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4 - Politischer Absolutismus und Reglementierung

Mumford-1970

 

 

  Herren der Natur  

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Die Umwandlung der Theorie, mit der Kopernikus, Kepler und Galilei begonnen hatten, wurde von Rene Descartes fortgeführt; er verband das neue Weltbild mit zwei neuen Phänomenen, die diesem Weltbild ungeheure Autorität verliehen: mit dem Verhalten von Uhrwerksautomaten und mit den Ansprüchen des monarchischen Absolutismus. Descartes bewies zu seiner eigenen Befriedigung, daß alle Lebenserscheinungen auf einer rein mechanischen Grundlage erklärt werden können und daß, außer im Fall des Menschen, Organismus und Mechanismus austauschbare Begriffe sind.

Descartes' Abhandlung über die Methode ist ein Markstein in der Geschichte des westlichen Denkens. Sein eleganter Stil und seine Verschmelzung mathematischer und mechanischer Denkformen hatten eine bleibende Wirkung auf spätere wissenschaftliche Formulierungen. Dieses Werk, so kurz und lesbar wie Rousseaus Contrat Social, war Descartes' Ersatz für ein umfassenderes Buch, das er zurückhielt, als er sah, in welche Schwierigkeit sein Zeitgenosse Galilei mit der Inquisition geraten war. So wie es ist, könnte es fast als Einführung in das moderne Denken gelten: ein elegant formuliertes Konzept, das im wohltuenden Gegensatz zu der dickleibigen, mit Details überladenen Synthese Thomas von Aquins steht.

Zu der Zeit, als Descartes schrieb, gab es noch keinen Teil der Welt, der nicht adäquater wissenschaftlicher Untersuchung durch einen einzelnen Denker offenzustehen schien. Allein, wie ein königlicher Despot, wagte er es, die ideologischen Grundlagen für ein neues Zeitalter zu legen. In diesem Sinne befand sich Descartes immer noch in der alten aristotelischen. Tradition und hatte noch nicht die große Kapitulation vollzogen, die sein älterer Zeitgenosse Francis Bacon prophezeit hatte; denn dieser erkannte, daß die Wissenschaft, um produktiver und unmittelbarer nützlich zu werden, die spezialisierte Arbeitsteilung und eine standardisierte, stückweise Forschungsmethode akzeptieren muß.

Von Descartes erhält man nichtsdestoweniger eine klare Darstellung der Grundmotive wissenschaftlicher Forschung, abgesehen von deren ältestem und edelstem Impuls, dem reinen Genuß, den Verstand zu gebrauchen, um Gesetzmäßigkeiten zu entdecken und verständliche symbolische Strukturen zu schaffen, die die grundlegenden kausalen Zusammenhänge oder die hervortretenden Muster scheinbar zufälliger Ereignisse enthüllen.

Ohne diese grenzenlose Neugier und Wißbegierde hätte der Mensch sich kaum über den tierischen Zustand der Muskelbewegung und geistlosen Lust erheben können. Was Thorstein Veblen ironisch »müßige Neugier« nannte, diente einst dazu, die besten Köpfe zu leidenschaftlichen Jüngern der Wissenschaft zu machen, oft unter Verzicht auf anderen greifbareren Lohn. Diese selbstlose Hingabe an die Wahrheit, an der jedermann teilhaben kann, ist wohl das dauerhafteste Vermächtnis der Wissenschaft.

Doch außerdem spielten von Anfang an selbstsüchtigere Wünsche und materielle Lockungen eine Rolle in der Entwicklung der Wissenschaft, so wie es früher einmal bei der Magie der Fall war; und diese Interessen kommen selbst in den nüchternen  Feststellungen von Descartes zum Ausdruck. Er habe erkannt, sagte er, 

»daß es möglich ist, zu Kenntnissen zu kommen, die von großem Nutzen für das Leben sind, und statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und die Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden, und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen können«. (Hervorhebung von mir.)

Die Sprache dieses letzten Satzes ist offenkundig nicht die des uneigennützig denkenden Wissenschaftlers; sie hängt vielmehr mit den gesellschaftlichen Bestrebungen zusammen, die vom sechzehnten Jahrhundert an eine immer wichtigere Rolle in der gesamten Entwicklung der westlichen Zivilisation spielten: in Entdeckung und Kolonisierung, in militärischen Eroberungen und in der Wirtschaft. »Herren und Eigentümer der Natur« zu werden, war der Ehrgeiz, der den Conquistador, den abenteuerlustigen Kaufmann, den Bankier, den Industriellen und den Wissenschaftler, wie grundverschieden ihre Berufe und ihre Ziele auch sein mochten, insgeheim verband.

Schon am Anfang spielten Wissenschaft und Technik eine Rolle bei der Förderung dieser hochfliegenden Ambitionen und anmaßenden Forderungen. Ohne magnetischen Kompaß, astronomische Beobachtungen und Kartographie wäre die Umseglung des Erdballs lange verzögert worden, wenn nicht unmöglich gewesen. Aber vom neunzehnten Jahrhundert an nahm das Streben der Wissenschaft nach einseitiger Naturbeherrschung eine andere Richtung: Sie begann, künstliche Substitute für jeden natürlichen Prozeß zu suchen, organische Produkte durch industrielle zu ersetzen und schließlich den Menschen selbst in ein gehorsames Geschöpf der Kräfte, die er entdeckt oder hervorgebracht hatte, zu verwandeln.

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Es ist eine Ironie, daß die Synthese des Harnstoffs, eines tierischen Ausscheidungsprodukts, der erste große Triumph dieser Art von Forschung war! Aber viele andere Ersatzprodukte — Fasern, Kunststoffe, Pharmazeutika — folgten; einige waren an sich ausgezeichnet, andere erzeugten bloß höhere Profite für größere Firmen.

Descartes konnte natürlich nicht voraussehen, daß dieses einseitige Bestreben, die »Natur zu erobern«, eine besondere Gefahr mit sich bringen würde, je näher es der Realisierung kam: die Gefahr der Enteignung und Absetzung des Menschen. Doch obwohl wir uns heute mit dieser Gefahr auseinandersetzen müssen, erwähne ich sie hier nur, um Descartes zu entlasten und seine relative Unschuld klarzustellen. Wie Galilei, konnte auch er keine Ahnung haben, was geschehen würde, wenn die Kontrolle über die äußeren Phänomene und die Zunahme der verfügbaren physikalischen Energie zur Veränderung der Umwelt und zur Beherrschung von Zeit und Raum den Vorrang erhalten vor dem Bestreben, den Menschen zu humanisieren und zu disziplinieren, seine Entwicklung in geregelte Bahnen zu lenken und die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten seiner Kultur und seiner Persönlichkeit zu erforschen.

Zur Zeit Descartes' hatten Physik und Mathematik noch nicht annähernd ihre heutige überragende Stellung erreicht. Descartes selbst, obwohl ein begabter Mathematiker, war nicht ausschließlich mit mathematischen Problemen oder physikalischen Phänomenen beschäftigt; er studierte eingehend den Blutkreislauf im Herzen und in den Arterien, in der Richtung, die Harvey zu einem erfolgreicheren Abschluß führen sollte. Wenngleich Descartes sich vorstellte, daß der Mensch Herr der Natur werden würde, verstand er diese Oberherrschaft trotz seinen militärischen Erfahrungen hauptsächlich als eine geistige. Seine größten Hoffnungen setzte er nicht auf größere physikalische Kraft oder Leistung, sondern auf die Erlangung von Kenntnissen über den menschlichen Organismus, die, so hoffte er, eine rationale Grundlage für eine gesündere Lebensordnung liefern würden.

So hielt Descartes einerseits, gleich Bacon, die Wissenschaft für wünschenswert, weil sie zur »Erfindung einer unendlichen Zahl von Kunstgriffen« führe, »die uns ohne jede Mühe zum Genuß der Früchte der Erde und aller Annehmlichkeiten auf ihr verhelfen würden«, meinte jedoch anderseits: »Wenn jemals Mittel gefunden werden können, um die Menschen weise und klüger zu machen, ... so müssen sie in der Medizin gesucht werden.« Er war überzeugt, daß »wir uns von zahllosen Krankheiten des Körpers wie des Geistes und vielleicht auch von der Schwäche des Alters befreien könnten, wüßten wir nur genug über ihre Ursachen und all die Heilmittel, welche die Natur uns bereitstellt«. Ihm galt der unmittelbare Nutzen für den Menschen immer noch mehr als jeder noch so große Zuwachs an materiellen Gütern oder an Macht.

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Der moderne Mensch sollte dankbar zur Kenntnis nehmen, daß diese Zuversicht nicht ganz unbegründet war. Als Ergebnis hygienischer Betreuung, vorbeugender Medizin, chirurgischer Geschicklichkeit und der Antibiotika — gar nicht zu reden von der allgemeinen Benutzung von Seife und Wasser — ist die Lebenserwartung gestiegen, was zeigt, daß Descartes Optimismus gerechtfertigt war. Aber wie alle Denker, wissenschaftliche und utopistische, die vom Glauben an einen Fortschritt ohne Ende erfüllt waren, übersah Descartes die negativen Momente, die mit solchen Errungenschaften einhergehen und sie heimtückisch untergraben, oft in Proportion zu ihrem Erfolg. Unter ihnen beginnen wir nun biologische Irrtümer von großer Bedeutung zu entdecken. Diese unvorhergesehenen Konsequenzen haben teilweise die echten Fortschritte aufgehoben, und es ist fraglich, ob die Rechnung letztlich zugunsten der Wissenschaft aufgehen wird, wenn nicht unverzüglich energische Maßnahmen ergriffen werden, um die wissenschaftlich und finanziell geförderten Kräfte der Zerstörung und Vernichtung aufzuhalten.

 

  Der Übergang zum Absolutismus  

 

Obwohl Descartes sich fleißig mit wissenschaftlichen Experimenten in vielen Bereichen beschäftigte, war die cartesianische Methode am unmittelbarsten auf die »physikalische«, das heißt, auf die präorganische Natur anwendbar. Descartes konzentrierte sich bewußt auf diesen Aspekt, der ihm als »der allgemeinste und einfachste, und daher als der am leichtesten erkennbare« erschien; dagegen hielt er die mathematischen Fortschritte, die ihn entzückten, anfangs nur deshalb für nützlich, weil sie »zum Fortschritt der mechanischen Künste« beitrugen.

Trotz der großen Spannweite von Descartes' Forschungen prägte die barocke Kultur seiner Zeit sein Denken mit zwei Kennzeichen, die eine ernste Auswirkung auf die spätere Technik haben sollten, indem sie bereits übliche Praktiken verstärkten. Das erste war Descartes' Glaube an den politischen Absolutismus, als ein Mittel, um Ordnung zu erzielen und zu erhalten. Im Gegensatz zu allen jenen Prozessen, die Tradition, historische Kontinuität, kumulative Erfahrung, demokratische Kooperation und gegenseitige Beziehungen mit anderen einschließen, bevorzugte Descartes eine Form äußerer Ordnung, die durch eine einzige Persönlichkeit erreicht werden konnte, etwa durch einen Barockfürsten, der, an keine Tradition gebunden, mit alten Gepflogen­heiten bricht, allmächtig ist, allein handelt und bedingungslosen Gehorsam fordert — kurz, der das Gesetz bestimmt.

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Diese Zerstörung organischer Vielschichtigkeit war die Voraussetzung, um in allen Bereichen Mechanisierung und totale Kontrolle durchzusetzen. Das Wirken solcher Geister war schon in den zeitgenössischen Bauwerken und Städten sichtbar: Bauwerke, entworfen von Architekten, die im Dienste eines autokratischen Regimes standen, nach einem vorbestimmten Plan, zur sofortigen Ausführung bereit.

