Teil 2      Start    Weiter

3 - Das mechanisierte Weltbild  

Mumford-1970

 

 

   Denaturierte Umwelt 

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Der Kult des Sonnengottes verlieh jeder irdischen Manifestation von Ordnung, Regelmäßigkeit, Vorher­sag­bar­keit und — entsprechend der Position und dem Einfluß der Sonne — zentralisierter Macht die höchste Würde kosmischer Stimmigkeit und Richtigkeit.

Hinter diesem Kult lag eine alte Erkenntnis, deren Wahrheit die weitere wissenschaftliche Untersuchung demonstriert hat: daß die Lebenserscheinungen tatsächlich von fernen Kräften beeinflußt werden, von denen viele, etwa die kosmischen Strahlen, lange Zeit nicht wahrgenommen wurden und manche zweifellos noch zu entdecken sind — Kräfte, über die der Mensch wenig oder gar keine Macht hat. Was in diesem Bild ursprünglich fehlte, war die Einsicht, daß der Mensch selbst ein kosmisches Ereignis ist, sogar ein überragendes, und daß er geistige Kräfte besitzt, die nicht allein von der Sonne stammen, sondern aus einem eigenen hochentwickelten Wesen.

Die Astronomie bereitete den Boden für die große technische Transformation, die nach dem sechzehnten Jahrhundert vor sich ging; sie lieferte den Rahmen für ein entpersönlichtes Weltbild, in dem technische Aktivitäten und Interessen vor menschlicheren Problemen Vorrang hatten. Die Formung dieses Weltbilds war weitgehend das Werk von Mathematikern und Physikern, die zu den großen Leuchten aller Zeiten zählen. Die Reihe beginnt mit Kopernikus, Kepler, Galilei und Descartes und erreicht ihren Höhepunkt mit Leibnitz und Newton; deren systematische Darstellung von Raum, Zeit, Bewegung, Masse und Schwerkraft führte zu einer großen Verschiebung in der Technologie: von der Werkstatt zum Laboratorium, vom Handwerker-Künstler, der selbst Energiequelle und Formschöpfer war, zur komplexen kraftgetriebenen automatischen Maschine mit zentraler Steuerung und Fernkontrolle. Und dieses Weltbild, nicht nur einzelne technische Erfindungen, hat schließlich zur Apotheose der modernen Megamaschine beigetragen.

Die Zentralgestalt dieser glanzvollen Reihe war Galileo Galilei; er verkörperte in seiner Person die beiden Hauptattribute der neuen Wissenschaft: empirisches Wissen, basierend auf unmittelbarer Beobachtung, und theoretisches Wissen, basierend auf der Fähigkeit, Größen, Mengen, Relationen und Strukturen in abstrakte Symbole zu fassen und mit diesen zu operieren — eine Fähigkeit, die den Geist von den oft undurchdringlichen und unbeschreibbaren Verwirrungen des konkreten Seins befreite.


Galilei brachte Kopernikus auf die Erde herunter; doch indem er dies tat, verbannte er aus diesem neuen Reich gereinigten Wissens den Menschen so völlig, wie die neue Astronomie den gläubigen Christen aus seinem erhofften Himmel verbannt hatte.

In Anbetracht der Versteinerung der offiziellen Kirchendoktrin, die auf Aristoteles, gesehen durch die Brille Thomas von Aquins, beruhte, war Galileis Reaktion unvermeidlich und heilsam. Doch die Form, die sie annahm, war nicht nur ein berechtigter Angriff auf die Autorität des Aristoteles in Bereichen, wo eine befriedigendere Interpretation möglich war; sie zeigte sich auch indifferent in Fragen biologischen Verhaltens und menschlicher Erfahrung, in denen Aristoteles, als unmittelbarer Beobachter, immer noch mehr Einsicht bewies als jene, die Wissenschaft mit Mechanik und Organismen mit Maschinen gleichsetzten.

Aristoteles war kein mathematischer Physiker; und er veröffentlichte unhaltbare Aussagen über das Verhalten physikalischer Körper, ohne sich je der Mühe unterzogen zu haben, sie durch Experimente zu überprüfen. Ihn als unfehlbare Autorität auf allen Gebieten der Wissenschaft anzusehen, war außerdem ein bequemes Laster des offiziellen theologischen Denkens. In der mittelalterlichen Wissenschaft war unglücklicherweise der gedruckte Text, der ursprünglich vielleicht auf Erfahrung beruhte, an die Stelle dieser Erfahrung getreten und verhinderte jede weitere Forschung. Dies wird durch Galileis Erzählung in seinen Dialogen (Zweiter Tag) gut illustriert, wo er von einem Arzt spricht, der eine Leiche sezierte, um zu demonstrieren, daß das Nervensystem seinen Ursprung im Gehirn und nicht im Herzen hat — und dabei die Vielzahl der Nerven freilegte, die vom Gehirn ausgehen, und den einen Nerv, der vom Herzen kommt. Aber der anwesende Aristoteliker sagt angesichts dieses Beweises: »Du hast mir diese Sache so klar und einleuchtend gezeigt, daß ich, würde nicht der Text des Aristoteles das Gegenteil besagen ..., deine Auffassung als richtig anerkennen müßte.«

So hatten auch die starrköpfigen Doktoren gesprochen, denen Galilei in Padua gegenüberstand. Als das rationale Denken diesen Zustand der Leichenstarre erreicht hatte, in veraltete Texte einbalsamiert, war es höchste Zeit, solche Autoritäten zu Grabe zu tragen und wieder von vorn zu beginnen, sich denselben Stoff vorzunehmen wie frühere Beobachter, aber mit frischem, selbst­bewußtem Blick und kühnem Entdeckergeist.

So kam es denn zur Erneuerung der Wissenschaft; aber leider, anstatt so weite Bereiche zu umfassen, wie Aristoteles es getan hatte, erhielt die Erforschung der »physikalischen Welt« Vorrang vor der Erforschung der Natur des Lebens und seiner Umwelt.

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Aristoteles war der Philosoph der lebenden Organismen, die mit Selbständigkeit und Willen ausgestattet sind, fähig, sich zu organisieren und zu reproduzieren. Galilei und seine Schüler waren Philosophen der unbelebten Prozesse, die dann in den neuen Maschinen angewandt wurden.

Ich will mich nur mit dem Teil von Galileis Werk befassen, der das Gefühl des Menschen für seine Einzigartigkeit im Kosmos radikal wandelte und zur Ausnutzung aller Arten technischer Hilfsmittel beitrug.

Galilei griff eine Beobachtung auf, die sein jüngerer Kollege Kepler im ersten Band seiner Opera gemacht hatte, und entwickelte sie weiter. »Wie das Ohr dazu geschaffen ist, den Schall aufzunehmen«, bemerkt Kepler, »und das Auge, die Farbe wahrzunehmen, so ist der Geist geformt, nicht alles Mögliche, sondern Quantitäten zu verstehen. Er begreift ein gegebenes Ding um so klarer, in einem quantitativen Verhältnis, je näher es sich auf reine Quantitäten zurückführen läßt; je weiter aber ein Ding sich von Quantitäten entfernt, desto mehr Dunkelheit und Irrtum wohnen ihm inne.« Roger Bacon hatte in seinem Opus Majus, Teil IV, schon viel früher denselben Standpunkt vertreten: »Alles, was für die Physik notwendig ist, kann durch Mathematik bewiesen werden, und ohne diese ist es unmöglich, eine exakte Kenntnis der Dinge zu haben.« Aber in beiden Fällen wurde exaktes Wissen ausreichendem Wissen gleichgesetzt, und die auf Dinge anwendbare Wahrheit wurde ohne Erweiterung auf Organismen angewandt - obwohl das nur möglich war, indem diese zu Dingen reduziert wurden.

Im Prüfstein wiederholt Galilei Keplers Idee mit eigenen Worten. »Die Philosophie«, sagt Galilei, »steht in dem großen Buch, dem Universum, das unserer Betrachtung stets offensteht. Aber man kann das Buch nicht verstehen, wenn man nicht zuerst lernt, die Sprache zu begreifen und die Buchstaben zu lesen, aus denen sie zusammengesetzt ist. Es ist geschrieben in der Sprache der Mathematik, und seine Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, ohne die es unmöglich ist, auch nur ein einziges Wort davon zu verstehen; ansonsten irrt man in einem dunkeln Labyrinth umher.« Keplers Hinweis folgend, konstruierte Galilei eine Welt, in der nur die Materie zählte, während Qualitäten als immateriell galten und folglich als überflüssige Ausscheidungen des Geistes angesehen wurden.

Galilei stand Kepler, mit dem er einen regen freundschaftlichen Briefwechsel führte, geistig so nahe, daß er nicht ahnte, wieviele Trugschlüsse in dem enthalten waren, was beiden Denkern als ganz offensichtlicher Tatbestand erschien. Und noch heute sind ihre Ansichten so fest verwurzelt, ja allgemein als unangreifbare Axiome akzeptiert, daß ich es für notwendig halte, diese Irrtümer aufzuzeigen, ehe ich auf ihre Folgen eingehe.

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Glücklicherweise ist dieser Versuch durch die Kritik einer wachsenden Gruppe von Mathematikern, Physikern und Biologen erleichtert worden, von Stallo, Lloyd Morgan und Whitehead bis Planck, Schrödinger, Bohr und Polanyi; sie haben diese Analyse nicht nur vorweggenommen, sondern sie auch, jeder in seinem Bereich, weitergeführt.

Zunächst ist zu beachten, daß das »Universum«, von dem Galilei und Kepler sprachen, nur aus einzelnen physikalischen Körpern, bar jeden Lebens, bestand: aus toter Materie. Aber wir wissen heute, daß dieses völlige Fehlen von Leben — oder zumindest von potentiellem Leben — eine Illusion ist. Die Materie besitzt in der Zusammensetzung und in der innersten Struktur bestimmter Elemente die Fähigkeit, an einem fernen Punkt ihrer Entwicklung die Möglichkeit, »lebendig« zu werden, zu realisieren; und gerade mit der Entstehung lebender Organismen bildeten sich die Eigenschaften, die Galilei als subjektiv und unreal, weil nicht in mathematischen Begriffen beschreibbar, ablehnte. Es besteht in der Tat eine grundsätzliche Einheit zwischen dem astronomischen Kosmos und der Natur des Menschen: Das organische Leben entspricht kosmischen Periodizitäten, wie beispielsweise Tag und Nacht, den Mondphasen, dem Wechsel der Jahreszeiten, und reagiert zweifellos auf viele andere, noch unbekannte physikalische Veränderungen, denn der Mensch selbst ist an sich ein repräsentatives Modell des Kosmos. Daher hatte Galilei recht mit seiner Vermutung, daß die Sprache der Geometrie sogar das Verhalten von Organismen verstehen helfen würde, - wie es das Schema der Doppelschnecke im Aufbau der DNS zu unserer Zeit bekanntlich getan hat.

