

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Kapitalisten mußten über eine besondere Art von Scharfsinn, Wendigkeit, Erfindungs- und Unternehmungsgeist verfügen, um diese Nachteile aufzuwiegen: und es ist nicht verwunderlich, daß das Alphabet, das Münzgeld und die arabischen Ziffern von Menschen stammen, die haupt­sächlich Fernhandel oder koloniale Ausbeutung betrieben. Marco Polo war weder der erste noch der letzte Abenteurer dieser Art; Jakob Fugger in einer Epoche, Rothschild in einer anderen und John D. Rockefeller in einer dritten — sie alle verkörpern diese Institution.

Die klassische Theorie der kapitalistischen Akkumulation wurde erstmals im Mittelalter aufgestellt, und zwar nicht von Ökonomen, sondern von den Scholastikern, mit ihrer rein theologischen Doktrin von der Schatzkammer des Heils: Anhäufung irdischer Verdienste durch Enthaltsamkeit und Opfer, um im Himmel unermeßlichen Lohn zu erhalten. Einer dieser Scholastiker, Vincent de Beauvais, ermahnte im dreizehnten Jahrhundert die Menschen, nicht nur für den Lebensunterhalt, sondern für Akkumulation zu arbeiten, die zu einer weiteren Produktion von Reichtum führen würde. Gelehrte, die ständig Max Webers anachronistische Gleichsetzung des kapitalistischen Geiste mit dem Protestantismus wiederholen, sollten einen Weg finden, das reichhaltige Beweismaterial des Mittelalters verschwinden zu lassen, das dieser These widerspricht.

Der Protestantismus, der zuerst in den Lehren des Ketzerkaufmanns Peter Waldo im zwölften Jahrhundert auftrat, war in Wirklichkeit ein vehementer Protest gegen den neuen Kapitalismus und ein reuiger Versuch, zur Lebensform der frühen Christen zurückzukehren, die die irdischen Güter und die heimtückischen Versuchungen des Handels verachtetem. Die sozialen Anschauungen der Waldenser, der Wycliffiten, der Lollarden, der Beguinen und der Wiedertäufer waren von Anfang bis Ende militant antikapitalistisch; desgleichen Martin Luthers Prinzipien einer autarken Wirtschaft und seine Brandreden gegen den Wucher.

Als Franz von Assisi ein Jahrhundert nach Waldo einen ähnlichen Versuch machte, durch bescheidene tägliche Arbeit die wichtigsten Prinzipien des frühen Christentums zu erneuern, scheiterte er an dem fortwährenden Druck der kapitalistischen Expansion; Armut diente nicht der Kapitalakkumulation, und freiwilliger Dienst an der Gemeinschaft konnte nur das neue Lohnsystem stören, das an die Stelle der Leibeigenschaft getreten war. Derselbe Papst — Johannes XXII. —, der den Franziskaner­orden schlauerweise in die Kirche eingegliedert hatte, proklamierte, daß der landläufige Glaube, die frühen Christen hätten den Kommunismus praktiziert, eine verdammenswerte Häresie sei.

Nun kennt aber, wie Thomas von Aquin betonte, das Verlangen nach Geld keine Grenzen, während aller natürlicher Reichtum, in der konkreten Form von Nahrung, Kleidung, Häusern, Gärten und Feldern, definitive Grenzen der Produktion und Konsumtion hat, die durch den Charakter des Produkts und die organischen Bedürfnisse und die Aufnahmefähigkeit des Verbrauchers bestimmt sind.

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Die Idee, daß den menschlichen Funktionen keine Grenzen gesetzt werden sollten, ist absurd: Alles Leben bewegt sich innerhalb sehr enger Grenzen von Temperatur, Luft, Wasser und Nahrung; und die Auffassung, daß allein das Geld oder die Macht, über die Dienste anderer Menschen zu verfügen, keine solchen definitiven Grenzen haben sollte, ist eine Geistesverirrung.

Der Wunsch nach unbegrenzten Mengen von Geld hat ebensowenig Wert für das Wohlbefinden des menschlichen Organismus wie die Stimulierung des Lustzentrums, das wissenschaftliche Forscher in Experimenten kürzlich im Gehirn gefunden haben. Dieser Reiz ist anscheinend subjektiv so stark, daß Tiere unter Beobachtung freiwillig auf jedes andere Bedürfnis oder jede andere Aktivität — bis zum Verhungern — verzichten, um ihn zu genießen. Wenn die Kapitalisten einmal das Wesen solcher pekuniärer Überreizung erkennen, die einst der Fluch des Midas genannt wurde, dann werden sie entweder Selbstmord begehen oder sich reuig dem Dienst an der Öffentlichkeit und der Philanthropie zuwenden.

Das ideale kapitalistische Ich vereint das geizige Horten von Geld mit dem eifernden Streben nach grenzenlosen Reichtum, die Enthaltsamkeit des Mönchs mit der Abenteurerlust des Soldaten. Um in Freudschen Begriffen zu sprechen: Es entspricht sowohl dem analen als auch dem oralen Persönlichkeitstyps. Die neuen Kapitalisten verdienten durchaus den ihnen später verliehenen Titel Handelsabenteurer; und in einer frühen Phase vereinigten sich diese widersprüchlichen und doch komplementären Erbanlagen im Orden der Tempelritter, jener Krieger-Bankiers des Mittelalters. So widersprach es nicht dem neuen kapital­istischen Geist, daß die Handelskolonien der großen Hansastädte faktisch als klösterliche Enklaven unter strenger militärischer Disziplin geführt wurden.

Diese Kombination von Wesenszügen übertrug sich mit der Zeit auf die wissenschaftliche Ideologie des siebzehnten Jahrhunderts: Sie äußerte sich in der Bereitschaft, gewagte Hypothesen aufzustellen, organische Komplexe zu zerstückeln, zugleich aber jede neue theoretische Einsicht vorsichtiger Beobachtung und experimenteller Überprüfung zu unterwerfen. Trotz ihrer verschiedenen Ursprünge und ihrer scheinbar unverträglichen Ziele waren der Mönch, der Soldat, der Kaufmann und die neuen Natur­philosophen enger miteinander verbunden, als es ihnen bewußt war. Wie Ibsens John Gabriel Borkman, der den kapitalistischen Geist des neunzehnten Jahrhunderts verkörpert, war jeder von jenen bereit, auf Liebe zu verzichten und das Leben zu opfern, um Macht auszuüben, so sublimiert und vergeistigt diese Macht auch zu sein schien.

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Doch zugleich übernahm der Kapitalismus, um sein unersättliches Verlangen nach materiellem Reichtum zu befriedigen, die Ökonomie des Überflusses, die ursprünglich das Werk und das Kennzeichen des Gottkönigtums gewesen war, und übersetzte sie in seine eigenen spezifischen Kategorien. Die Steigerung der Produktivität brachte oft eine angenehme Lockerung der quälenden Zwänge natürlicher Armut und ökonomischer Rückständigkeit mit sich; und sie erweckte einen stetig wachsenden Widerstand gegen die asketischen Beschränkungen des orthodoxen Christentums, die in Zeiten der Wirrnis, als es keine verlockenden Alternativen gegeben hatte, leicht zu propagieren gewesen waren, nun aber als unberechtigte und sinnlose Lebensverneinung erschienen.

Nach wenigen Jahrhunderten stellte der neue Kapitalist die grundlegende christliche Ethik in Frage: Das grenzenlose Selbst­bewußtsein von Sir Giles Overreach und seinen Gefolgsleuten auf dem Marktplatz hatte keinen Platz für Barmherzigkeit oder Liebe im alten Sinn. Das kapitalistische Wertschema verwandelte tatsächlich fünf der sieben Todsünden des Christentums — Stolz, Neid, Geiz, Habsucht und Wollust — in positive soziale Tugenden und sah in ihnen den notwendigen Antrieb aller Wirtschaftstätigkeit; während die Haupttugenden, von Liebe und Bescheidenheit angefangen, als »schlecht fürs Geschäft« abgelehnt wurden, soweit sie nicht dazu beitrugen, die Arbeiterklasse gefügiger und willfähriger in der Hinnahme kaltblütiger Ausbeutung zu machen.

