Start    Weiter 

2.6  -  Die polytechnische Tradition 

Mumford-1970

 

 

  Das mittelalterliche Kontinuum 

483-521

In den letzten hundert Jahren, auch schon bevor Arnold Toynbee den Begriff der industriellen Revolution prägte, wurde die gesamte Geschichte der modernen Technologie infolge der Überschätzung der mechanischen Erfindungen des achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts falsch interpretiert. Jene, die glaubten, daß an diesem Punkt eine radikale Wendung eingetreten sei, übersahen nicht nur die lange Reihe wegbereitender Leistungen vom zwölften Jahrhundert an, sondern hielten auch die Folgen von Veränderungen, die erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, als sie darüber schrieben, abgeschlossen waren, für unmittelbar gegeben.

Merkwürdigerweise lasen die Gelehrten, die als erste die Vorstellung von der Rückständigkeit des Mittelalters verbreiteten, ihre Dokumente mit Brillen, die im dreizehnten Jahrhundert erfunden worden waren, publizierten ihre Ideen in Büchern, die mit der im fünfzehnten Jahrhundert erfundenen Druckerpresse hergestellt wurden, aßen Brot aus Getreide, das in Windmühlen, einer Erfindung aus dem zwölften Jahrhundert, gemahlen wurde, fuhren zur See in Dreimastern, die zuerst im sechzehnten Jahrhundert gebaut worden waren, erreichten ihren Bestimmungsort mit Hilfe der mechanischen Uhr, des Astrolabiums und des magnetischen Kompasses und verteidigten ihre Schiffe gegen Piraten mit Hilfe von Schießpulver und Kanonen, die alle schon vor dem fünfzehnten Jahrhundert in Verwendung waren, schrieben auf Papier, und trugen Woll- und Baumwollkleidung, hergestellt in Wassermühlen, die mindestens auf das dritte Jahrhundert vor Christus zurückgehen.

Da viele Gelehrte immer noch darauf beharren, das achtzehnte Jahrhundert als unbestreitbare Wasserscheide zu betrachten, wird es von Nutzen sein, eine genauere Charakterisierung des technologischen Komplexes zu geben, der vorhanden war, ehe die Mechanisierung die Herrschaft übernahm. Denn auch der heute übliche Versuch, den früheren Irrtum zu korrigieren, indem man die industrielle Revolution in zwei Perioden aufteilt — in eine der mechanischen Erfindungen und in eine frühere der wissen­schaftlichen Revolution — ist irreführend, weil er den Einfluß, den die früheren technischen Veränderungen auf das wissen­schaftliche Denken des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts ausgeübt hatten, außer acht läßt.

Ein sorgfältigeres Studium des Tatsachenmaterials zeigt, daß alle entscheidenden technischen Neuerungen vor den wissen­schaftlichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität schon im Mittelalter zustande gekommen sind; und wenn man verstehen will, unter welchen Bedingungen sie sich entfalteten, muß man sie zu ihrer Quelle zurückverfolgen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Stadien aufzuzeigen, in denen die reiche und mannigfaltige Polytechnik des Spätmittelalters (dreizehntes bis fünfzehntes Jahrhundert), mit ihren Meisterwerken des Kunsthandwerkes und der Baukunst und ihren ersten Ansätzen zur Massenproduktion im Buchdruck, unter dem Einfluß des Absolutismus und des kapitalistischen Unternehmertums in das gegenwärtige System einer superschnellen Megatechnik umgewandelt wurde, aus dem ein neuer Typus der Megamaschine, machtvoller als jene des Pyramidenzeitalters, entsteht.

Zu den bedeutsamsten Umständen der großen Umwälzung in der mechanischen Produktion im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert zählt die Tatsache, daß die wichtigsten Erfindungen, abgesehen von der Dampfmaschine — namentlich die Spinn-Jenny, der Webschützen und der mechanische Webstuhl — in den alten neolithischen Gewerben stattfanden: in Spinnerei, Weberei, Töpferei. In diesen Zweigen kam die Energie für die Massenproduktion in großen Fabriken zunächst nicht von Dampfmaschinen, sondern hauptsächlich von Wassermühlen. Die alte englische Bezeichnung für Fabrik, mill (Mühle), zeugt davon.