Im zweiten Teil lobt Descartes diese Art von Planung und tadelt im Gegensatz dazu jene Bauwerke und Städte, die in längeren Zeiträumen gewachsen sind und neben Unvollkommenheiten, Abänderungen und Adaptionen auch die glücklichen Einfälle und zeitgemäßen Erneuerungen späterer Generationen aufweisen. Er pries sogar Sparta, nicht weil er meinte, dessen Gesetze und Gebräuche wären besonders gut gewesen, sondern weil sie »von einem einzelnen ausgingen und sich zu einem einzigen Ziel hin bewegten«. Kein Wunder, daß er den Plan der barocken Stadt als Modell für sein philosophisches System verwendete: Mechanische Ordnung und unwandelbare Macht waren das oberste Gebot, wie ich in The City in History ausführlich nachgewiesen habe. Wenn man die Dekorationen im Schloß von Versailles entfernt, hat man faktisch das Gehäuse einer modernen großen Fabrikseinheit.

Descartes Soloismus war ein natürlicher Ausdruck von barockem Absolutismus außerhalb der politischen Sphäre: Allein handeln, im Zentrum der Ereignisse stehen, alle Rivalen und gegnerischen Gruppen verdrängen — dies war die Tendenz, die dem despotischen Fürsten, der Opernprimadonna, dem monopolistischen Financier und dem denkenden Philosophen gemeinsam war. Im Endeffekt führte diese Entwicklung dazu, daß alle konstitutiven Elemente der Gesellschaft in einen Wirbel zersplitterter Teilchen verwandelt wurden und ein einziges polarisierendes Element, der König oder der Staat, die Funktion erhielt, den entfremdeten und separierten Individuen eine Art Ordnung und Orientierung zu geben. Diese Auflösung der elementaren Gruppen, aus denen jede wirkliche Gemeinschaft besteht — Familie, Dorf, Bauernhof, Werkstatt, Gilde, Kirche —, bereitete den Weg für die Uniformierung und Standardisierung, die die Maschine erfordert. Wir können diesen Prozeß sehr deutlich in Descartes' berühmter Analyse der Realität erkennen.

In dem Bestreben, alles Wissen, richtiges oder falsches, aus seinem Geist zu entfernen, um wieder ganz von vorn anzufangen, gelangte Descartes zu einer, wie er glaubte unwiderlegbaren These: dem berühmten »Ich denke, also bin ich«. Mit dieser Gleichsetzung von Denken und Sein wurden alle Differenzierungen aufgehoben; das Denken selbst wurde bedingungslos und absolut, ja es wurde zum alleinigen Imperativ des Seins. Um diesen Punkt zu erreichen, vergaß Descartes, daß es, bevor er die Worte »Ich denke ...« äußern konnte, der Leistungen zahlloser Menschen bedurft hatte, seinem eigenen Wissen zufolge all der Jahr­tausende, die die biblische Geschichte verzeichnet.

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Darüber hinaus brauchte er, wie wir heute wissen, die Unterstützung einer noch ferneren Vergangenheit, von der die Menschheit allzu lange Zeit nichts wußte: der Millionen Jahre, die notwendig gewesen waren, um unsere dumpfen tierischen Vorfahren in denkende menschliche Wesen zu verwandeln.

»Ich denke, also bin ich« hatte nur einen Sinn dank der gewaltigen Masse des geschichtlichen Unterbaus. Ohne diesen hätte Descartes sein unmittelbares Denkerlebnis nicht beschreiben, ja nicht einmal ausdrücken können. Der vielleicht größte Mangel aller bisherigen Weltbilder besteht darin, daß in ihrer Realitätsauffassung die historische Entwicklung eine so geringe Rolle gespielt hat - außer in der verschwommenen Form des Mythos. Fast nur in der jüdischen Tradition wird die Geschichte als notwendige und sinnvolle Offenbarung universaler Kräfte angesehen, oder des göttlichen Willens, wie die Theologie es ausdrücken würde.

Mit dem Versuch, einen neuen Anfang zu machen, hat Descartes in Wirklichkeit nichts weggeräumt. Denn ohne kollektiv gespeicherte und individuell erinnerte Erfahrung hätten Descartes' Lippen, Zunge und Stimmbänder nicht jenen triumphierenden Satz formen können. »Der Mensch ist nur ein Rohr im Winde, aber ein denkendes Rohr«, sagte Descartes' Zeitgenosse Pascal. Descartes hatte bloß die Überzeugung neu formuliert, die die meisten Denker des siebzehnten Jahrhunderts mit ihm teilten und als Axiom ansahen, nämlich, daß Denken die wichtigste Tätigkeit des Menschen ist. Doch dies ist fraglich, da die geschlechtliche Fortpflanzung, biologisch gesehen, für das Denken wichtiger ist als das Denken für die Fortpflanzung; denn das Leben umfaßt nicht nur das Denken, sondern transzendiert es.

Descartes' Zeitgenosse Gassendi erkannte die Schwäche, von dessen Position. »Du wirst sagen«, schrieb er an Descartes, »ich sei nur Geist ... Aber laß uns im Ernst sprechen und sage mir offen: Stammst du nicht vom ersten Laut an, den du hervorbringst, indem du das sagst, aus der Gesellschaft, in der du lebst? Und da die Laute, die du hervorbringst, aus dem Umgang mit anderen Menschen stammen, stammt da nicht der Sinn der Laute aus derselben Quelle?«

In Descartes' Gleichsetzung von Denken und Sein war noch ein anderer Gedanke enthalten, der aus dem gesellschaftlichen Stil der barocken Periode herrührte. Unter einem rationalen Gedankensystem waren alle Geister gezwungen, sich wissenschaftlichen Gesetzen zu unterwerfen, wie die Untertanen absoluter Herrscher sich deren Edikten unterwarfen. Das Gesetz bestimmte in beiden Fällen, wie Wilhelm Oswald später hervorhob, den Bereich vorhersagbaren Verhaltens; dies machte es einfacher, Entscheidungen zu treffen, und ersparte Mühe.

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Somit würde das höchste Ziel der Wissenschaft, Beweis sowohl ihrer Stichhaltigkeit als auch ihrer Wirksamkeit, darin bestehen, alles Verhalten so vorher­sagbar zu machen wie die Bewegungen der Himmelskörper.

Für viele Wissenschaftler ist dies selbst heute noch nicht nur ein unantastbares Axiom, sondern auch ein moralischer Imperativ. Wenn wissenschaftlicher Determinismus überall am Werk wäre, dann könnte letztlich auch das menschliche Leben unter totale Kontrolle gebracht werden. Damit wurde natürlich, wie in einem absolutistischen Regierungssystem, vorausgesetzt, daß es keine aufsässigen Elemente gäbe, die nicht der Polizei bekannt wären und nicht ausgehoben und ohne weitere Untersuchung auf unbegrenzte Zeit eingesperrt werden könnten.

Mit der Nichtbeachtung des historischen Erbes verlor Descartes daher sowohl die Bedeutung der Natur als auch die Natur der Bedeutung aus den Augen und war nicht imstande, deren wechselseitige Abhängigkeit zu begreifen; denn der Geist, der die Natur erforscht, ist selbst ein Teil der Natur und offenbart ansonsten verborgene oder unzugängliche «Wesenszüge. Wenn das Leben sich nicht auf eine lange Vergangenheit stützen könnte, würde es verkümmern und zu einem Nichts zusammenschrumpfen; und das Ich würde nicht über die Worte verfügen, die es braucht, um die Existenz des Geistes zu verleugnen oder seine eigene Ohnmacht zu verfluchen. In einem solchen Zustand befinden sich heute, nebenbei bemerkt, tatsächlich viele unserer Zeitgenossen, denn sie nehmen die Augenblicksäußerungen ihrer Sinne — wie abscheulich sie auch sein mögen — für gültige Offenbarung der Wahrheit.

Was Descartes' rationales System auf Grund dieses Verzichts implizierte, kommt in der folgenden kurzen Passage zum Ausdruck: »Weil unser Denken im Schlaf nie so klar oder so vollständig ist, als wenn wir wachen, wenngleich die Handlungen in der Vorstellung manchmal lebendig und deutlich sind, vielleicht mehr noch als in unseren wachen Augenblicken, verlangt doch die Vernunft, daß, da infolge unserer teilweisen Unvollkommenheit nicht alle unsere Gedanken wahr sein können, die Gedanken, die Wahrheit besitzen, unfehlbar mehr im Erleben unserer wachen Augenblicke begründet sein müssen als in dem unserer Träume.«

Dies war wiederum ein wertvoller Ratschlag, perverse Phantasien zu zügeln; aber er wurde nicht den geheimnis­vollen Kräften gerecht, die eine technische und soziale Ordnung schaffen halfen, welche weitgehend Descartes' eigenen subjektiven Annahmen entsprach. Hier barg und verbarg die Vernunft sorgfältig ihre eigene Tendenz zur Unvernunft, die hervortritt, wenn sie von der Struktur der organischen Erfahrung losgelöst wird. Drei Jahrhunderte später kehrte Sigmund Freud, in seinen Intentionen ein strenger Materialist, durch seine medizinische Ausbildung einer nüchternen Forschungsmethode verpflichtet,

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die Descartes' Gott nicht einmal als Hypothese brauchte, zur Welt der Träume zurück, wobei er entdeckte, welch großen Teil der menschlichen Realität Descartes verworfen hatte, als er streng an jenen wachen Augenblicken festhielt, die der rationalen Forschung leichter zugänglich sind.

Was in Descartes' Blickwinkel notwendigerweise fehlte, war die Erkenntnis, daß seine eigene Interpretation des Lebens als ein rein mechanisches Phänomen, den streng regulierten Bewegungen eines Automaten vergleichbar, nicht so transparent rational war, wie es ihm und vielen seiner Nachfolger erschien.

Man beachte schließlich die Implikationen von Descartes' mechanischem Absolutismus. Um der Klarheit und der voraussagbaren Ordnung willen war Descartes bereit, die charakteristischste Funktion aller Organismen außer acht zu lassen: die Fähigkeit, Erfahrung zu speichern und zu sammeln und Gegenwärtiges unter Bezugnahme auf Erinnertes wie auch auf Erwartetes oder Vorgestelltes stets neu zu interpretieren; vor allem ohne äußere Anleitung oder Kontrolle selbständig individuelle oder Gattungs- und Gruppenziele zu verfolgen. Aus dem gleichen Grund war Descartes blind für alle komplexen symbiotischen Wechsel­wirkungen, die Einfühlung, gegenseitige Hilfe und sensible Anpassung erfordern, wofür Aristoteles ihm zumindest hausbackene Illustrationen hätte liefern können.

Getreu den Prinzipien des Absolutismus glaubte Descartes lieber an einen vorherbestimmten Plan, Werk eines einzelnen Geistes, mit einem einzigen Zweck und zu einem einzigen Zeitpunkt; und er dachte, daß in geistigen Dingen, wie in der Politik, die besten Gemeinschaften »den Entscheidungen eines weisen Gesetzgebers folgen«. Er bezeichnete Reformatoren, die diese Entscheidungen zu ändern trachteten, als »rastlose, geschäftige unberufene«. Kein aktiver Organismus, keine historische Gruppe, keine lebendige Gemeinschaft paßt in diese cartesianische Konstruktion: Descartes nannte in Wirklichkeit die spezifischen Merkmale einer erfolg­reichen Maschine.

In seiner Auffassung von Methode und Rolle der Wissenschaft folgte Descartes also offen dem Stil des Renaissance-Despoten; er zog absolutistische Macht mit ihren prokrustischen Vereinfachungen einer demokratischen Regierung vor, mit ihrer geteilten Macht, ihren zähen Traditionen, ihren unbequemen historischen Widersprüchen, ihren Konfusionen, Kompromissen und Unklarheiten. Diese zu akzeptieren, ist jedoch der unerläßliche Preis für eine Methode, die imstande ist, das Leben in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu erfassen, ohne eine seiner Funktionen oder einen seiner Zwecke unerkannt, unberücksichtigt und unbeachtet zu lassen. Mit seiner Neigung zum politischen Absolutismus bahnte Descartes den Weg für die spätere Militarisierung sowohl der Wissenschaft als auch der Technik.

