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2.5 -  Wissenschaft als Technologie  

Mumford-1970

 

 

   Die »neue Instauration« 

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Zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert wurde das neue wissenschaftliche Weltbild zu­nehmend verein­heit­licht, wenngleich die einzelnen Wissenschaften, die an diesem Wandel teilhatten, ungleich­en Ursprungs waren, unter­schiedliche Untersuchungs­methoden entwickelten und von differierenden, manch­mal widersprüchlichen Zielen geleitet waren.

Beliebige Forschung, strenge mathematische Analyse, stückweise Entdeckungen, organisiertes Experimentieren und Erfinden und sogar historische Forschung auf den Gebieten der Geologie, der Paläonthologie und der Phylogenetik — sie alle fielen schließlich unter den Sammelbegriff Wissenschaft und trugen zu deren wachsender Autorität bei. Heute sind die ursprüng­lichen ideo­logischen Grundlagen weggeschmolzen, doch der trügerisch vereinfachte Überbau, der in der Luft zu schweben scheint, ist intakt geblieben.

Wenn die Weltanschauung, die aus diesen ungleichartigen Bestrebungen entstand, irgendein kohärentes Bild präsentierte, so war es eines, das letztlich auf die ionischen Philosophen und unmittelbar auf das Überhand­nehmen der Automaten zurückzuführen ist. Da die Forschungs­bereiche ganz ähnlich aufgeteilt wurden wie die Territorien unseres Planeten unter den Großmächten zum Zweck der Ausbeutung, widerspiegelte die Struktur des Wissens diese Teilung; und so galt es bald für jedermann, selbst für den Philosophen, als unzulässig, sich mit der menschlichen Erfahrung in ihrer Gesamtheit zu befassen.

Der letzte große Versuch, dies unter Beachtung der Gebote der positiven Wissenschaft zu tun, war Herbert Spencers umfangreiche Synthetische Philosophie. Seine Erklärung der Evolution als Übergang von unbe­stimmter, unorganisierter Homogenität zu bestimmter, organisierter Heterogenität war zu dünn, um sehr brauchbar zu sein, und in den Bewertungen zu provinziell, um sich auf irgendeine andere Kultur als die westeuropäische anwenden zu lassen. Aber Spencers Scheitern beweist nur, wie nützlich der cartesianische Mechanismus in all seiner Unschuld und Einfachheit einmal gewesen war, um die zerstückelte Welt des Denkens zeitweilig zusammenzuhalten.

Wenngleich Spencer allzu großen Nachdruck auf eine Art teleologischer Automatik legte, so verhalf er doch, noch vor Darwin, einer Königsidee zum Durchbruch, die bis dahin gefehlt hatte: der Idee der historischen Evolution.

In der Rückschau läßt Spencers Scheitern durch den Kontrast den Erfolg Francis Bacons ermessen, der viel früher und mit viel schlechterem Rüstzeug versuchte, »alles Wissen sich zu eigen zu machen«. Dies ist um so erstaunlicher, als beide die gleichen utilitaristischen Prinzipien vertraten und die gleichen Hoffnungen nährten. Obwohl Bacon seine Theorien vor Descartes entwickelte, stellte er eine noch stärkere Verbindung zwischen Wissenschaft und Technik her, indem er sie mit den unmittelbaren menschlichen Wünschen nach Gesundheit, Reichtum und Macht verknüpfte.

Genau genommen sicherte Francis Bacon den Erfolg des mechanischen Weltbildes im voraus, da gerade sein Mangel an Kenntnissen in Mathematik und Experimentalphysik ihn eher befähigte, die wissenschaftliche Methode auf jeden Lebensbereich auszudehnen. Bacon gebührt besondere Anerkennung, nicht für irgendwelche neuen Entdeckungen, die er machte oder auch nur förderte, sondern dafür, daß er eine ideale Organisationsgrundlage für die systematische Gewinnung und Anwendung geordneten Wissens aufzeigte. Zudem erklärte Bacon in unmißverständlicher Form, das Ziel der Wissenschaft sei »die Erleichterung des menschlichen Daseins« und die »Verwirklichung aller Dinge, die möglich sind«. So formulierte er im typischen Stil des britischen Empirismus die pragmatische Rechtfertigung für das Bekenntnis der Gesellschaft zur modernen Wissenschaft als Technologie. Bacon, kein Sterngucker wie Galilei, kein Sonnenanbeter wie Kepler, brachte die Wissenschaft auf die Erde herunter.

Wie hochfliegend die moderne wissenschaftliche Theorie auch sein mag und wieviel subjektives Vergnügen sie ihren Adepten auch verschafft, wurde die offiziell anerkannte Wissenschaft doch von Anfang an hauptsächlich wegen der von ihr erhofften und versprochenen praktischen Anwendungs­möglichkeiten in Kriegführung, Produktion, Transport und Kommunikation ermutigt und gefördert.

Die Auffassung, die Wissenschaft entwickle sich nur aus dem Streben nach Wissen um des Wissens willen, ist bestenfalls eine Halbwahrheit und schlimmstenfalls bloße Selbstbeweih­räucherung und Selbsttäuschung der Wissenschaftler. Wie die Heiligkeit der Heiligen den weltlichen Ansprüchen der Kirche unverdiente Autorität verlieh, lieferte die wissenschaftliche Ideologie sowohl die Mittel als auch die Rechtfertigung für das Streben nach Herrschaft über alle Naturphänomene, einschließlich des Menschen. Besteht zwischen Wissenschaft und Technik auch keine offizielle Ehe, so haben sie doch lange Zeit in einer vom Gewohnheits­recht sanktionierten Partnerschaft zusammengelebt, die leichter zu ignorieren als aufzulösen ist.

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Bei der Betrachtung von Bacons Werk und Einfluß ist es wohl natürlich, daß man jene Aspekte der modernen Zivilisation besonders betont, die seine Voraussagen bestätigt und seine nicht allzu bescheidenen Erwartungen übertroffen haben. Das trifft ganz besonders auf Wissenschaft als Technologie zu, denn gerade auf diesem Gebiet fanden seine erstaunlichsten Intuitionen Verwirklichung. Drei Jahrhunderte vor Jules Verne und H. G. Wells, von späteren Science-fiction-Autoren ganz zu schweigen, hat Bacon die vielfältigen technologischen Anwendungsmöglichkeiten der Wissenschaft antizipiert, obwohl seine Phantasie ihn — wie spätere Verfasser von Utopien und Kakotopien — im Stich ließ, als er die Welt zu beschreiben versuchte, in der wir tatsächlich leben würden; denn merkwürdigerweise war seine Zukunftswelt von The New Atlantis in Kleidung, Sitten und Religion noch immer die vertraute Welt der elisabethanischen Gerichts- und Hofkreise. Ich verwende den Begriff Kakotopie (kakos = böse) als das Gegenteil von Utopie zur Kennzeichnung einer unterdimensionierten, überkontrollierten idealen Gemeinschaft.

Der Titel dieses Kapitels hätte Francis Bacon weder verwundert noch schockiert, denn sein vielleicht wichtigster Beitrag zur Erweiterung des Bereichs der Wissenschaft bestand darin, daß er begriff, welch große Rolle sie in der Umwandlung der materiellen Lebens­bedingungen zu spielen haben würde. Aber ich bin sicher, daß einige der Folgen, auf die ich hinweisen werde, ihn zutiefst beunruhigt hätten; denn mit seinem Vertrauen in die Wissenschaft als Quelle von Erfindungen und in die Technik als Rechtfertigung der Wissenschaft sah er nur das Gute voraus, das aus diesen Bestrebungen erwachsen würde, nicht die negativen Folgen, deren die Welt sich heute bewußt wird. Doch Bacon besaß einen ungewöhnlich scharfen Verstand, der sich der Selbstprüfung und der Korrektur nicht verschloß; und da sein Leben an einem offen eingestandenen Vergehen im öffentlichen Dienst zerbrochen war, hätte er wahrscheinlich als erster die Ergebnisse neu bewertet und eine intellektuelle Vorsicht walten lassen, deren Notwendigkeit er damals nicht vorhergesehen hatte. In gewissem Sinn könnte dieses Kapitel als Baconsche Rückkoppelung bezeichnet werden.

Obwohl Bacon, wie es bei sensiblen Künstlern häufig der Fall ist, in der Phantasie zweifellos dem Stimmungswechsel seiner Zeit, lange bevor er allgemein sichtbar war, Ausdruck verlieh, trugen seine Voraussagen ihre Erfüllung in sich, da sie das Denken der Menschen auf die Maschine hinlenkten und ihnen Vertrauen zur neuen wissenschaftlichen Orientierung auf die physikalische Welt gaben. So entstand der gemeinsame Boden, auf dem Vertreter feindlicher Ideologien zueinander fanden. Männer, die sich über das Wesen Gottes oder über das Leben nach dem Tode nicht zu einigen vermochten, konnten sich darüber verständigen, aus der Natur einen Gott zu machen und die Maschine als das höchste Produkt des Menschen anzubeten.

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Indem Bacon aus der Wissenschaft praktische Konsequenzen zog, suchte er zu zeigen, daß selbst jene, die sich mit abstrakten Beobachtungen oder Experimenten befassen, letztlich der Menschheit große Dienste erweisen können — größere als jene, die die Menschen durch Moral oder Politik zu bessern trachteten oder sich damit begnügten, nur durch manuelle Arbeit und Kunstfertigkeit die Umwelt zu verändern.

Doch schon vor Bacon waren viele Denker zu der Erkenntnis gekommen, daß die wissenschaftliche Untersuchung von »Luft, Erde, Wasser und Feuer« fruchtbare praktische Anwendungsmöglichkeiten bieten könnte. Alle früheren technologischen Fortschritte, etwa die Entdeckung von Glasuren, Glas und Metallen, waren genau dieser Art von Beobachtung zu verdanken, die noch vereinzelt und empirisch war, aber doch ein Schritt zu adäquaterem Wissen und wirksamer praktischer Anwendung. Einige Wissenschaftler rühmen sich der Tatsache, daß heute mehr Wissenschaftler leben als im gesamten Verlauf der bisherigen Menschheitsgeschichte zusammengenommen. Aber das ist leere Prahlerei: Es gibt heute auch mehr Priester der christlichen Kirche als je zuvor. Es ist zu bezweifeln, ob wissenschaftliche Kenntnisse in wirksamer Form heute — trotz allgemeiner Schulbildung — so weit verbreitet sind wie das reiche empirische Wissen, das im vorwissenschaftlichen Zeitalter in Metallurgie, Töpferei, Brauerei, Färberei, Pflanzenselektion, Tierzucht, Ackerbau und Heilkunde Anwendung fand.