 

   Materielle Anreize zur Dynamik  

 

Befragt, welchen Zeitpunkt er als Beginn des Kapitalismus bezeichnen würde, nannte Werner Sombart die Veröffentlichung von Leonardo Pisanos Liber Abbaci, die erste populäre Abhandlung über Arithmetik, im Jahre 1212. Jeder solche einzelne Ausgangspunkt ist anfechtbar; man könnte eine Unmenge ähnlicher entscheidender Augenblicke anführen. Doch einer der wichtigsten Züge des neuen Kapitalismus, seine Konzentration auf abstrakte Quantitäten wurde tatsächlich durch solche Lehren gefördert.

Die neue Form eines universalen Rechnungswesens hob aus dem Komplex verschiedenster Umstände gerade jene Faktoren heraus, die nach einem unpersönlichen, quantitativen Maßstab beurteilt werden konnten. Hier begann das Rechnen mit Zahlen, und am Ende zählten nur noch die Zahlen. Dies war letztlich eine bedeutendere Leistung des Kapitalismus als irgendeine der Waren, die der Händler kaufte oder verkaufte. Denn erst als die Verwendung mathematischer Abstraktionen einem maßgeblichen Teil der Gemeinschaft zur Gewohnheit geworden war, könnten die physikalischen Wissenschaften jenen Platz einnehmen, den sie früher einmal in den großen Handelsstädten des ionischen Griechenland innegehabt hatten.

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Thales, der Archetypus des Wissenschaftlers, war in mehr als einem Sinne ein spekulativer Philosoph, denn laut Diogenes Laertius hatte er ein Vermögen gemacht, indem er während einer besonders reichen Olivenernte schlauerweise Ölpressen ankaufte.

Wo immer der Geist des Kapitalismus Fuß faßte, wurden die Menschen mit den Abstraktionen des Kontors vertraut: Einteilen, Wägen und Messen, in immer exakteren Maßen, wurden die Kennzeichen dieser ganzen Lebensweise. Der Wandel ging nicht spontan vor sich, sondern war das Ergebnis wohlerwogener Absicht und beharrlicher Indoktrinierung. Vom dreizehnten Jahrhundert an lehrte die Schule mit dem Elementarunterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen die elementaren Symbole für Einkauf und Verkauf auf Distanz, für Handelsabschlüsse, Buchhaltung und Verrechnung. Der Bedarf an verläßlicher Information und sorgfältiger Vorausplanung im Handel mit Waren, die der Käufer erst bei Lieferung zu Gesicht bekam, bestärkte den Hang zu quantitativen Urteilen in allen Bereichen: nicht nur bei Gewichten und Maßen, sondern auch bei den exakten astronomischen Beobachtungen für die Schiffahrt.

Die unpersönliche bürokratische Ordnung des Kontors wetteiferte mit der klösterlichen und militärischen Ordnung in der Schaffung der Grundlagen für die starre Disziplin und die unpersönliche Regelmäßigkeit, die sich mit der Zeit auf alle Aspekte des institutionellen Lebens der westlichen Zivilisation ausdehnen. Diese Ordnung wurde ohne Schwierigkeiten auf automatische Maschinen und Computer übertragen, die noch unfähiger sind, menschliche Einsicht und Klugheit zu beweisen, als ein geschulter Beamter. Die neue Bürokratie mit ihrer Fixierung auf Organisation und Koordination wurde zum unentbehrlichen Gehilfen in allen Unternehmungen im großen Maßstab und über große Entfernungen: Buchhaltung und Rechnungsführung bestimmen in genormter Gleichförmigkeit das Tempo aller anderen Teile der Maschine. Die Außerachtlassung dieses mathematischen Aspekts der Mechanisierung, als Auftakt zu industriellen Erfindungen, hat zu einem verzerrten und einseitigen Bild von der modernen Technik geführt. Diese Auffassung betrachtet spezifische Werkzeuge und Maschinen als entscheidenden Faktor in Veränderungen, die zuerst im menschlichen Geist stattfanden und später auf Institutionen und Mechanismen übertragen wurden.

Im Laufe der Jahrhunderte, in denen der Kapitalismus und die Technik Sich formten, waren deren spätere Tendenzen weitgehend verborgen, denn sie wurden durch die hartnäckige Rivalität und die gewaltige Trägheit vieler anderer Institutionen gehemmt.

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Noch im sechzehnten Jahrhundert verurteilten die Theologen der Pariser Universität die Gründung von Staatsbanken mit der Begründung, daß Wucher (Geldverleih auf Zinsen) nach der christlichen Theologie eine Sünde sei; und der menschliche Schutz, den die Gilden ihren Mitgliedern gewährten, war bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein so wirkungsvoll, daß, wie Adam Smith hervorhob, neue Unternehmungen, die billigere Produktions­methoden anwendeten, sich auf dem Lande oder in nicht eingemeindeten Vororten niederlassen und ihre Produkte in die Stadt schmuggeln mußten.

Jenseitsorientierte Kirchendoktrinen und feudalistische Restriktionen, wie gebundener, unverkäuflicher Grundbesitz, Gilden­vorschriften, hohe fachliche Normen im Handwerk, Familieninteressen — alles das bremste die kapitalistische Entwicklung. Der Wunsch nach Qualität stand lange Zeit im Konflikt mit dem Bedürfnis nach Quantität. Noch im sechzehnten Jahrhundert, als der große Augsburger Finanzmann und Unternehmer Jakob Fugger der Ältere seinem Bruder anbot, ihn in sein hochprofitables Unternehmen aufzunehmen, lehnte dieser mit der Begründung ab, daß ein so sündiges Unternehmen sein Seelenheil gefährden könnte. Damals hatte man noch die Wahl.

Am Beginn seiner Ausbreitung in Westeuropa wies der Kapitalismus in den Städten die gleichen Perversitäten auf, wie sie mit dem Königtum entstanden waren. Die führenden Handelsstädte griffen zu Waffengewalt, um die Wirtschaftsmacht anderer Städte zu zerstören und ein vollständigeres Wirtschaftsmonopol herzustellen. Diese Konflikte waren kostspieliger, destruktiver und letztlich auch sinnloser als jene, die zwischen der Kaufmannsklasse und den Feudalherren ausgetragen wurden. Städte wie Florenz, die mutwillig andere reiche Gemeinden, wie Lucca und Siena, angriffen, untergruben sowohl deren Leistungskraft als auch ihre eigene relative Sicherheit vor solchen wilden Überfällen. Als der Kapitalismus auf andere Kontinente übergriff, behandelten seine Vertreter die Eingeborenen ebenso grausam, wie er seine näheren Rivalen behandelte.

Kurz, wo der Kapitalismus prosperierte, stellte er drei Grundregeln für eine erfolgreiche wirtschaftliche Tätigkeit auf: das Kriterium der Quantität, die Beachtung und Bewirtschaftung der Zeit (»Zeit ist Geld«) und die Konzentration auf abstrakten materiellen Gewinn. Seine höchsten Werte — Macht, Profit, Prestige — leiten sich aus diesen Quellen ab und können allesamt, in dürftigster Verkleidung, bis ins Pyramiden­zeitalter zurückverfolgt werden. Die erste Regel brachte die allgemeine Gewinn- und Verlustrechnung hervor; die zweite sicherte die Produktivität von Mensch und Maschine; die dritte gab dem täglichen Leben eine Triebkraft, die auf niedrigerem Niveau dem Streben der Mönche nach ewiger Belohnung im Himmel entsprach. Die Jagd nach Geld wurde zur Leidenschaft und zur Besessenheit: der Zweck, für den alle anderen Zwecke nur Mittel waren.