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Descartes sah nicht, daß die komplexen Prozesse und die einzelnen Ereignisse in der Geschichte und im Leben des einzelnen, die zumeist nicht zu beobachten und per definitionen unwiederholbar sind, nicht weniger wichtige Manifestationen der Natur sind als die Massenphänomene, die der Beobachtung, dem Experiment und der statistischen Beschreibung offenstehen. Infolgedessen wurde mechanische Ordnung, mit ihrer Klarheit und Vorhersagbarkeit, in den Köpfen von Descartes' Nachfolgern zum Hauptkriterium der Wirklichkeit und zur Quelle aller Werte, ausgenommen jener, die Descartes ganz in der Obhut der Kirche zu lassen vorzog.

 

  Der Wissenschaftler als Gesetzgeber  

 

Tatsächlich erhob Descartes den Wissenschaftler in den Rang eines absolutistischen Gesetzgebers, natürlich nicht den Wissen­schaftler als einzelnen, sondern in seiner kollektiven Rolle. Indem er den Menschen in eine »von Gott erschaffene Maschine« verwandelte, machte er stillschweigend jene, die imstande waren, Maschinen zu entwerfen und herzustellen, zu Göttern. Solange diese Fähigkeit äußerst beschränkt war, wie sie es bis in unser Jahrhundert tatsächlich geblieben ist, richtete das Streben nach gottähnlicher Macht wenig Schaden an; wenn überhaupt, dann stärkte es angesichts von Schwierigkeiten das Selbstvertrauen mit der Versicherung, daß »mit Gottes Hilfe« (mit Hilfe der Wissenschaft) jedes Projekt, wie gewagt es auch sein mochte, schließlich verwirklicht werden könnte.

Als gesunde Reaktion auf Aberglauben und Pseudowissen war diese cartesianische Klärung zunächst nützlich: Sie wirkte wie ein rasch fließender Strom reinen Wassers, der die Sandbänke verkrusteten Aberglaubens und subjektiven Irrtums, welche die Fahrt des alten Schiffs der Gedanken gehemmt hatten, fortschwemmte. Aber als ständiger Beitrag zum Denken und zum Leben erwies sich die mechanistische Denkweise an diesem historischen Wendepunkt als Verbündeter des politischen Absolutismus, denn die beiden standen in vollem Einklang miteinander.

»Der Körper des Menschen«, erklärte Descartes unumwunden, »ist nichts als eine Statue oder eine Maschine aus Erde.« Der lange Streit zwischen Organizismus und Mechanizismus hat seinen Kern in diesem dogmatischen »Nichts als«. Um zu beweisen, daß die Natur und das Verhalten von Lebewesen, mit Ausnahme des Menschen, vollständig aus rein mechanischen Prinzipien erklärt werden könne, benutzte Descartes natürlich das Beispiel, daß seit eh und je die Könige fasziniert hatte: den Automaten. Diese Faszination war keineswegs eine Laune oder ein Zufall: Automatische Figuren, in tierischer oder menschlicher Gestalt, »belebt«, wie wir sagen, durch ein Uhrwerk,

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waren die vollkommene Verkörperung des königlichen Anspruchs auf bedingungslosen Gehorsam, absolute Ordnung, Knopfdruck-Kontrolle, lauter Eigenschaften, welche seit dem Pyramidenzeitalter die Herrscher ihren Untertanen einzuimpfen trachteten. Der Erfolg selbst des einfachsten Automaten verlieh Descartes' Frage Nachdruck: Könnten nicht lebende Organismen befriedigend erklärt und beherrscht werden, indem man sie als Maschinen betrachtet?

Die spezifischen Lebensattribute erschienen Descartes »durchaus nicht seltsam für jene, die mit den vielfältigen Bewegungen von Automaten oder beweglichen Maschinen vertraut sind«. Diese oberflächliche Ähnlichkeit machte ihn blind für die ungeheure Kluft zwischen künstlich erzeugten, aus mechanischen Teilen bestehenden Maschinen und Organismen, in denen keine Zelle, kein Gewebe oder Organ irgendeine Existenz oder Kontinuität besitzt, außer als dynamischer Teil eines einheitlichen, sich selbst erneuernden Ganzen, dessen entscheidende Wesenszüge verschwinden, sobald das Leben aufhört.

Descartes bemühte sich, den Menschen aus seiner mechanistischen Interpretation auszunehmen, doch er beging den Fehler, zu behaupten, wenn man Maschinen bauen könnte, die in ihren Organen und in ihrer äußeren Form genau einem Affen oder einem anderen »vernunftlosen« Tier glichen, wären wir außerstande, sie in irgendeiner Hinsicht von diesen Tieren zu unterscheiden.

Vom logischen Standpunkt ist dieser Fehler zu offenkundig, um einer Widerlegung zu bedürfen: Denn Descartes machte gerade die Möglichkeit, die er zu beweisen suchte, zur Grundlage seiner Hypothese. Würde eine Maschine einem Organismus genau gleichen, dann wäre sie ein Organismus und keine Maschine; das heißt unter anderem, sie wäre imstande, sich ohne menschliche Hilfe selbst zu entwerfen und zu produzieren.

Die Aussparung des Menschen, die man Descartes allgemein als Ängstlichkeit auslegt, war in Wirklichkeit die Anerkennung der Ansprüche des subjektiven Lebens, der Überlegenheit der menschlichen Vernunft und des schöpferischen Charakters der einzigartigen Errungenschaft des Menschen: der Sprache. Dennoch hatte er wenig Verwendung für ein anderes Erklärungsprinzip als das der Maschine; dieses Prinzip, nicht Descartes' Vorbehalte, ist in die Methodologie der Wissenschaft eingegangen. »Man soll es so betrachten«, schrieb er, »daß diese Funktionen von dieser Maschine ganz natürlich, auf Grund der Zusammensetzung ihrer Bestandteile, ausgeübt werden, nicht mehr und nicht weniger, als eine Uhr oder ein anderer Automat sich auf Grund von Gewichten und Rädern bewegt, so daß keine Notwendigkeit besteht, ihnen deswegen eine vegetative oder sensitive Seele oder ein anderes Lebensprinzip als ihr Blut zuzuschreiben.«

Diese Passage zeigt, welchen tiefen Eindruck der lebensähnliche Uhrwerksmechanismus auf Descartes' Zeitgenossen und nicht zuletzt auf Descartes selbst machte.

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Kepler teilte diese Gefühle. In einem Brief aus dem Jahre 1605 sagte er: »Ich bin sehr beschäftigt mit der Untersuchung physikalischer Ursachen. Meine Absicht ist, zu zeigen, daß die Himmelsmaschine keinem gottgeschaffenen Organismus, sondern vielmehr einem Uhrwerk zu vergleichen ist.« Aber es war leichter, den Organismus auf eine solche Maschine zu reduzieren, als diesen Prozeß umzukehren und Maschinen in Organismen zu verwandeln. Dieser Ehrgeiz blieb unserem Zeitalter vorbehalten.

Es spricht für den Denker Descartes, daß er besser als viele seiner Nachfolger erkannte, daß sein mechanisches Modell auf Grund von »zwei ganz sicheren Kriterien« auf den Menschen nicht paßte. Die Menschen besitzen die Fähigkeit, Worte und Zeichen zu verwenden, »um anderen ihre Gedanken zu erklären«. Und die Menschen besitzen eine Willensfreiheit, die anderen Tieren fehlt oder bei ihnen zumindest nicht voll entwickelt ist. Wenngleich, sagte Descartes, ein nach rein mechanischen Prinzipien geschaffenes Geschöpf manche Handlungen sogar besser als der Mensch verrichten könnte - wie viele Maschinen es heute können -, sind die Grenzen seines Verhaltens durch seine Organe gesetzt, und diese Organe sind nicht genügend vielfältig, um mit ihren vorgezeichneten Reaktionen allen Vorkommnissen des Lebens in der Weise, »in der unsere Vernunft uns zu handeln befähigt«, zu begegnen.

Dies war ein großzügiges Zugeständnis und eine bedeutende Teilkorrektur; aber es wird dennoch den Fähigkeiten, die selbst viele niedrige Organismen besitzen, nicht gerecht. Tierische Instinkte und Reflexe sind, wie die Physiologen und die Ethologen heute sagen, genetisch nicht so Streng programmiert und in ihrem Verhalten viel anpassungsfähiger, als die postcartesianische Theorie lange Zeit behauptete. Descartes' übertriebener Glaube an die Maschine war ein Verhängnis für seine Theorie; dennoch entging er den chronischen Irrtümern späterer Generationen von Behavioristen, weil er nicht bereit war, den Menschen als behavioristischen Automaten zu behandeln. Daß Descartes für den Menschen nicht die gleichen Schlußfolgerungen zog wie für andere Organismen, wurde oft als feige Vorsichtsmaßnahme gegen kirchliche Verfolgung abgetan. Aber war es nicht vielmehr ein Beispiel wahrhaft wissenschaftlicher Umsicht?

 

  Das mechanische Modell neu überprüft  

 

Durch die Gleichsetzung von Organismen und Maschinen machte Descartes es möglich, die quantitative Methode, die sich bei der Beschreibung physikalischer Ereignisse als so nützlich erwies, auf organisches Verhalten anzuwenden. Um mehr über das Verhalten eines physikalischen

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Systems zu wissen, muß man es isolieren, es analysieren und seine meßbaren Elemente bis zum winzigsten Teilchen absondern — ein notwendiges Vorgehen, um zu erkennen, wie das System funktioniert. Will man aber über die Grenzen eines physikalischen Systems hinaus in den Bereich des Lebens eindringen, dann muß man das Gegenteil tun: mehr und mehr Teile zu einer organisierten Struktur verbinden, die, wenn sie lebendigen, in einer lebenden Umwelt agierenden Phänomenen näherkommt, so kompliziert wird, daß sie nur im Akt des Lebens reproduziert und intuitiv begriffen werden kann, da sie, zumindest beim Menschen, das Gehirn und dessen infra- und ultraphysische Aspekte einschließt.

Der Verfechter des Reduktionsverfahrens kehrt diesen Prozeß um: Er wagt es nicht einmal, auch nur andeutungsweise in die Richtung auf Organisation vorzustoßen, wie es nötig wäre, um das spezifische Wesen der Atome oder die Selbstreproduktion der Kristalle zu erklären - Aspekte der Materie, die den alten Ansichten von einem leblosen Weltall toter Atome, die zufällig zusammen­stoßen, widersprechen. Jeder Theorie reiner Kausalität oder statistischer Wahrscheinlichkeit zufolge ist Organisation ohne die Hilfe eines göttlichen Organisators völlig unwahrscheinlich.

Newton zögerte in seiner Optik nicht, diese Schlußfolgerung zu ziehen, wenn auch nur in bezug auf das physikalische Universum. Aber diese unausweichliche Bedingung kann, wie Szent-Györgyi meint, erfüllt werden, ohne daß man zur Theologie Zuflucht nimmt: indem man nämlich annimmt, daß der Organisator dem kosmischen System von Anfang an innewohnt, und die Gestaltung nicht irgendeinem ursprünglichen Plan zuschreibt, sondern der zunehmenden Tendenz organisierter Prozesse und Strukturen, sich mit der selektiven Hilfe von Organismen zu zweckvolleren Ganzheiten zu verbinden.

Hier verleitete Descartes' ursprüngliche Anerkennung der lebensähnlichen Eigenschaften des Uhrwerks, die eine hochentwickelte Form mechanischer Organisation darstellen, ihn dazu, den Mechanismusbegriff in die Analyse des organischen Verhaltens einzuführen. Dies ist eine Pseudoerklärung, denn sie untergräbt sein eigenes Argument. Teleologische organische Entwicklung und kausaler Determinismus sind antithetische Begriffe, die in Wirklichkeit an entgegengesetzten Polen stehen. Wie Hans Driesch schon vor langer Zeit festgestellt hat, ist es noch niemand gelungen, ein Haus zu bauen, indem er ziellos Steine auf den Bauplatz warf: Nach einem Jahrhundert hätte man immer noch bloß einen Haufen Steine. Um das sinnvolle Verhalten von Lebewesen zu erklären, führte Descartes das Konzept der Maschine ein, die mehr als irgendein vorstellbarer Organismus vom Anfang bis zum Ende das Produkt zweckbestimmter Planung ist. Mehr noch als Newtons göttlicher Organisator führte das mechanische Modell die Teleologie oder Zweckbestimmtheit in ihrer klassischen Form ein: eine zweckvolle Organisation für ein genau vorherbestimmtes Ziel. Dies hat keinerlei Entsprechung in der organischen Evolution.