Die Verwendung von Wasserkraft war es, was die Textilindustrie so lange an die rasch fließenden Bäche Englands und Neu-Englands band: ja, viele Fabriken wurden bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts und sogar noch später mit Wasserkraft betrieben; so wurde der Weg zum Wasserkraftwerk gebahnt. Die Einführung des Dampfantriebs ging so langsam vonstatten, daß selbst in Großbritannien, der Heimat James Watts, wo Kohle und Eisen reichlich vorhanden waren, Thomas Martin in seiner 1818 erschienenen Cyclopedia of the Mechanical Arts die Dampfmaschine nicht einmal erwähnte; in den Vereinigten Staaten wurde Dampfkraft in Baumwollfabriken erstmals 1847 in der Naumkoag Steam Cotton Mill in Salem, Massachusetts, verwendet.

Die anderen großen Erfindungen des neunzehnten Jahrhunderts, die Bessemer-Birne und der Siemens-Martin-Ofen, waren ebenfalls Endprodukte der Eisenzeit, deren beträchtlich verbesserte Techniken im Bergbau nicht im achtzehnten, sondern im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert als Antwort auf den militärischen Bedarf an Eisen für Rüstungen und Kanonen entstanden waren. 

484


Die großen und raschen Veränderungen, die im achtzehnten Jahrhundert tatsächlich stattfanden, waren nicht nur der Begeisterung für mechanische Verbesserungen zu verdanken, sondern auch einer Abnahme des Interesses für andere Lebens­aspekte, welche die Technologie im Gleichgewicht mit anderen Institutionen gehalten hatten. 

Die bloße Tatsache, daß die Technik des Mittelalters andere Interessen hatte und andere Ziele verfolgte als solche, die auf mechanische Expansion gerichtet waren, wurde lange Zeit ohne vernünftigen Grund als Beweis technischer Unfähigkeit betrachtet.

Vom elften Jahrhundert an war zuerst in Italien, dann in ganz Europa ein Aufschwung der Technik zu verzeichnen, stimuliert durch direkten oder indirekten Kontakt, durch Handel und Krieg mit den technisch fort­geschritterenden Kulturen des Ostens: der byzantinischen (Mosaiken, Textilien), der arabischen (Bewässerung, Chemikalien, Pferdezucht), der persischen (Kacheln, Teppiche und möglicherweise, falls Arthur Upham Pope recht hat, der gotische Spitzbogen und das gotische Gewölbe), der koreanischen (Holzschnitt-Druck), und schließlich der chinesischen Kultur (Porzellan, Seide, Papier und Papiergeld, Papiertapeten, Toilettenpapier).

Nach dem fünfzehnten Jahrhundert vergrößerte die Erschließung der Neuen Welt sowie des Nahen und Fernen Ostens die Zufuhr von Rohstoffen und technischen Hilfsmitteln gewaltig: nicht nur riesige Mengen von Gold, Silber, Blei, Seide, Baumwolle, Edelhölzern wie Teak und Mahagoni, sondern auch Nahrungspflanzen, Blumen und Heilkräuter, von Flieder und Tulpen aus Persien bis zur Kartoffel aus Südamerika, Mais und Kakao, Chinarinde und Tabak. Noch lange bevor schnelle Beförderung und Kommunikation technisch möglich wurden, hatte diese Polytechnik die nationalen Barrieren durchbrochen und eine weltweite Kultur erschlossen. Da diese entscheidende Agrarrevolution der späteren Mechanisierung bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nichts zu verdanken hatte, hat man ihre Bedeutung unterschätzt oder völlig übersehen.

Die grundlegende Energiequelle und die vorherrschende Produktionsweise waren bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, selbst in fortgeschrittenen, auf die Maschine orientierten Ländern wie Großbritannien, die Landwirtschaft und die unmittelbar mit ihr verbundenen Handwerkszweige und Antriebskräfte. In Großbritannien lebten im fünfzehnten Jahrhundert mehr als 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Land; und obgleich dieses Verhältnis von Region zu Region variierte, lebten noch 1940, dem französischen Geographen Max Sorre zufolge, vier Fünftel der Weltbevölkerung in Agrardörfern. Im Jahre 1688, für das ziemlich zuverlässige Schätzungen vorliegen, waren etwa 76 Prozent der Gesamtbevölkerung Englands in der Landwirtschaft und in anderen ländlichen Berufen beschäftigt.