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Mit dem Übergang vom kontemplativen Dasein der Mönche zum aktiven Leben der Kaufleute, Schiffsherren, Financiers und Industrie­unternehmer erhielten diese Regeln die Form moralischer Imperative, wenn nicht neurotischer Zwänge. Doch das ältere Wertsystem war so stark verwurzelt, daß es noch im neunzehnten Jahrhundert vielen Kaufleuten attraktiver erschien, sich im besten Mannesalter mit einer Rente vom Geschäftsleben zurückzuziehen, als sich unaufhörlich den Geschäften zu widmen, um Geld anzuhäufen.

In der Wissenschaft aber sollten die Abstraktionen des Kapitalismus mit der Zeit eine noch größere Rolle spielen und noch höheren Ertrag bringen. Als Mitte des siebzehnten Jahrhunderts in London die Royal Society gegründet wurde, hatten Kaufleute und Bankiers führenden Anteil daran, nicht nur als Geldgeber, sondern auch als aktive Teilnehmer an den Experimenten der neuen Wissenschaft. Die Erkenntnis, daß jeder Warenposten verrechnet werden muß und daß »die Bücher stimmen müssen«, ging Robert Mayers Gesetz von der Erhaltung der Energie um Jahrhunderte voraus.

So waren Buchhaltung und Zeitmessung im sechzehnten Jahrhundert nicht nur bereits säkularisiert, sondern sie boten auch die Gewähr, daß die Opfer, die diese Lebensform beanspruchte, mit dem Versprechen künftiger greifbarer Gewinne verknüpft waren. Unter dem Königtum gingen die Belohnungen für die privilegierten Klassen nicht unmittelbar aus deren Dienstleistungen hervor, sondern waren von den Launen des Herrschers abhängig und standen häufig in keinem Verhältnis zur aufgewendeten Mühe oder zum Wert des Resultats. Aber unter der neuen Rechnungsführung des Kapitalismus wurde Versagen unmittelbar mit Verlust bestraft und, was noch bezeichnender ist, Erfolg auf Grund von Tüchtigkeit und Voraussicht reichlich belohnt.

Mit anderen Worten, der Kapitalismus vertraute auf die Konditionierungsmethoden, mit deren Hilfe Tiere dazu abgerichtet werden, Befehlen zu gehorchen und schwierige Aufgaben auszuführen. Und während das Königtum sich vor allem auf Strafe gestützt hatte, eine Methode, die im Tod des zu hart bestraften Individuums ihre definitive Grenze findet, gab es im frühen Kapitalismus keine Grenze für die Möglichkeiten der Belohnung. Außerdem wirkte dieses neue Motiv nicht nur auf eine einzige Klasse; theoretisch bot es Verheißung und Hoffnung auch für den einfachsten Menschen, der sich ganz dem Geschäftsleben widmen wollte. Aus kleinen Anfängen konnte man mit Sparsamkeit, Scharfsinn und Zähigkeit ein großes Vermögen machen. Jeder Dick Whittington konnte - theoretisch - Oberbürgermeister von London werden.

Edward Thorndike, dessen psychologische Experimente bewiesen, daß die Belohnung für wirksame Konditionierung wertvoller ist als Strafe, war sich des Unterschieds zwischen der Methode des Strafens, die gewöhnlich von der politischen Macht angewandt wird, und der gegenteiligen Methode im Wirtschafts­leben bewußt.

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 »Der Übergang vom Feudalzustand zum System der modernen Welt«, sagte er, »war in gewisser Hinsicht ein Übergang von Brauch und Gewohnheit, unterstützt durch Drohung und Strafe, zum Experimentieren, unterstützt durch Hoffnung und Belohnung. Das Geschäftsleben war besonders stark vom Belohnungsprinzip durchdrungen«. Das Besondere an der kapitalistischen Wirtschaft war jedoch, daß die unmittelbare Belohnung hauptsächlich die abstrakte Form von Geld hatte und daß die Arbeiter und die Konsumenten erst dann einen weiteren Anteil an den Erträgen erhielten, wenn die Ansprüche der Kapitalisten und Manager voll befriedigt waren — obwohl deren Verlangen nach immer höheren Gewinnen prinzipiell keine Grenze kannte. In der Teleologie des Wirtschaftsunternehmens war der Profit das höchste Lebensziel. Verglichen damit war das alte pharaonische System, das »Leben, Gesundheit und Wohlstand« erstrebte, stärker in der organischen Realität verwurzelt.

Kurz, der Kapitalismus benützte und verallgemeinerte eine starke positive Triebkraft, die — aus Gründen menschlicher Anständigkeit — von primitiveren Gesellschaften nie erschlossen worden war. Gewiß, jahrhundertelang benützte der Kapitalist weiterhin eher die negative Form der Strafe als die positive der Belohnung, um sich der Willigkeit des Arbeiters zu versichern, während er die Gewinne selbstgerecht sich, seinen Managern und seinen Geldgebern vorbehielt.

Geld, als der Knotenpunkt aller menschlicher Beziehungen und als Hauptmotiv aller sozialen Leistungen, trat an die Stelle gegenseitiger Hilfeleistungen und Pflichten in der Familie, gegenüber Nachbarn, Mitbürgern und Freunden. Und während moralische und ästhetische Beweggründe abnahmen, wuchs die Dynamik der Geldmacht. Geld war die einzige Form von Macht, die, gerade weil sie von allen anderen Realitäten abstrahierte, keine Grenzen kannte — obgleich am Ende diese Gleichgültigkeit: gegenüber der konkreten Wirklichkeit schließlich ihre Strafe in Gestalt der fortschreitenden Inflation einer expandierenden Wirtschaft finden sollte.

 

   Der Zauberlehrling tritt auf  

 

Obwohl der Kapitalismus im siebzehnten Jahrhundert einen neuen Denkstil einzuführen begann, wirkte er nicht isoliert; ja, er hätte sich nicht so rasch entwickeln können, wäre er nicht von anderen Institutionen und Interessen unterstützt worden, von denen manche durch die ersten Erfolge in der Herstellung von Kraftmaschinen und Automaten zu neuem Leben erweckt wurden.

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Seit dem dreizehnten Jahrhundert wurden überall in Europa neue Erfindungen gemacht, die sich mit viel älteren, nie ganz verschwundenen vermischten. Lange schon hatten Träume von einer Kraft, welche die natürlichen Grenzen des Menschen, einschließlich seiner biologischen Sterblichkeit, überschritt, die Geister bewegt — vor allem vielleicht der Neid auf die Vögel und der Wunsch, die Luft zu erobern. Dieser Traum, der schon früh in der mesopotamischen Mythologie Ausdruck gefunden hatte, nahm bei den Griechen in der Daedalus-Sage realistischere Form an und verbreitete sich dann überallhin, bis nach Peru, in der Gestalt von Ayar Katsi, dem fliegenden Mann, ganz zu schweigen vom fliegenden Teppich in Tausendundeine Nacht.

In ähnlicher Weise lockte der alte Wunsch nach dem nie versiegenden Füllhorn Abenteurer in ferne Länder; desgleichen suchte man nach dem Lebenselexier, dem Allheilmittel — heute Wunderdroge genannt —, das alle menschlichen Leiden kurieren sollte. Und viele Jahrhunderte vor ihren wissenschaftlichen Nachfolgern, wie Herman Muller und F.H. C. Crick, spielten die Alchimisten mit der Idee, einen lebenden Homunculus in der Retorte zu erschaffen.

Nun ist aber der Übergang eines Mythos vom Unbewußten zum wirklichen Leben dunkel und verschlungen. Bis er durch Veränderungen im Alltag Unterstützung findet und seinerseits jene bestärkt, kann man kaum mehr tun, als seine Existenz zu vermuten, denn er bleibt bestenfalls ein flüchtiger Impuls, ein scheinbar müßiger Wunsch, oft zu ungeheuerlich, um ernst genommen zu werden, wenn er in der Öffentlichkeit ausgesprochen wird, und gewiß zu tief verborgen, um das Leben an seiner Oberfläche zu berühren.