Aber kein Organismus könnte in der verdünnten Welt überleben, die die Physiker bis heute als die reale ansehen, im abstrakten Bereich von Masse und Bewegung — ebensowenig, wie der Mensch ohne reichliche Ausrüstung auf dem lebensfeindlichen Mond überleben könnte. Die wirkliche, von Organismen bewohnte Welt ist von buchstäblich unbeschreibbarer Reichhaltigkeit und Komplexität: eine lebensspendende Anhäufung von Molekülen, Organismen und Arten, von denen jede den Stempel zahlloser Funktionsanpassungen und selektiver Transformationen trägt, das Erbe von Milliarden Jahren Evolution.

Von diesen gewaltigen Transformationen ist nur ein verschwindend. kleiner Teil sichtbar oder auf eine mathematische Ordnung reduzierbar. Form, Farbe, Geruch, Gefühl, Gemütsbewegungen, Begierden, Triebe, Stimmungen, Vorstellungen, Träume, Worte, symbolische Abstraktionen — jene Vielfalt von Leben, die selbst das bescheidenste Lebewesen in gewissem Maße äußert, kann in keiner mathematischen Gleichung gelöst und in keine geometrische Metapher umgewandelt werden, ohne daß ein großer Teil der relevanten Erfahrung eliminiert wird.

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Der zweite Trugschluß in dem neuen mechanischen Weltbild ergab sich aus dem ersten, aus Galileis Zerstückelung des menschlichen Organismus; denn er behandelte den Geist, als ob er ohne alle die anderen Glieder des Körpers funktionieren könnte — als ob das Auge durch sich selbst sähe und das Ohr durch sich selbst hörte und als ob das Gehirn, gleichermaßen isoliert, in seinem vollkommensten Zustand für die spezialisierte Funktion des mathematischen Denkens bestimmt wäre.

Experimente in jüngster Zeit haben im Gegenteil bewiesen, daß das menschliche Gehirn, weit davon entfernt, die Begrenzungen eines Computers zu haben, der nur mit bestimmten Symbolen und exakten Bildern arbeiten kann, die wunderbare Fähigkeit besitzt, vage, undeutliche und ungeordnete Daten zu meistern, aus Informationen klug zu werden, die so unvollständig sind, daß sie einen Computer lahmen würden —, wie beispielsweise die Übersetzung einer langen Skala von Tönen, Lauten und Akzenten in die gleichen verständlichen Worte. Dieses Systematisierungsvermögen des menschlichen Geistes, mit seiner Fähigkeit, ständig symbolisch relevante Teile der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft miteinander zu verbinden, ist es, was es dem Menschen ermöglicht, mit gewissem Erfolg auf eine mannigfaltige Umgebung und eine offene Welt zu reagieren, statt sich, wie alle anderen Spezies, in einen sicheren Winkel zurückzuziehen, mit einem begrenzten Spielraum von Möglichkeiten.

Im Gegensatz zu Kepler kann man also mit vollem Recht sagen, daß das wissenschaftliche Weltbild, je weiter es sich von Schall, Farbe, Geruch und den tierischen Funktionen, aus denen sie abgeleitet sind, entfernt, desto unklarer wird, was die einzigartigen Eigenschaften von Organismen und menschlichen Wesen betrifft; obwohl viele Eigenschaften, die der Organismus tatsächlich mit physikalischen Körpern gemeinsam hat, auch nach Keplers Prinzipien erfaßt werden können.

Sowohl Kepler als auch Galilei meinten, daß Organismen erst dann sozusagen ehrenwerte Bürger im Reich der wissenschaftlichen Erkenntnis werden, wenn sie tot sind. Diese sonderbare dogmatische Diskriminierung lebender Phänomene hatte zuerst keine ungünstigen Auswirkungen auf die Entwicklung der experimentellen Physik und Mechanik; aber sie hemmte lange Zeit die biologische Forschung und führte sie in eine Sackgasse. Die Wissenschaftler haben fast drei Jahrhunderte gebraucht, um diese fehlerhafte Analyse zu durchschauen. 

Jüngste Experimente haben glücklicherweise, laut Lawrence Hinkle, bewiesen, daß die völlige Isolierung von qualitativen Reizen durch Licht, Farbe, Schall und Muskelspannung selbst unter Laboratoriums­bedingungen zu physischem Verfall führt; denn nur durch ständige Wechselwirkung mit seiner komplexen Umgebung, einschließlich seiner eigenen Organe, kann der empfindliche Geist des Menschen im Gleichgewicht gehalten werden. Wer Geschehnisse auf ihre quantitativen Elemente reduziert, ist unfähig, irgendeine Art organischen Verhaltens zu verstehen.

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Aus jener Auffassung folgte etwas, das Galilei kaum in Worte zu fassen gewagt hätte, selbst wenn er sich dessen bewußt gewesen wäre. Um die physikalische Welt und letztlich auch den Menschen, der in dieser Welt als ein bloßes Produkt von Masse und Bewegung existiert, zu verstehen, muß man die lebendige Seele eliminieren. Im Mittelpunkt des neuen Weltbildes existierte der Mensch nicht, ja er hatte keinen Grund zur Existenz: Anstelle des Menschen, eines Wesens mit einer langen Geschichte auf einem Planeten, dessen Bewohner und Lebensräume eine noch unermeßlich längere Geschichte haben, blieb nur ein Bruchstück übrig - der losgelöste Verstand, und nur gewisse besondere Produkte dieses sterilen Verstandes, wissenschaftliche Theorien und Maschinen, können einen permanenten Platz oder ein hohes Maß an Realität beanspruchen. Im Interesse der Objektivität eliminierte der neue Wissenschaftler den historischen Menschen und alle dessen subjektive Handlungen. Seit Galileis Zeiten ist diese Praxis als objektive Wissenschaft bekannt.

Durch seine ausschließliche Konzentration auf Quantität hat Galilei im Endeffekt die reale Welt der Erfahrung disqualifiziert; und er hat auf diese Weise den Menschen aus der lebenden Natur in eine kosmische Wüste vertrieben, noch gebieterischer, als Jehova Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben hatte. Aber in Galileis Fall lag die Bestrafung für den Genuß des Apfels vom Baum der Erkenntnis im Wesen der Erkenntnis selbst: Denn diese geschmacklose, vertrocknete Frucht war außerstande, Leben zu erhalten oder zu reproduzieren. Ein riesiges Gebiet der realen Welt, die Welt der lebenden Organismen, war aus dem Bereich der exakten Wissenschaften ausgeschlossen; die Prozesse und Gebilde, die am deutlichsten zu dieser Welt gehören, wurden zusammen mit Geschichte und Kultur des Menschen als »subjektiv« ignoriert, da nur ein winziger Teil auf abstrakte Empfindungen reduziert oder in mathematischen Begriffen beschrieben werden konnte. Nur Kadaver und Skelette waren geeignete Kandidaten für wissenschaftliche Behandlung. Zugleich wurde die materielle Welt, das heißt, die abstrakte Welt der physikalischen Objekte, die in ebenso abstraktem Raum und abstrakter Zeit operierte, so behandelt, als ob nur sie allein Realität besäße.

Welche Bedeutung diese Konzeption mit ihrer Vulgarisierung im zwanzigsten Jahrhundert erlangt hat, kann vielleicht am besten anhand von Buckminster Fullers krasser Beschreibung der Natur des Menschen demonstriert werden: eine Beschreibung, die, wäre sie nicht authentisch, zur Beschuldigung Anlaß geben könnte, ich hätte sie eigens erfunden, um die Plumpheit und Absurdität jener Auffassung aufzuzeigen. Der Mensch, sagt Fuller, ist

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 »ein sich selbst ausgleichendes 28gliedriges Anpassungszentrum auf zwei Füßen, ein elektro-chemisches Umspannwerk, angeschlossen an segregierte Lager von besonderen Energiedestillaten in Akkumulatoren zur jeweiligen Ingangsetzung von Tausenden hydraulischen und pneumatischen Pumpen und dazugehörenden Motoren; 100.000 Kilometer von Kapillaren, Millionen von Wärmesignalen, Eisenbahn und Transportsystemen: Brechmaschinen und Krane ... und ein überallhin reichendes Telephonsystem, das bei guter Behandlung siebzig Jahre lang kein Service braucht; der ganze außerordentlich komplexe Mechanismus wird mit genauester Präzision von einem Schaltturm aus geleitet, in dem sich teleskopische und mikroskopische, automatisch registrierende und aufzeichnende Entfernungsmesser, ein Spektroskop und so weiter befinden ...«

Fullers Parallelen stimmen genau; die Metapher ist äußerlich präzise, wenn man von den nichtssagenden, pseudo-exakten statistischen Schätzungen absieht. Nur eine Sache fehlt in dieser detaillierten Aufzählung mechanischer Abstraktionen — der leiseste Hinweis auf das Wesen des Menschen, außer seinen meßbaren physischen Komponenten.

Man kann vermuten, was Galilei zu dieser herzlosen Beschreibung gesagt hätte. In seiner persönlichen Lebensart war Galilei ein Musterbild barocker Kultur, mit ihrer blendenden Mischung aus Technischem und Sinnlichem, voll Freude an der viel­dimensionalen Welt. die er mit seiner intellektuellen Analyse selbst abgewertet und abgelehnt hat. Er war ein stürmischer Liebhaber und ein fruchtbarer Zeuger; und er verbannte erotische Leidenschaft, ästhetischen Genuß und poetisches Empfinden nur dann aus seiner Welt, wenn seine technischen und wissenschaftlichen Interessen im Vordergrund standen. Wie de Santillana versichert, war Galilei ebenso stolz auf seine literarischen Fähigkeiten als Humanist wie auf seine wissenschaftlichen Entdeckungen. Obwohl Galileis begrenzte Konzeption dazu beitrug, die Maschine als Grundmodell wissenschaftlichen Denkens zu etablieren, war seine Umgebung doch reich an traditionellen ästhetischen Formen, religiösen Ritualen und emotionell geladenen Symbolen; daher konnte er sich nicht vorstellen, wie die Welt aussehen würde, wenn man seine Kriterien allgemein akzeptierte und wenn es der Maschine und maschinell gefertigten Menschen gelänge, jedes organische Attribut zu denaturieren oder auszuschalten. Er konnte nicht ahnen, daß die letzte Konsequenz des mechanischen Weltbilds eine Umwelt wie die unsere sein würde: nur noch für Maschinen geeignet.

 

   Galileis Verbrechen  

 

Wohl wurde Galilei wegen seiner Interpretation der Planetenbewegungen von der römisch-katholischen Kirche der Ketzerei angeklagt, doch hatte er die Häresie, deren man ihn beschuldigte, nie ausgesprochen. Wie er am Schluß des Dialogs über zwei Welten klagend sagt, könnte er rechtens nicht für ein Verbrechen verurteilt werden, das er doch nie begangen hätte.

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Wie so viele seiner späteren prominenten wissen­schaftlichen Kollegen, beispielsweise Pascal, Newton und Faraday, war er in der Theologie ein Konservativer; und sogar in der Wissenschaft hatte er nicht die Absicht, irgendeinen revolutionären Umsturz alter etablierter Wahrheiten herbeizuführen; sein Fehler in dieser Hinsicht bestand eher in dem ungeschickten Versuch, das ptolemäische Lehrgebäude zu reparieren.