Anzunehmen, es habe kein exaktes, positives Wissen gegeben, bevor die wissenschaftliche Methode erfunden war, heißt die Errungenschaften unserer Zeit überschätzen und jene früherer Zeiten, welche die soliden Grundlagen für sie schufen, unterschätzen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, war die eines Uhrmachers oder sogar eines Optikers würdige Präzision beim Behauen der Steine für die großen ägyptischen Pyramiden in Anbetracht der primitiven Werkzeuge, die den Arbeitern zur Verfügung standen, eine ebenso erstaunliche Leistung wie nur irgend etwas im heutigen Raketenbau — zumal es bei den Raketen allzuoft Fehlzündungen gibt.

Aber Bacon verdient unsere Anerkennung dafür, daß er die Kluft zwischen Wissenschaft und Technik schließen half. Die eine galt lange Zeit als frei, aber praktisch nutzlos, als intellektuelle Spielerei einer neunmalklugen Minderheit, die andere zwar als nützlich, doch zugleich als knechtisch und niedrig, abgesehen vielleicht von der Medizin und der Architektur. Bacon meinte, daß die Wissenschaft in Zukunft zunehmend auf kollektiver Zusammenarbeit beruhen würde, nicht nur auf der Tätigkeit besonders Begabter, die auf eigene Faust arbeiten;

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und er glaubte ferner, daß Instrumente und Apparaturen für die Technik des systematischen Denkens ebenso notwendig sein würden wie für den Berg- oder Brückenbau. Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen Solisten und Primadonnen des Barocks sah er die künftige Bedeutung der Wissenschaft als kollektive Tätigkeit voraus.

»Die unbewehrte Hand«, meinte Bacon, »und der auf sich selbst gestellte Verstand haben wenig Kraft.« Dies war ein noch revolutionärerer Gedanke als Leonardo da Vincis Aphorismus: »Die Wissenschaft ist der Hauptmann, die Praxis sind die Soldaten«, womit er sagen wollte, daß der Hauptmann von der Mannschaft noch etwas lernen könne. Und es war deswegen nicht weniger revolutionär, nicht weniger wirksam, weil es vom Standpunkt der wissenschaftlichen Methode durch seine Über­kompensation zu einseitig war. Gerade Bacons Überbetonung des kollektiven Apparats in der Wissenschaft, sein starkes Interesse für die operativen und instrumentalen Aspekte des wissenschaftlichen Denkens waren vermutlich vorübergehend notwendig, um das traditionelle Vorurteil einer isolierten theologischen und humanistischen Müßiggänger-Kultur zu überwinden, die in einem selbstgeschaffenen gesellschaftlichen Vakuum operierte.

In dieser Hinsicht war Bacons Lehre exemplarisch und half Vorurteile niederreißen, die mindestens bis zu den Griechen zurück­reichen. Die Wissenschaft, so betont Bacon in seinem Vorwort zur Magna Instauratio, darf sich nicht nur mit erhabenen Dingen beschäftigen, sondern muß auch »gemeine oder sogar schmutzige Dinge behandeln ... Solche Dinge müssen nicht weniger als die herrlichsten und kostbarsten in die Naturgeschichte aufgenommen werden ... Denn was immer wert ist, zu existieren, ist auch wert, erkannt zu werden«. Bravo! Diese Erklärung reinigte die Luft.

Bacons Bedeutung als Wissenschaftsphilosoph wurde in den vergangenen fünfzig Jahren geringgeschätzt, mit der Begründung, er hätte noch nicht die Methoden beherrscht, mit deren Hilfe die Wissenschaft zu seiner Zeit begonnen hatte, systematische Fort­schritte zu machen. Insofern Bacon, zum Unterschied von Galilei oder Gilbert, keine Erfahrung als experimenteller Wissen­schaftler hatte, ist diese Kritik wohl berechtigt; doch ihm den Rang abzusprechen, weil er den mathematischen Neuerungen nicht genügend Gewicht beigemessen habe, ist ungerecht; denn Bacon sagte ausdrücklich: »Ohne Hilfe und Anwendung der Mathematik können viele Naturerscheinungen weder mit genügender Genauigkeit beobachtet noch mit aus­reichender Klarheit beschrieben werden.«

Zum Ausgleich besaß Bacon jedenfalls eine fast hellseherische Vorstellung von der künftigen Rolle der Wissenschaft: Er sah ihre sozialen Auswirkungen und ihre Anwendungsmöglichkeiten klarer voraus als irgendeiner seiner Zeitgenossen.

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Bacon gab zweifellos bestimmten, wenn auch noch verborgenen Grundtendenzen seiner Zeit Ausdruck, ähnlich wie Shakespeare in der Gestalt des Caliban die dämmernde Einsicht ausdrückte, daß der Mensch vom Tier abstammt und daß in seinem Inneren eine primitive Kreatur lauert.

Die Zeitlosigkeit von Bacons Werk hätte ihm die herablassende Unterschätzung ersparen sollen, die ihm in den letzten Jahrzehnten zuteil wurde. Gewiß hatte er keine Ahnung von der Arbeitsweise der erfolgreichen Wissenschaftler seiner Zeit; und gewiß stimmt es, daß er die Nützlichkeit des bloßen Faktensammelns und der wahllosen empirischen Beobachtung stark überschätzte, wenngleich es immer noch Gebiete gibt, etwa die Taxonomie in der Biologie, wo diese Art systematischer Vorbereitungsarbeit zu theoretischen Erkenntnissen geführt hat. Desgleichen unterschätzte, ja ignorierte Bacon — bis auf die erwähnte Ausnahme — die gewaltige Beflügelung von Wissenschaft und Technik durch die Kühnheit der reinen Mathematik, die von empirischen Details frei ist und sich mit Wahrscheinlichkeiten und abstrakten Möglichkeiten befaßt, welche gänzlich außerhalb des Bereichs der Sinneserfahrung und der unmittelbaren Beobachtung bleiben, solange sie nicht experimentell verifiziert sind.

Bacon war es nicht gegeben, den tiefgreifenden Wandlungen des ganzen Denkgebäudes vorzugreifen, die einzelne Gelehrte, zum Beispiel Newton, Mendelejew oder Einstein, im Alleingang erwirkt haben. Selbst Galileis quantifizierte Welt, eine Welt, die nur aus den Kategorien primärer Qualitäten und meßbarer Größen bestand, war für Bacon eine fast unausdenkbare Abstraktion. Aber zum Ausgleich für diese Mängel, die, im Gegensatz zu denen William Gilberts, Bacons Bedeutung als Repräsentant der neuen Weltauffassung zweifellos vermindern, hatte er ein tiefes Verständnis für die gesellschaftliche Rolle der Wissenschaft und für die Anziehungskraft, die ihre praktischen Errungenschaften nicht nur auf Wissenschaftler, Erfinder und Techniker, sondern auch auf jene ungeheure Zahl von Menschen ausüben würden, die aus deren Arbeit Nutzen ziehen sollten. Er sah schließlich, weit über seine Zeit hinausblickend, den materiellen Fortschritt der Wissenschaft voraus, den sie mit ihrer Entwicklung als kollektives Unternehmen, auf weltweiter Basis organisiert, erringen sollte; und daß das gesellschaftliche Ziel der Wissenschaft, wie er es in The New Atlantis formulierte, darin bestehen würde, »das Reich des Menschen zu erweitern«.

Bacon überbrückte zumindest im Geist die Kluft zwischen Wissenschaft und Technik. Er erkannte, daß die unmittelbare Anwendung einer systematischen Denkmethode auf praktische Probleme viele neue Möglichkeiten eröffnen würde, während zugleich neue, aus den magischen Experimenten der Alchimisten entstandene Forschungsinstrumente, wie zum Beispiel der Glasdestillierkolben, die Retorte, der Schmelzofen für hohe Temperaturen, es dem geschulten Verstand ermöglichen würden, aus kleinen Proben umfassende Schlußfolgerungen auf das allgemeine Verhalten von Stoffen und Kräften zu ziehen.

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Bacon war sich ganz offensichtlich noch nicht klar darüber, wie man diese Forschung anpacken sollte. Er improvisierte nicht nur manchmal im Denken, sondern scheint das Improvisieren als Methode befürwortet und somit die empirische britische Methode des Durchwurstelns zum Prinzip erhoben zu haben. Doch auch eine ziellose Seefahrt kann eher zu einer Entdeckung führen als das Vertrauen auf eine gut gezeichnete Karte, die nur die vorgefaßte Meinung des Kartographen widerspiegelt. Nicht durch systematische Versuche, sondern durch glücklichen Zufall entdeckte Fleming die Möglichkeiten des Penicillins als Antibiotikum. und der Benzolring erschien seinem Entdecker zuerst im Traum. Zumindest beseitigte Bacon die geistige Barriere zwischen Theorie und Praxis; er brachte die beiden miteinander in Berührung und erschloß ihnen einen neuen Kontinent, den sie gemeinsam ausbeuten konnten.

 

Bacons technische Einsicht 

 

Seltsamerweise ist das wirklich Neue und Originelle bei Bacon, seine Auffassung von der Wissenschaft als sozusagen geistiger Arm der Technologie, der Teil seines Werkes, den unsere Zeitgenossen am wenigsten zu würdigen verstehen. Einerseits stößt es sie ab, daß er die neuen Konzeptionen in eine kunstvolle metaphorische Hoftracht kleidete; aber mehr noch sind sie befremdet oder, offener gesagt, gelangweilt, weil diese Ideen so sehr in unserem Leben verwurzelt sind, daß die meisten von uns kaum noch wissen, daß sie einen spezifischen Ursprung haben und nicht immer da waren. Wenngleich jedoch Bacon nicht imstande war, die Methodologie der Wissenschaft, wie sie sich zu seiner Zeit herausbildete, zu beschreiben, machte er doch einen Sprung vorwärts über vier Jahrhunderte zu der Weise und zu dem Milieu, in denen Wissenschaft und Technik heute florieren.

Als Benjamin Franklin die American Philosophie Society gründete, hielt er es im nüchternen militarist­ischen Geist seiner Zeit für notwendig, die Förderung »nützlichen Wissens« als ihr Ziel zu betonen; wäre er aber Bacons Geist noch näher gestanden, so hätte er erkannt, daß jede Art wissenschaftlicher Erkenntnis Nützlichkeit enthält, fast, so scheint es, proportional zu ihrem Abstraktions­grad und dem Maß ihrer Losgelöstheit von unmittelbaren praktischen Zwecken. Das wertvollste Geschenk der Wissenschaft an die Technik war jenes, das A.N. Whitehead als die größte Erfindung des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnete: »die Erfindung der Erfindung«. Rein theoretische und experimentelle Entdeckungen haben wiederholt Lösungen und Anwendungsmöglichkeiten angeregt, die ohne vorherige wissenschaftliche Arbeit nicht einmal vorstellbar gewesen wären.