Doch die Konzeption einer neuen Art von Kraftmaschinen, die ohne magischen Hokuspokus zusammengesetzt und in Gang gebracht werden konnten, faszinierten vom dreizehnten Jahrhundert an die Geister, vor allem Albertus Magnus, Roger Bacon und Campanella — alle drei notabene* Mönche. Die Träume von Wagen ohne Pferde, von Flugmaschinen, von Apparaten für sofortige Fernkommunikation oder zur Umwandlung der Elemente vervielfachten sich. Es muß eine Zeit gegeben haben, da die erste Windmühle oder das erste Uhrwerk so wunderbar erschien, wie der erste Dynamo oder die erste Sprechmaschine vor weniger als einem Jahrhundert.

Eine bemerkenswerte Begleiterscheinung dieser Träume sollte man nebenbei erwähnen, denn sie wurde sehr bald verdrängt oder geringschätzig ignoriert. In ihrer ursprünglichen Form versprachen solche Träume nicht immer ein gutes Ende: Sie waren bezeichnenderweise mit bösen Ahnungen vermischt.

 

* OD: wohlgemerkt!, übrigens, Achtung!

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Die alten nordischen Legenden enthalten Vorahnungen einer ungeheuren Katastrophe, Ragnaroks, der Götterdämmerung, wenn die Welt in Flammen aufgehen und grausame Riesen und Dämonen über alles triumphieren würden, was liebevoll menschlich und gottähnlich war. Auf andere Art zeugte das von der christlichen Kirche erlassene Verbot der Sezierung von Leichen, auch wenn es dem Fortschritt der Medizin und der Chirurgie diente, von der Angst, daß eine solche Verletzung der Natur um detailliertem, exakten Wissens willen dem menschlichen Heil nicht weniger Schaden zufüge als das schamlose Streben nach Macht — obwohl die Kultur, die solche Forschung verbot, sich mit der Erfindung raffinierter Foltermaschinen für die Inquisition ins eigene Fleisch schnitt.

Die mythischen Eingebungen und Sehnsüchte führten mit der Zeit zu wohltuenden Folgen, die die bösen Vorahnungen aufhoben.

Ende des fünfzehnten Jahrhunderts waren die hellsten Köpfe Europas sich gewiß dessen bewußt, daß ein großer, sich schon lange vorbereitender zyklischer Wandel bevorstand. Poliziano interpretierte die Entdeckung der Neuen Welt durch Kolumbus prophetisch als Anbruch einer vorteilhaften Veränderung im gesamten Leben der Menschheit; und sein Zeitgenosse, der kalabresische Mönch Campanella, sagte hellsichtig die neuen technischen Errungenschaften voraus, die diese Kolonisierung des Planeten durch die kriegerischen Mächte Europas begleiten würden. Campanella malte in seiner Utopie The City of the Sun aus, wie die Schilfe »die Wasser kreuzen ohne Ruderer und ohne die Kraft des Windes, nur durch eine wunderbare Vorrichtung«; und am Ende der Darstellung läßt er den Großen Meister, der dieses Gemeinwesen regiert, sagen: »Ach, wenn ihr wüßtet, was unsere Astrologen über das kommende Zeitalter sagen: daß es in hundert Jahren mehr Geschichte haben wird, als die ganze Welt in viertausend Jahren davor hatte.«

Zur gleichen Zeit hatten andere ähnliche Ahnungen. Die Menschheit, oder zumindest eine erwachende Minderheit in Westeuropa, steuerte bereits auf eine neue Welt zu; und wenn sie diese, wie Thomas Morus, auf der anderen Seite des Globus nicht fanden, glaubten sie gleich ihm, sie mit Hilfe eines wohltätigen Monarchen zu Hause errichten zu können, indem sie einheitliche Gesetze und vernünftige Vorschriften oder neue mechanische Erfindungen einführten, wie den Brutapparat in Utopia. Vor allem dachten sie daran, planmäßig humanere Institutionen zu schaffen, als je zuvor existiert hatten.

Obwohl bald eine ganze Literatur von Utopien im Kielwasser von Thomas Mores Bild eines idealen Gemeinwesens nachfolgte, ist es bezeichnend, daß das einzige Werk, dessen unmittelbare Wirkungen nachgewiesen werden können, das Fragment einer Utopie war, das Francis Bacon hinterlassen hat: Sein The New Atlantis prüfte erstmals Möglichkeit einer zusammenhängenden Reihe von Verfahren, die ein neues System wissenschaftlicher Untersuchung mit einer neuen Technologie verbinden sollten.

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Zu einem Zeitpunkt, da der erbitterte Kampf zwischen den rivalisierenden Doktrinen und Sekten innerhalb des Christentums zu einem Patt geführt hatte, schien die Maschine einen anderen Weg ins Himmelreich anzuzeigen. Das Versprechen materieller Überfülle auf Erden, durch Erforschung, organisierte Eroberung und Erfindung, bot allen Klassen ein gemeinsames Ziel.

 

   Die radikalen Erfindungen 

 

Wie bereits gesagt, nahmen die ersten Bemühungen zur Einführung von Maschinen und zur Erweiterung der Herrschaft des Menschen über die Natur nicht allein in der Phantasie ihren Anfang. Obwohl die technischen Neuerungen des Mittelalters — die Windmühle und die Wassermühle — viele Jahrhunderte vor der Erfindung der Dampfmaschine die Voraussetzungen für die großen Fortschritte des achtzehnten Jahrhunderts schufen, wurden die wichtigsten Erfindungen, von denen alle anderen abhingen, vor dem sechzehnten Jahrhundert in Europa gemacht. Und diese Erfindungen veränderten das Raum-Zeit-Gefüge der zivilisierten Welt grundlegend und modifizierten sowohl die Umwelt als auch den inneren Charakter des Menschen.

Die erste Reihe von Erfindungen beruhte auf der Verbesserung der Glaserzeugung, die es dank den vermehrten wissen­schaftlichen Kenntnissen in der Optik, die Roger Bacon aufgezeichnet hat, möglich machte, reines Glas für Brillen zu liefern, wodurch Sehstörungen, besonders altersbedingte, korrigiert werden konnten. Die Erfindung von Augengläsern verlängerte und bereicherte das geistige Leben reifer Menschen um durchschnittlich fünfzehn Jahre, bei einer Lebenserwartung von sechzig Jahren — im Alter von fünfundvierzig; wo Kurzsichtigkeit früher einsetzte, verlängerte sie die Periode geistiger Aktivität noch mehr. Von allen Faktoren, die man als Erklärung für die »Renaissance der Wissenschaft« entdeckt hat, war die Wirkung von Augengläsern gewiß nicht die geringste.

Doch mit der Verlängerung der Lesefähigkeit durch die korrektive optische Diagnose waren die unmittelbaren Folgen dieser Erfindung nicht erschöpft; denn das so gewonnene Wissen führte zuerst zum einfachen Vergrößerungsglas, dann zur Entdeckung der außergewöhnlichen Vergrößerung, die durch die Anwendung kombinierter Linsen möglich ist. Die Erfindung des Mikroskops und des Teleskops im siebzehnten Jahrhundert veränderte alle Dimensionen der Welt: Was bis dahin unsichtbar gewesen, weil es zu klein oder zu weit entfernt war, wurde nun bei genauer Betrachtung sichtbar. So erschlossen diese Erfindungen gleicherweise die neue Welt der Mikroorganismen und jene der entferntesten Sterne und Galaxien: eine weit größere Welt, als Kolumbus oder Magellan erforscht hatten.

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Zum ersten Mal war es möglich (um ein abgegriffenes Klischee zu benützen), in die Tiefe des Kosmos und der organischen Umwelt zu blicken. Ohne sich einen Schritt vom Mikroskop oder vom astronomischen Observatorium zu entfernen, konnte der Mensch der Neuzeit Möglichkeiten erkennen, von denen er sich bisher selbst in seinen wildesten Träumen keine Vorstellungen gemacht hatte. Diese erste Wandlung der Raumbegriffe hatte nichts mit Maschinen für augenblickliche Kommunikation und schnelle Beförderung, die erst viel später kamen, zu tun; der ganze ungeheure Wandel wurde von Glasbläsern, Linsenschleifern und Optikern mit Hilfe einfachster Werkzeuge und Geräte herbeigeführt. Wieder war das Entdecken dem Herstellen voran­gegangen, und statische Erfindungen bestimmten das Tempo dynamischer Veränderungen.