In Wahrheit aber beging Galilei ein viel schwererwiegendes Verbrechen als irgendeines, dessen die Würdenträger der Kirche ihn beschuldigten; sein wahres Verbrechen bestand darin, daß er die Totalität menschlicher Erfahrung - nicht nur die akkumulierten Dogmen und Doktrinen der Kirche - für jenen winzigen Teil austauschte, der in einer begrenzten Lebensspanne beobachtet und in Begriffen von Masse und Bewegung interpretiert werden kann, während er die Bedeutung der vom Menschen unmittelbar erfahrenen Realität leugnete, von der die Wissenschaft nur ein ideologisch aufbereitetes Derivat ist. Wenn Galilei die erlebte Realität in zwei Sphären teilte, in eine subjektive Sphäre, die er von der Wissenschaft ausschloß, und eine objektive Sphäre, die theoretisch von der sichtbaren Präsenz des Menschen befreit, aber durch streng mathematische Analyse erkennbar ist, dann ignorierte er, als vermeintlich unwesentlich und irreal, die kulturellen Voraussetzungen, welche die Mathematik - selbst ein rein subjektives Destillat - möglich gemacht hatten.

Fast drei Jahrhunderte lang folgten die Wissenschaftler der von Galilei gewiesenen Richtung. In dem naiven Glauben, von metaphysischen Vorurteilen frei zu sein, unterdrückten die orthodoxen Exponenten der Wissenschaft jede Äußerung menschlichen oder organischen Verhaltens, die nicht in ihr mechanisches Weltbild paßte. Damit begingen sie mit umgekehrtem Vorzeichen den Fehler der Kirchenväter, die jedes Interesse an der natürlichen Welt unterdrückt hatten, um sich auf das Schicksal der menschlichen Seele in der Ewigkeit zu konzentrieren. Daß Masse und Bewegung um nichts mehr objektive Realität besitzen als Seele und Unsterblichkeit, außer insofern, als sie von anderen menschlichen Erfahrungen abgeleitet sind, vermuteten nicht einmal jene, die nach der theologischen Mücke schnappten und den wissenschaftlichen Köder schluckten. Galilei hat in aller Unschuld das historische Erstgeburtsrecht des Menschen aufgegeben: die der Erinnerung werte, in Erinnerung behaltene Erfahrung, kurz, die akkumulierte Kultur. Indem er die Subjektivität verwarf, exkommunizierte er das zentrale Subjekt der Geschichte, den mehrdimensionalen Menschen.

Galilei beging diese Verbrechen leichten Herzens und offenen Auges. Er ahnte nicht, daß seine radikale Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Welt, zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Quantität

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und Qualität, zwischen dem, was mathematisch beschreibbar und somit erkennbar ist, und dem Unreduzierbaren, Unzugänglichen, nicht Analysierbaren und Unmeßbaren, eine falsche Unterscheidung ist, wenn die menschliche Erfahrung in ihrer symbolisierten Fülle — selber eine Ablagerung von Äonen organischen Lebens — nicht berücksichtigt wird.

Schlimmer noch war, daß Galilei einen Dualismus zwischen der objektiven und der subjektiven Welt einführte, der sogar noch krasser war als jener, den die christliche Doktrin herstellte, als sie das Himmlische, Vollkommene und Ewige vom Irdischen, Unvollkommenen und Sündigen trennte; denn der subjektive Himmel der Christen wurde wenigstens zu einem praktischen Bestandteil ihres täglichen Lebens, sichtbar gemacht in prächtigen Kirchen und Kathedralen, in guten Taten und öffentlichen Festen. In der antihistorischen utilitaristischen Ordnung, durch die das mechanische Weltbild Gültigkeit erhielt, war, was an subjektiver Erfahrung übrig 'blieb, durch den Verlust der Verbindung zur menschlichen Vergangenheit und das Fehlen kluger Vorsorge für die Zukunft verkümmert oder deformiert.

In der neuen wissenschaftlichen Ordnung war es die organische Welt, nicht zuletzt der Mensch selber, der der Erlösung bedurfte. Alle lebenden Formen müssen in Einklang gebracht werden mit dem mechanischen Weltbild, indem sie sozusagen eingeschmolzen und neu geformt werden, um einem vollkommeneren mechanischen Modell zu entsprechen. Denn die Maschine allein war die wahre Inkarnation dieser neuen Ideologie; wie kompliziert ein bestimmter Mechanismus in Wirklichkeit auch sein mag, er ist immer noch ein simples Artefakt, nicht zu vergleichen mit dem Mechanismus des menschlichen Körpers, wie Buckminster Fuller ihn beschrieben hat. Nur wenn der Mensch seiner organischen Komplexität entledigt, durch Abstraktion und intellektuelle Sterilisierung gereinigt, von seinen Eingeweiden befreit in ideologische Mumientücher gehüllt wurde, könnte er so makellos und fertig - fertig in jedem Sinn! - werden wie seine neuen mechanischen Artefakte. Um sich vom Organischen, Autonomen und Subjektiven zu befreien, muß der Mensch sich in eine Maschine verwandeln, besser noch in einen integralen Bestandteil einer größeren Maschine, die mit Hilfe der neuen Methode geschaffen werden soll.

Diese Auffassung wurde seltsamerweise nicht einmal den physikalischen Eigenschaften der Naturerscheinungen gerecht, wie Kepler bald erkannte, als er über die komplexe Geometrie einer Schneeflocke nachdachte und feststellte, daß ganz so, als ob Vernunft am Werke wäre, eine ähnliche Ordnung auch andere Teile der Natur beherrscht, etwa die Struktur einer Blume. Selbst Atome, sagen die Physiker heute, haben ein Inneres, dem Auge unzugänglich, rätselhaft für den Geist; und jedes atomare Element hat seinen bestimmten Charakter, der von Zusammensetzung und Anordnung seiner verschiedenen hypothetischen Partikel oder Ladungen abhängt.

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 Eine immanente Tendenz zu Organisierung und Verbindung scheint also schon auf der untersten Stufe des Seins, Milliarden Jahre vor der Entstehung des Lebens, vorhanden gewesen zu sein; eine tiefe Einsicht, die bereits von Leibnitz und Stallo ausgesprochen, aber allzu lang ignoriert wurde.

Dazu kommt, daß diese allerkleinsten Teilchen sich jeder direkten Beobachtung entziehen; was also zuinnerst und unzugänglich ist, sogar in der Physik, kann nicht als irreal, viel weniger noch als subjektiv bezeichnet werden, wie gut gehütet sein Geheimnis auch sei. Kurz, das Innere ist ebenso objektiv wie das Äußere. Man muß kein Chirurg sein, um objektiv feststellen zu können, daß alle lebenswichtigen inneren Organe in einem Lebewesen vorhanden sind — von der Möglichkeit einer Extirpation oder einer künstlichen Ersetzung abgesehen. Was wir als die Außenwelt bezeichnen, ist ein notwendiger Bestandteil der Innenwelt jedes Organismus; und nur indem der Organismus jene bis zu einen gewissen Grad internalisiert, kann er am Leben bleiben.

Diese ganze kritische Analyse wäre ein Einrennen offener Türen, hätten nicht die ursprünglichen Fehlkonzeptionen und Fehl­interpretationen ein schweres Erbe an Vorurteilen und Irrtümern im wissenschaftlichen und mehr noch im allgemeinen Denken und in der technologischen Praxis hinterlassen. Gewiß, das mechanische Weltbild, wie es ursprünglich von Kepler, Galilei, Descartes, Newton und Boyle entworfen wurde, wird von der modernen Wissenschaft schon lange nicht mehr akzeptiert; durch die Überlegungen und Experimente von Faraday, Clerk Maxwell, Planck und ihren Nachfolgern ist jeder Teil der klassischen physikalischen Welt entmaterialisiert worden — unstofflicher, subtiler, komplexer und deshalb letztlich unerfaßbarer als je zuvor —, aber auch eher geeignet, mit der Komplexität und den Geheimnissen des Lebens in Einklang gebracht zu werden. Das Weltbild des siebzehnten Jahrhunderts mit seinen kreisenden Planeten, schwingenden Pendeln, sausenden Kanonenkugeln, fallenden Steinen und harten Atomkügelchen umfaßt nicht mehr alles beobachtbare oder begreifbare Sein; denn elektro­magnetische Strahlung, die sich in alle Richtungen ausbreitet, kann nicht auf eine zweidimensionale Fläche projiziert werden, und die kleinsten physikalischen Phänomene sind, wie die Physiker sagen, überhaupt nicht mehr optisch vorstellbar.

Trotzdem trägt das Weltbild des Wissenschaftlers auch heute noch den verblaßten Stempel Galileis und Keplers; denn es ist, wie Schrödinger feststellte, nach wie vor ohne »Blau, Gelb, Bitter, Süß, Schönheit, Freude, Kummer« — kurz, ohne die höchst lebendigen Elemente menschlicher Erfahrung. Existentiell ist das wissenschaftliche Weltbild immer noch unterdimensioniert; denn es eliminierte von Anfang an den lebenden Beobachter und die lange Geschichte, die in seinen Genen und in seiner Kultur aufgezeichnet ist.

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Leider entwerteten die methodischen Fortschritte in exakter Beschreibung und Tatsachentreue, die im siebzehnten Jahrhundert erzielt wurden, jeden Aspekt menschlicher Erfahrung, der nicht mit diesen Methoden untersucht werden konnte; und ihr Endergebnis war die Eliminierung aller anderen Produkte und Nebenprodukte der menschlichen Persönlichkeit; so daß die technologische Welt, die sich rühmte, die menschliche Persönlichkeit reduziert oder verdrängt zu haben, allmählich sowohl die Natur als auch die Kultur ersetzte und sogar einen höheren Status beanspruchte, als konkretes Arbeitsmodell der wissenschaftlichen Wahrheit.

»Im Jahre 1893«, erinnert uns Loren Eiseley, »stellte Robert Monro in einer Eröffnungsansprache vor der Britischen Gesellschaft für den wissenschaftlichen Fortschritt salbungsvoll fest: ... Phantasie, Konzeptionen, Idealisierungen, die moralischen Kategorien ... lassen sich mit Parasiten vergleichen, die auf Kosten ihrer Nachbarn leben!« Den Weg zu dieser Entwertung und späteren Verbannung der menschlichen Persönlichkeit gewiesen zu haben, war das wirkliche Verbrechen Galileis.

 

   Einzelheiten des Verbrechens 

 

Der große Vorteil von Galileis Methode, sobald sie allgemein angewandt wurde, bestand darin, daß sie einen wichtigen Teil der sichtbaren Welt der systematischen, kontrollierbaren Beobachtung erschloß, wobei die Methode selber - allen zugänglich, die sie zu meistern vermochten - die Ergebnisse außer Streit stellte. Positive Wissenschaft, in dem Sinne, wie Galilei sie exemplifizierte, war eine Reaktion auf die mittelalterliche Vorstellung, daß man zu jenen Wahrheiten, die nicht durch göttliche Offenbarung gegeben waren, durch rein verbale Auseinandersetzung zwischen opponierenden Standpunkten in offener Debatte gelangen könnte. Dies ist die dialektische Methode, die immer noch vor Gericht Anwendung findet; sie fördert persönliche Überzeugungs­kraft und forensische Beredsamkeit, sinkt aber im Laufe des Streits sehr leicht auf das Niveau verbalen Feuerwerks und bösartigen Gezänks herab. Wie Renaudot, ein französischer Populärwissenschaftler des siebzehnten Jahrhunderts, es formulierte: Solche Diskussionen »verdunkelten nicht nur alle Kunst und Freude der Rede, sondern endeten für gewöhnlich auch in Geschrei und kleinlichen Beleidigungen«.