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In der Vergangenheit hatten bestimmte Wissenszweige, etwa die Geometrie, sich aus praktischen Bedürf­nissen heraus entwickelt, beispielsweise in Ägypten aus der Notwendigkeit, die Grenzlinien zu vermessen, die auf den überfluteten Feldern verwischt worden waren; und diese Wechselwirkung zwischen praktischen Erfordernissen und wissenschaftlicher Forschung besteht zum Teil natürlich weiter, wie der klassische Fall von Pasteurs Forschungen über Fermente als Antwort auf die Bitten französischer Weinbauern beweist.

Aber die enormen Fortschritte der Wissenschaft in jedem Bereich sind nicht auf solche unmittelbare Stimuli zurückzuführen, obgleich es durchaus sein mag, daß sie indirekte Reaktionen sind, mit den Bedürfnissen und Zielen unserer Gesellschaft an hundert verschiedenen Punkten organisch verknüpft. Wahrscheinlich war es kein Zufall, daß die Entwicklung der Elektronik und der Radarortung mit jener der Düsenflugzeuge zeitlich zusammenfiel. In zunehmendem Maß sind es jedoch die Fortschritte der Wissenschaft, die neue technologische Nutzanwendungen anregen: siehe zum Beispiel die Laserstrahlen. Tatsächlich scheinen die Nebenprodukte sich in direktem Verhältnis zu Reichweite und Freiheit der wissenschaftlichen Forschung zu vervielfachen. Wir sind heute so bereit, die Konsequenzen der Wissenschaft für die Erfindung zu akzeptieren, daß wir beinahe verlernt haben, uns durch gesunden Menschenverstand oder spöttisches Lachen vor Monstrositäten und Torheiten zu schützen, die keinem menschlichen Bedürfnis entsprechen, aber gerade wegen ihrer Kompliziertheit eine technische Attraktion darstellen.

Bacons Interesse an den Nutzanwendungen der Wissenschaft machte ihn natürlich bei Macaulay und den anderen selbstgefälligen Utilitaristen des neunzehnten Jahrhunderts beliebt; denn er hatte in seinem Novum Organum kühn behauptet: »Das legitime Ziel der Wissenschaft ist die Ausstattung des menschlichen Lebens mit neuen Erfindungen und Reichtümern.« Tatsächlich durchdrang die Vorstellung von Reichtum und materiellem Überfluß sein wissenschaftliches Denken. Sieht man darin den Hauptzweck der Wissenschaft, so ist dies doch ein weit fragwürdigeres Ziel, als Bacon dachte; aber gerade die rasche Erfüllung dieser Verheißung der Wissenschaft, besonders im letzten halben Jahrhundert, hat Regierungen und große Industriekonzerne bewogen, ihre Ausgaben für wissenschaftliche Forschung ungeheuer zu steigern. Es war Bacons Verdienst, gezeigt zu haben, daß es keinen Aspekt der Natur gibt, der sich bei kühner Anwendung wissenschaftlicher Methoden nicht transformieren und womöglich verbessern ließe.

Notwendigkeit war immer schon eine äußerst widerwillige Mutter der Erfindung; Bacon begriff, daß Ehrgeiz und Neugier weitaus fruchtbarere

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Eltern waren und daß die von ihnen gezeugten Erfindungen zu Müttern neuer Notwendigkeiten werden würden. Gewiß, ein großer Teil der von Bacon prophezeiten Erfindungen sollte, wie sich heute herausstellt, nicht so sehr Armut lindern oder grundlegende Bedürfnisse befriedigen, als vielmehr einen riesigen Bereich von Überflüssigkeiten und Luxusgütern erschließen. Doch dies stand im Einklang mit Bacons übermäßiger Vorliebe für Glanz und Prunk — eine Vorliebe, die ihn 1594, als er sich für den Ball der Richter in Gray's Inn kostümierte, beinahe ruiniert hätte, ebenso wie eine Kollektion von extravaganten Goldbrokat­kleidern, die er für seine zukünftige Frau anläßlich der Hochzeit bestellte, einen großen Teil von deren Mitgift verschlang. Auch in seinen Geschmacks­neigungen hat Bacon den verführerischen Überfluß unserer Tage auf erstaunliche Weise vorweggenommen.

Bacon verließ sich allerdings nicht allein auf die Leidenschaft einzelner für wissenschaftliche Forschung. Er erkannte, daß Neugier, um fruchtbar zu sein, nicht nur einige wenige große Geister braucht, sondern ein wohlorganisiertes Heer von Mitarbeitern, deren jeder eine spezialisierte Funktion ausübt und auf einem begrenzten Gebiet tätig ist. Durch technologische Organisierung der Wissenschaft, wie er sie in The New Atlantis skizzierte, wollte er eine Maschine herstellen, die imstande wäre, nützliches Wissen in der gleichen Weise zu produzieren, wie eine gut organisierte Fabrik wenige Jahrhunderte nach Bacons Vorhersage Textilien, Kühlschränke oder Autos erzeugt.

Bacons Darstellung dieser Arbeitsteilung erscheint uns seltsam und pedantisch wegen ihrer statischen, ritualistischen Aufgaben­zuweisung; doch wer dies in Bausch und Bogen verwirft, schießt noch weiter am Ziel vorbei als Bacon; denn ein Teil des immensen quantitativen Ertrags der modernen Wissenschaft ist sicherlich ihrer Fähigkeit zuzuschreiben, nicht nur von einigen großen führenden Geistern Gebrauch zu machen, sondern von einer Vielzahl von Spezialisten, die für ein eng begrenztes Fachgebiet ausgebildet sind und denen es bewußt schwer, ja oft unmöglich gemacht wird, ein weiteres Gebiet zu erforschen; ihre Rolle ähnelt zunehmend der eines Fließbandarbeiters. Wie Fabrikarbeiter werden sie heute in vielen Aufgaben durch kybernetische Geräte ersetzt. Charles Babbage, der den ersten Computer konstruierte, unterstützte natürlich in seiner Philosophy of Manufactures Bacons Vorschläge.

Die weitgehende Arbeitsteilung in der Wissenschaft, mit ihrer logischen Scheidung in die Hauptkategorien Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Soziologie, hatte sich bis zum neunzehnten Jahrhundert nicht völlig durchgesetzt. Aber einmal begonnen, führte sie fortschreitend zu immer weiteren Unterteilungen innerhalb jeder Kategorie. Damit erwies sie sich als wirksame Formel für Genauigkeit, Schnelligkeit und Produktivität;

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desgleichen hatte sie, vom Standpunkt der Massenproduktion gesehen, den weiteren Vorteil, daß sie für die Beschäftigung einer ganzen Armee von Arbeitern sorgte, die zu persönlicher Initiative oder zu originärem Denken unfähig waren. Auch die kleinste Entdeckung, das unbedeutendste Experiment kann noch Lücken im Wissen auffüllen und andere zu wichtigeren Ergebnissen führen. An sich begünstigt die Methode der analytischen Zergliederung solches Stückwerk; zugleich aber führt sie zu Aufteilung, Zersplitterung und Isolierung des Wissens; zur Unfähigkeit, die Bedeutung der Gesamtstruktur, die organische Korrelation von Funktionen und Zwecken zu erkennen.

Wenn »Sinn Zusammenhang bedeutet«, wie Gray Walters meint, dann müssen Aufspaltung und Spezialisierung in einer Verringerung des Sinns resultieren. Auf diese Weise verwandelt sich mit der Zeit spezialisiertes Wissen, »immer mehr Wissen über immer weniger«, schließlich in geheimes Wissen — nur einer eingeweihten Priesterschaft zugänglich, deren Machtgefühl wieder durch das Privileg auf Berufs- oder Staatsgeheimnisse gesteigert wird. Ohne es im geringsten zu ahnen, hatte Bacon die grundlegende Machtformel der Megamaschine wiederentdeckt und die Basis für eine neue Struktur gelegt, die nur allzusehr der alten gleicht.

Das wissenschaftliche Kollektiv hat somit die Attribute des einzelnen Denkers übernommen, und da die Wissenschaft, um Resultate zu erzielen, sich in zunehmendem Maße auf komplizierte und außerordentlich kostspielige Apparate, wie Computer, Zyklotrone, Elektronen­mikroskope und Kernreaktoren, stützt, kann nach heutigen Grundsätzen keine wissenschaftliche Arbeit ohne enge Verbindung mit einer wohlbestallten Organisation durchgeführt werden. Die Gefahren für die Wissenschaft, die in diesem technischen Fortschritt liegen, sind noch nicht genügend bekanntgemacht worden; letztlich werden sie vielleicht einen nicht geringen Teil der Vorteile und Gewinne aufheben.

Diese Konzeption einer institutionalisierten Wissenschaft entstand drei Jahrhunderte vor ihrer praktischen Realisierung. Für Bacons wissenschaftliche Zeitgenossen war die Wissenschaft noch ein einziges großes Gebiet; keine Grenzlinien existierten zwischen den einzelnen Wissenschaften, es sei denn in ganz unbestimmter Form, und sofern es sie gab, konnte der Wissen­schaftler sie überschreiten, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen. Ein Arzt wie William Gilbert widmete sich dem Studium des Magnetismus, während Paracelsus, trotz seinen praktischen Erfahrungen im Bergbau und seinen alchimistischen Experimenten mit Quecksilber, seinen ganzen Stolz darein setzte, ein Arzt zu sein, der sich der Heilung des Körpers verschrieben hatte. Es war Bacons besondere Genialität, an eine hierarchische Organisation der wissenschaftlichen Forschung, der strengen Rangordnung einer Armee vergleichbar, zu denken.

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Bacon ist zugutezuhalten, daß sein Konzept einer hierarchischen Organisation der Wissenschaft keineswegs die Rolle übersah, die einzelne schöpferische Denker spielen; er hatte sogar einen Namen für so leuchtende Forscher — er nannte sie »Lichter« und wies darauf hin, daß es ihre Funktion war, »neue Experimente von höherer Leuchtkraft durchzuführen, die tiefer in die Natur eindringen«. Aber seine besondere Leistung bestand darin, daß er ahnte, die Einsichten schöpferischer Denker würden, um breiteste Anwendung zu finden, großzügige kollektive Unterstützung brauchen: Regierungshilfe, körperschaftliche Organisation, systematische Beratungen und Publikationen und schließlich öffentliche Ausstellung und Würdigung in Museen für Wissenschaft und Industrie. Diese Wesenszüge kollektiver Organisation und staatlicher Lenkung, die im vorchristlichen Alexandrien vielleicht nicht ganz unbekannt gewesen waren, wurden von Bacon vorausblickend erkannt, befürwortet und gepriesen.