Die Bedeutung der Brille wurde enorm verstärkt durch eine weitere entscheidende Erfindung, die Jahrhunderte später gemacht wurde: die Druckerpresse und deren spätere Perfektionierung durch die Erfindung beweglicher Lettern. Dies verwandelte das langwierige Abschreiben von Manuskripten, das selber bereits standardisiert, mit Genauigkeit und Eleganz betrieben wurde, in einen maschinellen Prozeß. Die endgültige Vervollkommnung dieser Kunst war das Ergebnis einer Reihe von Erfindungen, die sich von China und Korea über Persien und die Türkei auf die ganze Welt ausbreitete, bis die letzten Schritte fast gleichzeitig in Mainz und Haarlem gemacht wurden, wo Gutenberg und Johann Fust mit dem Guß beweglicher Lettern den Schlußstein setzten. Dies ist das erste Beispiel einer Massenproduktion auf der Basis standardisierter, austauschbarer und ersetzbarer Teile in einem dynamischen Prozeß. Die Druckerpresse charakterisiert durch ihre eigene Geschichte den Übergang von der Mechanisierung des Arbeiters zur Mechanisierung des Arbeitsprozesses. (Eine ausführlichere Erörterung findet sich in meinem Buch Art and Technics.)

Doch abgesehen von der unmittelbaren Wirkung der Druckerpresse auf die Erfindung späterer Maschinen, hatte sie eine soziale Folge, die vielleicht noch wichtiger war: Fast mit einem Schlag durchbrach die billige und rasche Produktion von Büchern das uralte Klassenmonopol auf Wissen, besonders auf exaktes, abstraktes Wissen, wie Mathematik und Physik, die lange Zeit das Monopol einer kleinen Schicht von Gelehrten waren. Das gedruckte Buch machte nach und nach jedes Wissen allen jenen zugänglich, die lesen lernten, selbst wenn sie arm waren; und eines der Ergebnisse dieser Demokratisierung war, daß Wissen, im Gegensatz zu Legende, dogmatischer Tradition oder poetischer Phantasie zum Gegenstand intensiven unabhängigen Interesses wurde, das mittels des gedruckten Buches auf alle Lebensbereiche übergriff und die Zahl der am Geistesverkehr teilhabenden Menschen — in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — ungeheuer vermehrte.

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Die Bereicherung des kollektiven Menschengeistes durch Druck und Zirkulation von Büchern ist nur vergleichbar mit jener, die durch die Erfindung der artikulierten Sprache die einzelnen Geister und Erfahrungen miteinander verband. Die Zunahme des Wirkungsbereiches wissenschaftlicher Entdeckungen und des Tempos technischer Erfindungen ist zum Großteil auf das gedruckte Buch und vom siebzehnten Jahrhundert an auf gedruckte wissenschaftliche Abhandlungen und Zeitschriften zurückzuführen. Veränderungen, die Jahrhunderte gebraucht hätten, solange Wissen nur durch eine beschränkte Anzahl von Manuskripten verbreitet werden konnte, kamen mit Hilfe von Druckschriften fast über Nacht zustande.

Die dritte entscheidende Erfindung, die Uhr, wurde ebenfalls zur Quelle einer ganzen Reihe weiterer Erfindungen, die im Bereich von Zeit und Bewegung das gleiche bewirkten, was das Vergrößerungsglas in räumlicher Hinsicht geleistet hatte. Die mechanische Uhr stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert, wenngleich Teile des Mechanismus und die Zeitmessung mit der Wasseruhr und der antiken astronomischen Armille, die der Bewegung der Planeten und dem Wechsel der Jahreszeiten folgte, schon viel früher erfunden worden waren. Die Maschine, die die Zeit mechanisierte, regelte nicht nur die Tätigkeiten des Tages: Sie machte die menschlichen Reaktionen unabhängig von Auf- und Untergang der Sonne und knüpfte sie an den Gang der Uhrzeiger; so führte sie genaues Maß und exakte Zeitkontrolle in jede Lebenstätigkeit ein, indem sie eine unabhängige Norm aufstellte, nach welcher der ganze Tag geplant und eingeteilt werden konnte.

Im sechzehnten Jahrhundert fand die Turmuhr des spätmittelalterlichen Marktplatzes, die mit ihren Schlägen die Stunden anzeigte, ihr verkleinertes Ebenbild als Standuhr in den Häusern der Oberklasse, und im neunzehnten Jahrhundert wurde sie, auf Taschenformat reduziert, zu einem Bestandteil der menschlichen Bekleidung — offen oder in der Tasche getragen. Pünktlichkeit, die nicht länger nur die »Höflichkeit der Könige« war, wurde zu einer Notwendigkeit im täglichen Leben aller Länder, in denen die Mechanisierung auf der Tagesordnung stand. Das Messen von Raum und Zeit wurde zum integralen Bestandteil des Kontrollsystems, das der westliche Mensch über den ganzen Erdball ausdehnte.

Karl Marx war einer der ersten, der in der Uhr das archetypische Modell aller späteren Maschinen erkannte: In einem Brief an Friedrich Engels aus dem Jahre 1863 schrieb er: »Die Uhr war der erste zu praktischen Zwecken angewandte Automat, und die ganze Theorie über Produktion gleichmäßiger Bewegung wurde an ihr entwickelt.« Die Hervorhebung stammt von ihm, und er hat nicht übertrieben;

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doch der Einfluß der Uhr erstreckte sich weit über die Fabrik hinaus, denn nicht nur waren im Uhrwerk einige der wichtigsten mechanischen Probleme der Transmission und Steuerung von Bewegung gelöst, sondern die Uhr wurde mit zunehmender Genauigkeit, die ihre Krönung im Schiffschronometer des achtzehnten Jahrhunderts fand, zum Vorbild aller Präzisions­instrumente.

Eine Uhr ist faktisch das Urbild des Automaten: Fast alles, was wir durch Automaten erreichen und von ihnen erwarten können, ist in der Uhr vorgebildet. Im Fortschritt von der großen Kirchenuhr des sechzehnten Jahrhunderts zur kleinen »automatischen« Armbanduhr mit Kalender und Wecker ist auch das erste Beispiel für den Prozeß der Miniaturisierung gegeben, auf den die elektronische Technologie mit Recht so stolz ist. Die Automatisierung der Zeit in der Uhr ist das Modell aller größeren Automatisierungs­systeme.

Zwischen dem zwölften und dem sechzehnten Jahrhundert also wurden die wichtigsten Erfindungen gemacht, auf denen eine ganze Reihe neuer Maschinen aufbaute, als erster Schritt zur Schaffung einer neuartigen Megamaschine: die Wassermühle, die Windmühle, das Vergrößerungsglas, die Druckerpresse und die mechanische Uhr. Von diesen Erfindungen hingen weitgehend alle späteren technischen Fortschritte ab, die sich sowohl in ihrer Art wie in ihrer Leistung von denen früherer Kulturen unterschieden. Dieser neue technische Fundus gab den Wissenschaftlern des siebzehnten Jahrhunderts die Mittel, die sie brauchten, um die künftige Revolutionierung der Welt einzuleiten — eine Umwälzung, deren wichtigste Voraussetzungen und Ziele denen des Pyramidenzeitalters so seltsam ähneln.

 

   Leonardo da Vincis Vorahnungen 

 

Neben seinen phantastischen Projekten entwickelte Leonardo da Vinci (1452-1519), einer der größten Denker einer großen Zeit, eine Menge praktischer Erfindungen. Er und andere Künstler-Erfinder seiner Zeit bewiesen, wieviele technische Errungenschaften unserer Zeit bereits im sechzehnten Jahrhundert in der Phantasie vorgeformt und sogar in wirklichem oder abgebildeten Modellen erprobt worden waren.