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Galilei verdient daher die ihm zuteil gewordene Anerkennung für seinen Beitrag zur Entwicklung einer Methode, die es kritischen Geistern ermöglicht, ihre persönlichen Vorurteile und Denkfehler zu korrigieren und durch gewissenhafte Beobachtung und wohlgeplante, klug interpretierte Experimente zu allgemeinen Schlußfolgerungen zu gelangen, welche jeder überprüfen kann, indem er den Vorgang wiederholt. Nicht bloß Argumentation, sondern Vernunft, nicht nur brillante Intuition, sondern die Bescheidenheit, Mitwirkung oder gegenteilige Entdeckungen anderer zu akzeptieren, die unter der gleichen geregelten Disziplin arbeiten —, das waren die großen moralischen Errungenschaften der neuen wissenschaftlichen Methode; und mit der Zeit ging diese versöhnliche intellektuelle Höflichkeit von der Wissenschaft auf andere Bereiche über. Das hohe Ansehen, dessen der Beruf des Wissenschaftlers sich früher mit Recht erfreute, war zum großen Teil dieser selbstlosen Objektivität zu verdanken, dieser geistigen Aufgeschlossenheit, dieser Bereitwilligkeit, unhaltbare Hypothesen fallenzulassen, Irrtümer zu korrigieren — ja sogar grundlegende Postulate zu revidieren: kurz, dem Fehlen eigensüchtiger Motive und subjektiver Leidenschaften.

Diese neue Disziplin setzte sich nicht leicht durch. Aus der Art des Widerstandes, auf den Galilei stieß, können wir schließen, wie notwendig seine Neuerungen waren. »Ach, mein lieber Kepler«, schrieb Galilei an seinen Kollegen, »wie wünsche ich mir, daß wir herzlich miteinander lachen könnten! Hier in Padua ist ein Dekan der Philosophie, den ich wiederholt dringend ersuchte, durch mein Glas den Mond und die Planeten zu betrachten, was er beharrlich ablehnt.«

Dieser Gebrauch der Augen hatte, wie wir gesehen haben, mindestens dreihundert Jahre früher begonnen; namentlich bei dem Franziskanermönch Roger Bacon, der bemerkte: »Wer sich, ohne zu zweifeln, an der Wahrheit, die den Erscheinungen zugrunde liegt, erfreuen will, muß zu experimentieren wissen. Die Autoren stellen viele Behauptungen auf, und die Leute glauben ihnen, auf Grund der Argumente, die sich auf keine Erfahrung stützen. Ihr Inhalt ist gänzlich falsch. Allgemein glaubt man, der Diamant könne nur mit Ziegenblut gebrochen werden, und Philosophen und Theologen mißbrauchen diesen Glauben. Aber das Brechen mit Hilfe von Blut ist nie erwiesen worden, obgleich der Versuch gemacht wurde; und ohne dieses .Blut kann er leicht gebrochen werden; ich habe dies mit eigenen Augen gesehen.«

»Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen«. Das war der neue Ton, den Galilei und seine Nachfolger nun nachdrücklicher und entschiedener anschlugen. Sobald die Methode sich durchgesetzt hatte, wurden Engel, Teufel, Geister — für den ungläubigen Beobachter unsichtbar — suspekt, sofern solche Wesen nicht in wissenschaftlicher Verkleidung als Phlogiston oder Äther in das mechanische Weltbild eingeschmuggelt wurden. Jeder wahre Wissenschaftler wurde von Berufs wegen ein ungläubiger Thomas, wie jener Jünger, der die Wunden Jesu selber zu sehen verlangte, ehe er an dessen Auferstehung glaubte.

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Die Befriedigung des Verlangens nach authentischer Information wurde durch die systematische Erschließung der zwei von uns bereits erörterten Neuen Welten — der geographischen und der mechanischen — ermöglicht. Und für diese Änderung der Geisteshaltung, zu der Galilei beigetragen hat, gebührt ihm unsere besondere Hochachtung. Leider akzeptierte Galilei, als er diese Ergebnisse erzielte und ihnen einen strenger objektiven Charakter zu geben versuchte, Keplers unbegründete Ansicht, das Gehirn sei ein spezialisiertes, besonders für die Handhabung mathematischer Information geeignetes Organ; und um eine solche verständliche Ordnung zu erreichen, müßten alle anderen Informationswege verschlossen werden.

»Sobald ich mir«, schrieb Galilei, »eine Vorstellung von einem Material oder einer körperlichen Substanz bilde, empfinde ich zugleich die Notwendigkeit, zu begreifen, daß sie Grenzen von der einen oder anderen Art hat; daß sie relativ zu anderen groß oder klein ist, daß sie an diesem oder jenem Ort, in dieser oder jener Zeit, existiert; daß sie in Bewegung oder in Ruhe ist; daß sie einen anderen Körper berührt oder nicht berührt; daß sie einzigartig, selten oder häufig ist; und von diesen Eigenschaften kann ich sie durch keinerlei Vorstellungsakt trennen. Aber ich fühle mich nicht absolut gezwungen, es als notwendig anzusehen, daß sie weiß oder rot, bitter oder süß, laut oder still, angenehm oder übelriechend ist; und wenn die Sinne uns diese Eigen­schaften nicht vermittelten, könnten Sprache und Vorstellung allein nie zu ihnen gelangt sein. Deshalb denke ich, daß diese Sinne, Gerüche, Farben und so weiter in bezug auf das Objekt, in dem sie zu wohnen scheinen, nicht mehr als bloße Namen sind. Sie existieren nur im empfindenden Körper, denn wenn das Lebewesen entfernt wird, sind alle diese Eigenschaften weggerafft und zerstört ..... Ich glaube nicht, daß in äußeren Körpern irgend etwas existiert, das Geschmack, Gerüche, Geräusche und so fort erregt, nur Größe, Form, Menge und Bewegung.«

Diese Ansicht war notabene kein Resultat experimenteller Beweisführung; sie beruhte einzig auf den Postulaten der Astronomie und der Mechanik, ergänzt durch eine Denkoperation des Beobachters, die alle physiologischen Daten eliminierte, bis auf jene, die notwendig waren, um Größe, Gewicht, Kraft oder, noch abstrakter, Masse und Bewegung zu beschreiben. Nicht bloß Menschen und Organismen, sondern auch die chemischen Elemente - damals noch nicht entdeckt und beschrieben -fehlten in Galileis Universum. »Ich denke«, sagte Galilei, als er an anderer Stelle auf diesen Gedanken zurückkam, »wenn Ohren, Zunge und Nase entfernt würden, dann würden Formen und Zahlen bleiben, nicht aber Gerüche, Geschmack oder Geräusche.« Aber warum machte er in seiner Denkoperation bei Ohr, Zunge und Nase halt?

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Was würde aus Form, Zahlen und Bewegung werden, wenn man auch Augen, Hände und Gehirn entfernte? Absolute Daseins­formen, die an sich existieren, sind nur plausible Fiktionen des menschlichen Hirns: Alles, was als »real« bezeichnet werden kann, ist das Ergebnis einer Vielzahl ununterbrochener Transaktionen und Wechselbeziehungen zwischen dem menschlichen Organismus und der Umwelt.

Galilei hat nie erklärt, warum seine sogenannten primären Eigenschaften - Größe und Form - eher greifbare Existenz besitzen sollten als Farbe und Geruch, wenn das menschliche Gehirn, das auf sie reagiert und die Phänomene in Symbole übersetzt, verschwände. Galilei stellte sich auch nicht die ebenso knifflige Frage, wie Masse und Bewegung auch nur die Illusion von Eigenschaften hervorbringen könnten. All die vermeintlich objektiven Komponenten der physikalischen Welt sind nur Schlußfolgerungen - heute, zumindest was den Menschen betrifft, sehr wahrscheinliche Schlußfolgerungen aus einer Vielzahl historischer und individueller Erfahrungen.

Galileis mechanische Welt war nur eine partielle Darstellung einer begrenzten Anzahl von wahrscheinlichen Welten, deren jede einer bestimmten Art von Lebewesen entspricht; und alle diese Welten sind nur ein Teil einer unendlichen Zahl möglicher Welten, die einmal existiert haben oder noch existieren mögen. Doch so etwas wie eine einzige Welt, die allen Spezies zu allen Zeiten, unter allen Umständen gemeinsam wäre, ist eine rein hypothetische Konstruktion, aus jämmerlich unzureichenden Daten gefolgert; sie wird geschätzt, weil sie Stabilität und Verständlichkeit verspricht, obgleich dieses Versprechen sich bei genauer Betrachtung als Illusion erweist. Ein Schmetterling oder ein Käfer, ein Fisch oder ein Huhn, ein Hund oder ein Delphin würden selbst die primären Eigenschaften jeweils anders beschreiben, denn jedes dieser Tiere lebt in einer Welt, die durch die Bedürfnisse und Möglichkeiten seiner Spezies bedingt ist. Im Blickfeld des Hundes spielen Gerüche, nahe und ferne, schwache oder aufreizend starke, vermutlich die Rolle, die Farben in der Welt des Menschen spielen - wenngleich bei der primären Beschäftigung des Essens die Welt des Hundes und die Welt des Menschen einander näherkommen.

Was für den biologischen Hintergrund gilt, das gilt gleichermaßen, und vielleicht sogar noch mehr, für die menschliche Kultur, wie eine ganze Reihe von Gelehrten, von Immanuel Kant bis Benjamin Whorf, in der einen oder anderen Form zu zeigen trachteten. Die einzige Welt, in der sich menschliche Wesen mit gewissem Vertrauen bewegen, ist nicht Galileis objektive Welt primärer Eigenschaften, sondern die organische Welt, modifiziert durch menschliche Kultur, das heißt, durch die Symbole von Ritual und Sprache, durch die verschiedenen Künste, durch Werkzeuge,

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Utensilien und praktische Tätigkeit, durch geotechnische Transformation von Landschaften und Städten, durch Gesetze, Institutionen und Ideologien. Sobald man eine andere Epoche betrachtet oder in einen anderen Kulturkreis eintritt, verschwinden die subjektive Vertrautheit und die scheinbare Objektivität: Ungleichheiten, Anomalien, Unterschiede, Widersprüche offenbaren sich, und mit ihnen der nicht reduzierbare Reichtum menschlicher Erfahrung und die unerschöpfliche Verheißung menschlicher Möglichkeiten. All dies läßt sich nicht in ein einzelnes System zwängen.