So wurden nicht nur die Royal Society und die American Philosophie Society durch Bacons Voraussicht stark beeinflußt. Sein phantastisches Zukunftsbild in The New Atlantis enthält im Imaginären bereits die Grundlagen unserer heutigen wissen­schaftlichen Forschung und unserer spezialisierten Institute und Laboratorien, die Hunderte, ja Zehntausende Arbeiter in einem regelrechten Fabrikssystem zur Massenproduktion von Wissen beschäftigen - von Wissen, das technologisch nutzbar, finanziell verwertbar, im Krieg anwendbar ist. Was Bacon nicht voraussah, war, daß die Wissenschaft mit der Zeit durch ihren Erfolg als Quelle der Technologie demoralisiert und daß ein großer Teil ihrer konstruktiven Tätigkeit durch massive Staatssubventionen auf destruktive, menschenfeindliche Ziele gelenkt werden würde, in einem Ausmaß, das eine bloß empirische, rein praktische Technik niemals erreichen könnte.

 

Die Welt des neuen Atlantis 

 

In den letzten Jahren vor seinem Tode (1626) faßte Bacon seine Hauptideen in der unvollendet gebliebenen Utopie The New Atlantis zusammen. Hatte er bis dahin verabsäumt, die wissenschaftliche Methode seiner Zeitgenossen zu interpretieren, so holte er dies nun nicht nur nach, sondern ging noch weiter, indem er die mögliche kollektive Organisierung der Wissenschaft und deren erreichbare Ziele im Detail aufzeigte. Innerhalb einer Generation — eine kurze Zeit in der Geschichte des Denkens — begannen sich seine Träume zu verwirklichen, zum Teil zweifellos deshalb, weil sie bereits von vielen anderen geteilt wurden. Obwohl beispiels­weise der französische Gelehrte Theophraste Renaudot mit Bacon kaum bekannt gewesen sein kann, gründete er etwa 1633 sein Bureau d'Adresse.

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Hier hielt er wöchentliche Konferenzen ab, um Fragen wahrhaft enzyklopädischen Charakters zu erörtern; aus ihnen waren »alle Diskurse über Gotteslehre, Staatsangelegenheiten und Neuigkeiten verbannt«.

1646 begann eine ähnliche Gruppe sich regelmäßig in der Bullhead Tavern im Londoner Vorort Cheapside zu treffen. So wie die Gruppe Renaudots wollte sie anfangs »nicht mehr als nur die Befriedigung, freiere Luft zu atmen und in ruhigem Ton miteinander Gespräche zu führen, ohne in die Leidenschaften und den Wahnsinn dieses düsteren Zeitalters verstrickt zu sein«. Die Wissenschaft, besonders die Mechanik, mit ihrer bewußten Loslösung von menschlichen Reaktionen, bot den von der Politik geplagten und beunruhigten Geistern eine willkommene Zuflucht. Ursprünglich nannten sie sich selber Unsichtbares Kollegium, ein Name, der später für eine öffentlich sanktionierte Gesellschaft nicht mehr angemessen war. Zwei Jahre danach erhielt sie einen königlichen Freibrief von Charles II. Die früher entstandene Accademia dei Lynxei, 1603 in Florenz gegründet, mag Bacon auf seine Idee gebracht haben, da er eingeladen wurde, ihr Mitglied zu werden. Aber 1630 wurde diese Akademie geschlossen. So machten die Mitglieder der ursprünglichen Gruppe im Jahre 1660 einen neuen Anfang, mit dem Ziel, »das Wissen über natürliche Dinge und alle nützlichen Künste, Manufakturen und mechanische Fertigkeiten, Maschinen und Erfindungen durch Experimente zu verbessern«.

Im Lichte der späteren Entwicklung der Wissenschaft ist festzustellen, daß die von Bacon initiierte Tendenz von Anfang an sichtbare Auswirkungen hatte. 1664 konstituierte sich die Royal Society mit acht permanenten Komitees; das wichtigste war notabene die Sektion für Mechanik, die alle mechanischen Erfindungen begutachten und bestätigen sollte. Die anderen Komitees waren: das astronomische, das optische, das anatomische, das chemische, das chirurgische, das Komitee für Geschichte der Technik und ein Komitee zur Sammlung aller beobachteten Naturerscheinungen; und schließlich ein Komitee für Korrespondenz. Die letzten beiden Komitees existierten noch bis zum neunzehnten Jahrhundert, lange genug, um Dickens die Idee zur Gründung der unsterblichen Pickwick-Society zu liefern, mit Mr. Pickwicks eigenem bemerkenswerten Beitrag zur Wissenschaft: Eine Untersuchung über den Ursprung der Hampstead-Teiche, mit einigen Bemerkungen zur Theorie der Tittlebats. In Anbetracht der späteren Entwicklung der Wissenschaft waren drei Komitees von besonderer Bedeutung, nämlich die für Erfindung, für Geschichte der Technik und für Landwirtschaft, die sich direkt mit der »Verbesserung der Lage des Menschen« befaßten.

Noch wichtiger, da von tiefem Einfluß auf die gesamte Entwicklung der wissenschaftlichen Methode, war eine Bedingung, die in Robert Hookes ursprünglichem Memorandum über Aufgaben und Ziele der Royal Society enthalten war, nämlich deren Verpflichtung, sich nicht mit »Theologie, Metaphysik, Moral, Politik, Grammatik, Rhetorik oder Logik« zu befassen.

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Dieser Vorbehalt erschwerte es nicht nur den Wissenschaftlern, ihre eigenen metaphysischen Annahmen kritisch zu überprüfen; er begünstigte auch die Illusion, daß es solche gar nicht gäbe, und hielt die Forscher davon ab, ihren eigenen Subjektivismus zu erkennen — ein Thema, das erst kürzlich und widerwillig aufgegriffen wurde. Anderseits aber schützte diese Klausel die Wissenschaftler vor Angriffen von Kirche und Staat, solange sie sich nicht zu weit von ihrem geistigen Kaninchenstall entfernten.

Die Isolierung der Wissenschaftler vom gesellschaftlichen Geschehen, obgleich zeitweilig eine ausgezeichnete Schutzmaßnahme, hielt sie auch in ihrer Gesamtheit davon ab, sich darum zu kümmern, welche politischen und wirtschaftlichen Nutzanwendungen ihre angeblich neutralen wissenschaftlichen Erkenntnisse fanden. Im Sinn der neuen Ethik, die sich damals herausbildete, trug die Wissenschaft soziale Verantwortung nur sich selbst gegenüber: Sie hatte sich an gewisse Regeln der Beweisführung zu halten, ihre Integrität und Autonomie zu bewahren und fortwährend ihren Bereich auszudehnen. Drei Jahrhunderte sollten vergehen, ehe eine Gesellschaft zur Förderung der gesellschaftlichen Verantwortung in der Wissenschaft auch nur in Betracht gezogen wurde; und obgleich eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern sich heute ihrer moralischen Verpflichtung bewußt wird, nachdem die erste Atomexplosion sie aus ihrer Verträumtheit und Selbstversunkenheit geweckt hat, ist es zweifelhaft, ob die Mehrheit bereits diese Auffassung unterschreibt. Was die Möglichkeit betrifft, daß die Wissenschaft mit der Ausschaltung von Politik und Religion auch ein weites Feld menschlicher Erfahrung von großer Bedeutung für die Interpretation von Ereignissen, die nicht auf Masse und Bewegung reduziert werden können, aus ihren Betrachtungen ausgeschlossen hat, so ist auch heute nur eine Minderheit bereit, dies als einen Mangel anzusehen. Folglich blieb ein großer Bereich außerhalb der Domäne der orthodoxen wissenschaftlichen Theorie - faktisch die meisten Phänomene des Lebens, des menschlichen Bewußtseins und der gesell­schaftlichen Entwicklung.

Die baconistische Betonung der Nutzanwendungen der Wissenschaft war also von Anfang an vorhanden, allen Beteuerungen über Distanziertheit, Neutralität, Isolierung und theoretische Jenseitigkeit zum Trotz. Dies ist kein Vorwurf: Viele große Verbesserungen in den menschlichen Lebensverhältnissen, von der Pflanzendomestizierung bis zu den gewaltigen technischen Leistungen der frühen Zivilisationen, waren auf die Vermehrung systematischen Wissens zurückzuführen; und die Fortschritte in der Medizin und der Chirurgie demonstrierten die Fruchtbarkeit der Wechselwirkung zwischen Theorie, exakter Beobachtung und Praxis.

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Drei Jahrhunderte vor Francis Bacon hatte dessen Namensvetter Roger Bacon, ein Franziskanermönch, die gleichen Aussichten erregend gefunden; und seine wichtigste wissenschaftliche Abhandlung galt demgemäß der Optik. Es gibt keinen Beweis dafür, daß Francis Bacon die Werke seines Vorgängers gelesen hat: aber ihre intellektuelle Verwandtschaft zeigt sich in Roger Bacons Beschreibung künftiger Erfindungen; zum Beispiel:

»Man kann Schiffahrtsmaschinen ohne Ruderer bauen, so daß die größten Schiffe auf Flüssen oder Meeren unter der Aufsicht eines einzigen Mannes sich schneller voranbewegen, als wenn sie mit Männern voll wären. Auch Fuhrwerke können so gemacht werden, daß sie sich ohne Zugtiere mit unglaublicher Schnelligkeit fortbewegen; derart, meinen wir, waren die mit Sensen bewehrten Streitwagen, in denen die Männer des Altertums kämpften. Auch Flugmaschinen können so gebaut werden, daß ein Mann in der Mitte der Maschine sitzt und eine Vorrichtung dreht, die künstliche Flügel die Luft schlagen macht wie ein fliegender Vogel.

Auch eine Maschine von geringer Größe, um enorme Gewichte zu heben oder zu senken, die in Notfällen von größtem Nutzen wäre ... Man kann auch leicht eine Maschine herstellen, mit der ein Mann tausend Männer gegen ihren Willen gewaltsam zu sich ziehen und andere Dinge in der gleichen Weise anziehen könnte. Es können auch Maschinen gemacht werden, um im Meer und in Flüssen gefahrlos bis zum Grund zu gehen. Alexander der Große verwendete solche Maschinen, um die Geheimnisse der Tiefe zu erkennen, wie Ethicus der Astronom berichtet. Diese Maschinen wurden in unseren Zeiten gemacht, mit Ausnahme vielleicht einer Flugmaschine, die ich nicht gesehen habe, und ich kenne auch niemand, der sie gesehen hat, aber ich weiß von einem Kundigen, der sich eine Art, sie zu machen, ausgedacht hat. Und solche Dinge können fast ohne Grenze gemacht werden, zum Beispiel Brücken über Flüsse ohne Pfeiler oder andere Stützen und Mechanismen und noch nie dagewesene Maschinen.«

Das klingt natürlich wie die Vision eines Hellsehers in Trance, so unklar sind die Quellen, so undefinierbar die Mittel, so plastisch die Gegenstände selbst. Sicherlich waren die künftigen mechanischen Apparaturen und die konkreten Resultate bereits im Traum versammelt. Francis Bacon hat in The New Atlantis zum ersten Mal die Art von Organisation angedeutet, die aus diesen Träumen Wirklichkeit machen konnte — nicht nur sie erfüllen, sondern ihren ganzen Bereich erweitern.