Heute ist man mit Leonardos vielen kühnen, aber bemerkenswert praktischen Konstruktionen und ebenso praktischen Vorweg­nahmen vertraut, desgleichen mit seinem erfolglosen Großen Vogel. Dieser war faktisch ein Segler, dessen Flügel sich wegen ihres Gewichts nicht bewegen ließen, ein Mißerfolg, aus Gründen, die Borelli wenig später durch seine Untersuchungen über die Fortbewegung von Tieren und im besonderen über die Anatomie der Vögel erklären sollte. Denn selbst wenn Leonardos Flügel federleicht gewesen wären, hätte es eines enormen Brustmuskels im Größenverhältnis einer Vogelbrust bedurft, um sie in Bewegung zu setzen.

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Doch während sie Leonardo als Erfinder und Konstrukteur würdigten, neigten die Forscher dazu, Leonardos Beunruhigung über seine eigenen mechanischen Phantasien zu übersehen: Wie Roger Bacon hat auch er in seiner üblichen verschlüsselten Art (als Traum verkleidet) vorhergesagt: »Die Menschen werden gehen, ohne sich zu bewegen (Auto), sie werden mit Abwesenden sprechen (Telefon), sie werden die hören, die nicht sprechen (Phonograph).« 

Doch in einer anderen Phantasie, in die Form eines Briefes gekleidet, beschwört Leonardo das Bild eines gräßlichen Ungeheuers, das die Menschheit anfallen und vernichten würde. Obgleich Leonardo dem Monstrum eine greifbare, gigantische, annähernd menschliche Form gab, waren die Dinge, die es vollbrachte, allzu ähnlich jenen gräßlichen, wissenschaftlich ins Werk gesetzten Massen­vernichtungen unserer Zeit. Die Unverletzlichkeit des Monstrums vervollständigt nur die Ähnlichkeit mit den atomaren, Bakterien- und chemischen Waffen, mit denen man heute die ganze Menschheit ausrotten könnte. Leonardos Schilderung verlangt nach wörtlicher Zitierung:

»Ach, wieviele Angriffe wurden auf dieses rasende Ungeheuer gemacht; für es war jeder Angriff wie nichts. Ihr armen Menschen, euch helfen nicht die uneinnehmbaren Festungen, weder die hohen Mauern eurer Städte, noch die Vielzahl ihrer Bewohner, noch eure Häuser und Paläste! Da bleibt kein Platz, außer in winzigen Löchern und unterirdischen Höhlen, wo ihr, nach Art der Krebse und Grillen und anderer ähnlicher Tiere, Schutz und Rettung finden könntet.

Oh, wieviele unglückliche Mütter und Väter wurden ihrer Kinder beraubt, wieviele unglückliche Frauen haben ihre Gefährten verloren. Wahrhaftig, mein lieber Benedetto, ich glaube nicht, daß es, seit die Welt erschaffen wurde, so ein Jammern und Wehklagen der Menschen und so ungeheuren Schrecken gegeben hat. Fürwahr, das Menschen­geschlecht hat in solch trauriger Lage allen Grund, jedes andere Lebewesen zu beneiden ... Uns armen Sterblichen hilft keine Flucht, weil dieses Ungeheuer, selbst wenn es sich langsam fortbewegt, die Geschwindigkeit des schnellsten Rennpferdes bei weitem übertrifft.
Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll, denn überall glaube ich mit eingezogenem Kopf in dem mächtigen Schlund zu schwimmen und, im Tod unerkenntlich geworden, in dem riesigen Bauch begraben zu sein.«

Es ist nicht zu beweisen, daß dieser Alptraum die Kehrseite von Leonardos hoffnungsvoller Vorwegnahme der Zukunft war; aber jene, die das letzte halbe Jahrhundert durchlebten, haben sowohl die Siege der Technik als auch den Schrecken, den sie über die Menschen gebracht hat, erfahren, und wir wissen, um wieviel die Wirklichkeit Leonardos schlimmste Befürchtungen übertroffen hat.

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Wie seine Nachfolger, die faktisch den Mythos der Maschine gefördert und ihm zum Durchbruch verholfen haben, konnte Leonardo nicht ahnen, daß er einen Mythos entwarf und ihm diente. Im Gegenteil, wie jene meinte er wahrscheinlich, eine neue vernünftige Ordnung zu schaffen, in der seine scharfe Intelligenz, mit geeigneteren Mitteln und Methoden, als jemals dem Menschen zur Verfügung standen, alle Naturphänomene unter den Einfluß des menschlichen Geistes bringen würde. Diese technischen Voraussetzungen schienen so einfach, das Ziel so vernünftig, die Methode so geeignet zu allgemeiner Nachahmung, daß Leonardo nie die Notwendigkeit sah, die Frage zu stellen, die sich uns heute aufdrängt: Ist die Intelligenz allein, so rein und unvergiftet sie auch sein mag, ein angemessenes Mittel, um den Bedürfnissen und Zwecken des Lebens gerecht zu werden?

Doch eine gewisse Einsicht in diese Begrenzungen war unter der Oberfläche von Leonardos bewußten Interessen bereits verborgen und trübte sein sonst so helles Bild von dem Nutzen, den rationale Erfindungen dem Menschen bringen könnten. Er war, intellektuell gesehen, eine zu starke Persönlichkeit, um sich in eine der üblichen Kategorien, als Ingenieur, als Erfinder, als Künstler oder als Wissenschaftler, einordnen zu lassen; wie seine Zeitgenossen Michelangelo und Dürer und viele andere frühere und spätere Persönlichkeiten bewegte er sich frei über ein weites Gebiet, von der Geologie bis zur menschlichen Anatomie. Doch er erkannte die Grenzen der mechanischen Erfindung. In einer seiner Notizen schrieb er: »Möchte es doch unserem Schöpfer gefallen, daß ich fähig wäre, das Wesen des Menschen und seine Gewohnheiten so zu enthüllen, wie ich seine äußere Erscheinung darstellen kann.«

Leonardo ahnte zumindest, was dem mechanischen Weltbild fehlte. Er wußte, daß der Mensch, den er sezierte und genau abbildete, nicht der ganze Mensch war. Was weder das Auge noch das Skalpell zu enthüllen vermochte, war ebenso entscheidend für die Beschreibung jeder lebenden Kreatur. Ohne Einsicht in die Geschichte des Menschen, in seine Kultur, seine Hoffnungen und Erwartungen, konnte das Wesen seines Daseins nicht erfaßt werden. Daher kannte Leonardo die Grenzen seiner anatomischen Darstellungen und seiner mechanischen Erfindungen; der Mensch, den er sezierte oder mit peinlicher Genauigkeit aufs Papier bannte, war nicht der ganze Mensch; und anhand seiner eigenen Erfahrung demonstrierte er, daß der verdrängte Teil seiner unbewußten Welt schließlich in den gleichen Alpträumen hervorbrechen würde, von denen heute die ganze Menschheit verfolgt wird.

Leider standen Leonardos Talente, wie es heute vielen der besten Wissenschaftler und Techniker ergeht, im Konflikt mit seinem Gewissen. In dem Bestreben, die Maschine besser in den Griff zu bekommen, war er, gleich vielen unserer heutigen Wissen­schaftler, bereit, seine Dienste dem Herzog von Mailand, einem der führenden Despoten seiner Zeit, zu verkaufen, um eine Möglichkeit zur Anwendung seines Erfindertalents zu erhalten.