485


Bis zum neunzehnten Jahrhundert muß man, wenn man von Handwerk, Gewerbe und Technik spricht, der Landwirtschaft den ersten Platz einräumen; und die Fortschritte in der Pflanzenzucht legten die Basis für die spätere Maschinenwirtschaft, lange bevor es Maschinen zum Pflügen und Ernten gab. Technischen Fortschritt nur mit der Maschine zu identifizieren, bedeutet buchstäblich, den Karren vor das Pferd spannen. Noch unsere Benennung der Arbeitseinheit, Pferdestärke, weist auf die Technik des Mittelalters hin, mit ihrer Verbesserung der Pferdebeschläge und -geschirre. Wo weder Wasser noch Wind als Antriebskraft zur Verfügung stand, betrieb man Mühlen mit Pferden.

Die sorgfältige Zucht von Pferden — zweifellos gefördert durch den Kontakt mit den Arabern und später durch die Einführung eines Futtermittels aus Persien, der Luzerne — ging in dieser ganzen Periode vor sich, wie eine Reihe spezialisierter Züchtungen, von schweren Militär- und Zugpferden bis zu warmblütigen schnellen Jagd- und Rennpferden, beweist. Erfindungen für den Transport und das Heben von Lasten setzten Menschenkraft für andere Aufgaben frei, so etwa die Reihe von Verbesserungen auf dem Gebiet der Flaschenzüge und Kräne, die schließlich den Bau von leicht manövrierbaren, seetüchtigen Dreimastern ermöglichte. Und was das Wichtigste ist, dieser Gewinn an Pferdekraft, Wasserkraft und Windkraft führte zum ersten Mal in der Geschichte zur Entstehung einer fortgeschrittenen Ökonomie, die zur Gänze auf freier Arbeit, nicht auf Sklavenarbeit beruhte. Im siebzehnten Jahrhundert herrschte diese Wirtschaft im Großteil Europas vor, abgesehen von einigen rückständigen Gebieten, wo die Leibeigenschaft sich bis ins neunzehnte Jahrhundert hielt.

Die Hauptträger dieser wirtschaftlichen Freiheit waren die Handwerksgilden: unabhängige, sich selbst verwaltende Körper­schaften, typischerweise in den freien Städten etabliert, die für die Erziehung, die Disziplin und den Unterhalt ihrer Mitglieder sorgten, von der Jugend bis zum Alter, für Kranke und Gesunde, und sich der notleidenden Witwen und Waisen ihrer Mitglieder annahmen. Nicht zuletzt stellten die Gilden Qualitätsnormen auf; Quantität an sich spielte keine Rolle, außer dort, wo das Gildensystem zusammengebrochen war. Noch im achtzehnten Jahrhundert wurden die Bauleute der Zimmermannsinnung von Philadelphia für ihre Arbeit bezahlt, nachdem das Gebäude fertig war, auf der Basis einer von einem unabhängigen Vertreter durchgeführten Schätzung der aufgewendeten Arbeit und der Qualität der Ausführung. Die Qualität hielt der Quantität die Waage.

Noch vor der Mechanisierung der Produktion war diese» Freiheit durch die merkantilistischen Praktiken angenagt worden; diese begünstigten die größeren Meister, die eine Oligarchie bildeten und nach dem sechzehnten Jahrhundert an ungeschützte Handwerker in Dörfern oder Vorstädten, die außerhalb des Bereichs der Gilden standen, Aufträge weitergaben.

486


Die gesetzliche Abschaffung der Gilden, die nun erfolgte, gab den unmenschlichen Methoden der frühen Maschinenindustrie freie Bahn. So war die neue Freiheit, die von Befürwortern des laissez faire, wie Adam Smith, proklamiert wurde, die Freiheit, das mittelalterliche System des Schutzes und der sozialen Sicherheit im Rahmen der Gilden aufzugeben und sich von den Eigentümern der kostspieligen neuen Produktionsmaschinerie ausbeuten zu lassen.