In Alfred Goughs Ausgabe von The New Atlantis nimmt die eigentliche Utopie nur siebenundvierzig Seiten ein; davon aber füllt Bacons Liste neuer Entdeckungen und Erfindungen und der daraus folgenden Errungenschaften volle neun Seiten. Obwohl, wie Gough sagt, die theoretische Krönung des »Tempels Salomonis«, die Erkenntnis der Ursachen, am Anfang steht, hat fast jedes dort angeführte Experiment eine offenkundige Beziehung zu den Bedürfnissen oder Freuden des Menschen.

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Einige dieser Experimente sind von zweifelhaftem Wert; manche befinden sich noch im Prozeß technischer Ausarbeitung und werden gewiß bald zustande kommen; aber die bloße Aufzählung derer, die bereits realisiert wurden, gibt einem neuen Respekt vor Bacon, wenngleich keiner seiner besten Träume vor dem neunzehnten Jahrhundert in Erfüllung gegangen ist. Ich möchte nur die unbestrittenen Errungen­schaften nennen, hauptsächlich in Bacons eigenen Worten:

»Die Verlängerung des Lebens; die teilweise Wiederherstellung der Jugend; die Verzögerung des Alterns; die Heilung von Krankheiten, die als unheilbar galten; die Linderung von Schmerzen; leichteres, weniger unangenehmes Abführen; Umwandlung von Körpern in andere Körper; Züchtung neuer Arten; Zerstörungsmittel wie Waffen und Gifte; Macht der Phantasie über einen anderen oder den eigenen Körper (Autosuggestion und Hypnose, wenn nicht sogar Telekinese); Beschleunigung der Reifezeit; Beschleunigung der Keimung; Erzeugung von hochwertigem Dünger für den Boden; Gewinnung von Nahrung aus neuen Grundstoffen; Herstellung neuer Gewebearten für Kleidung und neuer Stoffe, wie Papier, Glas und ähnliches; künstliche Minerale und Bindemittel; Gesundheitskammern, wo die Luft verbessert wird (Klimaanlagen); Verwendung von Tieren und Vögeln zum Sezieren, Gifte und andere Heilmittel; Mittel, um Geräusche durch Schächte und Rohre in alle Richtungen und Entfernungen zu übermitteln; Kriegsmaschinen, stärker und gewaltiger als unsere größten Kanonen; Ansätze zum Fliegen in der Luft; Schiffe und Boote, die unter Wasser fahren können.«

Diese Liste ließe sich mit etwas mehr Exegese leicht verlängern. Und nicht die unwichtigste Vorwegnahme war ein Wolken­kratzer, eine halbe Meile hoch, eine Höhe, die in den von Frank Lloyd Wright hinterlassenen Plänen bereits verdoppelt wurde. Zusätzlich hatte Bacon als Teil des wissenschaftlichen Apparats schon 1594, in einer Vorrede zu einem Maskenspiel in Gray's Inn, einen botanischen Garten, einen Zoo, ein naturhistorisches Museum, ein technologisches Museum und ein technisches Laboratorium vorgesehen.

Das Bemerkenswerteste an Bacons Aufzählung der wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten ist vielleicht, daß er als einziger unter den Wissenschaftsphilosophen des siebzehnten Jahrhunderts die cartesianischen Schwächen des mechanischen Weltbilds vermieden hat; genauer gesagt, er hat es nie als den einzigen Schlüssel zur Wahrheit betrachtet. Selbst wenn er an die Zukunft dachte, war Bacons Welt nicht nur die der Mechanik, sondern eine Welt, die eine breitere Technologie, eine echte Polytechnik umfaßte, Landwirtschaft, Medizin, Kochkunst, Brauerei und Chemie Inbegriffen. Gerade seine mangelnde Kenntnis abstrakter Mathematik machte ihn empfänglicher für jenen großen Bereich menschlicher Tätigkeiten, die nicht auf diese Art definiert werden konnten.

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So spielten selbst subjektive Phänomene, wie Autosuggestion, die von den objektiven Wissenschaftlern abgelehnt wurden, in seinem Zukunftsbild organisierter Forschung eine Rolle.

In diesem Sinne kann man Bacon nicht wissenschaftliche Rückständigkeit und Unzulänglichkeit vorwerfen; er war vielmehr den stärker spezialisierten Wissenschaftlern voraus, die die übliche Interpretation von Masse und Bewegung akzeptierten, als gäbe sie ein vollständiges - oder zumindest ein ausreichendes - Bild der wirklichen Welt. Weil er zugleich ein Humanist war, hat Bacon, der Verherrlicher von Wissenschaft und Technik, den Weg zu einer über ihn hinausgehenden Welt gewiesen, zu der Welt, die durch diese Arbeit weiter erschlossen werden soll: einer Welt, in der die willkürlichen Schranken und Grenzen der religiösen, der humanistischen und der wissenschaftlichen Weltanschauung überschritten werden.

Hinter allen Erwartungen Bacons verbarg sich jedoch ein wenig beachteter Faktor, der den Beginn eines Zeitalters markierte, das sich zunehmend der Entwicklung der Wissenschaft und der Vervollkommnung der Maschine widmete: ein Eroberungsstreben, getragen von einem wachsenden Machtgefühl, das von den damals bereits bestehenden Maschinen, besonders den Kanonen und anderen Feuerwaffen, stark stimuliert wurde. Bacon zufolge gibt es drei Arten von Ambitionen. Die erste ist das Streben nach Erweiterung der persönlichen Macht im eigenen Land — der Ehrgeiz der Fürsten, Adeligen, Soldaten und Kaufleute. Die zweite ist die Ausdehnung der Macht eines Landes auf andere Länder — laut Bacon höherstehend als die erste, doch nicht weniger habgierig und selbstsüchtig. Schließlich das Bestreben, die Macht und Herrschaft der Menschheit »über das Reich der Dinge« auszudehnen. Dies hielt Bacon für ein selbstloseres und edleres Ziel als die anderen beiden, denn »die Herrschaft des Menschen über die Dinge hängt ganz von den Künsten und Wissenschaften ab«.

Bacons Wort »Wissen ist Macht« darf nicht als bloße Formel verstanden werden: Es war eine programmatische Erklärung und besagte ausdrücklich, daß Macht wichtig ist. War Bacon auch, abgesehen von seinen persönlichen Fehltritten, ein eifriger Moralist, so hatte er doch nicht genügend Einsicht, um zu erkennen, daß der Versuch, »die Herrschaft des Menschen über die Dinge« auszudehnen, noch schrecklichere Konsequenzen für die Menschheit haben konnte als eine allzu fügsame Anpassung an die Verhältnisse der Natur. Wenngleich die Eroberung der Natur in rein physikalischem Sinn ein weniger blutiges Unternehmen war als militärische Eroberung — zumindest bevor jene Eroberung vom neunzehnten Jahrhundert an eine zersetzende Wirkung auf das ökologische Gleichgewicht aller Organismen einschließlich des Menschen auszuüben begann —, ergriffen die gleichen Bestrebungen, die gleichen Ambitionen, ja die gleichen neurotischen Zwänge, alle anderen Lebensmöglichkeiten der Entfaltung und Anwendung von Macht zu opfern, allmählich von ihren Exponenten Besitz.

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Dies schuf Verbindungen zu banaleren Eroberungsformen, zu denen des Kaufmanns, des Erfinders, des rücksichtslosen Kolonisators und des aufstrebenden Industriellen, der natürlichen Reichtum und natürliche Befriedigung durch etwas zu ersetzen suchte, das er mit Profit verkaufen konnte.

Da die Umwandlung und Nutzung von Energie ein wichtiges Merkmal des Wachsens und Funktionierens aller Organismen ist, hat dieses Streben eine biologische Basis: Vermehrung der Macht ist eines der Hauptmittel zur Vermehrung des Lebens. Das Beunruhigende an der gesellschaftlichen Machtanwendung war, daß Energie, die sich einmal aus ihrem organischen Rahmen .gelöst und von der Beschränkung durch das Milieu, durch andere Elemente der Menschennatur und andere Organismen befreit hat, keine Grenzen mehr kennt: Sie expandiert um der Expansion willen. So hat der Imperialismus, der zur zeitweiligen Unterjochung fast aller Territorien unserer Erde durch die westlichen industriellen und politischen Eroberer führte, sein genaues Gegenstück in Wissenschaft und Technik. Die edleren Ambitionen, die Bacon anerkannte, waren in Wirklichkeit niemals frei vom niedrigen Egoismus des einzelnen und der Gruppe.

Die utilitaristische Voreingenommenheit war jene Seite von Bacons Denken, die den größten Einfluß ausüben sollte. Doch er hatte noch eine andere Seite, die mit dem traditionellen Wissen verbunden blieb und ihn jene Lebensformen achten ließ, welche von vornherein bewußt aus dem mechanischen Weltbild herausgehalten wurden. Obgleich Bacon Erfindungen und praktische Errungenschaften sehr schätzte, ließ er immer noch Raum für Geschichte, Psychologie und Religion: War nicht sein ideales Bensalem ein christlicher Staat, durch eine übernatürliche Heimsuchung zum wahren Glauben bekehrt? Insofern Bacons Philosophie noch Raum hatte für das Unmeßbare, das schwer zu Begreifende, das Undefinierbare und das Irrationale, war sein Subjektivismus viel objektiver als die einseitige wissenschaftliche Objektivität, für die es Phänomene, welche nicht nach ihrem System beschrieben oder erklärt werden konnten, einfach nicht gab. So konnte Bacon, nachdem er der Wissenschaft und der Erfindung eine wichtige Rolle zugeteilt hatte, immer noch sagen: »Die Betrachtung der Dinge, so wie sie sind, ohne Aberglauben oder Betrug, ohne Irrtum oder Verworrenheit, ist an sich wertvoller als alle Früchte der Erfindungen.«

Diese Auffassung hätten die meisten Wissenschaftler des neunzehnten Jahrhunderts rückhaltlos unterschrieben; und sie bleibt bis heute das Grundmotiv und das höchste Ziel der Wissenschaft. Doch sehr bald gewannen Bacons Pragmatismus und geistiger Imperialismus die Oberhand, so daß der Wunsch nach Eroberung und Beherrschung der Natur um sich griff und das Streben nach Macht zur höchsten Potenz erhoben wurde.