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Tatsächlich ist die Kluft zwischen der Kausalität oder der artverwandten statistischen Wahrscheinlichkeit, dem reinen Zufall und jedweder Form von funktionierendem Mechanismus unüberbrückbar. Maschinen, wie wenig entwickelt sie auch seien, sind Verkörperungen eines klar artikulierten Zwecks, in bezug auf die Vergangenheit wie auf die Zukunft so eindeutig festgelegt, daß selbst der niedrigste Organismus, wäre er ähnlich strukturiert, unfähig wäre, genetische Mutationen zu nutzen oder auf neuartige Situationen zu reagieren.

Anderseits haben Organismen, im Unterschied zu Steinen, Kanonenkugeln und Planeten, eine Zukunft, die teilweise vorher­bestimmt ist durch die gesamte Entwicklung der Spezies und des organischen Lebens überhaupt, von Anfang an und sogar noch vorher durch die Herausbildung der chemischen Elemente selbst. Vergangene Ereignisse, die eine Milliarde Jahre zurückliegen, sind immer noch in lebenden Zellen und Organen vorhanden, wie das Salz im Blut, das an die Entstehung des ersten Lebens im Meer erinnert; und künftige, ebenso ferne Entwicklungsmöglichkeiten können in unerkennbarer subjektiver Form in einer gegebenen organischen Konstellation vorhanden sein. Die rein kausale Analyse dessen, was in einer befruchteten Eizelle unmittelbar sichtbar ist, würde keinen Hinweis auf deren spätere Entwicklung geben, wenn nicht der Beobachter bereits die Geschichte der Spezies kennen würde: nicht nur die Embryogenese und die Ontogenese, sondern auch die Phylogenese.

Geschichte spielte im Weltbild Galileis und Newtons leider keine Rolle, obwohl Physiker heute sagen, daß vom theoretischen Standpunkt auch im physikalischen Universum eine historische Entwicklung, beginnend mit dem Wasserstoffatom, angenommen werden muß. Indem Descartes zur Erklärung organischen Verhaltens den Begriff eines künstlichen Mechanismus einführte, stellte er insgeheim dieselben subjektiven Attribute wieder her: Plan, Zweck, telos. Ironischerweise glaubten Galilei und auch Descartes selber, diese Begriffe, als außerhalb des Bereiches der positiven Wissenschaft liegend, eliminiert zu haben.

In meiner Interpretation kehre ich die konventionelle Auffassung von Kausalität, Zufall, statistischer Ordnung und zweckvoller Anlage um und gebe dem Organismus, als einem funktionierenden Ganzen mit all seinen unbeschreibbaren Fähigkeiten, jene Rolle, die Descartes der Maschine gab. Um diesen Standpunkt klarzustellen, schlage ich vor, das wirkliche Wesen der Maschine - jeder Maschine - zu untersuchen, um zu sehen, ob sie mit Hilfe der rein analytischen Methode in den begrenzten Begriffen, die auf lebende Organismen angewandt wurden, adäquat beschrieben und verstanden werden kann.

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Läßt sie sich auf diese Weise nicht beschreiben, dann verfehlt die Bezugnahme auf dieses Modell zur Deutung organischen Verhaltens offenkundig die eine wichtige Eigenschaft, die Mechanismen und Organismen tatsächlich gemeinsam haben — nämlich zweckvolle Organisation und subjektive Sinngebung.

Einfachheitshalber wollen wir Galileis eigener Methode folgen und ein hypothetisches Experiment machen. Nehmen wir eine Uhr, die »vom Himmel gefallen« ist, und nehmen wir an, daß die Geschichte der Zeitmessung und die Funktion der Uhr so gänzlich unbekannt wären, wie es Ursprünge und Funktionen lebender Organismen vor vierhundert Jahren waren. Lassen wir dieses seltsame Instrument von einer Gruppe verschiedener Spezialisten untersuchen, wobei jeder einen Bestandteil herausnimmt: das Glas, das Ziffernblatt, die Zeiger, die Federn, die Räder, die Unruh und so weiter, bis die Uhr vollständig zerlegt ist. Dann lassen wir jeden Teil von qualifizierten Physikern, Chemikern, Metallurgen und Mechanikern, von denen jeder in seinem eigenen Laboratorium arbeitet, genau messen, photographieren und analysieren. Wenn ihre Berichte beisammen sind, wird jeder Teil, der wissenschaftlicher Untersuchung zur Zeit zugänglich ist, in objektiven, dem Prinzip der Reduktion entsprechenden Kategorien genau bekannt sein. Für eine solche Analyse reicht das Kausalitätsprinzip aus, es sei denn, die Forscher dringen bis zu den Atomkernen vor.

Aber inzwischen ist die Uhr verschwunden. Und mit ihr die Konstruktion, die die Teile zusammenhielt, sowie jeder sichtbare Hinweis auf die Funktionen der einzelnen Teile, die Zusammensetzung des Mechanismus und den Zweck der Uhr. Wer würde es wagen, unter diesen Umständen zu behaupten, daß jemand, der nur die einzelnen Teile kennt, imstande wäre, diese Teile wieder zusammenzusetzen oder zu verstehen, wie sie funktionierten und, vor allem, welchem Zweck sie dienten? Nur die Geschichte könnte eine ausreichende Antwort liefern, um es einem fähigen Kopf zu ermöglichen, das Werk zusammenzubauen und die Uhrzeit anzugeben.

Nun können aber die Konstruktion der Uhr und die Funktionen ihrer einzelnen Teile nur erfaßt werden, wenn die Uhr als ein zweckvolles dynamisches Ganzes betrachtet wird. Eine rein kausale Analyse der einzelnen Komponenten wirft kein Licht auf die Zweckmäßigkeit des funktionierenden Mechanismus. Wenngleich es vorstellbar ist, daß eine Montage der Teile durch eine Reihe von wunderbaren Fügungen ohne subjektive Kenntnis des Endzwecks - die Zeit anzuzeigen - erreicht wird, würde der tote Mechanismus mysteriös und sein Zweck ein Rätsel bleiben. Sogar die zwölf Zahlen auf dem Zifferblatt würden keinen Sinn geben in einer Kultur, die den Tag nicht in zweimal zwölf Stunden einteilt.

Sollten die Teile der Uhr also durch glücklichen Zufall und geschicktes Experimentieren zusammengefügt werden, so wäre nach wie vor die Bewegung der Zeiger noch unverständlich, und die Notwendigkeit, das Tempo der Bewegung im Einklang mit einem planetarischen Zeitmesser zu regulieren, würde sich niemals ergeben. Die kausale Analyse hat per definitionem nichts mit den letzten menschlichen Zielen zu tun.

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Was also wird aus dem Versuch einer kausalen (nichtteleologischen) Erklärung lebender Organismen mit Hilfe des Mechanismus? Offenbar kann man das Funktionieren der Uhr nicht erklären, ohne jene menschlichen Faktoren wieder einzuführen, die die wissenschaftliche Methode so energisch eliminiert hat: Astronomen, Zeitmessung und zeitorientierte Tätigkeiten sowie Mechaniker und Uhrmacher. Mit anderen Worten, die mechanische Metapher an sich ist kein geeignetes Mittel zur Eliminierung rein menschlicher Beziehungen, denn Mechanismen sind selbst subjektiv konditionierte Erzeugnisse, und ihre besonderen Eigenarten, die gewisse Aspekte von Organismen nachahmen, sind genau das, was erklärt werden muß. Für sich gesehen, präsentieren Maschinen ein Rätsel, keine Erklärung. Die Antwort auf dieses Rätsel liegt in der Natur des Menschen.

Nun sollte aber keiner, der die Geschichte der Zeitmessung kennt, sich verleiten lassen, einen übermenschlichen Uhrmacher, gleich dem Gott des Erzdiakons Paley, zu Hilfe zu rufen und zu meinen, die Idee der Uhr habe in Seinem Geist von Anfang an existiert. Die nüchternen Fakten der Geschichte sprechen nicht für diese Auffassung. Die frühesten Zeitmeßgeräte — Sonnenuhren, Kerzen, Wasseruhren, Stundengläser — geben durch ihre physikalische Beschaffenheit oder ihre Funktionsweise kaum einen Hinweis auf die spätere mechanische Uhr.

Um zu einem solchen Zeitmesser zu gelangen, hätte der Uhrmacher in jeder Erfindung und Verbesserung versteckt sein müssen, und tatsächlich war dieser unsichtbare und nicht identifizierbare Uhrmacher in genau der subjektiven Form präsent, die sein Verstecktbleiben garantierte: als Gedanke im menschlichen Geist. Der Schlüssel zu all diesen Geräten, einschließlich der mechanischen Uhr, ist der Begriff der Zeit und der Zeitmessung: ein subjektives Phänomen, das jedes Zeitmessungsgerät vorwegnahm. Dieser Zeitbegriff kann nicht räumlich bestimmt werden, trotz endloser räumlicher Manifestationen, sowohl physikalischer als auch symbolischer Art.

Kurz, nur der Zweck, die Zeit anzuzeigen, erklärt die lange Folge von Erfindungen und Verbesserungen; desgleichen die spezifischen Eigenschaften jedes Teils des Zeitmessungsmechanismus. Obwohl dieser Zweck an keinem Punkt irgendetwas anderes als den nächsten geeigneten Schritt bewirkt, gäbe es ohne das hartnäckig verfolgte Ziel keinen nächsten Schritt, sondern nur die Verausgabung von Energie und den schließlichen Zerfall der Teile, die einmal zusammengehörten.

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Dies auszusprechen, heißt, so fürchte ich, jene zutiefst schockieren, die an der cartesianischen Doktrin festhalten, sei es im Zusammenhang mit den chemischen Elementen, mit Maschinen oder auch mit Organismen: nämlich, daß Identifizierung, Artbildung, Verbindung, Organisation, Zweck und Transzendenz nicht zufällige Nebenprodukte von Masse, Energie und Bewegung sind, sondern ursprüngliche Komponenten desselben Systems. Gewiß, diese organischen Eigenschaften treten erst in späteren Stadien der kosmischen Entwicklung auf und werden nur durch den menschlichen Geist am höchsten Punkt der Entwicklung sichtbar. Obwohl im frühesten Zustand nicht wahrnehmbar und nicht erkennbar, müssen die Lebensattribute, wie Leibnitz behauptete, potentiell von Anfang an vorhanden gewesen sein. Die Tatsache, daß jedes Element im periodischen System bestimmte Eigenschaften besitzt, die es kennzeichnen und die Möglichkeiten seiner Verbindungen mit anderen Elementen bestimmen, weist darauf hin, daß Artbildung schon in präorganischen Formen existiert, mit ähnlichen Beschränkungen, wie sie auf die Verbindungen zutreffen, die organische Formen möglich machen.