Diese Begleiterscheinung des mechanischen Fortschritts wurde von dessen Verherrlichern durch einen Trick bagatellisiert: Während sie die ungeheure Wirtschaftlichkeit der Massenproduktion priesen, ließen sie die Tatsache unerwähnt, daß die landlosen und heimatlosen Proletarier, die durch die Unterbietung der Preise für Handwerksarbeit in die neuen Fabriken gezwungen wurden, in bezug auf Ernährung, sanitäre Einrichtungen, Wasserversorgung und Wohnverhältnisse schlechter daran waren als die landwirtschaftlichen Arbeiter ihrer Zeit: Dies beweisen englische Lebensversicherungstabellen, die zeigen, daß Landarbeiter immer noch eine erheblich höhere Lebenserwartung hatten. Das Fabriksystem degradierte den Arbeiter zum Lohnsklaven, statt die Maschinen zur Abschaffung der Sklaverei zu nutzen.

Diese deprimierenden sozialen Folgen waren gerade in den Bereichen am stärksten, wo große technische Fortschritte gemacht wurden. Die unzweifelhaften Erfolge, die Organisation und Mechanisierung von Anfang an zeitigten, wurden durch die gnadenlose Reglementierung und Ausbeutung der Arbeiter, besonders der Kinder und der Frauen, entwertet. Diese Tatsache wird immer noch von jenen bemäntelt, die glauben, daß technischer Fortschritt automatisch sozialen Fortschritt mit sich bringt, ohne sich , die Mühe zu geben, die wirklichen Ergebnisse zu prüfen. Darin ahmen sie nur die viktorianischen Apostel des Industrie­kapitalismus nach, wie zum Beispiel Andrew Ure, der das heute wissenschaftlich erwiesene Faktum bestritt, daß das Überhandnehmen von Rachitis bei Kindern, die vierzehn Stunden täglich in der Fabrik arbeiten, auf den Mangel an Sonnenlicht zurückzuführen war: Gaslicht, erklärte er einfach, sei ebenso gut — und viel progressiver.

 

Das polytechnische Erbe 

 

Da man die Zeit vor dem achtzehnten Jahrhundert irrigerweise als technisch rückständig ansieht, hat man einen ihrer größten Vorzüge übersehen: nämlich, daß sie noch eine gemischte Technologie, eine echte Polytechnik hatte; denn die charakteristischen Werkzeuge, Geräte, Maschinen, Utensilien und Gebrauchsgegenstände, die sie verwendete, waren zum Großteil nicht ihr eigenes Werk, sondern im Laufe von Zehntausenden Jahren entstanden.

487


Man betrachte dieses immense Erbe. Ging die Wassermühle auf das vorchristliche Griechenland zurück und die Windmühle auf das Persien des achten Jahrhunderts, so entstanden der Pflug, der Webstuhl und die Töpferscheibe schon zwei- oder dreitausend Jahre früher; und die Getreidearten, Früchte und Gemüse stammten aus der Periode des paläolithischen Nahrungsammelns und der neolithischen Domestizierung. Der Bogen, der die Schlacht von Crecy für die Engländer entschied, war eine paläolithische Erfindung, die im Magdalenien bei der Bisonjagd verwendet worden war. Was die Bilder und Skulpturen in öffentlichen Gebäuden betrifft, so ließ sich ihre Tradition noch weiter ins Paläolithikum zurückverfolgen - bis zu den Höhlen des Aurignacien. Die Einführung neuer Erfindungen, wie der Uhr, machte es im Prinzip nicht notwendig, irgendeine dieser alten Errungenschaften aufzugeben.

Es ist nicht das unwichtigste Faktum dieser rückständigen Technologie, daß sie sich dort, wo technisches Können und konstruktive Kühnheit am höchsten entwickelt waren, bei den massiven romanischen und den hochaufstrebenden gotischen Kathedralen, auf die ältesten Teile unseres technisches Erbes stützte und nicht unmittelbar mit nützlichen Zwecken verbunden war, sondern bloß den Versuch darstellte, den Notwendigkeiten des täglichen Lebens Sinn und Schönheit zu geben. Nicht das Bedürfnis nach Nahrung und Obdach oder der Wunsch, Naturkräfte nutzbar zu machen und physische Hindernisse zu überwinden, hat diese Bautechnik zu ihren höchsten Leistungen beflügelt. Um ihre tiefsten subjektiven Gefühle auszudrücken, stellten sich die Erbauer dieser Monumente die schwierigsten technischen Probleme, die oft über ihre mathematischen Kenntnisse und ihre handwerkliche Erfahrung hinausgingen, aber zu kühnem Experimentieren verleiteten, so kühn, daß es manchmal ihre Kräfte überstieg — wie mehr als ein eingestürzter Turm beweist.