Als Galileis Nachfolger dieses unermeßliche kulturelle Erbe auf das Meßbare, das Objektive, das Kontrollierbare und das Wiederholbare reduzierten, verfälschten und verhüllten sie nicht nur die grundlegenden Fakten der menschlichen Existenz, sondern beschnitten auch die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Schlimmer noch, sie schufen gespaltene Persönlich­keiten, deren privates, subjektives Leben, den akzeptierten Postulaten zufolge, ihr öffentliches, objektives Leben weder beeinflussen noch von ihm beeinflußt werden konnte. Im neunzehnten Jahrhundert riß diese Spaltung eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem Künstler und dem Wissenschaftler auf, eine Kluft, die nicht einfach nach Lord Snows Rezept dadurch geschlossen werden kann, daß man den Künstler empfänglicher für die Wissenschaft macht.

Galileis Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften war, wie er glaubte, eine Unterscheidung zwischen verifizierbarer Realität und bloßer sensorischer Illusion. Jene war ein Aspekt, der durch die Himmelskörper beglaubigt und vom Menschen unabhängig war, während diese eine untergeordnete Art von Erfahrung war, da sie auf subjektiven Äußerungen sterblicher Menschen beruhte. Dies war eine fehlerhafte Unterscheidung: Objekt und Subjekt lassen sich nicht trennen.

Zorn beispielsweise ist ein privater, subjektiver Zustand, insofern er direkt das Bewußtsein beeinflußt; er wird öffentlicher, aber nicht realer, wenn er von außen her erkennbar ist, am Tonfall der Stimme, an der Gesichtsfarbe und an der Kontraktion der Muskeln; und dies kann, wenn nötig, mit Hilfe von Apparaturen noch stärker objektiviert werden, indem man den Blutdruck und den Puls mißt und den Adrenalin- und Zuckergehalt des Blutes analysiert. Beide Aspekte des Zorns sind real; aber die öffentliche Äußerung wäre nicht eindeutig ohne Bezug auf den persönlichen emotionalen Zustand, der diese Erscheinungen begleitet, da ähnliche körperliche Veränderungen auch durch Angst hervorgerufen werden. Nach pseudo-objektiven Kriterien wären Zorn und Angst praktisch identisch, außer daß in manchen Fällen - doch nicht immer oder unbedingt — jener zum Angriff und diese zur Flucht führt.

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Auch Galileis Glauben an die objektive Realität der Formen, ohne Bezugnahme auf den Beitrag des Beobachters, besitzt keine Grundlage. Die Grenzlinien, die Galilei als Beweis für unabhängige Objektivität so klar ins Auge faßte, verschwinden, sobald man das elektromagnetische Feld in Betracht zieht, so wie die glatten Schneiden eines scharfen Messers unter dem Mikroskop schartig erscheinen. Bei höheren Organismen, besonders beim Menschen, impliziert die Erfahrung der Realität ein ständiges Oszillieren zwischen dem inneren und dem äußeren, dem subjektiven und dem objektiven Bereich, und diese Realität wird durch eine einseitige Betrachtung nicht nur eingeschränkt, sondern auch verfälscht. »Die Natur umfaßt«, wie Adolf Portmann klug bemerkt, »jeden Aspekt des Lebens - die subjektive Erfahrung nicht weniger als die Struktur.«

Überflüssig zu sagen, daß nicht Galileis Eintreten für die primären Eigenschaften und die mathematische Analyse allein das mechanische Weltbild hervorgebracht hat: In die gleiche Kerbe schlugen die theoretischen Veröffentlichungen und die praktischen Experimente einer Reihe von Wissenschaftlern, die, weit davon entfernt, Galileis Vorurteile zu korrigieren, bewußt einen großen Teil der menschlichen Erfahrung aus dem Reich der Wissenschaft verbannten.

Die Dokumente, die das allgemeine Bekenntnis zum mechanischen Weltbild erkennen lassen, sind so zahlreich, daß ich nur ein Beispiel aus dem achtzehnten Jahrhundert als Beispiel herausgreifen will.

Die klassische Zusammenfassung der Konzeption Galileis stammt von David Hume, einem brillanten Denker, der, unter dem Schein eines absoluten Skeptizismus, die neue Weltanschauung zum Dogma erhob. »Sehen wir, von diesen Prinzipien durchdrungen, die Bibliotheken durch«, sagt Hume, »welche Verwüstungen müssen wir da nicht anrichten? Greifen wir irgendeinen Band heraus, etwa über Gotteslehre oder Schulmetaphysik, so sollten wir fragen: Enthält er irgendeinen abstrakten Gedankengang über Größe und Zahl? Nein. Enthält er irgendeinen auf Erfahrung beruhenden Gedankengang über Tatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werft ihn ins Feuer, denn er kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten.«

Für jene, die diese Anweisung ernst nahmen, war es ein Leichtes, jede Art von Theologie und Metaphysik bis auf ihre eigene auszuradieren, was sie fälschlich für gesunden Menschenverstand und Realitätssinn hielten. Erlebte und aufgezeichnete Geschichte erlitt das gleiche Schicksal. Nach Humes eigenen Begriffen wäre seine Geschichte Englands als eines der ersten Werke der Vernichtung verfallen. Die Wissenschaft verlor tatsächlich so völlig jeden Respekt vor dem nicht unmittelbar Wahrnehmbaren oder nicht Wiederholbaren, daß erst in jüngster Zeit die Wissenschaftler und Technologen begonnen haben, sich für ihre eigene Geschichte zu interessieren.

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Mehr als ein Wissenschaftler hat neuerdings erklärt, kein Werk, das älter sei als zehn Jahre, verdiene Beachtung. Dies verrät mehr als die maßlose Selbstüberschätzung der Wissenschaftler, die durch die großen theoretischen und experimentellen Fortschritte der letzten Generation bewirkt wurde; es zeugt von dem Versuch, einen entscheidenden Teil der organischen Erfahrung zu diskreditieren: das Gedächtnis, das die Kontinuität mit einer längeren Vergangenheit und einem weiteren Umkreis herstellt, als ein auf einen Zeitraum von zehn Jahren beschränktes Denken umfassen kann.

Diese Geisteshaltung war schuld daran, daß man nur zögernd Faradays tiefe Einsicht in die elektronischen Aspekte der Materie gefolgt ist, und sie erklärt, wieso der Computer erst so spät von Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelt wurde, die die Erfindung zumindest eine Generation früher hätten machen können, hätten sie je von Babbages Rechenmaschine gehört. Auf einer niedrigeren Stufe erklärt dieselbe Geisteshaltung die antisubjektiven Ansichten des Verhaltenspsychologen B. F. Skinner, der in Walden Two erklärt: »Wir nehmen die Geschichte nicht ernst.« Und kein Zweifel: Hätte der Mensch keine Geschichte, dann würden die Skinners die Welt regieren, wie Skinner selber es in seiner behavioristischen Utopie bescheiden vorgeschlagen hat.

 

   Bestätigung durch die Maschine 

 

Die neue wissenschaftliche Weltanschauung hat zwei Entwicklungen, die bereits in der Gesellschaft wirkten und zum Teil für das erneute Interesse an der Wissenschaft verantwortlich waren, aufgegriffen und Weiterentwickelt. Die eine war die Erfindung und Vermehrung von Maschinen, die aus präzise zusammengesetzten, genau bemessenen, standardisierten und ersetzbaren Teilen bestanden, wie bei der mechanischen Uhr und der Druckerpresse. Die .andere Entwicklung war die erweiterte Verwendung von gemünztem Geld, einheitlich geprägt von Maschinen, die auf die zunehmende Praxis zurückzuführen war, den Preis — eine abstrakte zahlenmäßige Bezeichnung in bezug auf Gewicht oder Anzahl — an den zum Verkauf angebotenen Gütern anzubringen. Die Maxime von Franklins Armem Richard, »Zeit ist Geld«, symbolisierte diesen Wandel; und die Transaktionen der Wissen­schaft glichen jenen des Marktplatzes insofern, als beide ein neutrales Tauschmittel brauchten.

Als die Technik sich entwickelte und die wissenschaftliche Theorie dank weiterer experimenteller Verifizierung adäquater wurde, wuchs der Anwendungsbereich der neuen Methode, und mit jedem neuen Beweis ihrer Leistungsfähigkeit verstärkte sie das schwache theoretische Schema, auf dem sie beruhte.

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Was im astronomischen Observatorium begann, endete schließlich in unserer Zeit in der programmgesteuerten, automatisch arbeitenden Fabrik. Zunächst schloß der Wissen­schaftler sich selbst und damit einen Gutteil seiner organischen Fähigkeiten und historischen Bindungen aus dem Weltbild aus, das er konstruiert hatte. Mit dem Eindringen dieser Denkweise in alle Bereiche wird der autonome Arbeiter, selbst in seiner eingeschränkten technischen Funktion, nach und nach aus dem Produktionsprozeß ausgeschaltet. Schließlich wird der Mensch, falls diese Postulate unwidersprochen und die institutionellen Prozeduren unverändert bleiben, von jeder sinnvollen Beziehung zur natürlichen Umwelt und zu seinem eigenen historischen Milieu abgeschnitten werden.

Die Urheber des mechanischen Weltbilds sahen viele moderne Erfindungen und Entdeckungen voraus und waren leidenschaftlich bemüht, sie zu verwirklichen: doch die erschreckenden gesellschaftlichen Folgen ihrer Bemühungen konnten sie nicht einmal spekulativ vorhersehen.

Unmittelbar hatte die neue Denkweise mit ihren affektfreien Aussagen zeitweilig sogar günstige Folgen, weil sie die überhitzte Atmosphäre theologischer Kontroversen, die Reformation und Gegenreformation hinterlassen hatten, abkühlte. Das Interesse der Dichter an der Wissenschaft, von Milton und Johnson bis Shelley und Wordsworth, Whitman und Tennyson, zeugt von der befreienden Wirkung des neuen Weltbilds; denn Dichter, erinnert uns Homer, erzählen uns von Dingen, wie sie wirklich sind. Denker, die über das Wesen des Kosmos und die letzten Dinge des Menschen uneins waren, kamen einander näher durch ihre Anerkennung des neuen Weltbilds und der neuen Maschinen, die dieses Bild in funktionierende Wirklichkeit, nützliche Produkte und soziale Verbesserungen übersetzten. Dies war natürlich ein Gewinn.

Allgemein nützlich an dieser Einstellung zur Außenwelt war ihre ständige Bezugnahme auf gemeinsame Erfahrungen, an denen jeder in gewissem Grad teilhaben konnte; und sie gab dem Menschen Vertrauen in seine Fähigkeit, das Wirken der Natur zu verstehen. Der Verstand konnte sich nicht länger mit imaginären Landkarten, phantastischen Geschichten, Erklärungen aus zehnter Hand, liebgewonnenen Halluzinationen zufriedengeben, wie sie noch im Mittelalter vorherrschten und damals von allen außer den kritischsten Denkern akzeptiert wurden. Exaktes Wissen, wenn auch allzusehr isoliert und einseitig, war besser als verworrenes und unexaktes Wissen, das sich anmaßte, alles zu erfassen. Die Nützlichkeit solchen Wissens hat zeitweilig die grundsätzlichen Irrtümer ausgeglichen, wenn nicht aufgehoben. So bedeutete im siebzehnten Jahrhundert die Verwendung des Thermometers zur Messung der Körpertemperatur — ein Vorschlag Galileis an Sanctorius — eine diagnostische Hilfe für die Medizin, wie das Thermometer und das Barometer auch die ersten quantitativen Anhaltspunkte zur Beschreibung und Vorhersage des Wetters lieferten.