Wie bei der Aufeinanderfolge der Zeitmessungserfindungen ist weder ein äußerer Schöpfer noch ein vorherbestimmter Plan erforderlich, um das Wachstum organisierter Kreativität und selbstverwirklichender Anlage zu erklären. Das gesamte Resultat dieses Prozesses ist eine schöne und unvorstellbare Überraschung: »Wenn Gott die Antwort wüßte, würde er sich nicht die Mühe nehmen, sie auszuführen.« Doch der Physiker wird beim Wasserstoff-Atomkern mit der Tatsache konfrontiert, daß er dessen Verhaltensmuster nicht erklären kann, ohne einen unsichtbaren Vermittler zu Hilfe zu nehmen, den wir nur in seiner menschlichen Form kennen: nämlich den Geist. Der spezifische Charakter der Elemente, die scheinbar aus den ursprünglichen, im Wasser­stoffatom dynamisch zusammengehaltenen Ladungen entstanden sind, trotzen jeder Erklärung, außer der in den gleichermaßen unerklärbaren Kategorien des Geistes. Zwischen diesem Alpha und Omega, dem Anfang und dem Ende, liegt das Geheimnis des Lebens. Man zerstöre die undefinierbare subjektive Komponente, und der ganze kosmische Prozeß wird, wie der Prozeß der Zeitmessung, bedeutungslos — ja unvorstellbar.

Ich bin auf dieses Thema ausführlicher eingegangen, obwohl es scheinbar außerhalb des Bereiches der Technologie liegt, weil Descartes' Analyse der Maschine und seine Bewunderung für deren Automatik von so starker Wirkung war und noch ist, daß sie den abendländischen Menschen bewog, die einzigartige subjektive Qualität der Organismen und vor allem die symbolische Leistung, mit welcher der Mensch dem Sein Sinn und Zweck verleiht, zu mißdeuten und zu unterschätzen. Keine Maschine, wie komplex sie auch sein mag, oder wie genial ihr Erfinder, kann — und sei es nur theoretisch — zu einem Doppelgänger des Menschen gemacht werden; denn um das zu sein, müßte sie sich auf zwei oder drei Milliarden Jahre vielfältigster Erfahrung stützen können.

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 Diese Verkennung der Bedeutung kosmischer und organischer Erfahrung erklärt im wesentlichen den anmaßenden Anspruch unseres Zeitalters, mit seiner Verheißung sofortiger Lösungen und Wandlungen - die sich allzuoft als sofortige Zerstörung und Vernichtung erweisen.

Die Elemente, die in Descartes' stark vereinfachtem mechanischen Modell und in der wissenschaftlichen Auffassung, die, bewußt oder unbewußt, dieses Modell übernommen hat, fehlen, sind Geschichte, symbolische Kultur, Geist - mit anderen Worten, die Totalität menschlicher Erfahrung, nicht nur im Bewußtsein festgehaltene, sondern erlebte; denn jedes lebendige Geschöpf weiß etwas vom Leben, das selbst der brillanteste Biologe nicht entdecken kann, wenn er es nicht erlebt. Nur den Abstraktionen des Verstandes oder den Funktionen von Maschinen Beachtung zu schenken, Empfindungen, Gefühle, Einfälle, Phantasien, Gedanken zu ignorieren, bedeutet, den lebendigen Organismus durch nackte, an Fäden gezogene Gerippe zu ersetzen. Der Kult der Lebensverneinung beginnt insgeheim bei dieser Bereitwilligkeit, Organismen auszuschalten und Wünsche und Bedürfnisse zu zügeln, um sich der Maschine anzupassen.

Vor diesem evolutionären Hintergrund organischer Vielschichtigkeit, ergänzt durch die Totalität erlebter und überlieferter menschlicher Erfahrung, muß die künstliche Einfachheit und Klarheit des mechanischen Weltbildes und der aus ihm abgeleiteten Institutionen kritisch überprüft werden. Die Vorstellung, daß objektive Forschung, wenn sie nur genügend differenziert ist und weit genug vorangetrieben wird, all das zu enthüllen vermag, wovon wir heute nur subjektiv begrenzte Teilkenntnisse besitzen, ist reine Illusion. Die »Maschine in Muttis Bäuchlein« und »die Startkurbel, die sie in Gang setzt«, sind nur eine verzeihliche Karikatur jener Art von Erklärung, der Galilei und Descartes Wahrscheinlichkeit verliehen, als sie subjektive, erinnerte oder unwiederholbare Phänomene aus der Welt ausschlössen, die sie zu beschreiben suchten. Damit verwarfen sie das, was nur erfahren, aber niemals exakt beobachtet werden kann, denn die Beobachtung deformiert - wie Biologen und Physiker heute entdeckt haben - das Wesen des beobachteten Objekts.

Die Lösung dieses Problems ist eine menschliche, und es blieb einem Dichter überlassen, sie zum Ausdruck zu bringen. In A Considerable Speck erzählt Robert Frost von seiner Begegnung mit einer Papiermilbe, die ihm beim Schreiben über die Seite kroch, Frosts erhobene Feder bemerkte und sichtbar erschrak. Dieses Verhalten erweckte in Frost genügend Mitgefühl, um das Leben der Milbe zu schonen.

»Ich habe selber eine Seele und erkenne Seele, 
in jeglicher Gestalt, die mir begegnet.«

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Damit will der Dichter sagen, daß Macht und Wissen weder die eigene Menschlichkeit untergraben noch den Sinn für tätige Verbundenheit mit allen anderen Lebensformen zerstören dürfen.

Ich möchte ein letztes Beispiel anführen, das zeigt, wie weit die objektiven Methoden der Wissenschaft noch davon entfernt sind, eine umfassende und einheitliche Beschreibung der Lebensphänomene zu geben. Bis zum Anfang dieses Jahrhunderts wurden Träume als für die Wissenschaft uninteressant angesehen, trotz der Tatsache, daß jede frühere Kultur sich mit Träumen befaßte und sie zu deuten versuchte. Der erste systematische wissenschaftliche Versuch, in diese Welt subjektiver Phantasie einzudringen, wurde von Sigmund Freud gemacht, der seine eigenen Träume analysierte, sich von seinen Patienten deren Träume erzählen ließ und versuchte, Traumbilder mit bekannten Impulsen und pathologischen Reaktionen in Verbindung zu bringen.

Obwohl sich die solcherart gewonnenen Erkenntnisse oft als aufschlußreich erwiesen, waren sie ungewiß und schwer zu bewerten, denn die verschiedenen Traumdeuter messen den gleichen Bildern und Handlungen oft unterschiedliche Werte bei. Als Reaktion auf diese Methode hat eine Gruppe von modernen Wissenschaftlern, die sich mit der Diagnose von Hirnstörungen durch Aufzeichnung elektrischer Gehirnwellen befaßten, versucht, subjektive Schlaferlebnisse mit Augenbewegungen und den im Elektro­enzephalogramm registrierten Wellen in Beziehung zu setzen.

Diese Entdeckungen bilden objektives, allgemein zugängliches Wissen, weshalb die Forscher ihre Resultate für authentischer ansehen als den verbalen Traumbericht. Doch die Hoffnung, aus so gewonnenen Daten direkte Information über den Trauminhalt herauszuholen, ist unbegründet — dies ist so unmöglich wie die Ableitung der Farbempfindung aus der Anzahl der Licht­schwingungen. Nur jemand, der subjektiv Farben erkennen kann, ist imstande, eine wahrgenommene Farbe mit deren Bezeichnung und der entsprechenden Wellenlänge in Beziehung zu bringen. So verhält es sich auch mit den Träumen: Selbst wenn ihr Inhalt von einem Diagramm exakt abgelesen werden könnte, müßte der Untersucher sich dennoch auf die Bestätigung des Träumers stützen, ob diese objektive Deutung richtig sei, und ohne diese subjektive Verifizierung — die selbst nicht verifizierbar ist! — bleiben seine eigenen Behauptungen zweifelhaft, wenn nicht wertlos.

Das ist ein Testfall; und ich führe ihn in diesem Anfangsstadium der Untersuchung der technologischen Konsequenzen des neuen Weltbildes an, weil er zeigt, wie zweckwidrig das Vorurteil gegen die Subjektivität im unterdimensionierten mechanischen Modell in Wirklichkeit ist. Ist es dann noch verwunderlich, daß eine Welt, die bewußt auf Maschinen und mechanisierte Menschen abgestellt ist, sich gegenüber organischen Realitäten und menschlichen Bedürfnissen zunehmend feindselig verhält?

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Da es eines mehr auf das organische Leben gerichteten ideologischen Systems ermangelte, ist wohl nichts Merkwürdiges daran, daß unsere einseitige Technologie den Menschen von seinen biologischen Möglichkeiten abgeschnitten und ihn seiner historischen Identität, der vergangenen wie der künftigen, entfremdet hat.

Eine Einschränkung muß jedoch gerechterweise gemacht werden. Die analytische Denkweise mit ihrer Abkehr von der Komplexität des Organischen war nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Technik von großem Vorteil; denn die Befreiung vom Organischen war der erste Schritt zur Schaffung leistungsfähiger Maschinen. Die Zerlegung eines komplexen Objekts in seine Elemente ermöglichte es, diese in einer relativ einfachen Maschine neu miteinander zu verbinden; und die Übung, physikalische Komponenten aus ihren gewohnten konkreten Erscheinungsformen herauszulösen, erleichterte in hohem Maße die Erfindungen.

Die ersten unbeholfenen Versuche, ein Flugzeug zu bauen, waren erfolglos, weil die physikalischen Voraussetzungen des Fliegens allzu eng mit Flügelschlagen assoziiert wurden. Aders großes Flugzeugmodell, das heute noch im Conservatoire des Arts et Metiers in Paris hängt, hat nicht nur bewegliche Flügel, sondern seine Flügel und Propeller haben die Form von Vogelfedern. Kein Wunder, daß es nicht flog. Auch kein brauchbarer Automat könnte einem menschlichen Wesen mit Armen und Beinen nachgebildet werden, wenngleich den ersten Robotern tatsächlich quasimenschliche Form gegeben wurde.

Analyse, Zergliederung und Reduktion waren die ersten Schritte zur Schaffung komplexer technischer Strukturen. Ohne das mechanische Weltbild, das die verschiedenen in ihm dargestellten Aspekte der physikalischen Welt zusammenhielt, und ohne die Maschinen selber, welche die Teile zu zweckvollen Pseudo-Organismen vereinigten, wäre das ganze Streben nach , mechanisierter Herrschaft, das die letzten drei Jahrhunderte kennzeichnet, vermutlich gescheitert.

Der vielleicht schwerste Fehler in Descartes' Philosophie bestand darin, daß dieser die Zweiteilung der Kultur gelten ließ; zwar war er bereit, alle Phänomene der äußeren Natur zu untersuchen, wandte aber diese Methode nicht auf das subjektive Leben des Menschen an, wo ihre Unzulänglichkeit offenbar geworden wäre, sondern respektierte das Monopol der Kirche in dieser Sphäre als unanfechtbar und endgültig. Indem er die menschliche Seele gänzlich den Theologen überließ, verabsäumte er es, sich um eine Methode zu bemühen, die ein einheitliches Herangehen an jeden Teil der Natur ermöglicht hätte, einschließlich jener Vorgänge, die dem äußeren Blick verborgen, individuell, unwiederholbar, persönlich sind: der Welt der Erinnerung und der Zukunft, der Geschichte und der Biographie des ganzen Menschengeschlechts.

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Dies war eine unheilvolle Erschwernis für das Zustandekommen eines einheitlichen und allgemein anwendbaren Denksystems; denn es veranlaßt immer noch den orthodoxen Wissenschaftler, sein Denken automatisch gegen ungeklärte Erscheinungen — etwa jene der Parapsychologie — zu verschließen, für die es im gegenwärtigen System der Wissenschaft noch keine Erklärung gibt. Die wissenschaftliche Methode ließ für jede provisorische Wahrheit die Möglichkeit weiterer Untersuchung und Korrektur offen — vorausgesetzt, daß die Postulate des Systems unangetastet blieben. Da die Wissenschaft keinen Weg zu individueller und subjektiver Erfahrung wies, war sie gezwungen, entweder deren Bedeutung oder deren Existenz zu leugnen.