Zur Errichtung dieser Monumentalbauten wurden Gruppen von Arbeitern mit verschiedensten Fähigkeiten und Talenten gebildet, um eine Vielzahl von Aufgaben auszuführen, vom monotonen Behauen der Steine zu kubischen Blöcken, klein genug, daß ein einzelner sie heben konnte, bis zu den akrobatischen Leistungen, die nötig waren, um die gemeißelten Steine auf die höchste Zinne zu setzen. Nicht bloß Muskelkraft, technisches Geschick und physischer Mut stecken in diesen Bauten: Empfindungen, Gefühle, Phantasie, erinnerte Legenden — faktisch das gesamte Leben der Gemeinschaft — verkörperte sich in diesen technischen Spitzenleistungen. Die Technologie war nur Mittel zu einem höheren Zweck; denn die Kathedrale war dem Himmel so nahe, wie ein irdisches Bauwerk es nur sein konnte.

488


Diese Beherrschung der komplizierten Prozesse der Baukunst diente weder dem Zweck, »Arbeit zu schaffen«, wie in alten Zeiten, noch dem, Arbeit abzuschaffen, wie heute durch die Automation; sie sollte auch nicht nur das persönliche Ansehen des Baumeisters oder die Löhne der Arbeiter heben, noch weniger »die Wirtschaft stärken«. Der Endzweck dieser technischen Großtaten war nicht das Bauwerk an sich, sondern die Vision, die es hervorrief: ein Gefühl für den Sinn und die Werte des Lebens. Diese Errungenschaft hat sich als so wertvoll erwiesen, daß spätere Generationen von Menschen mit sehr verschiedenen religiösen Glaubensbekenntnissen und Aspirationen dennoch bei der Betrachtung dieser Bauten ein neues Gefühl geistiger Vitalität empfanden, wie William Morris, als er im Alter von acht Jahren zum ersten Mal atemlos dem Wunder der Kathedrale von Canterbury gegenüberstand.

Selbstverständlich gewährte nicht jedes Handwerk so erfreuliche Arbeitsbedingungen oder so tiefe Befriedigung. Es gab unmenschliche Schinderei, Härten, Verkrüppelungen und chronische Leiden in Berufen wie Bergbau, Gießerei, Färberei und Glasbläserei; trotz verbesserter medizinischer Diagnose und Behandlung existieren viele dieser Berufskrankheiten heute noch, ja, in technisch fortgeschrittenen Industriezweigen, wo die Arbeiter der Radioaktivität, der Bleivergiftung, dem Silikat- und Asbeststaub oder der Wirkung giftiger Schädlingsbekämpfungsmittel ausgesetzt sind, haben sie sich sogar noch verstärkt.

Der andere schwache Punkt in manchen Handwerkszweigen, wie der Weberei, die Reduzierung auf Routineverrichtungen und eine durch nichts unterbrochene Monotonie, bahnte den Weg zur Mechanisierung; deren Wirkung aber bestand, bis die Automation sich durchsetzte, in der Intensivierung der Langeweile, während die Beschleunigung der Prozesse die besänftigende Wirkung der Wiederholung aufhob, die solche Arbeiten für den Psychiater in den Endphasen der Psychotherapie so nützlich macht, wie William Morris in einer stürmischen Periode seines Ehelebens am eigenen Leib entdeckte.

In manchen Handwerkszweigen waren Vorteile und Nachteile zugegebenermaßen unlösbar miteinander verbunden. In einigen hochentwickelten Arbeitsbereichen, etwa in der Herstellung von Perserteppichen im sechzehnten Jahrhundert, mochte die Schwierigkeit des Musters und des Arbeitsvorganges, der bis zu hundert Knoten pro Quadratzentimeter erforderte, lebenslange Versklavung des Arbeiters bedeuten, der einen solchen Grad an Kunstfertigkeit erreichen wollte. Man braucht diese häßliche Kehrseite nicht zu verbergen; es besteht aber auch keine Veranlassung, die große Kompensation zu verschweigen — das Werk wurde am Ende geschätzt und blieb erhalten. Einer der schönen Teppiche, der heute eine Wand im Victoria and Albert Museum in London bedeckt, erforderte die ganze Lebenszeit des Tempelsklaven, der ihn herstellte.