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Bacons Träume erfüllt 

 

Betrachtet man die Ergebnisse von Bacons Erwartungen vom heutigen Standpunkt aus, so ist es klar, daß es drei kritische Punkte gab. Der erste kam gleich zu Beginn, als die wissenschaftliche Forschung von der Universität, ihrer scheinbar natürlichen Heimat, auf die Werkstatt, den Seziersaal, das Laboratorium und das astronomische Observatorium und von dort auf Vereinigungen zur Förderung der Wissenschaft überging. Bei den Zusammenkünften dieser Körperschaften wurden erstmals Berichte, Abhandlungen und Vorführungen von den Mitgliedern entgegengenommen.

Die Wissenschaften, die in der Universität verblieben, waren jene, die schon im Mittelalter gelehrt worden waren: Arithmetik, Geometrie und Astronomie, während die deskriptiven Wissenschaften der Botanik und der Anatomie weiterhin hauptsächlich in den medizinischen Schulen gelehrt wurden. Die mittelalterlichen Universitäten, mit ihrer Orientierung auf Theologie, Jurisprudenz und die abstrakten humanistischen Fächer, mit denen die Naturwissenschaft zugegebenermaßen nichts zu tun haben wollte, waren nicht der richtige Ort für die Wissenschaft; bis in unsere Zeit pflegte man in einer der ehrwürdigsten Universitäten die Chemie als »Stinkerei« zu bezeichnen.

Indem die Exponenten der Wissenschaft ihr Hauptquartier außerhalb der Universität aufschlugen, betonten sie nicht nur ihre Unabhängigkeit vom traditionellen Wissen, sondern entsagten auch jedem Versuch, eine einheitliche und umfassende Weltanschauung zu präsentieren. Darum existierte das mechanische Weltbild, wie es von Newton vollendet wurde, ganz für sich allein, unabhängig von anderen Formen menschlicher Erfahrung, so sehr ein Pascal oder ein Newton sich auch für die letzten Fragen des kosmischen Schicksals oder der religiösen Erkenntnis und der persönlichen Erlösung interessieren mochten. Das führte zu einem Verlust auf beiden Seiten. Die Kirche und die Universität beharrten auf festgefahrenen, wenn nicht völlig veralteten und falschen Naturbegriffen.

Obwohl die Wissenschaft an jedem Punkt ihrer Entwicklung weit erstaunlichere Wunder enthüllt hat, als irgendeine Religion, ausgenommen vielleicht die der Hindus, je zu behaupten wagte, klammerte sie sich im Namen der Objektivität und der Gewißheit an das Erklärbare, an das Mitteilbare und letztlich an das Nützliche — ohne zu erkennen, daß, je subtiler die Analyse und je besser die Erklärung der Teile, das ganze Universum desto geheimnisvoller und rätselhafter wurde. Die DNS mag die Differenz­ierungs­prozesse in Organismen erklären — ihr eigenes Rätsel aber bleibt völlig ungeklärt.

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Walt Whitmans Ausruf, ein Grashalm sei ein Wunder, der alle Atheisten beschämen müßte, wird den Entdeckungen der Wissenschaft eher gerecht als ein Positivismus, der bei der Analyse der chemischen Reaktionen zwischen Sonnenlicht und Chlorophyll haltmacht. Die Isolierung der Wissenschaft von Empfindung, Emotion, Absicht, Einzelereignissen und historischer Identität war nach dem Geschmack beschränkterer Geister. Doch es ist vielleicht kein Zufall, daß die meisten großen Genies der Wissenschaft, von Kepler und Newton bis Faraday und Einstein, in ihrem Denken die Gegenwart Gottes lebendig erhielten — nicht als Erklärung der Dinge, sondern um daran zu erinnern, wieso die Dinge letztlich heute für jeden ehrlichen Forscher ebenso unerklärlich sind, wie sie es für Hiob waren.

Eine der Konsequenzen, die sich aus der Organisierung der Wissenschaft ergaben, war, daß mit Hilfe der Druckerpresse ein neues Mittel zur systematischen Verbreitung von Wissen in periodischen wissenschaftlichen Publikationen zur Verfügung stand. Das analytische Wissen wuchs durch Anhäufung von Einzelheiten; doch seltsamerweise wurde diese rasche Verbreitung von Ideen durch eine Gegenbewegung in der Kultur erschwert, die vom Akademismus der Renaissance herrührte, den Leonardo angeprangert hatte. Die neuen Humanisten verwarfen nämlich die Universalsprache der europäischen Gelehrtenwelt, das scholastische Latein, und kehrten zu dem in Vokabular und Grammatik komplizierteren Latein Ciceros zurück.

Hätte man das scholastische Latein weiterhin akzeptiert und noch vereinfacht — wie der Mathematiker Peano es später versuchte —, dann hätte es als internationale Sprache der Wissenschaft dienen können. Wieso die Menschen der Neuzeit nicht rechtzeitig erkannten, was sie mit der Aufgabe einer lingua franca zugunsten der Nationalsprachen verloren, ist schwer zu erklären, da dadurch die Verständigung erschwert wurde. Heute macht man verzweifelte Anstrengungen, Computer für die Übersetzung wissenschaftlicher Berichte in andere Sprachen zu programmieren; aber die rohen, ungenauen Übersetzungen, die dabei herausgekommen sind, beweisen, daß überall dort, wo es auf qualitative Unterscheidungen ankommt, ein Elektronenhirn kein Ersatz für den Menschengeist ist.

Der zweite kritische Punkt in Bacons Programm wurde im neunzehnten Jahrhundert erreicht. Damals führten erstmals wissen­schaftliche Experimente der Physiker Volta, Galvani, Ohm, Oersted, Henry und Faraday beinahe innerhalb einer einzigen Generation zu Erfindungen, die fast nichts aus einer früheren Technologie übernahmen: Telegraphie, Dynamo und Elektromotor; und innerhalb von zwei Generationen entstanden die elektrische Lampe, das Telephon, die drahtlose Telegraphie und die Röntgenstrahlen.

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Alle diese Erfindungen waren nicht nur undurchführbar, sondern auch technisch unvorstellbar, ehe die reine wissenschaftliche Forschung sie zu realen Möglichkeiten machte. Die Methoden, die sich in der Mechanik und der Elektronik als so fruchtbar erwiesen hatten, wurden nun mit zunehmendem Erfolg in der organischen Chemie und der Biologie angewandt; doch bezeichnenderweise blieben jene Teile der Technologie, die über den ältesten empirischen Wissensschatz verfügten, wie zum Beispiel die Metallurgie, lange Zeit fast unberührt vom Fortschritt der Wissenschaft.

Obgleich in England neue technische Erfindungen vom siebzehnten Jahrhundert an durch königliche Patente geschützt waren, so daß der Erfinder (oder sein Dienstherr) ein zeitlich begrenztes Monopol auf die wirtschaftliche Auswertung der Erfindung hatte, war es ursprünglich für die Wissenschaftler Ehrensache gewesen, aus ihren Entdeckungen keinen persönlichen Nutzen zu ziehen. Gab es auch gelegentlich schmutzigen Prioritätenstreit, manchmal durch nationale Antagonismen verschärft, wie die bedauerns­werten Zwistigkeiten zwischen Newton und Leibnitz oder später zwischen Pasteur und Koch, so war doch die Wissenschaft per definitionem öffentliches Wissen, und ihre unbehinderte Veröffentlichung und Verbreitung war von wesentlicher Bedeutung für ihre kritische Beurteilung und Überprüfung.

Pascal wies darauf hin, daß manche Leute so selbstgefällig von »ihren Ideen« sprachen wie der Kleinbürger von »seinem Haus« oder »seinen Bildern«, daß es aber ehrlicher wäre, von »unseren Ideen« zu sprechen. Diese Auffassung wurde so sehr zum Kennzeichen vornehmer wissenschaftlicher Gesinnung, daß beispielsweise mein eigener Lehrer, Patrick Geddes, eher erfreut als beleidigt war, wenn andere seine ureigensten Ideen als die ihren ausgaben. Schmunzelnd verglich er sich mit einem Kuckuck, der seine Eier in die Nester anderer Vögel legt und ihnen die Mühe überläßt, die Jungen auszubrüten und aufzuziehen.

Der dritte radikale Wandel ereignete sich im zwanzigsten Jahrhundert auf Grund der Maßstäbe, Größen­ordnungen und schließlich auch Zielsetzungen; dies ergab sich fast automatisch aus den neuen Kommunikations­mitteln und neuen Formen der Reproduktion durch Druck, Photographie und Film. Diese Entwicklung beseitigte ehemals unüberschreitbare Grenzen menschlicher Tätigkeit. Ein Schuß war nun mit Hilfe des Radios auf der ganzen Welt mehr als elfmal so schnell zu hören wie mit dem nackten Ohr aus nur anderthalb Kilometer Entfernung.

Wissenschaftliche Entdeckungen auf neuen Gebieten waren nicht mehr abseits der Praxis und ohne Wirkung auf diese, sondern von unmittelbarem Nutzen in Industrie oder Krieg. An diesem Punkt wurde die Wissenschaft zum Hauptmodell, zur Technologie der Technologien. In dem neuen Milieu ging die Massenproduktion wissenschaftlicher Erkenntnisse Hand in Hand mit der Massenproduktion von Erfindungen und Produkten, die sich aus der Wissenschaft herleiteten.

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So erhielt der Wissen­schaftler einen neuen Status in der Gesellschaft, gleichwertig jenem, den früher ein Industrieführer innehatte. Auch der Wissenschaftler befaßte sich mit Massenproduktion, auch er gab sich mit Standardeinheiten ab; und der Wert seines Produkts konnte zunehmend in Geld ausgedrückt werden. Selbst seine wissenschaftlichen Arbeiten, seine Preise und Auszeichnungen besaßen Tauschwert im ökonomischen Sinn: Sie wurden bestimmend für Hochschulkarrieren und erhöhten den Marktpreis von Dozenturen und Beraterstellen.

Die alte Vorstellung vom selbständigen, genügsamen, ja asketischen Wissenschaftler — asketisch im Laboratorium, wenn schon nicht am Mittagstisch — ist immer noch verbreitet, besonders unter den altmodischen Wissenschaftlern. Aber mit der Ausdehnung der Wissenschaft zur Massentechnologie hat der Forscher es nicht mehr nötig, in irgendeiner Form Selbstverleugnung zu üben; sein wissenschaftlicher Status steigt im Maß seines Beitrags zur Überflußgesellschaft; und sein Erfolg kann sogar quantitativ gemessen werden, an der Zahl der Assistenten in seinem Laboratorium, am Jahresbudget für Apparaturen, technische Hilfsmittel und Computer, und schließlich an der Menge der wissenschaftlichen Publikationen, unter die er, ohne zu erröten, seinen Namen setzen darf.