Kennt man die Kultur des siebzehnten Jahrhunderts, so braucht man nicht überrascht zu sein, daß seine repräsentativen Denker, von Galilei bis Newton, nicht willens waren, die Domäne der Religion gänzlich zu verlassen und die traditionellen Interessen und Erfahrungen, die sie verkörperte, aufzugeben. Aber selbst Jahrhunderte später, als die Dogmen der Kirche ihren früheren Einfluß verloren hatten und Männer wie Freud die in Träumen, Phantasien und unbewußten Vorstellungen sich manifestierende Subjektivität methodisch zu untersuchen begannen, rechneten die orthodoxen Wissenschaftler es sich zur Ehre an, Gefühle, Emotionen und Werturteile aus ihrem Arbeitsbereich auszuschließen; kühl und leidenschaftslos gelten immer noch als lobenswerte Attribute eines Wissenschaftlers.

Selbst Freud fühlte sich gezwungen, seinen streng wissenschaftlichen Materialismus zu betonen, um den Dämonen und Monstern des Unbewußten, die er an die Oberfläche brachte, einen Mantel der Respektabilität umzuhängen. Im Gegensatz dazu hat Bertrand Russell, nach Schilderung der harten Selbstverleugnung, die das wissenschaftliche Vorgehen erfordert, es für notwendig gehalten, den Mystiker, den Liebenden und den Dichter mit ihrem »Erbe an Kultur und Schönheit« als Korrektur einzuführen. 

Hätte die Wissenschaft, wie sie im siebzehnten Jahrhundert verstanden wurde, alle Naturphänomene, den Menschen inbegriffen, umfaßt, so wären weder der Theologe noch der Mystiker, der Liebende und der Dichter gleich zu Beginn so gebieterisch aus ihr verbannt worden; und man hätte auch nicht — wie Herbert Spencer und viele andere — annehmen können, die Wissenschaft, wenn umfassender und radikaler betrieben, würde sie am Ende eliminieren.

In Wirklichkeit waren also Descartes' Anforderungen an die wissenschaftliche Methode zu bescheiden; denn wenn sie einen Schlüssel zum Verständnis aller Aspekte des Universums lieferte, müßte sie imstande sein, auf ihre besondere Art auch den gesamten Bereich moralischer Werte und religiöser Ziele zu erfassen und jede Wahrheit, die sie erkannt und zum Teil in sich aufgenommen hat,

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zu formulieren und zu verwerten und so den Geist zu befreien von der disziplinlosen, ungeordneten Subjektivität mit ihrem unangebrachten Animismus und ihrer Anhäufung todgeweihter, jahrhundertelang allzu sorgfältig konservierter Irrtümer.

Das Monopol der Kirche auf das subjektive Leben zu akzeptieren oder es verworrener Magie und vulgärem Aberglauben auszuliefern, bedeutete, der Überprüfung menschlicher Erfahrung und der Erforschung der Wahrheit Grenzen zu setzen. Das Innenleben konnte nicht auf ewig ein Niemandsland bleiben, wo Heilige, Zigeuner, Fürsten, Bettler, Künstler und Wahnsinnige sich breit machten und kostbare menschliche Energie mit der Errichtung einer endlosen Reihe verrückter Luftschlösser vergeudeten. Indem Descartes sich den Realitäten des subjektiven Lebens entzog, verwarf er die Möglichkeit, ein einheitliches Weltbild zu schaffen, das jedem Aspekt menschlicher Erfahrung gerecht würde — diese unerläßliche Vorbedingung für die »Weiterentwicklung des Menschen«.

 

  Das Versagen des mechanischen Weltbilds  

 

Von Descartes bis in unser Jahrhundert haben alle, außer den tiefsten wissenschaftlichen Denkern, eine mechanistische Erklärung des organischen Verhaltens als ausreichend akzeptiert. Und als die Maschinen lebensähnlicher wurden, lernte der abendländische Mensch, in seinem täglichen Verhalten maschinenähnlicher zu werden. Diese Verschiebung zeigt sich bereits in der Wandlung, die das Wort Automat durchmachte, das in England schon 1611 verwendet wurde. Zuerst bezeichnete dieser Ausdruck selbständige Wesen, die sich aus eigener Kraft bewegen konnten, aber bald sollte es das genaue Gegenteil bedeuten: eine Vorrichtung, die sich nicht selbständig, sondern »unter für sie, nicht von ihr geschaffenen Bedingungen« bewegt (New Oxford Dictionary).

Doch obgleich alle Komponenten der Maschinen — Masse, Energie, Bewegung, die chemischen Elemente und ihre Reaktionen und Verbindungen — in der Natur vorkommen, gibt es in der unbelebten Natur keinerlei Maschinen oder zweckvolle mechanischen Gebilde; selbst die einfachsten Mechanismen sind nur innere oder äußere Produkte von Organismen. Wenn einzelne Prozesse innerhalb des Organismus angemessen und exakt als Mechanismen beschrieben werden können, so gerade deshalb, weil die Herstellung und Entwicklung von Mechanismen als funktionierende Arbeitseinheiten ein spezifischer organischer Wesenszug ist — einer, den keine präorganische Kombination von Elementen durch zufällige Kollisionen, Anhäufungen oder Explosionen, ganz gleich, wie oft sie sich wiederholen oder wie lang sie andauern, zustandebringen kann.

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Wenn Maschinen einfach genug sind, um uns das Verhalten von Organismen besser verstehen zu helfen, so deshalb, weil die Mechanismen des organischen Verhaltens allzu dynamisch, allzu komplex, allzusehr qualitativ differenziert und allzu vielfältig sind, um anders als durch eine solche Vereinfachung begriffen zu werden. Aber nicht die Maschine erklärt zweckvolle Organisation, sondern organische Funktionen erklären die Maschinen.

Das entscheidende Merkmal aller Maschinen, auch des lebensähnlichsten Computers, besteht darin, daß ihre Kräfte und Funktionen abgeleitet sind: Ihre zunehmend lebensähnlichen Eigenschaften sind alle aus zweiter Hand. Keine Maschine kann eine andere Maschine erfinden, noch kann sie, wenngleich sie einen erniedrigenden Zusammenbruch erleiden mag, die Erniedrigung wissentlich durch Selbstmord zum Ausdruck bringen. Weder Hoffnung noch Verzweiflung sind Teil ihrer Ausstattung. Noch weniger kann eine Maschine unbegrenzt ihre Tätigkeit fortsetzen, wenn menschliches Interesse und menschliche Mitwirkung an ihr aufgehört haben. Gewiß, Erfinder von Computern haben Elemente ohne Zweckbestimmung eingeführt, um Kreativität zu simulieren, oder zumindest jene Pseudo-Kreativität, die mit elektronischen Gedichten oder elektronischer Musik verbunden ist, aber das Instrument selbst besitzt dieses Vermögen nicht, solange der menschliche Geist es nicht einführt.

Diese Einschränkung gilt auch für den Versuch, der Maschine eines der Hauptmerkmale lebender Organismen zu geben: die Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren. Obwohl die Selbstreproduktion einer Maschine bei einer ausreichenden Anzahl von Teilen und einem genügend detaillierten Programm theoretisch möglich ist, beruht diese vermeintliche Leistung auf einer naiven Selbsttäuschung. Wer gibt der Maschine die Anweisungen zur Selbstreproduktion? Sicherlich nicht die Maschine selbst oder ein Urmodell. Keine Maschine besitzt den notwendigen Impuls zur Reproduktion ihrer eigenen Anlage oder vermag sich die nötigen Materialien anzueignen und sie zu formen. Nichts, was einer Selbstreproduktion gleicht, kann in einer Maschine geschehen, es sei denn durch Vorsorge des menschlichen Geistes. In dieser entscheidenden Frage der Reproduktion, die für jede Nachahmung des Lebens wesentlich ist, gilt Samuel Butlers verkehrte Definition des Menschen: Er ist, auf den kleinsten Nenner gebracht, »eine Maschine, die andere Maschinen machen kann«.

Obwohl mechanische Prozesse (Tropismen, Reflexe, Hormone) zu den wesentlichen Attributen organischer Aktivität gehören, ist die umgekehrte Vorstellung, daß der Organismus einfach auf ein Bündel von Mechanismen reduziert werden könne, kaum auf eine Bakterie und noch viel weniger auf höhere Organismen anwendbar. Organismen gleichen Maschinen am ehesten in den niedrigen Funktionen, die aus dem Bewußtsein ausgeschieden sind, während Maschinen den Organismen in höheren Funktionen

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ähneln, die mit zweckvollen Konstruktionen verbunden sind. Millionen Jahre existierten Organismen ohne die Hilfe irgendwelcher Mechanismen, außer denen, die das Lebewesen selbst erzeugen konnte; der Mensch lebte bis vor ungefähr fünftausend oder sechstausend Jahren ohne komplexe Maschinen, und selbst da waren seine ersten großen Maschinen hauptsächlich aus menschlichen Teilen zusammengesetzt, die vom menschlichen Geist mechanisiert und organisiert wurden. Die bewußte Entwicklung von Mechanismen ist ein spezifisch menschlicher Wesenszug, in der Organisation von Sprache und Ritual ebenso sichtbar wie in Maschinen aus Holz- und Metallteilen. Der Geist selber könnte beinahe als die Fähigkeit des Organismus, seine eigenen Mechanismen zu schaffen, zu benützen und zu transzendieren, definiert werden.

Hätte Descartes nur das wirkliche Wesen der Automaten genauer betrachtet, anstatt sich von ihren oberflächlich lebensähnlichen Bewegungen hypnotisieren zu lassen, hätte er entdeckt, warum sie so wenig Ähnlichkeit mit höheren Organismen besitzen; denn beim besten Willen kann man vom höchstentwickelten Typus eines mechanisch-elektrischen Apparats nur sagen, daß er ein unzulänglicher oder unterdimensionierter Mechanismus ist. Doch der Wunsch, den Menschen auf eine Maschine zu reduzieren, um in der Armee, in der Fabrik oder in jeder anderen potentiell widerspenstigen Ansammlung von Menschen ein einheitliches Verhalten zu bewirken, war im siebzehnten Jahrhundert so stark, daß Descartes' Auffassung, so abscheuerregend sie für das christliche Dogma war, von progressiven Denkern als die einzig mögliche angenommen wurde.

1686 konnte Robert Boyle, der skeptische Chemiker obwohl er ein frommer Mann der Kirche blieb —, von »diesem lebenden Automaten, dem menschlichen Körper«, sprechen. Und volle zwei Jahrhunderte später konnte Thomas Henry Huxley in seiner Schrift Animal Automatism immer noch sagen, es gebe »weder bei Menschen noch bei Tieren einen Beweis dafür, daß eine Veränderung im Bewußtsein die Ursache einer Veränderung in der Bewegung der Materie des Organismus ist«. Huxley war Descartes' theoretischem mechanischen Modell noch so tief verbunden, daß er die Fülle allgemein bekannter Gegenbeweise völlig übersah — so etwa die Tatsache, daß einige wenige Worte in einem Telegramm die Wangenmuskeln zu einem Lächeln zusammenziehen oder den Leser vor Schreck tot umfallen lassen können.

Diese Übertragung der spezifischen Züge von Maschinen auf Organismen erhöhte faktisch das mechanische Produkt über seinen Schöpfer. Dieser Irrtum hat in unserer Zeit katastrophale potentielle Folgen: die Bereitschaft militärischer und politischer Strategen, mit den von ihnen selber geschaffenen Vernichtungswaffen — Atombomben, Raketen, tödlichen Giften und Bakterien — die Menschheit auszurotten.

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Aber diese schwere Fehlinterpretation hat auch eine eher erheiternde Folge in der Biologie: Statt mit teleologischen Erklärungen der organischen Entwicklung aufzuräumen, hat sie unter dem Deckmantel des Mechanismus eben die Eigenschaft, die sie auszu­schließen vorgab, frech wieder eingeschmuggelt, noch dazu in der berüchtigtesten und unhaltbarsten Form, welche die christlichen Theologen von Aristoteles übernommen hatten.