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Alle diese Errungenschaften machten das mechanische Weltbild im höchsten Maße plausibel; und viele seiner Teile sind es zum Glück noch immer. Von nun an sollten Quantität oder Größe in allen Bereichen zu einem notwendigen Bestandteil jedes qualitativen Urteils werden. Bis zu einem bestimmten Punkt bestätigte die neue Methode also sich selber. Erst als ihre Konzentration auf Quantität bis zur Ausschließung der Qualität und ihre Konzentration auf spezialisiertes Wissen bis zur Ausschließung von Form, Struktur, funktioneller Organisation und Anlage ging, wurde die Betonung der sogenannten primären Eigenschaften zu einem Hemmnis. Jene, die das mechanische Weltbild weiterentwickelten, ignorierten Leibnitz' wichtige Unterscheidung zwischen exaktem und adäquatem Wissen und gaben sich allzu leicht mit Exaktheit zufrieden, selbst um den Preis der Auslassung oder gar der Ableugnung relevanter Daten. Diese Vorgangsweise wurde dadurch gefördert, daß Funktion und Zweck, beides wesentliche Elemente in der Beschreibung organischer Prozesse und menschlichen Verhaltens, der Maschine übertragen wurden.

E. A. Burtt, der sich mit den Folgen einer Bevorzugung der sogenannten primären Eigenschaften kritisch auseinandersetzte, bemerkte richtig, dies sei »die erste Stufe der Eliminierung des Menschen aus dem Bereich der primären Wirklichkeit ... Zum ersten Mal erscheint der Mensch als irrevelanter Betrachter und unbedeutender Faktor des großen mathematischen Systems, das die Substanz der Realität ist.«

Tatsächlich suchte der neue Wissenschaftler, indem er den Menschen aus seinem Weltbild eliminierte, die Natur selbst direkt wirken zu lassen, ganz so, wie der Photograph es dem Licht und den Chemikalien überläßt, auf dem Film ein neutrales Bild zu erzeugen. Wer jedoch eine solche Metapher für einen von menschlicher Befangenheit scheinbar unabhängigen Prozeß verwendet, enthüllt das Trügerische dieser Konzeption: Denn ehe ein solches neutrales Verfahren in Gang gesetzt werden kann, muß der Photograph seinen Film einspannen, seinen Gegenstand wählen, seine Kamera einstellen; und natürlich war bis zur Entstehung der Kamera eine lange Reihe menschlicher Entdeckungen in Optik, Chemie, Glas- und Kunststofferzeugung notwendig. Kurz, eine Vielzahl menschlicher Bedürfnisse, Interessen und Optionen war am Werk, ehe die Lichteinwirkung auf einer empfindlich gemachten Oberfläche aufgenommen und fixiert werden konnte.

Das gilt auch für die exakte Wissenschaft. Hätte der Mensch tatsächlich sich selbst und seine Kultur völlig aus dem Bild entfernen können, dann hätte es kein Bild gegeben und keinen Grund, es aufzunehmen — sicherlich kein mechanisches Weltbild und keine neue Generation von Maschinen!

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Doch bei all ihrer ideologischen Schwäche ermöglichte die mathematisch-mechanische Methode eine Erklärung physikalischer Ereignisse, die dem Erfinder und dem Techniker Vertrauen in ihre Fähigkeit gab, vorhersehbare Ergebnisse zu erzielen. Was die physikalische Welt betrifft, die in dieser einfachen Form beschrieben wurde, war sie doch nichts anderes als eine plausible Abstraktion; denn, wie A. N. Whitehead sagte, »die konkreten, dauerhaften Gebilde sind Organismen, so daß das System des Ganzen den unmittelbaren Charakter der verschiedenen untergeordneten Organismen beeinflußt, die diesem System angehören . . . Daher unterscheidet sich ein Elektron innerhalb eines lebenden Körpers von einem, das sich außerhalb dieses Körpers befindet, durch das System des Körpers«. Und, so könnte man heute hinzufügen, ein Elektron in einem Sauerstoffatom ist anders als eines in einem Kohlenstoffatom, wieder auf Grund des jeweiligen Systems. Deshalb muß die wissenschaftliche Methode, wenn sie aufhört, sich mit statistischen Wahrscheinlichkeiten abzugeben, vom Positivismus zum Platonismus übergehen.

Das neue Weltbild war so wirksam, weil seine Methode, die komplexe Realität der Organismen bewußt zu ignorieren, eine gewaltige Arbeitsersparnis bedeutete: Ihre pragmatische Effizienz wog die Oberflächlichkeit der Konzeption auf. Das Universum als ein Ganzes, das alle anderen Ganzen enthält, ist unmeßbar und undenkbar in seiner unendlichen Mannigfaltigkeit und vielfältigen Konkretheit. Nur aus Musterbeispielen und Abstraktionen kann man in der Vorstellung ein spielzeugartiges Modell zusammenbasteln.

Die ökologische Vielschichtigkeit der Existenz übersteigt das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes, obwohl ein Teil dieses Reichtums der Menschennatur innewohnt. Nur indem man einen Bruchteil der Existenz kurzfristig isoliert, kann man sie einen Augenblick lang erfassen: Wir lernen nur aus Beispielen. Indem die Wissenschaft die primären von den sekundären Eigenschaften trennte, mathematische Beschreibung zum Prüfstein der Wahrheit machte, nur einen Teil der menschlichen Fähigkeiten nutzte, um nur einen Teil seiner Umwelt zu erforschen, verwandelte sie die entscheidenden Lebensattribute in rein sekundäre Phänomene, dazu bestimmt, durch die Maschine ersetzt zu werden. Damit wurden die lebenden Organismen in ihren typischesten Funktionen und Zwecken überflüssig.

 

  Maschinen als unvollkommene Organismen 

Wieder war es der Philosoph E. A. Burtt, der eine Generation vor Erwin Schrödinger sehr entschieden auf die Folgen des neuen Systems der Analyse hinwies:

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»Die Lebensäußerung des Menschen kann nicht mit der quantitativen Methode erörtert werden, es sei denn auf kärglichste Art. Sein Leben ist ein Leben von Farben und Geräuschen, von Freude und Schmerz, von leidenschaftlicher Liebe, von ehrgeizigem Streben. Darum muß die wirkliche Welt außerhalb der Menschenwelt liegen: die Welt der Astronomie, die Welt ruhender und bewegter irdischer Objekte. Das einzige Gemeinsame zwischen dem Menschen und dieser Welt ist seine Fähigkeit, sie zu entdecken, eine Tatsache, die, als selbstverständlich vorausgesetzt, leicht übersehen wird und keinesfalls ausreicht, ihn auf die Höhe der Realität und kausalen Wirkungskraft dessen, was er zu wissen vermag, zu heben ... Mit dieser Erhöhung der Außenwelt zur primären Realität hat man ihr auch das Attribut größerer Würde und höheren Wertes verliehen. Galilei selbst macht diesen Schritt. >Das Gesicht ist der höchste der Sinne, wegen seiner Beziehung zum Licht, dem höchsten Gegenstand; aber verglichen mit diesem ist es so gering, wie das Endliche im Vergleich zum Unendlichen.<«

Das physikalische Phänomen des Lichts als erstes und höchstes zu betrachten und das Licht des Bewußtseins, die höchste Manifestation des Lebens, zu vergessen, ist der beste Beweis für die Blindheit, mit welcher der Sonnengott seine Anbeter geschlagen hat. Was alles durch das mechanische Weltbild verlorengeht, ist aus dem Bericht des Biologen Pumphrey über eine neue Erfindung zu ersehen.

Die Techniker der Bell-Telephon-Gesellschaft, berichtet Pumphrey, »fanden heraus, daß alle Mitteilungen über ein System namens Vocorder gehen können, das, anstatt ein kontinuierliches, aber begrenztes Spektrum zu übermitteln, die gesamte Schallenergie des Gesprochenen sozusagen durch zehn enge Tore preßt, jedes 32 Wellenlängen breit. . . Die Folge ist, daß mit ausreichender Apparatur beim Sender wie beim Empfänger zehn verständliche Botschaften nun gleichzeitig über einen Kanal gesendet werden können, wo vorher nur eine durchging.«

»Das Interessante für uns,« fährt Pumphrey fort, »ist die Auswirkung dieses Prozesses auf den Charakter der Sprache, denn durch Ausschaltung oder Verwischung der Detailstruktur hat das Verfahren eine völlig mechanische Trennung zwischen der emotionalen und der informativen Funktion der Sprache bewirkt. Das Produkt dieser teuflischen Maschine ist durchaus verständlich und absolut unpersönlich. Keine Spur von Zorn oder Liebe, Mitleid oder Schrecken, Ironie oder Aufrichtigkeit kann sie passieren. Alter oder Geschlecht des Sprechers können nicht erraten werden. Kein Hand würde die Stimme seines Herrn erkennen. Tatsächlich, es klingt nicht so, als ob ein menschliches Wesen für die Botschaft verantwortlich wäre. Aber die Mitteilung ist nicht beeinträchtigt.«

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»Die Mitteilung ist nicht beeinträchtigt.« Das heißt mit anderen Worten nur, daß diese Form der Mitteilung, am Leben gemessen, ihrem Wesen nach unvollkommen ist, da sie niemals eine genügend vollständige und umfassende Aussage über die wirkliche Welt, wie sie von aktiven Organismen und bewußten Menschen erlebt wird, enthalten oder auf eine solche reagieren kann. Ironischerweise war es ursprünglich der Stolz auf die neuen mechanischen Erfindungen, ein sehr menschlicher, namentlich vom Teleskop bestärkter Stolz, der die großen Denker des siebzehnten Jahrhunderts bewog, nicht nur den Menschen aus seiner eigenen mehr­dimensionalen Welt zu verbannen, sondern auch seine Wissenschaft sozusagen auf das Äquivalent eines Vocorders zu reduzieren.

Die gleiche Reduktion und Isolierung widerfuhr auch allen anderen Organen des Menschen; heute ist nicht einmal mehr das Liebesleben immun gegen solche Vergewaltigung durch übereifrige Genetiker und Physiologen. Davon zeugen die scheinbar objektiven Berichte von Johnson und Masters über das menschliche Sexualverhalten. Diese fortschreitende Reduktion der Lebensdimensionen führte zu viel größeren Erniedrigungen als die Entdeckung, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Die christliche Demut brachte angeblich die Seele näher zu Gott; aber die wissenschaftliche Demut brachte sie näher zur Selbstvernichtung.