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 Doch da das neue ideologische System noch nicht vollständig war, bewahrte Leonardo sich ein Maß an intellektueller Freiheit und moralischer Disziplin, wie es nach dem achtzehnten Jahrhundert nur noch selten erreicht werden konnte. Obgleich Leonardo zum Beispiel das Unterseeboot erfand, hielt er diese Erfindung bewußt geheim, »wegen der böswilligen Natur der Menschen, die auf dem Meeresgrund Meuchelmord verüben würden«. Dieser Vorbehalt kennzeichnet eine moralische Sensibilität, die seinem Erfindergenie gleichkommt; nur eine Handvoll Wissenschaftler von heute, etwa Norbert Wiener oder Leo Szillard, haben ein solches Verantwortungsbewußtsein, eine solche Selbstkontrolle bewiesen.

Leonardos unablässige Sorge um moralische Probleme, um die Art Mensch, zu der er selber wurde und die er schaffen half, unterscheidet ihn von jenen, die sich auf Beobachtung, Experimente und Gleichungen beschränken, ohne im geringsten an die Konsequenzen zu denken. Höchstwahrscheinlich hat der innere Konflikt, der sich aus seinem Gefühl für die sozialen Folgen seiner Erfindungen ergab, seinen Erfolg behindert; und doch war der Einfluß von Mechanisierung und Krieg so stark, daß sein mechanischer Dämon ihn dazu trieb, nicht nur das Unterseeboot, sondern auch Panzerfahrzeuge, Schnellfeuerkanonen und viele andere Vorrichtungen dieser Art zu erfinden. Dennoch — wären Leonardos ahnungsvolle Bedenken und innere Konflikte allgemein verbreitet gewesen, dann hätte die spätere Mechanisierung sich wahrscheinlich langsamer entwickelt.

Leonardo war stolz auf seinen Status als Ingenieur; er verzeichnete sogar ein halbes Dutzend Ingenieure des klassischen Altertums, von Kallios von Rhodos bis Kallimachos von Athen, der große Bronzegüsse zu machen verstand — so als wollte er seine Stellung als Nachfahre antiker Vorläufer dokumentieren. Mit einem Sinn für Geschichte, der späteren Ingenieuren fehlte, durchstöberte er die Annalen der Antike nach anregenden Hinweisen griechischer und persischer Ingenieure. Er verwies unter anderem auf die erstaunliche Tatsache, daß die Ägypter, die Äthiopier und die Araber die alte assyrische Methode anwandten. Weinschläuche aufzublasen, um Kamele und Soldaten beim Oberqueren eines Flusses über Wasser zu halten; und er empfahl den Bau unversenkbarer Schiffe für die Truppenbeförderung, gleichfalls nach einem alten assyrischen Vorbild.

In der Beschäftigung mit militärischen Dingen stand Leonardo nicht allein: Er war nur einer von vielen Erfindern in Italien, Frankreich und Deutschland, die sich alle der Kriegstechnik widmeten und Beschäftigung, wenn auch nicht volle Verwendung für ihren Erfindergeist bei absolutistischen Fürsten fanden, welche im kleinen der Machtfülle und den Ambitionen älterer Monarchen nacheiferten. Sie planten Kanäle mit Schleusen und Befestigungen; sie erfanden das Schaufelradboot, die Taucherglocke und die Windturbine. Schon vor Leonardo hatte Fontana das Fahrrad und den Panzerwagen erfunden (1420), und Konrad Keyeser von Eichstadt erfand sowohl den Taucheranzug (1404) als auch die Höllenmaschine.

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Man soll sich nicht wundern, daß die Nachfrage nach solchen Erfindungen nicht von der Landwirtschaft oder vom Handwerk kam; der Anreiz, wenn nicht die unmittelbare praktische Unterstützung, kam von dem gleichen soziotechnischen Machtkomplex, der die frühesten Megamaschinen geschaffen hatte: von Absolutismus und Krieg.

Leonardo kannte auch die frühe deutsche Methode, aus Federn, Arsen und Schwefel Giftgas herzustellen, das geeignet war, einer ganzen Garnison den Erstickungstod zu bereiten — eine gräßliche Erfindung des fünfzehnten Jahrhunderts, die ihre erste Anwendung durch dieselbe Nation im zwanzigsten Jahrhundert vorwegnahm. Wie andere Militäringenieure seiner Zeit spielte er mit der Möglichkeit von Panzerwagen mit Handantrieb, nicht zu reden von rotierenden Sensen, vor einem von Pferden gezogenen Wagen angebracht, um den Feind niederzumähen.

Man beginnt zu verstehen, wie kräftig der alte Mythos von unbegrenzter Macht in der Neuzeit wieder­erwachte, wenn man bedenkt, daß Leonardo, ein großzügiger, humaner Geist — so gütig, daß er auf dem Markt gefangene Vögel kaufte, um sie freizulassen —, sein Malen im Stich ließ und viel Energie auf militärische Erfindungen und destruktive Phantasien verwendete. Hätte er seine großartige technische Begabung für die Landwirtschaft eingesetzt, dann hätte er eine technische Revolution hervorgerufen, jener vergleichbar, die er mit seiner Erfindung des automatischen Webschützen tatsächlich eingeleitet hat.

Zum Unterschied von den überoptimistischen Propheten des neunzehnten Jahrhunderts, die mechanische Erfindung mit menschlichem Fortschritt gleichsetzten, waren Leonardos Träume von dem Bewußtsein getrübt, welcher Grausamkeit und mörderischen Bosheit manche seiner militärischen Instrumente dienen würden. Diese Schrecken vermischten sich in seinen Träumen mit künftigen Wundern, wie in der folgenden Prophezeiung: 

»Es wird den Menschen so scheinen, als ob sie eine neue Vernichtung am Himmel sehen, und sie werden vor dem herabfallenden Feuer die Flucht ergreifen und fliehen im Schrecken; sie werden Geschöpfe aller Arten menschliche Worte sprechen hören; sie werden in Augenblicksschnelle, ohne sich selbst zu bewegen, in verschiedene Teile der Welt eilen; inmitten der Dunkelheit werden sie strahlende Helle erblicken. Oh Wunder des Menschengeschlechtes! Welcher Wahnsinn hat euch so angetrieben!«

Auf die unklaren, zweideutigen Weissagungen von Leonardos Zeitgenossen Nostradamus können wir leicht verzichten; doch Leonardo selber brachte noch bemerkenswertere Prophezeiungen zu Papier, die Wissenschaft und Technik eines Tages erfüllen sollten. In seinen Notizen über Geisterbeschwörung übte er schonungslose Kritik an Leuten, die damals behaupteten, es gebe »unsichtbare Wesen« mit phantastischen, weltverändernden Kräften.

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Viele dieser Phantasien waren nichts anderes als frühe, unbewußte Projektionen natürlicher Kräfte, die später konkrete Form annahmen; und niemand schilderte die Wirkungen solcher Kräfte plastischer als Leonardo, selbst da, wo er deren Existenz bestritt: Sollten sich die Behauptungen der Geisterbeschwörer als richtig erweisen, schrieb Leonardo

»so gäbe es nichts auf Erden, das die Macht hätte, dem Menschen zu schaden oder zu nützen ... Wenn es wahr wäre ..., hätte man durch eine solche Kunst die Fähigkeit, die ruhige Helle der Luft zu trüben, sie in nächtliches Dunkel zu verwandeln, Gewitter und Sturm zu erzeugen, mit schrecklichen Donnerschlägen und Blitzen, die durch die Finsternis rasen, mit wilden Orkanen, die große Bauwerke umwerfen, Wälder entwurzeln, ganze Armeen zerschlagen und vernichten; schlimmer noch, verheerende Unwetter zu machen und damit dem Landmann die Früchte seiner Arbeit zu rauben.