Im Gegensatz zu einem Organismus, der ein nach außen geöffnetes System und zufälligen Mutationen sowie vielen äußeren Kräften und Umständen unterworfen ist, über die er keine Kontrolle besitzt, sind Mechanismen geschlossene Systeme, vom Erfinder zu klar vorhergesehenen und umrissenen Zwecken entworfen. So ist eine vollautomatische Maschine ein perfektes Beispiel purer Technologie, und jeder ihrer Teile trägt die gleiche Prägung; keine Maschine, auch nicht die einfachste, ist durch Zufall, beiläufiges Zusammentreffen oder natürliche Selektion entstanden. Hingegen hat selbst die niedrigste Art von Organismus, der Evolutionslehre zufolge, bemerkenswerte Entwicklungsmöglichkeiten, deren keine Maschine sich rühmen kann: Sie kann ihren Artcharakter verändern und sich sozusagen selbst neu programmieren, um neue Möglichkeiten wahrzunehmen oder uner­wünschtem äußeren Druck zu widerstehen. Diesen Spielraum an Freiheit besitzt von sich aus keine Maschine.

Unglücklicherweise hinterließen die bevorzugten Maschinen der Zeit Descartes', die Uhr und die Druckerpresse, einen derart tiefen Eindruck im wissenschaft­lichen Denken und machte Descartes' trügerische Metapher es so leicht, eine mechanische (vermeintlich nichtteleologische) Erklärung für weit komplexeres, subjektiv bestimmtes organisches Verhalten als rational zu akzeptieren, daß dieses altersschwache, überholte Modell immer noch, manchmal von hervorragenden Wissenschaftlern, strapaziert wird, als wäre es unangreifbar, auch wenn die Tatsachen der Beschreibung widersprechen. 

Ein so nüchterner und gewissenhafter Forscher wie Sherrington hat gezeigt, daß jeder physiologischen Tätigkeit ein einheitliches Schema zugrundeliegt und sie in harmonischer Beziehung zu den anderen Teilen des Organismus hält. Doch dieses platonische Schema — nur in Funktion sichtbar — gewinnt kein Jota an Bedeutung, wenn man es mit dem Begriff des Mechanismus verbindet. All das sollte heute schon klar sein. Doch erst kürzlich behauptete ein bekannter Wissenschaftler wortwörtlich: »Der Mensch kommt als Maschine zur Welt und wird zu einer Person.«

Auf welchem Planeten spielt sich dies ab? Sicherlich nicht auf der Erde, wo Maschinen niemals zur Welt kommen, sondern erzeugt werden; dazu kommt, daß ein Kind - vom Augenblick der Empfängnis an - viele Merkmale aufweist, die in keiner bekannten oder vorstellbaren Maschine zu finden sind. Sollte eine Maschine zu einer Person werden, so wäre das ein unendlich größeres Wunder als irgendein in der Bibel oder im Koran verzeichnetes.

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Wir dürfen jedoch nicht vergessen, welche Folgen sich aus Descartes' barockem Absolutismus ergeben. Indem er die Maschine als sein Modell und einen einzigen allumfassenden Geist als die Quelle absoluter Ordnung ansah, nahm Descartes faktisch an, jede Lebensäußerung stehe letztlich unter rationaler, zentraler Lenkung - rational nur solange, als man nicht näher nach Wesen und Absichten des Lenkers fragt. Auf diese Weise initiierte er eine Denkweise, die in den nächsten drei Jahrhunderten mit wachsendem Erfolg vorherrschen sollte.

Descartes zufolge ist es die Aufgabe der Wissenschaft, wenn nicht gar die Bestimmung des Lebens, das Reich der Maschine zu erweitern. Geringere Geister griffen diesen Irrtum auf, vergrößerten ihn und machten ihn zur Mode. Und wie es in der Geschichte der Sklaverei schon wiederholt geschehen war, machte sich der gehorsame Sklave zuerst seinem Meister unentbehrlich, trotzte ihm dann und beherrschte und verdrängte ihn schließlich. Doch nun ist es der Meister, nicht der Sklave, der, wenn er überleben will, einen Weg finden muß, um seine Freiheit wiederzugewinnen.

 

  Leviathan auf Rädern  

 

Von Descartes' Plattform aus war es leicht, den nächsten Schritt zu tun; und der bestand darin, eine Reihe von Prinzipien für eine politische Ordnung zu umreißen, die die Menschen bewußt in Maschinen verwandelt, deren spontane Handlungen reguliert und kontrolliert und deren natürliche Funktionen und moralische Entscheidungen von einem beherrschenden Zentrum aus geleitet werden können — vom Souverän oder, im bürokratischen Jargon unserer heutigen Zeit, vom Entscheidungsträger.

Descartes tat diesen Schritt in umgekehrter Richtung, indem er sich bei seinem theoretischen Weltbild den absoluten Herrscher zum Vorbild nahm. Aber der Denker, der die vollen politischen Implikationen des neuen mechanischen Weltbildes erkannte, war Thomas Hobbes. Obwohl Hobbes sich mit Geometrie erst zu befassen begann, als er schon mehr als vierzig Jahre zählte, war er im Herzen bereits ein Cartesianer gewesen, ehe er noch Descartes persönlich kennenlernte. Beide Männer teilten ein Interesse, das, wie wir gesehen haben, auch Fürsten erfreute: Sie waren gleichermaßen von Automaten beeindruckt.

Hobbes formulierte seine politische Position in zwei Büchern, De Cive und Leviathan. Obwohl beiden Büchern dieselbe Doktrin zugrundeliegt, ist doch Leviathan, das Buch, das ihn berühmt machte, im Stil dramatischer und, nicht zufällig, vom mechanischen Weltbild beherrscht.

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 Die grundlegenden Irrtümer in diesem Werk wurden von Rousseau wiederholt und weiterentwickelt: Dieser machte aus jedem Individuum einen potentiellen Despoten und zugleich ein Opfer eines totalitären Kollektivdespotismus, den er mit Demokratie verwechselte.

Hobbes ging von zwei widersprüchlichen, aber verwandten Annahmen aus. Die eine war, daß die Menschen faktisch Maschinen seien; die andere, daß sie genau das Gegenteil seien, unheilbar wild und ungebärdig, in ständigem Kampf und Konflikt, fortgesetzt von Angst geplagt und selbst zu Ansätzen geordneten sozialen Verhaltens unfähig, solange sie sich nicht einer äußeren Macht unterwerfen, dem Souverän, seine Befehle befolgen und unter Strafandrohung die Kunst des sozialen Zusammenlebens und -wirkens lernen, so daß Leben und Eigentum sicher seien.

Das Leben des primitiven Menschen war, in Hobbes' berühmten Worten, kurz, roh und freudlos; und gerade diese Wildheit und Unsicherheit wurde zur Rechtfertigung für eine absolutistische Ordnung, die, wie Descartes' Idealwelt, von einem einzigen providenziellen* Geist und Willen hergestellt wurde: vom absoluten Herrscher oder Monarchen. Bis die Menschen in den Leviathan einverleibt wurden, nämlich in den allmächtigen Staat, der den Willen des Königs vollstreckt, waren sie ihren Mitmenschen gefährlich und sich selbst eine Last.

Völlige und unbedingte Unterwerfung unter den Souverän war folglich für Hobbes, genauso wie für die Ägypter des Pyramiden­zeitalters, die als erste dem Königtum Göttlichkeit zusprachen, der einzige Schlüssel zum irdischen Heil. Die Tatsache, daß wir dieser Doktrin schon früher als ideologischer Grundlage und Voraussetzung der Megamaschine begegnet sind, macht ihre Auferstehung im siebzehnten Jahrhundert nur noch bedeutsamer. Die Unterwerfung unter eine absolute Macht war in Hobbes' Augen die Bedingung dafür, daß der einzelne die Segnungen der Zivilisation genießen konnte, einschließlich der zweifelhaften Segnung des Krieges, in dem Hobbes scharfsinnig den unvermeidlichen Preis für einen Schutz gegen Bürgerkrieg im eigenen Land erkannte.

Hobbes' Abhandlung über den souveränen Staat entspringt der gleichen Quelle wie die von Descartes, und er rundet dessen Analyse über das Wesen der Tiere ab, indem er deren Attribute, ohne alle weiteren Zutaten, unbekümmert auf den Menschen überträgt. Dieser wissenschaftliche Zoomorphismus führte zu noch größeren Verzerrungen und Verstümmelungen als der Anthropomorphismus, gegen den er sich richtete. In seiner Einführung zum Leviathan — einer Art politischen Moby Dicks — erklärte Hobbes:

»Die Kunst des Menschen imitiert die Natur unter anderem auch darin, daß sie ein künstliches Lebewesen zu erzeugen vermag. Denn Leben ist sichtbarlich nichts als Bewegung der Gliedmaßen ... Warum sollten wir nicht sagen, daß alle Automaten (Maschinen, die sich durch Federn und Räder von selbst bewegen wie eine Uhr) ein künstliches Leben besitzen? Denn was ist das Herz anderes als eine Feder; und Nerven anderes als Fäden; und Gelenke anderes als Räder, die dem ganzen Körper Bewegung geben?«

Dies ist bereits echt technokratischer Humbug.

*  (d.2014:)  von der (sogenannten) Vorsehung bestimmt.

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Man beachte die kühle Art, in der Hobbes seine verwundbarste Behauptung vorbringt, als wäre sie ein unangreifbares Axiom: »Leben ist nichts als Bewegung der Gliedmaßen.« Das ist nicht einmal eine minimale Definition des Lebens, denn ihr zufolge wären die Zweige eines toten Baumes, die sich im Wind bewegen, lebendig. Doch es ist offensichtlich eine geeignete Doktrin für jene, die den Menschen zu absolutem Gehorsam abrichten wollen; ein anderer Menschendresseur, ein behavioristischer Psychologe im Dienste einer Werbeagentur, sollte etwa drei Jahrhunderte später nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken mit den Muskelbewegungen im Kehlkopf identifizieren.

Hobbes' kühner Sprung von automata zu organisata brachte - automatisch - die erwünschte Schlußfolgerung. Wenn Automaten tatsächlich künstliche Organismen sind, warum sollte dann nicht auch der Mensch, dessen Leben »nichts als Bewegung der Gliedmaßen« ist, unter die Kontrolle äußerer, vom Souverän gelenkter Kräfte gebracht werden können? Vorhersagbares Verhalten und Fernlenkung vom Zentrum aus — das ist das endgültige Ziel der Megatechnik, ob mechanisch oder elektronisch, wenngleich es lange Zeit gebraucht hat, die Erfindungen zu vervollkommnen und die Organisation aufzubauen, die dieses Ergebnis ermöglichen sollten.

Hobbes' Unterscheidungen sollten die neue Wissenschaft und die alte Politik des siebzehnten Jahrhunderts miteinander verbinden, um Menschen zu erzeugen, die man dazu benutzen konnte, die Kraft und die Herrlichkeit des Leviathan zu vergrößern — und vor allem die Selbständigkeit von jedem einzelnen Mitglied und jeder Gruppe der Gemeinschaft auf das organisierte Ganze zu verlegen, in dem jene bloß als gehorsame mechanische Teile funktionieren würden. Viele Institutionen entstanden direkt aus diesen Bestrebungen: zuerst die reglementierte Massenarmee, in der alles geregelt und standardisiert war, angefangen von der neu eingeführten Uniform; desgleichen die neue Bürokratie, dieses effiziente Produkt des italienischen Despotismus; im achtzehnten Jahrhundert die Fabrik; und in unserer Zeit die neuen Erziehungs- und Kommunikationssysteme. Dies waren die neuen Komponenten. So war das Endprodukt des Leviathans die Megamaschine in neuer, vergrößerter und verbesserter Form, welche die menschlichen Bestandteile völlig neutralisieren oder eliminieren sollte.