489


Aber dieser Sklave war ein Künstler und genoß in seiner Kunst die Freiheit, zu schaffen. Am Ende seiner Aufgabe angelangt, signierte er das Meisterstück stolz mit seinem Namen. Er hatte weder seine Identität noch seine Selbstachtung verloren; sein Arbeitsleben war nicht vergeblich gewesen. Man vergleiche den Tod dieses Sklaven mit dem Tod eines Handlungsreisenden von Arthur Miller.

Um die alte Polytechnik zu verstehen, die im sechzehnten Jahrhundert zum Teil mechanisiert, aber nicht ganz der Mechanisierung preisgegeben wurde, muß man bedenken, daß ihre wichtigsten Künste fest auf alten neolithischen Grundlagen ruhten: Mischkultur — Getreide, Gemüse, Obstanbau, Haustiere — und Bauten jeder Art, von Häusern und Scheunen bis zu Kanälen und Kathedralen. All diese Beschäftigungen erforderten sowohl Wissen als auch Können; und die Arbeit wechselte im Prozeß des Wachsens und Bauens von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag. Der Prozeß verlangte nicht, daß man in ein und derselben Stellung verharrte, daß man eine einzige, einförmige Aufgabe erfüllte, Monotonie und Uniformität akzeptierte, ohne zumindest eine Erleichterung durch Wechsel des Wetters, der Jahreszeit oder des Arbeitstempos zu haben.

Man denke an die Leistung des altmodischen japanischen Handwerkers, die Raphael Pumpelly in seinen Reminiscenses anführt. Pumpelly wünschte eine Türe, die man verschließen konnte; so holte er einen Metallarbeiter, der ihm eingeschraubte Scharniere anfertigen sollte; doch leider hatte dieser Handwerker nie im Leben eine Schraube gesehen. Als Pumpelly ihm eine Eisenschraube schenkte, ging der Arbeiter fort und brachte am nächsten Tag ein Dutzend Messingschrauben, wunderschön ausgefertigt und poliert, nachdem er sie kunstvoll gegossen hatte. »Er bat auch um die Erlaubnis, meinen Colt zu kopieren. Nach kurzer Zeit brachte er ein exaktes, in allen Teilen einwandfrei funktionierendes Duplikat, sorgfältiger ausgeführt als das Original.« Man müßte lange suchen, um solches Selbstvertrauen und solchen Erfindungsgeist in einer modernen Maschinenfabrik zu finden - sie wurden längst vom Fließband verdrängt.

In der Werkstatt und im Haushalt gab es ohne Zweifel eine Menge langweiliger Aufgaben; aber sie wurden in Gesellschaft ausgeführt, in einem gemächlichen Tempo, das Plaudern und Singen erlaubte; hier war nichts von der Einsamkeit der modernen Hausfrau, die einem Arsenal von Maschinen vorsteht, nur vom stetigen Gepolter, Geklapper und Summen ihrer eisernen Gehilfen umgeben. Außer in solchen Wirtschaftszweigen wie dem Bergbau waren spielerische Entspannung, sexueller Genuß, häusliche Zärtlichkeit und ästhetische Anregung weder räumlich noch seelisch ganz von der laufenden Arbeit getrennt.

490


Obwohl die manuelle Arbeit viele Fertigkeiten zu höchster Perfektion brachte — mit keiner Maschine kann man ein so feines Baumwollgewebe herstellen, wie es ein Dacca-Musselin aus Garn Nummer 400 ist —, war von noch größerer Bedeutung, daß diese Kunst so stark verbreitet war, was ebenfalls auf die Selbständigkeit und das Selbstvertrauen des Handwerkers hinweist. Nichts beweist dies besser als die Aufzeichnungen aus der Zeit der großen Entdeckungen mit ihren Berichten über den Bau seetüchtiger Schiffe, die havarierte Schiffe ersetzten. »Der Schiffszimmermann, der in Cortez' Armee marschierte, leitete am Texcoco-See den Bau und den Stapellauf einer ganzen Flotte von Briggs, die groß genug waren, Kanonen zu tragen.« Eine solche Arbeitsweise war jedem Notfall gewachsen; weder die handwerkliche Fertigkeit noch die umfassende Kenntnis der Konstruktion war auf einige wenige Spezialisten beschränkt. Daß unserem Gewinn an Pferdestärken ein Verlust an Menschenkraft und vor allem an kooperativer Geisteskraft gegenübersteht, ist noch nicht gebührlich beachtet worden.