Denn welche Methode der Kriegführung kann dem Feind solchen Schaden wie die Vernichtung seiner Ernte zufügen? Welche Seeschlacht wäre vergleichbar mit jener, in der einer über die Winde gebietet und verheerende Stürme hervorrufen kann, die jede Flotte verschlingen? Wahrlich, wer über solche unwiderstehliche Kräfte gebietet, wäre Herr über alle Völker, und keine menschliche Kunst wäre imstande, seiner Zerstörungsgewalt zu trotzen. Der vergrabene Schatz, die Juwelen, die im Schoße der Erde liegen, werden ihm offenbar sein; kein Riegel, keine noch so uneinnehmbare Festung wird Schutz gegen den Willen eines solchen Zauberers bieten. Er wird sich von Ost nach West durch die Luft tragen lassen, nach den fernsten Teilen der Welt. Aber warum fahre ich fort, Beispiel an Beispiel zu reihen? Was kann es denn geben, das von solch einem Mechaniker nicht vollbracht werden könnte? Nahezu nichts, außer dem Tod zu entrinnen.«

Was erscheint heute, im Licht der Geschichte, als das Bemerkenswertere? Diese Phantasien selbst, die aus dem Unterbewußten hervorströmten, ungehemmt von historischer Einsicht und Erfahrung, oder Leonardos Interpretation der möglichen sozialen Folgen, wenn die Prophezeiungen der Geisterbeschwörer sich als richtig erweisen sollten? Die erste Reaktion nahm im Traum ganz klar vorweg, was Jahrhunderte später zur schrecklichen Wirklichkeit wurde: eine Herrschaft über die Naturkräfte, die ausreicht, um totale Zerstörung zu bewirken. Zu Leonardos Ehre sei gesagt, daß er im voraus — fast fünf Jahrhunderte im voraus — die Implikationen dieser schrecklichen Träume erkannte. Er sah vorher, was totale Macht in den Händen von unerweckten und ungebesserten Menschen bedeutet, so klar, wie Henry Adams es vorhersah, kurz bevor es zur Wirklichkeit wurde.

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In seiner Verurteilung des nekromantischen Traums beging Leonardo einen einzigen Fehler: Er meinte, der Traum sei gegenstandslos, »denn es gibt keine körperlosen Wesen, wie die Geister­beschwörer behaupten«. Er konnte nicht als Wahrscheinlichkeit vorhersehen, was in seinen Tagen so fern jeder Möglichkeit schien — nämlich, daß die Wissenschaft wenige Jahrhunderte später diese unsichtbaren »körperlosen Wesen« im Zentrum ebenso unsichtbarer Atome entdecken würde. War diese Entdeckung erst einmal gemacht, dann erwies sich jedes Glied in Leonardos Gedankenkette als wohlbegründet.

Mit dieser Interpretation von Leonardos düsteren Prophezeiungen stehe ich nicht allein da; auch Leonardo selbst stand nicht allein, wie Kenneth Clark aufgezeigt hat. Clark sieht in Leonardos Sintflut-Zeichnungen eine Ahnung kosmischer Katastrophen, im Zusammenhang mit anderen apokalyptischen Spekulationen, die um das Jahr 1500 umgingen und Dürer veranlaßten, von einer ähnlichen kosmischen Katastrophe zu träumen und seinen Traum 1525 in einer Zeichnung festzuhalten. Diese Träume waren bedeutsamer als die verzerrten Gestalten und die trostlose Leere vieler moderner Gemälde: Denn diese sind kaum mehr als eine unmittelbare Übertragung sichtbarer physischer Zusammenbrüche und zerrütteter Geisteszustände. Sowohl Leonardos Projekte als auch seine Befürchtungen werfen ein Licht auf das, was folgte.

Im Laufe der nächsten vier Jahrhunderte wurden die Schreckensvisionen, die Leonardo seinen geheimen Notizen anvertraut hatte, scheinbar entkräftet; sie wurden von der scheinbar gewaltigen Zunahme methodischer wissenschaftlicher Deutung und konstruktiven technischen Fortschritts überlagert. Zumindest das reichere Bürgertum, das im Gegensatz zu Adel und Klerus an Zahl und Einfluß zunahm, konnte glauben, daß die Vorteile von Wissenschaft und Mechanisierung deren Nachteile bei weitem aufwiegen. Und gewiß, Tausende neue Erfindungen und unbestreitbare Verbesserungen bestärkten viele dieser Hoffnungen.

Näher besehen, waren die sozialen Folgen jedoch beunruhigender, als die Propheten des technischen Fortschritts zugeben wollten: Vom Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts an wogen die Verluste — zerstörte Landschaften, verschmutzte Flüsse, verpestete Luft, überfüllte, schmutzige Elendsviertel, Epidemien vermeidbarer Krankheiten, skrupellose Ausrottung alter Gewerbe, Zerstörung wertvoller historischer Baudenkmäler — die Gewinne auf. Viele dieser Übel wurden bereits in Agricolas Abhandlung über den Bergbau, De Re Metallica, festgestellt. Auf dem Höhepunkt der industriellen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts konnte John Stuart Mill, keineswegs ein Feind des technischen Fortschritts, in seinen Principles of Economics immer noch sagen, es sei zweifelhaft, ob der damalige Bestand an Maschinen den Arbeitstag auch nur eines einzigen Memschen erleichtert habe. Dennoch, viele Errungenschaften waren real; einige von ihnen sollten mit Recht Teil des festen Erbes der Menschheit werden.

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Während das Positive, das technische Erfindungen und kapitalistische Organisation verhießen, natürlich leichter vorherzusehen war als das Negative, gab es ein Übel, gigantischer als alle übrigen zusammen, das damals in Ermangelung ausreichender historischer Erkenntnisse keinesfalls vorauszusehen oder abzuwenden war: die Auferstehung der Megamaschine.

Mit dem Zusammenwirken aller Einrichtungen und Kräfte, die wir eben untersucht haben, war der Weg zur Einführung der Megamaschine gebahnt, in einem Ausmaß, das nicht einmal für Chephren oder Cheops, Naram-Sin, Assurbanipal oder Alexander vorstellbar gewesen wäre. Denn die Anhäufung technischer Einrichtungen hatte es schließlich möglich gemacht, den Wirkungsbereich der Megamaschine enorm zu vergrößern, indem die widerspenstigen und unsicheren menschlichen Komponenten schrittweise durch spezialisierte Präzisionsmechanismen aus Metall, Glas oder Plastik ersetzt wurden; diese Mechanismen waren besser als jeder menschliche Organismus geeignet, spezialisierte Funktionen mit unerschütterlicher Treue und Genauigkeit auszuführen.

Endlich war eine Megamaschine möglich geworden, die, einmal hergestellt, ein Minimum an menschlicher Kleinarbeit und Koordinierung erforderte. Vom sechzehnten Jahrhundert an wurde das Geheimnis der Megamaschine allmählich wiederentdeckt. In einer Reihe empirischer Versuche und Improvisationen, ohne recht zu wissen, auf welches Endziel die Gesellschaft zusteuerte, wurde dieser riesige mechanische Leviathan aus den Tiefen der Geschichte herausgefischt. Die Expansion der Megamaschine — ihres Reichs, ihrer Kraft und ihrer Herrlichkeit — wurde zunehmend das Hauptziel oder zumindest die fixe Idee des westlichen Menschen.

Fortschrittliche Denker begannen zu glauben, die Maschine könnte nicht nur als ideales Modell zur Erklärung und schließlich zur Beherrschung aller organischen Vorgänge dienen, sondern ihre Massen­fabrikation und ihre ständige Verbesserung allein vermöchte der menschlichen Existenz einen Sinn zu geben. Binnen einem oder zwei Jahrhunderten wurde das ideologische Fundament, auf dem die alte Megamaschine geruht hatte, in neuer und verbesserter Form wiederhergestellt. Kraft, Geschwindig­keit, Bewegung, Standardisierung, Massen­produktion, Quantifizierung, Reglementierung, Präzision, Gleichförmigkeit, astronomische Regelmäßigkeit, Kontrolle, vor allem Kontrolle — dies wurden die Losungsworte der modernen Gesellschaft neuen westlichen Stils.

Nur einer Sache bedurfte es noch, um all die neuen Komponenten der Megamaschine zu vereinen und zu polarisieren: der Geburt des Sonnengottes. Und im sechzehnten Jahrhundert, mit Kepler, Tycho Brahe und Kopernikus als Geburtshelfern, wurde der neue Sonnengott geboren.

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