Als Mitwirkender an dieser machtorientierten Technik wird der Wissenschaftler selber zum Diener am Streben der Wirtschafts­giganten, die Grenzen ihres Reiches — das keineswegs immer Bacons »Reich des Menschen« ist! — zu erweitern. In zunehmendem Maße widerspiegelt das Bruttonationalprodukt der Wirtschaft auch das Bruttonationalprodukt der Wissenschaft. Jede theoretische Neuerung, wie harmlos auch in der Intention, erhöht automatisch die Zahl der praktischen Erzeugnisse - und, was noch bedeutsamer ist, der Profitbedürfnisse. Durch seine Teilnahme an dieser Wandlung büßte der Wissenschaftler die Eigenschaft ein, die in der Vergangenheit als sein besonderes Merkmal galt: die Gleichgültigkeit gegenüber materiellem Gewinn und das uneigennützige Streben nach Wahrheit.

Insofern die Fähigkeit des Wissenschaftlers, nach der Wahrheit zu forschen, von teuren Apparaturen, institutioneller Zusammen­arbeit und großen Kapitalinvestitionen der Regierung oder der Industrie abhängt, ist er nicht mehr sein eigener Herr. Selbst der Mathematiker ist nicht mehr so frei, wie Faraday es war, der bei seinen Experimenten mit einigen Glasstückchen, etwas Eisen und Draht alles besaß, was er brauchte, um seine grundlegenden Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektromagnetik zu machen. Diese Anspruchslosigkeit erklärt vielleicht zum Teil die befruchtende Originalität und Kühnheit des damaligen mathematischen Denkens.

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Aber eine wachsende Zahl von Wissenschaftlern hat die Fähigkeit verloren, allein zu stehen oder nein zu sagen, selbst in schwerwiegenden Fragen, die die Existenz der Menschheit bedrohen, wie der Mißbrauch atomphysischer und bakterio­logischer Erkenntnisse für den Völkermord.

War Bacon auch imstande, die immensen Entwicklungsmöglichkeiten einer kollektiven Wissenschaftsorganisation graphisch darzustellen, so war er doch von deren tatsächlicher Entwicklung zu weit entfernt, um andere als positive Folgen voraussehen zu können. Es wäre töricht, ihm Mangel an historischer Perspektive oder an Voraussicht vorzuwerfen; den meisten unserer Zeitgenossen fehlt es heute noch an beidem. Bacon konnte nicht ahnen, daß die Mitglieder des Tempels Salomonis durch ihre Kenntnis der geheimen Ursachen der Dinge ungeahnte Naturkräfte entdecken und zu deren Nutzung Apparaturen von phantastischer Komplexität und Vollendung bauen würden. Er konnte auch nicht vorhersehen, daß gerade die Fähigkeit, die Kräfte des Menschen durch Mechanik und Elektronik zu vervielfachen, zur Auferstehung des alten Mythos der Maschine führen würde; oder schließlich, daß sie eine verbesserte Megamaschine des zwanzigsten Jahrhunderts hervorbringen würde, die mit ihren verheerenden Möglichkeiten das archaische Modell bei weitem übertreffen sollte.

Anders ausgedrückt, die besten Denker des siebzehnten Jahrhunderts konnten sich nicht vorstellen, wie das Leben sein würde, sobald mit Hilfe ihres objektiven mechanischen Weltbilds eine Gesellschaft entstanden war, die dessen begrenzten Prämissen entsprach und im Einklang mit den von ihm vorgezeichneten Bedingungen existierte. In ihrer Vorstellung von einer gesell­schaftlichen Organisation, die umfassenden Gebrauch von Maschinen machen konnte, war nicht enthalten, daß die Gesellschaft selbst zunehmend die Züge einer automatischen Maschine annehmen würde, betrieben von Menschen, die, selber von der Maschine geprägt, in einem maschinell erzeugten Lebensraum für rein abstrakte, mechanisch-elektronische Ziele leben. Kurz, diese Männer konnten sich kein Bild machen von dem grausigen Alptraum des Lebens im zwanzigsten Jahrhundert, in dem kaum eine bösartige Halluzination und kaum ein psychotischer Impuls mehr unausführbar ist und in dem kein Produkt der Technik, wenn es deren spezifischen Erfordernissen entspricht, als menschlich unerwünscht betrachtet wird, wenn es nur verspricht, Geld, Macht oder Prestige von Financiers, Industriellen oder wirtschaftlichen und politischen Ausbeutern zu vermehren.

Mehr noch als Galilei oder Descartes lebte Bacon körperlich und geistig in einer Welt, die noch nicht ihrer historischen Errungen­schaften und ihrer menschlichen Züge beraubt war. Bacons Bedachtnahme auf Theologie, Philosophie und humanistische Lehren bildete ein Gegengewicht zu seiner Begeisterung für materiellen Fortschritt und wissenschaftliche Kühnheit.

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Zum Unterschied von manchen seiner strenger denkenden Nachfolgern war Bacon sogar bereit, Träumen einen gewissen Aussagewert oder der hypnotischen Einbildungskraft eine gewisse Realität zuzugestehen — obwohl er alle diese Phänomene als schwer erfaßbar und gefährlich empfinden mochte. Dies war die Ehrenrettung von Bacons radikalem Empirismus. Sein philosophisches System war offener als Galileis; trotz seiner starken Betonung von Wissenschaft und Technik beschränkte er seinen Wirklichkeitsbegriff nicht auf diesen Bereich. Im zwanzigsten Jahrhundert mußte die Wissenschaft durch Sigmund Freud und dessen Schüler etwas von dem Boden zurückgewinnen, den Bacon selber niemals völlig preisgegeben hatte. Seltsamerweise glaubte Freud, mit seiner kühnen Interpretation des Traumes und anderer Formen psychischer Symbolik immer noch streng im Geiste eines objektiven wissenschaftlichen Materialismus zu handeln.

Doch wenn irgend etwas beweist, wie stark der Mythos der Maschine sich wieder im westlichen Denken rührte, dann bezeugen es Bacons Person und Werk — denn sein Interesse für die neue Welt der Maschine war nicht das Resultat seiner reifen Überlegung, sondern die früheste Intuition seiner Jugend. Zugegeben, er war kein technisches Genie wie Leonardo, kein scharfer mathematischer Denker wie Kepler, kein geschickter Anatom und Chirurg wie Vesalius. Weit entfernt davon: Kein anderer fand mehr Gefallen an den Galanterien und Intrigen des höfischen Lebens; niemandem lag der klassische Verzicht des Wissen­schaftlers auf die Äußerlichkeiten der Welt ferner als diesem weltlichen Höfling. Doch keiner seiner Zeitgenossen sah lebhafter die künftigen Triumphe einer Wissenschaft voraus, die in ihrer heute, im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts, dominierenden Form unermüdlich zu praktischen Zwecken betrieben wird: um materiellen Reichtum, politische Herrschaft und militärische Macht — alle ostentativ als »Erleichterung des menschlichen Loses« verbrämt und verschönert. Starb Bacon nicht an einer Lungenentzündung, hervorgerufen durch ein Experiment — ein Huhn zu konservieren, indem er es in Schnee verpackte? Ein erster Versuch, Lebensmittel durch Tiefkühlung zu konservieren. Bacon hatte im Stil der Vergangenheit gelebt; er hatte seine Ideen im neuen Stil seiner Zeit verfolgt; aber er starb im Stil der Zukunft: in einem Stil, den er selbst schaffen geholfen hatte.

In dieser großartigen Baconschen Synthese waren leider die ernsten metaphysischen Irrtümer, die später von Galilei, Descartes und ihren Weggefährten in der wissenschaftlichen Forschung gemacht wurden, bereits tief eingebettet. In dieser ganzen Denkweise verbargen sich, wie wir heute sehen — was aber lange Zeit von der Vielfalt der im Augenblick faszinierenden Entdeckungen und der daraus sich ergebenden Nutzanwendungen verdeckt war —, zwei Leitziele, deren magischer Charakter sich erst heute enthüllt und deren unausgesprochener letzter Sinn erst jetzt erkennbar wird.

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Erstens: Wer einen perfekten Automaten schafft, der schafft faktisch Leben, da es nach der mechanist­ischen Doktrin keinen Wesensunterschied zwischen lebenden Organismen und Maschinen gibt, vorausgesetzt, sie funktionieren. Selbst ein so wacher und sensibler Geist wie Norbert Wiener begann seinen Golem mehr und mehr mit den höchsten Lebensattributen auszustatten. Zweitens aber verbarg sich hinter diesem magischen Wunsch ein noch vermessenerer Gedanke: Wer Leben schafft, ist ein Gott. Daher kehrte eben die Idee eines göttlichen Schöpfers, die die Wissenschaft vom sechzehnten Jahrhundert an als eine für die Analyse von Materie und Bewegung überflüssige Hypothese angesehen hatte, nun mit verdoppelter Kraft in Gestalt der organisierten Wissenschaft zurück; alle, die diesem Gott dienten, hatten Anteil an seiner Kraft und seiner Herrlichkeit, und ihrer war auch letztlich das Reich.

Vor wenigen Jahren noch mochte diese Interpretation unannehmbar scheinen, es sei denn als ausdrückliche Science-Fiction. Aber 1965 sprach der Präsident der American Chemical Society, ein Nobelpreisträger, in einer Abschiedsrede dieses Streben wörtlich aus. »Laßt uns alle unsere wissenschaftlichen Kräfte einsetzen«, mahnte er seine Kollegen, »um Leben zu erschaffen!« Auf diese Weise wurde der Traum der Alchimisten, einen Homunculus in der Retorte zu erzeugen, in den nüchternen Chemiker­traum übersetzt, nicht einen kleinen Menschen, aber zumindest ein Virus zu erzeugen ... vielleicht sogar eine Bakterie...

Äußerlich gemahnt dieser scheinbar kühne Vorschlag ein klein wenig an Swiftsche Ironie, weil er von jener Wissenschaft kommt, die alle Arten von Leben in Gefahr gebracht hat — durch ihren Mißbrauch in der Produktion von Unkraut-, Ungeziefer- und Menschen­vertilgungs­mitteln. Die führenden Geister der Wissenschaft wollen diese tödliche Bedrohung anscheinend dadurch ausgleichen, daß sie ganz von vorne beginnen, in der Hoffnung, ein großes komplexes Molekül in einen Organismus verwandeln zu können. Was für ein unverschämt lächerliches Vorhaben! Nach diesem Projekt würde man kaum vermuten, daß Leben bereits existiert und alle Ecken und Enden dieses Planeten erfüllt.