Karl Buecher gab eine Darstellung dieses Zusammenhangs zwischen Handwerk und Ästhetik in seiner klassischen Studie Arbeit und Rhythmus, die leider nie ins Englische übersetzt wurde; und ich habe in Art and Technics sowie anderswo unterstrichen, daß mechanische Erfindung und ästhetischer Ausdruck in der älteren Polytechnik nicht voneinander zu trennen waren und daß die Kunst bis tief in die Renaissance hinein das wichtigste Feld der Erfindungen war. Die Kunst hatte nie den Zweck, Arbeit zu sparen, sondern Arbeit zu lieben, Funktion, Form und symbolisches Ornament bewußt zu gestalten, um das Lebensinteresse zu steigern.

Die alte Wechselwirkung zwischen Volksarbeit und Volkskunst erreichte ihren Höhepunkt in der Musik des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts: Man denke an Samuel Pepys, der ein Dienstmädchen zum Teil deswegen aufnahm, weil sie geeignet war, eine Einzelstimme im Rundgesang der Familie am Eßtisch zu übernehmen — oder Franz Schubert, der den Arbeitsgesang der Holzflößer in Melodie und Rhythmus seines Impromptu in Es-Dur übertrug. Wenn die Orchestermusik ihren Höhepunkt in den symphonischen Werken Haydns, Mozarts, Beethovens und Schuberts erreichte, so vielleicht deshalb, weil sie noch bewußt aus dem Reichtum von Volksliedern und Volkstänzen schöpften, die mit dem ländlichen Handwerk verknüpft waren: ein Erbe, aus dem in einem industriell rückständigen Land wie Italien noch Verdi Impulse beziehen konnte.

Wäre die Handwerkswirtschaft, vor der Mechanisierung, wirklich von Armut gezeichnet gewesen, so hätten ihre Arbeiter die Zeit, die sie für Kirchenfeste und Kirchenbau übrig hatten, auch darauf verwenden können, ein Vielfaches an Stoffen zu weben oder an Schuhen zu flicken. Eine Wirtschaft, die sich außer den zweiundfünfzig Sonntagen im Jahr auch noch eine lange Reihe von Feiertagen zu leisten vermag, kann gewiß nicht als arm bezeichnet werden.

491


Das Äußerste, das man von ihr sagen kann, ist, daß sie in ihrer Konzentration auf geistige Interessen und soziale Zufriedenheit die Mitglieder der Gemeinschaft vielleicht nicht ausreichend vor Nahrungsmangel im Winter und gelegentlichen Hungersnöten schützte. Aber diese Wirtschaft bot etwas, dessen Bedeutung wir heute beinahe vergessen haben, nämlich Muße: nicht Freiheit von Arbeit, wie unsere heutige Kultur Muße interpretiert, sondern Freiheit in der Arbeit; und somit Zeit, zu plaudern, zu grübeln und über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Abgesehen von der Landwirtschaft und der Baukunst lag die größte Schwäche des alten Handwerks in seiner übermäßigen fachlichen Spezialisierung, die die freie Verbreitung von Wissen und Können behinderte und die einzelnen Handwerkszweige, das Baugewerbe ausgenommen, des großen kollektiven Wissensfonds beraubte, der die Glanzleistungen der Kathedralenerbauer zu so wunderbaren Trägern kultureller Aussagen gemacht hatte. Am Ausgang des Mittelalters begann diese übermäßige Spezialisierung unter einem Ansturm von oben zusammenzubrechen. Man beachte, daß Rabelais das Studium von Kunst und Handwerk zu einem Teil der Erziehung Gargantuas machte: Dieser beschäftigte sich bei Regenwetter mit Malen oder Schnitzen und begleitete seinen Lehrer, um zuzusehen, 

»wie Metalle geschmolzen oder Geschütze gegossen wurden, oder man besuchte die Werkstätten der Juweliere, Goldschmiede und Steinschneider; oder die Alchimisten, Münzarbeiter, Posamentierer, Seiden- und Sammetweber, Uhrmacher, Spiegelschleifer, Orgelbauer, Buchdrucker, Färber und derartige Gewerbsleute, wo man dann für ein kleines Trinkgeld die Handgriffe und Erfindungen, der verschiedensten Handwerke kennenlernte«.