Man vergleiche nur die mechanische Weltanschauung und ihre ausschließliche Betonung des Quantitativen, des Meßbaren und der Außenwelt mit der Weltanschauung einer der primitivsten aller bekannten Rassen und Kulturen, jener der australischen Ureinwohner. Dazu sagt Kaj Birket-Smith: »Die grundlegende Idee in der Lebensauffassung der Australier ist, daß es keine scharfe Grenze zwischen Mensch und Natur, zwischen dem Lebendigen und dem Toten gibt, nicht einmal eine Lücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Natur kann so wenig ohne den Menschen existieren wie der Mensch ohne die Natur, und Gestern und Morgen vermischen sich auf eine für uns unerklärliche Weise zum Heute.«

Wie mangelhaft die Beobachtungen der australischen Ureinwohner und die Art, wie sie ihren Erfahrungen symbolischen Ausdruck verleihen, auch sein mögen, ihre primitive Anschauungsweise ist, wie sich noch zeigen wird, in Wirklichkeit weit weniger primitiv, im biologischen und im kulturellen Sinn, als das mechanische Weltbild, denn sie schließt viele Dimensionen des Lebens ein, die Kepler, Galilei und ihre Nachfolger bewußt ausgeklammert haben, weil sie die Exaktheit ihrer Beobachtungen und die Eleganz ihrer Beschreibungen störten.

Das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch proklamierten die Hauptsprecher der Wissenschaft, so überzeugt, wie Huygens und Newton es getan hatten, nicht nur, daß die Gesetze der Mechanik zu jenen Gesetzen gehören, die alle Phänomene regieren, sondern auch, daß diese Gesetze die einzigen seien, die man zur adäquaten Erklärung des Lebens und des Geistes brauche, und daß man nach keinem anderen nicht-mechanischen Verhalten zu suchen brauche.

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Selbst ein so emanzipierter Physiker wie Clerk Maxwell sagte 1875: »Wenn ein physikalisches Phänomen zur Gänze als eine Veränderung in der Stellung und Bewegung eines materiellen Systems beschrieben werden kann, dann kann die Erklärung der Dynamik dieses Phänomens als vollständig bezeichnet werden«; während Helmholtz etwas früher (1869) voll Überzeugung sagte: »Der Zweck der Naturwissenschaften ist es, die Bewegungen, auf denen alle anderen Veränderungen beruhen, und ihre jeweiligen Triebkräfte zu erkennen — also sich in Mechanik aufzulösen.«

Die Hypothese von Boscovich und Faraday, daß nichtmechanisches Verhalten, auch auf der Stufe der Atome, existieren könnte, lag damals weit außerhalb des Gesichtskreises der Wissenschaft.

Dies erklärt die Verachtung, ja die geradezu theologische Scheu (wie vor einer verdammenswerten Häresie), die immer noch viele Biologen bekunden, wenn man von ihnen eine rationale Erklärung für vitale, organische, ideologische oder para­psycho­logische Phänomene verlangt. Das Endresultat dieser mechanistischen Doktrin bestand darin, die Maschine höher als jedweden Organismus zu stellen oder bestenfalls widerwillig zuzugeben, daß höhere Organismen Supermaschinen seien. So bildete eine Reihe metaphysischer Abstraktionen die Grundlage für eine technologische Zivilisation, in der die Maschine in der jüngsten ihrer vielen Inkarnationen zur höchsten Macht werden sollte, zum Gegenstand religiöser Anbetung und Verehrung.

In den letzten hundert Jahren, besonders in der letzten Generation, wurden die Schwächen dieser Auffassung aufgedeckt und an vielen Stellen korrigiert: am entschiedensten ironischerweise von den direkten Erben Galileis, den Kernphysikern - denn ihre Welt winziger Teilchen und Ladungen kann nicht in rein mechanischen oder geometrischen Begriffen beschrieben oder durch Anwendung in einer Maschine veranschaulicht werden.

So blieb das mechanische Weltbild gerade dank seiner Konkretheit vorherrschend, obwohl die tatsächliche Erfahrung unserer Zeitgenossen Röntgenstrahlen und elektronische Fernübertragung von Bild und Ton einschließt. Um den Einfluß zu illustrieren, den das mechanische Weltbild immer noch ausübt, werde ich mich auf zwei Beispiele beschränken, die beide glücklicherweise ein bißchen komisch sind.

In einem kürzlich erschienenen Buch tut ein bekannter Biologe die reale Existenz von Schmerz mit der Begründung ab, dieser sei eine innere Erfahrung, die sich subjektiv äußere und deshalb, wissenschaftlich gesehen, unerfaßbar und unbeschreibbar sei. Um diesen Faktor zu eliminieren, dessen bloße Existenz ein Hohn auf die dem Verfasser heilige Methode ist, geht er soweit, zu sagen:

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»Wir sprechen vom Schmerz, als wäre er ein schrecklicher kleiner Dämon, der in einem drin sitzt. Nun wollen wir ihn im Vergleich mit Maschinen und anderen Objekten betrachten, im Sinn von Nerven und Nervenimpulsen und vor allen im Sinn des Gehirns und seiner Reaktionen. Dann könnten wir zumindest lernen, keinen Schmerz zu empfinden.«

Wenn es wirkte, wäre dies natürlich eine wünschenswerte Belehrung, sagen wir, für einen Krebspatienten; in vielen anderen Fällen könnte es freilich sehr unklug sein, da doch beispielsweise der scharfe Schmerz, den ein Kind beim Berühren einer Flamme empfindet, es lehrt, schwereren körperlichen Schaden zu vermeiden. Es besteht kein Zweifel, daß die Hypnose, eine Anwendungsform dieser Lehre, unter gewissen Umständen als ausgezeichnete Anästhesie dient, wie schon längst bewiesen wurde; und selbst stoische Selbstdisziplin oder Autosuggestion kann bei vielen Schmerzen lindernd wirken. Aber was soll man vom theoretischen Format eines Wissenschaftlers halten, der behauptet, es sei »absurd, die Existenz von etwas ausdrücken zu wollen, was unmöglich beschrieben werden kann«? Ist es nicht weit absurder, diese Existenz zu leugnen?

Als inexistent abzutun, was nicht beschreibbar ist, heißt Existenz mit Information gleichsetzen. Kann eine Farbe nur in Begriffen ihrer mathematisch bestimmbaren Wellenlänge beschrieben werden? Ganz gleich, wie exakt diese abstrakte Beschreibung sein mag, sie gibt keinen Hinweis auf Farbe als subjektive Erfahrung. So ist es auch mit dem Schmerz. Die Existenz oder Bedeutung des Schmerzes zu leugnen, weil er zu subjektiv ist, um beschrieben zu werden — ist das ein Beispiel wissenschaftlicher Objektivität?

Dieser Versuch, Schmerz wissenschaftlich in Verruf zu bringen, ist in Wirklichkeit ein Versuch, organische Reaktionen nach dem Schema maschinenartigen Verhaltens zu erklären; und da Maschinen keinen Schmerz zu bekunden vermögen, wird ein Organismus, der das tut, zur Anomalie oder, schlimmer noch, zu einem technologischen Anachronismus. Noch ärgerlicher vielleicht ist für jene, die sich an dieses überholte mechanische Modell klammern, die Tatsache, daß das Phänomen des Schmerzes auf etwas hinweist, für das es bis jetzt noch keine biologische Erklärung gibt, obgleich die Tatsache als solche schon lange eine Herausforderung für unsere Evolutionstheorien ist. Wie kommt es, daß eine so krasse Fehlanpassung wie intensiver Schmerz, der keinem Zweck dient, den ein geringerer Grad von Schmerz nicht ebenso erfüllen könnte — tatsächlich wird er oft ärger, wenn der Zustand, den er signalisiert, sich nicht mehr heilen läßt —, zu einer erblichen Eigenschaft geworden ist? Dies erscheint als ein hoher Preis für die exquisite Feinfühligkeit und Überempfindlichkeit der Nervensysteme in höheren Organismen. Welcher Selektionsdruck erzeugte und übertrug eine so unzweckmäßige Reaktion?

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Die fast pathologische Angst vor allem, das nicht direkt untersucht und unter Kontrolle gebracht werden kann — unter äußere, vorzugsweise mechanische, elektronische oder chemische Kontrolle —, ist das wissenschaftliche Äquivalent eines viel älteren Atavismus, der Angst vor der Dunkelheit. Und wenn wir am Ende der vierhundert Jahre, die der Fertigstellung des veralteten mechanischen Weltbilds gewidmet waren, heute die Maschine überschätzen, liegt das nicht daran, daß die mechanistische Doktrin, die uns befähigte, Maschinen zu entwerfen und zu kontrollieren, auch verspricht, dem Wissenschaftler gleichen Einfluß über die lebenden Organismen zu verschaffen, die er gefühllos mit Maschinen identifiziert? In einer Welt von Maschinen oder von Geschöpfen, die zu Maschinen degradiert werden können, wären Technokraten wahrhaftig Götter.

Gewiß, für jene, die das Problem am tiefsten begriffen haben, gibt es Grund zu der Annahme, daß der Mensch, könnte er wirklich solche Maschinen herstellen, nicht imstande wäre, sie zu beherrschen; denn wären sie wirklich lebendig, dann wären sie nicht nur selbständig, sondern auch anderen Einflüssen unterworfen, auch ihren eigenen Launen, neben denen des Menschen. Norbert Wiener fürchtete sogar, daß dies in nicht allzu ferner Zeit mit Computern geschehen könnte; ein Gedanke, der in dem Film 2001 weitergesponnen wurde, wo der unfehlbare Raumschiffcomputer, wenn man ihm nicht seinen Willen läßt, sich zu den Astronauten feindselig verhält. Würde elektronische Allwissenheit, besäße sie tatsächlich so etwas wie subjektives Leben, sich nicht als ebenso verrückt, grausam und mordlustig erweisen wie die mächtigen Gottheiten der Bronzezeit? Ja, sogar noch schlimmer, da ihnen die kulturellen Sicherungen fehlen würden, die der Mensch damals schon als Selbstschutz gegen sein Unbewußtes aufgebaut hatte.

Daß ein moderner Wissenschaftler immer noch genügend im Bann des archaischen mechanischen Weltbilds steht, um organische Vorgänge, die nicht in sein beschränktes Schema passen, nicht wahrhaben zu wollen, zeigt, wie attraktiv und wirksam dieses vereinfachte Modell war — und leider heute noch ist. Die Absurdität, die autonomen Prozesse von Organisation, Wachstum und Reproduktion anhand der Maschine erklären zu wollen, kommt wohl am besten in der Geschichte zum Ausdruck, die Frank O'Connor über die Bemühung seiner Mutter erzählt, ihm, als er klein war, zu erklären, wie Kinder gezeugt werden, ohne dabei auf die peinlichen physiologischen und emotionalen Intimitäten einzugehen. Besorgt erklärte sie ihm: »Muttis haben im Bauch eine Maschine, und die Papis haben eine Startkurbel, die sie in Gang setzt, und wenn die Maschine angelassen ist, dann läuft sie weiter, bis sie ein Baby gemacht hat.« Gewiß doch! Was könnte natürlicher, das heißt mechanischer, objektiver sein?