Man bedenke: Milliarden Dollar, Tausende Stunden wertvoller Zeit, die besten Köpfe der Wissenschaft sollen eingesetzt werden, um durch künstliche Mittel etwas zu erzeugen, das bereits im Überfluß in Milliarden verschiedener Formen existiert, in der Luft, die man atmet, im Boden, auf dem man geht, im Meer, an der Küste und im Wald. Die organische Evolution im Laboratorium von vorn zu beginnen, ist zumindest überflüssig — selbst dann, wenn das auf solche Weise produzierte Virus sich außerdem als so giftig erweisen würde wie die Familie der Andromedapflanzen!

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Diese Phantasien, Leben zu schaffen, haben nicht nur von vielen Angehörigen der wissenschaftlichen Elite Besitz ergriffen, sondern noch mehr von jüngeren Menschen, die dazu erzogen wurden, die Erweiterung der Wissenschaft und der Megatechnik als den letzten Sinn der menschlichen Existenz zu betrachten. Als der berühmte Biochemiker George Wald kürzlich einen Vortrag vor Studenten hielt, drängten einige von diesen darauf, er solle sich über die Möglichkeit äußern, innerhalb des nächsten Jahrzehnts einen künstlichen Menschen zu schaffen; und als er diese unreife Phantasie kurzerhand, selbst für einen längeren Zeitraum, als lächerlich unwahrscheinlich abwies, waren sie sichtlich enttäuscht und wollten sein Urteil nicht hinnehmen. Aber weder sie noch ihre Science-Fiction-Mentoren hatten sich gefragt, aus welchen vorstellbaren rationalen Gründen so etwas erstrebenswert wäre. Noch fragten sie sich — angenommen, das Unmögliche wäre möglich, und solch ein künstlicher Organismus könnte geschaffen werden —, was für ein Verhalten von einem Organismus ohne Geschichte erwartet werden könnte, obwohl sie es herausgefunden hätten, wenn sie Mary Shelleys Beschreibung von Frankensteins Monstrum gelesen hätten.

Während jedoch die Erzeugung von Leben in dem Sinne, wie sie von unseren großen Chemikern vorgeschlagen wird, ein Schritt zurück — mehr als drei Milliarden Jahre zurück — wäre, ist die Herstellung von Leben tatsächlich im Gange, durch Vermehrung der Automaten und die Schaffung ganzer Gesellschaften, die nach und nach die heute noch vom Menschen ausgeübten Funktionen übernehmen sollen. Die meisten technischen Schwierigkeiten auf dem Weg dahin sind überwunden; aber die psychologischen und kulturellen Folgen sind noch nicht abzusehen. Die Erfolge auf diesem Gebiet haben, wie ich zeigen werde, den Sinn des Menschen für seinen Wert und seine Bedeutung bereits drastisch geschwächt und ihn der äußeren und inneren Mittel beraubt, die er für seine weitere Entwicklung braucht. Dieses Ergebnis, das schon sichtbar ist, würde alle vermeintlichen unmittelbaren Vorteile vernichten.

 

Voraussagen und Wirklichkeit 

 

Flößt die Erfüllung von Bacons Traum uns Respekt vor seinem prophetischen Weitblick ein, so erlegt sie uns auch eine besondere Pflicht auf — nämlich, uns von dem Mythos zu distanzieren, den er in so großem Maße fördern half. Nur so werden wir auch imstande sein, seine unüberprüften Prämissen im Lichte der historischen Erfahrung zu würdigen. Diese, Prämissen sind heute so gründlich institutionalisiert, daß die meisten unserer Zeitgenossen weiter ohne die Spur eines Zweifels nach ihnen handeln.

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Aber wir tun das auf eigene Gefahr, denn sowohl die Wissenschaft als auch die Technik stellen uns heute vor eine Reihe von Problemen, mit denen die Wissenschaft als reine Naturforschung auf der Suche nach rationalen Erklärungen nie konfrontiert wurde. Das wissenschaftliche Establishment weist bereits die gleichen Irrationalitäten und Absurditäten auf, wie die Massen­produktion sie auf anderen Gebieten mit sich gebracht hat.

Die Hauptprämisse, die Technik und Wissenschaft gemeinsam haben, ist die Auffassung, daß es keine wünschenswerten Grenzen für die Vermehrung von Wissen, materiellen Gütern und Beherrschung der Umwelt gebe, daß quantitative Produktivität ein Selbstzweck und jedes Mittel zur Förderung der Expansion recht sei.

Dies war eine vertretbare Position im siebzehnten Jahrhundert, als noch überall Mangelwirtschaft vorherrschte. Damals war jede neue Verbesserung der Produktion, jeder neue Zuwachs an Energie und Gütern, jede neue wissenschaftliche Beobachtung oder Entdeckung notwendig, um den schrecklichen Mangel an Konsumgütern und verifizierbarem Wissen zu lindern. Heute aber ist unsere Situation genau umgekehrt. Da es der Wissenschaft gelungen ist, den Bereich der Vorhersagbarkeit und Kontrolle zu erweitern, in bislang unerforschliche Geheimnisse der Natur einzudringen und die Macht des Menschen in jeder Hinsicht zu vergrößern, stehen wir nun vor einem neuen Problem, das sich gerade aus der Überflußwirtschaft ergibt: vor dem Problem des Mangels durch Übersättigung. Die quantitative Überproduktion materieller wie geistiger Güter wirft — unmittelbar für die westliche Welt, letztlich für die ganze Menschheit — eine neue Frage auf: die Frage der Regulierung, der Verteilung, der Angleichung, der Integration, der zielbewußten Planung und Leitung.

In dem Maße, als die Wissenschaft sich der Technologie nähert, muß sie sich mit der großen Schwäche der modernen Technik beschäftigen: mit den Unzulänglichkeiten eines Systems, dem zum Unterschied von organischen Systemen nicht die Fähigkeit innewohnt, sein eigenes Wachstum zu kontrollieren oder, wie jeder lebende Organismus es tun muß, die enorme Energie, über die es verfügt, zu regulieren, um ein dynamisches Gleichgewicht zu erhalten, das Leben und Wachstum begünstigt.

Niemand bezweifelt den großen Nutzen, den die wissenschaftliche Methodologie in vielen Bereichen gebracht hat; zweifelhaft ist jedoch der Wert eines Systems, welches von anderen menschlichen Bedürfnissen und Zwecken so losgelöst ist, daß der Prozeß selbst automatisch weitergeht, ohne ein erkennbares Ziel außer dem, den gesellschaftlichen Apparat in einem Zustand macht­erzeugender, profitbringender Produktivität zu halten. Was heute Forschung und Entwicklung genannt wird, ist ein Circulus vitiosus.

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Im explodierenden Universum der Wissenschaft fliegen die verstreuten Teile in beschleunigtem Tempo immer weiter weg vom menschlichen Mittelpunkt. Da wir uns auf Geschwindigkeit und Produktivität konzentrieren, haben wir die Notwendigkeit von Bewertung, Korrektur, Integration und sozialem Ausgleich vergessen. In der Praxis führte dies zur Unfähigkeit, mehr als einen Bruchteil des vorhandenen Wissens zu verwenden — jenes Wissen nämlich, das gerade in Mode oder unmittelbar verfügbar ist, weil es sich kommerziell oder militärisch verwerten läßt. Dies hat sich bereits verheerend auf die Medizin ausgewirkt, wie jeder gute und moralisch vertrauenswürdige Arzt bezeugen wird, und ähnliches zeigt sich zunehmend auch in allen anderen Fach­gebieten.

Ist es dann nicht an der Zeit, daß wir uns bestimmte Fragen über die Wissenschaft als Technologie zu stellen beginnen, die Bacon, auf Grund des Wissensstandes seiner Zeit, noch nicht stellen konnte? Sind wir sicher, daß die Kontrolle aller Natur­vorgänge durch Wissenschaft und Technik an sich ein wirksames Mittel ist, das Los des Menschen zu erleichtern und zu verbessern? Ist es nicht möglich, sich mit Erfindungen zu übersättigen, wie man sich mit Nahrung überessen kann, und so den Organismus auf ähnliche Weise zu schädigen? Hat es sich nicht schon gezeigt, daß Wissenschaft und Technik in ihrem unmäßigen Wachstum keinen menschlichen Interessen mehr dienen, außer denen der Technologen und der Großunternehmen; ja, daß sie, beispielsweise in der Form von Atom- und Bakterienwaffen oder von Weltraumraketen, für den Menschen nicht nur nutzlos, sondern geradezu verderblich sein können?

Aber ich möchte noch weiter gehen. Nach welcher Vernunftregel versuchen wir, auf Grund rein Baconscher Prämissen, Zeit zu sparen, Entfernungen zu verkürzen. Macht zu vermehren, Güter zu vervielfachen, organische Normen umzustürzen und Organismen durch Mechanismen zu ersetzen, die jene simulieren oder einzelne ihrer Funktionen ins Riesenhafte vergrößern? All diese Imperative, die in unserer heutigen Gesellschaft zur Grundlage der Wissenschaft als Technologie geworden sind, scheinen axiomatisch und absolut, nur weil sie unüberprüft sind. Im Sinn des entstehenden organischen Weltbildes sind diese scheinbar fortgeschrittenen Ideen veraltet.

Gerade weil Wissenschaft als Technologie jeden anderen Aspekt der Wissenschaft überschattet, sind wir gezwungen, und sei es auch nur zum Selbstschutz, die Fehler zu korrigieren, die Bacon sanktioniert und unabsichtlich gefördert hat. Die Wissenschaft macht heute alles möglich, ganz wie Bacon geglaubt hat; aber sie macht damit nicht alles, was möglich ist, wünschenswert. 

Eine gesunde, nützliche Technik, ganz auf menschliche Bedürfnisse bezogen, kann nicht eine sein, deren höchstes Ziel maximale Produktivität ist; sie muß vielmehr, wie es in einem organischen System der Fall ist, danach trachten, für die richtige Quantität der richtigen Qualität zur rechten Zeit am rechten Ort in der richtigen Reihenfolge zum richtigen Zweck zu sorgen. 

Darum müssen bewußte Regulierung und Lenkung, mit dem Ziel, Wachstum und Kreativität von einzelnen und Gruppen zu fördern, künftig zum Gegenstand unserer Pläne werden, so wie es in den letzten Jahrhunderten unbegrenzte Expansion und Vermehrung waren.

Ist nicht die Zeit gekommen — in der Technologie wie in jedem anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens —, unsere Axiome und Imperative zu überprüfen und die Wissenschaft von der unterdimensionierten Machtmythologie zu befreien, zu der Galilei, Francis Bacon und Descartes sich unvorsichtigerweise bekannten und die sie fördern halfen? 

Zu diesem Zweck wende ich mich nun der Entwicklung der Technik zu.

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