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Hobbes' Leviathan war eine Ausgeburt der Phantasie, ersonnen zu dem Zweck, die Angst zu vergrößern und kollektive Ehrfurcht einzuflößen; ja, bewußt ausgeheckt zur Rechtfertigung und Stärkung der Kräfte, die im einheitlichen Territorialstaat und in den neuen Imperien konzentriert wurden, um abendländische Ordnung in jeder Form, rechtlicher wie technischer, über den ganzen Planeten zu verbreiten. Dieses System stützte sich, wie wir heute wissen, auf eine rein fiktive Darstellung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft - eine Darstellung, die wenig Ähnlichkeit mit den bei noch lebenden primitiven Völkern festzustellenden Verhältnissen hat, wenn auch genügend Ähnlichkeit mit den Verhältnissen und Institutionen aller Zivilisation vom fünften vorchristlichen Jahrtausend an, um eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Hobbes' mythisches Bild schob jeden positiven Beweis für spontane Ordnung, Moral, gegenseitige Hilfe und Selbständigkeit beiseite; zugleich verherrlichte es als vorgegebene Notwendigkeit die absolute Autorität, die der Staat gegen den Widerstand vieler anderer funktionierender Formen der Vereinigung und des freiwilligen Zusammenschlusses wiederherzustellen trachtete.

Im Lichte des heutigen anthropologischen Wissens war Hobbes' Bild vom primitiven Menschen noch weiter von der historischen Wahrheit entfernt als Rousseaus spätere Beschreibung des Menschen in einem unschuldigen Naturzustand. Frühe Beobachter einfacherer Gesellschaftsformen - so reife Denker wie James Cook und Alfred Rüssel Wallace -hatten in Indonesien und in der Südsee tatsächlich viele bewundernswerte Sitten und Gebräuche gefunden, die dem eher idyllischen Bild Rousseaus sehr nahe kamen, und vieles, das entschieden im Widerspruch zu Hobbes stand, denn dieser behandelte die latenten Ängste und die berechneten Aggressionen der Emporkömmlinge und Handelsmagnaten seiner Zeit, als hätte es dergleichen auch schon in allen früheren Gesellschaften gegeben.

Hobbes' Darstellung enthält jedoch scharfsinnige Beobachtungen über menschliche Motive und Wünsche in den von Kämpfen geschüttelten politischen Systemen seiner Zeit, und seine Doktrin besaß den einzigartigen Vorzug, jede absolute Macht ohne Unterschied zu rechtfertigen, ob sie von einem König oder vom Parlament der Rundköpfe, von einem frei gewählten Präsidenten oder von einem selbsternannten Diktator ausgeübt wurde; weiterentwickelt, könnte sie sogar jegliche willkürliche Machtausübung rechtfertigen, sofern diese sich aus souveräner Autorität ableitet, ob sie nun von einem Regierungsbeamten oder von einem Fabrikbesitzer, von einem Geschäftsleiter oder von einem Computer gehandhabt wird.

Hobbes tat in Wirklichkeit nichts geringeres, als die ideologischen Prämissen wieder in Kraft zu setzen, auf denen das Gottkönigtum ursprünglich gründete, denn dieser charismatische Gedanke war nie völlig aufgegeben worden, obwohl er lange Zeit bloß ein Schatten seines alten Selbst gewesen war, geschwächt durch den Mangel an Glauben und durch praktische Erfahrung auf Menschenmaß reduziert.

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Selbst Jean-Jacques Rousseau, Hobbes' Hauptrivale als politischer Denker, tat nichts, um dessen Absolutismus zu entkräften: Im Gegenteil, seine Lehre vom Gesellschaftsvertrag zeigte, wie der Souverän faktisch auf legale Weise abgelöst werden kann - allerdings nur durch eine andere souveräne Macht, die sich auf den »allgemeinen Volkswillen« stützt. Der wirkliche Übergang vom Königtum zu repräsentativer Regierung und kollektiver Autorität — scheinbar eine Befreiung — bewies nur, wie wenig sich geändert hatte. Denn inzwischen war das ursprüngliche Konzept des Königtums, das allzusehr von identifizierbaren und verwundbaren Menschen abhängig gewesen war, durch eine Vielzahl mechanischer Hilfsmittel verstärkt worden.

Hobbes' Rechtfertigung der Macht als Quelle aller anderen Güter verherrlichte sowohl den Staat als auch die Maschine, deren Zweck es war, Gesetz, Ordnung und Kontrolle herzustellen und das ganze System durch neue Siege über die Natur und über andere Menschengruppen zu erweitern. Und die Folgen von Hobbes' Gedanken erwiesen sich als noch brutaler als deren ursprüngliche Formulierung. Hobbes' einseitiges Bild vom Leben als einem ständigen Kampf um die Macht, motiviert durch Angst, wurde in den Köpfen anderer Männer, verbunden mit deren Erfahrungen in Kriegen, Eroberungen und Kolonisierung, zur Grundlage der praktischen Doktrin des Imperialismus und der theoretischen Lehre vom maschinenbedingten Fortschritt, die beide im neunzehnten Jahrhundert im Malthus-Darwinschen Kampf ums Dasein Ausdruck fanden. Dieser wurde von Darwins Zeitgenossen als Freibrief zur Ausrottung aller gegnerischen Gruppen oder Arten benutzt.

 

  Die Maschine als Erzieher  

 

Fast jede klassische Philosophie mündet in ein pädagogisches System. Das gilt auch für das mechanische Weltbild; ja, das ihm entsprechende pädagogische System trat in seiner ersten und vielleicht klarsten Form gleichzeitig mit den Abhandlungen von Descartes und Hobbes in Erscheinung. Ich meine Die große Didaktik von Johann Amos Comenius, dem mährischen Lehrer und Theologen. Philosophisch gründete Comenius seine allgemeine Unterrichtstheorie auf die Notwendigkeit der Ordnung in ihren allgemeinsten Aspekten, stand aber völlig im Bann des neuen mechanischen Modells. Man beachte seine Beschreibung der uhrwerkartigen »Bewegungen der Seele«; »Das wichtigste Rad ist der Wille; die Gewichte hingegen sind die Wünsche und Neigungen, die den Willen zu diesem oder jenem Weg bewegen. Die Hemmung ist die Vernunft, die mißt und bestimmt, was, wo und wieweit etwas angestrebt oder vermieden werden soll.«

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Bei dieser ideologischen Grundlage ist es nicht erstaunlich, daß Come-nius' gesamte Erziehungskonzeption auf den Erforder­nissen der Massenproduktion beruht. In seinem Bestreben, Bildung für die Armen erschwinglich zu machen, suchte er durch geschickte Zeiteinteilung Kosten zu ersparen. Lange vor Lancaster und Bell in England erfand Comehius ein Unterrichtssystem, das die Mithilfe von Schülern als Prüfer und Aufsichtspersonen vorsah. »Ich behaupte«, sagte er, »daß es einem Lehrer nicht nur möglich ist, einige hundert Schüler gleichzeitig zu unterrichten, sondern daß es auch unbedingt notwendig ist.«

Unter keinen Umständen, warnt Comenius, sollte der Lehrer individuellen Unterricht geben. Im Lichte der modernen Erziehungs­theorie müssen wir Comenius heute als einen Vorläufer, wenn nicht als den Erfinder der mechanisch programmierten Erziehung ansehen: Nichts trennt ihn von jenen, die heute über die notwendige elektronische und mechanische Apparatur verfügen, um diese Methode anzuwenden. Ist es verwunderlich, daß Comenius auch für den Achtstundentag und für die Achtundvierzig-Stunden-Woche eingetreten ist?

»Sobald es uns gelingt, die geeignete Methode zu finden«, erklärt Comenius an anderer Stelle, »wird es nicht schwieriger sein, Schüler in jeder gewünschten Anzahl zu unterrichten, als mittels der Druckerpresse täglich tausend Blätter mit der saubersten Schrift zu bedecken.«

Gleich darauf folgt ein anderer aufschlußreicher Satz: »Erziehung nach meinem Plan ausgeführt zu sehen, wird so erfreulich sein, wie eine automatische Maschine zu betrachten, und der Prozeß wird so fehlerlos sein wie diese mechanischen Vorrichtungen, wenn sie geschickt konstruiert sind.«  

Genau; was Comenius im siebzehnten Jahrhundert formulierte, führten Gradgrind und M'Choakumchild im neunzehnter Jahrhundert auf plumpe und brutale Art aus, und ihnen folgten die gewandteren Tauben­konditionierer und Programmierer unseres Zeitalters, die gleichermaßen im Automatendenken befangen sind.

Für Comenius wie für seinen Zeitgenossen J.A. Alsted und später für John Locke war der Geist des Menschen ein unbeschriebenes Blatt. Aufgabe der Erziehung war es, auf dieses Blatt den gewünschten einheitlichen Druck zu prägen: wieder das Bild der Druckerpresse. So wie der Erfinder und der Physiker suchte der neue Erzieher eine perfekte mechanische Ordnung herzustellen — aber er eliminierte die Spontaneität des Lebens und all die ungreifbaren und unprogrammierbaren Funktionen, die zum Leben gehören.

Als Comenius 1633 eine Abhandlung in zwölf Kapiteln über Physik publizierte, begann er mit einer Skizze der Schöpfung und folgte einer aufsteigenden Hierarchie von der physikalischen Ordnung zu jener der Pflanzen, der Tiere und der Menschen, bis er schließlich, als Theologe, seine höchste Kategorie bei den Engeln fand.

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Aber in Der großen Didaktik kehrte er die Reihenfolge um; denn obwohl er mit (1) Zeit begann, waren seine Illustrationen (2) der menschliche Körper, (3) der Geist, der den Körper lenkt, (4) König oder Kaiser; und dann (5) Hero von Alexandrien, der mit Hilfe klug erdachter Maschinen Gewichte bewegt, (6) die schreckliche Wirkung der Artillerie, (7) der Vorgang des Drückens, (8) ein weiteres Beispiel eines Mechanismus, ein Wagen auf Rädern, (9) ein Schiff mit Kiel, Mast, Steuerruder und Kompaß, und (10) die Uhr. Die Uhr war Grundlage und Höhepunkt zugleich.

Comenius' Werk zeigt deutlich die Verflechtung von Erfindungen, mechanischen Erfahrungen, reglementierten Institutionen und, ihnen allen zugrunde liegend, übertriebenen magischen Erwartungen, die die neue wirtschaftliche und politische Struktur erweckte. Die Kombination von astronomischer Regelmäßigkeit, absoluter politischer Macht und lebensähnlicher Automatik erwies sich zunehmend als unwiderstehlich. Kein Wunder also, daß Comenius, wenn er in seiner Aufzählung schließlich zur Uhr' gelangt, geradezu in Ekstase gerät: »Ist es nicht eine wahrhaft wunderbare Sache, daß eine Maschine, ein seelenloses Ding, sich so fortgesetzt und gleichmäßig wie ein Lebewesen bewegen kann? Wäre dies nicht, ehe die Uhr erfunden war, so unmöglich erschienen wie gehende Bäume und sprechende Steine?«

Comenius' Begeisterung war typisch, und sie wurde nicht geringer, als später eine riesige Vielzahl von Maschinen erfunden wurde, von denen viele die Uhr bei weitem übertrafen; die gleichen Gefühle, lautstärker und ekstatischer geäußert, kann man heute bei Kybernetikern antreffen, vielleicht, weil die Reste ihres Gefühlslebens nun in das große Gehirn geleitet werden, mit dem sie ihr rudimentäres Ich identifizieren.

Galt Pünktlichkeit, das heißt uhrwerkartige Regelmäßigkeit, einst als die Höflichkeit der Könige, so sind alle Vorrechte des Königtums — vor allem das Anrecht auf unbedingten Gehorsam der Untertanen — heute auf die Automaten übergegangen. Ihren Bedürfnissen zu entsprechen, wurde bald die ungeteilte Pflicht des modernen Menschen, während die fortgesetzte Erweiterung dieser Bedürfnisse das Privileg der herrschenden Gruppen war. Ende des siebzehnten Jahrhunderts war also die Bühne der westlichen Zivilisation ihrer historischen Requisiten und Dekorationen und ihrer traditionellen Charakterrollen beraubt und für ein neues Technodrama bereit — für Restauration und Triumph der Megamaschine.

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