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So wurde am Ende des neunzehnten Jahrhunderts eine einfache Frau, mit den Tatsachen des Lebens konfrontiert, in ihrer sexuellen Gehemmtheit dazu getrieben, eine Erklärung derselben Art zu wählen — zwar vergröbert, aber dem Wesen nach gleich —, wie die Wissenschaftler sie gegeben hatten, um organisches Verhalten auf einen mechanischen Prozeß zu reduzieren — als wären Maschinen etwas Ursprünglicheres als die immanente Tendenz zur Organisation, die an den Anfang der präorganischen Existenz gestellt werden muß, um auch nur die Evolution der chemischen Elemente zu erklären.

 

   Absolution für Galilei  

 

Es wird eine der Aufgaben dieses Buches sein, den unglückseligen Folgen von Galileis Verbrechen nachzugehen. Doch dieses Verbrechen erwies sich als so erfolgreich und die geistige Ausbeute als so gewaltig, daß jene, die in Galileis Fußstapfen traten, ohne sich im geringsten der Inquisition beugen zu müssen, um der Folter zu entgehen, heute Galileis Methodologie und Metaphysik bereits auf jede Form menschlicher Aktivität ausgedehnt haben. Infolgedessen üben die Zunftmeister der Wissenschaft, mit ihren vielen Nachahmern und Schülern, heute mehr Einfluß und Macht aus als irgendeine Priesterschaft früherer Zeiten. Mehr noch, die Religion dieser neuen Priesterschaft hat sich, gestützt auf eine Reihe bezeugter Wunder, in allen Köpfen festgesetzt, und sogar jene Bereiche von Wissenschaft und Technik, die dem Sonnengott unmittelbar nichts schulden, beugen sich ihrer Autorität.

Wenn ich die Unzulänglichkeiten des mechanischen Weltbilds hervorhebe, geht es mir nicht darum, die vielen positiven Ergebnisse herabzusetzen, besonders in dem Bereich, in dem sie die unmittelbarste und stärkste Anwendung fanden - nämlich in der Technik. Jedes neue Stückchen wissenschaftlicher Erkenntnis, wie zersplittert und winzig auch immer, ist wertvoll. In einer Periode erbitterter politischer und theologischer Konflikte, als in der Verteidigung dogmatischer Positionen starke Leidenschaften geweckt wurden, als ein Gespräch zwischen einem Katholiken und einem Protestanten oder auch zwischen den Anhängern verschiedener protestantischer Sekten unmöglich geworden war, leistete die neue mechanische Ideologie einen einzigartigen Dienst: Sie lieferte eine gemeinsame Sprache und eröffnete ein Feld praktischer Bemühungen, auf dem Menschen mit sehr unterschiedlichen inneren Welten dennoch zusammenarbeiten konnten. Diese gemeinsame Welt vernünftigen Gedankenaustauschs und Zusammenwirkens wuchs stetig an, trotz nationaler Selbstsucht und Eifersucht und trotz sich abkapselnder totalitärer Ideologien.

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Wissenschaftler sind in jedem Teil der Welt unter ihren Kollegen mehr zu Hause als jede andere Berufsgruppe, denn sie sprechen eine gemeinsame Sprache und verfolgen ein gemeinsames Ziel. Diese Einheit ist, obwohl sie häufig unterbrochen wurde, zu kostbar, als daß man sie aufs Spiel setzen dürfte.

Zugegeben, die so geschaffenen Wissenschaften waren meisterhafte symbolische Erzeugnisse; leider glaubten jene, die diese Symbole benutzten, implizite, eine höhere Art von Realität zu repräsentieren, während sie in Wirklichkeit nur eine höhere Art von Abstraktionen ausdrückten. Die menschliche Erfahrung blieb notwendigerweise mehrdimensional: Eine Achse erstreckt sich horizontal durch jene Welt, die äußerer Beobachtung offensteht, die sogenannte objektive Welt, und die andere Achse, im rechten Winkel dazu, verläuft vertikal durch die Höhen und Tiefen der subjektiven Welt; und die Wirklichkeit kann nur durch eine Figur dargestellt werden, die aus einer unbestimmten Anzahl von Linien besteht, welche in jenen beiden Ebenen liegen und sich in der Mitte schneiden - im Geist des Menschen.

Doch wir wollen am Ende dem Sonnengott geben, was des Sonnengottes ist: Die Ordnung, die er begründete, ist tatsächlich grundlegend für alle Manifestationen des Lebens; und in einer Kultur, die heute wie damals zu Zerfall und Zersetzung neigt, haben, seine Anbeter für die notwendige Achtung der Ordnung gesorgt. So wollen wir auch Galilei eine großzügige postume Absolution erteilen: Er wußte nicht, was er tat, und er konnte unmöglich ahnen, was aus der Aufspaltung der Erfahrung in objektive und subjektive folgen würde. Er selbst war kein heimlicher Ketzer, sondern ein aufgeschlossener naturalistischer Humanist oder humanistischer Naturalist, und er konnte nicht wissen, daß die abstrakte Begriffswelt, die er schaffen half, schließlich alle traditionellen Werte verdrängen und alle Erfahrung und alles Wissen verwerfen würde, das nicht in das herrschende mechanische Schema paßte. Galilei muß als selbstverständlich vorausgesetzt haben, daß die Kultur, die sein Leben und seine Geisteshaltung geformt hatte, durch seine neue Weltanschauung schöner und reicher werden würde, nicht seelenlos, verarmt und degradiert.

Indem die Nachfolger Galileis die Bedeutung der subjektiven Faktoren, das heißt der menschlichen Triebe, Vorstellungen und autonomen Reaktionen, leugneten, wehrten sie leider jede Frage nach ihrer eigenen Subjektivität ab; und indem sie Werte, Zwecke, nichtwissenschaftliche Bedeutungen, Phantasien und Träume als irrelevant für ihre positivistische Methodologie zurückwiesen, übersahen sie die Rolle, die solche Subjektivität bei der Schaffung ihres eigenen Systems gespielt hatte. In Wirklichkeit hatten sie jeden Wert und jeden Zweck bis auf den einen zu eliminieren, den sie als den höchsten ansahen: das Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit.

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In diesem Streben nach Wahrheit heiligte der Wissenschaftler seine eigene Disziplin und stellte sie, was noch gefährlicher war, über jede andere moralische Pflicht. Die Folgen dieser Ausschließlichkeit began­nen erst in unserem Zeitalter sichtbar zu werden. Die wissenschaftliche Wahrheit wurde zum Absolutum erhoben, die unablässige Jagd nach Erkenntnissen und deren Erweiterung wurde zum einzig anerkannten kate­gorischen Imperativ.

Wenn man aus der Menschheitsgeschichte überhaupt eindeutige Lehren ziehen kann, so lautet eine von ihnen: Das Absolute ist nichts für den Menschen. Wenn die Römer sagten: »Laßt Gerechtigkeit walten, auch wenn die Decke einstürzt«, glaubten sie nicht einen Moment daran, daß die Decke einstürzen würde; aber die Physiker, die sich so unentwegt mit der Spaltung des Atoms beschäftigten, gefährdeten tatsächlich die Menschheit. Mit der Erfindung der Atombombe brachten sie alles Leben auf Erden in Gefahr, denn nun konnte nicht nur die Decke, sondern auch der Himmel einstürzen. In dem alten Dilemma zwischen der Wahrheit und den Folgen erweisen sich die Folgen als ebenso wichtig wie die Wahrheit, und mit jeder Erweiterung der Wahrheit auf neue Gebiete müssen sie wieder und wieder genau überprüft werden. Weil man es an Wachsamkeit hat fehlen lassen, leben heute nicht nur Millionen Menschen im Schatten einer totalen Katastrophe, sondern auch die Luft, die sie atmen, das Wasser, das sie trinken, und die Nahrung, die sie zu sich nehmen, sind durch Mißbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse vergiftet.

Hätte die neue Wissenschaft von Anfang an den Forscher als eine wesentliche Komponente in ihr System einbezogen, dann wäre die Unzulänglichkeit des mechanischen Modells und eines denaturierten, enthumanisierten Universums augenscheinlich, ja unübersehbar geworden. Ohne Intuitionen und Erinnerungen, ohne alte kulturelle Marksteine ist das Wissen kraftlos, und die Aussage, die es aus eigenem macht, ist so unvollständig, so qualitativ inadäquat, inhaltlich so verzerrt, daß sie grundfalsch wird. Percy Bridgeman betont in seiner Introduction to Stallo mit Recht, daß nur das Experiment und die zielbewußte Selektion die Wissenschaftler befähigten, die grundlegende theoretische Schwäche ihrer mechanistischen Aussagen zu überwinden.

Niemand, der Wissenschaftler gut kennt oder Biographien schöpferischer Wissenschaftler gelesen hat, wird glauben, daß die herrschenden Regeln der Objektivität, der völligen Unpersönlichkeit, der mechanischen Präzision, der strengen Unterdrückung des Gefühls sich auf etwas anderes als auf die Handhabung von Apparaturen oder auf die sorgfältige, systematische Formulierung der Resultate beziehen. Der Forscher muß die strengen Spielregeln der Wissenschaft befolgen, oder er wird bestraft — und nötigenfalls disqualifiziert.

Aber die Spieler sind menschliche Wesen, anfällig für subjektive Reaktionen aller Arten, von Stolz und Eitelkeit bis zu intellektueller Verspieltheit und intensivem ästhetischen Genuß. Es ist zu bezweifeln, ob manche der besten wissenschaftlichen Leistungen ohne diese subjektiven Elemente, in der einen oder anderen Kombination, jemals zustandegekommen wären.

Eine vollentwickelte Persönlichkeit ist in der Wissenschaft, wie überall, eine notwendige Voraussetzung für schöpferische Tätigkeit; nur ein radikaler Wandel in Methode und Zielsetzung der Wissenschaft kann die Mängel beseitigen, die sich aus dem Fehlen der Persönlichkeit im mechanischen Weltbild ergeben. Nicht einmal theoretisch kann der Mensch seine lebenswichtigen Organe ausschalten und seine Tätigkeit auf das Beobachtbare und Kontrollierbare beschränken, ohne von seinem eigenen Wesen und von der Welt, in der er lebt, ein falsches Bild zu erhalten.

Die zentrale Gegebenheit des menschlichen Seins zu ignorieren, weil sie innerlich und subjektiv ist, heißt die größtmögliche subjektive Verfälschung vorzunehmen — eine Verfälschung, die die entscheidende Hälfte der Menschennatur eliminiert. Denn ohne den Unterstrom des Subjektiven, der sich in wechselnden Bildern, Träumen, organischen Impulsen, Einfällen, Vorstellungen und Erfindungen — und vor allem mit zunehmender Klarheit in der Sprache — äußert, kann die Welt, die der menschlichen Erfahrung zugänglich ist, weder beschrieben noch rational begriffen werden. Wenn unser Zeitalter diese Lektion lernt, wird es den ersten Schritt getan haben, um die mechanisierte und elektrifizierte Wüste, die heute auf Kosten des Menschen und zu seinem dauernden Schaden zugunsten der Megamaschine geschaffen wird, wieder für den Menschen bewohnbar zu machen.

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