In dieser Aufzählung schildert Rabelais faktisch die große Neuerung, die der Renaissance-Künstler in seiner Person verkörperte: der kühne Universalamateur, der, obwohl er noch immer der Gilde der Goldschmiede angehören mochte, in Wirklichkeit den beengenden und veralteten Handwerksisolationismus durchbrach; denn diese neue Persönlichkeit war gleichermaßen imstande, ein Bild zu malen, eine Bronzeform zu gießen, eine Befestigung zu planen, einen Festzug zu inszenieren oder ein Bauwerk zu entwerfen. Was er denken konnte, das konnte er auch zeichnen; und was er zeichnen konnte, das konnte er auch machen. Indem er die Schranken der Handwerksspezialisierung überwand, stellte der Künstler die Totalität des Geistes wieder her.

Dies war kein Zeichen besonderer Genialität; war Vasari ein Genie? Es war eher die Folge der Zersetzung alter städtischer Gilden- und kirchlicher Institutionen durch fürstliche Despoten und Schutzherren. Dies gab unabhängigen, nichtspezialisierten Männern die Möglichkeit, frei von einem Beruf zum anderen zu wechseln und sich deren geheime Künste zunutze zu machen, ohne sie auf eigene Faust de novo erfinden zu müssen, wozu die Maschinenkonstrukteure nach James Watt weitgehend gezwungen waren.

492


Doch man beachte: Die erfolgreichsten Künstler, Brunelleschi, Michelangelo und Christopher Wren, bezogen ihre Stärke hauptsächlich aus den alten, hochorganisierten Baugewerben — so wie ein späterer Großindustrieller, Joseph Paxton, von der Gartenbaukunst herkam.

 

Technische Befreiung 

 

Wenngleich sie langsam arbeiteten, besaßen Gewerbe und Landwirtschaft vor der Mechanisierung, gerade weil sie hauptsächlich auf manueller Arbeit beruhten, eine Freiheit und Flexibilität wie kein System, das auf eine Garnitur kostspieliger spezialisierter Maschinen angewiesen ist. Werkzeuge sind stets persönliches Eigentum gewesen, den Bedürfnissen des jeweiligen Arbeiters entsprechend ausgewählt und oft umgestaltet, wenn nicht eigens gemacht. Zum Unterschied von komplexen Maschinen sind sie billig, ersetzbar und leicht transportierbar, aber ohne Menschenkraft wertlos. Mit seinem Werkzeugkasten konnte der städtische Handwerksgeselle, war seine Lehrzeit einmal vorüber, auf die Wanderschaft gehen, um neue Länder zu sehen, neue technische Kunstgriffe zu erlernen und in gewissem Grad die traditionellen Schranken des Handwerks zu überwinden.

Die Technik des Mittelalters, keineswegs stagnierend, führte nicht nur 'neue Erfindungen ein, wie die Seidenspulmaschine (1272), den Blockdruck (1289), das Spinnrad (1298) und die Drahtziehmaschine (1350), sondern erweiterte und entwickelte auch ältere Künste, beispielsweise Glaserzeugung und Glasbläserei — die, wie schon bemerkt, die unentbehrlichen Flaschen und Destillier­kolben für spätere chemische Experimente lieferten. Doch auch die erste Massenverwendung von Glas diente nicht praktischen, sondern ästhetischen Zwecken: den großen Fenstern der Marienkirchen des dreizehnten Jahrhunderts.

So erfüllte die polytechnische Tradition bis zum siebzehnten Jahrhundert die große Aufgabe, das bedeutende technische Erbe der Vergangenheit weiterzureichen, wobei sie zugleich viele neue mechanischen oder chemischen Verbesserungen einführte — darunter Erfindungen, die in ihrer technischen Konzeption so radikal und in ihrer gesellschaftlichen Auswirkung so umwälzend waren wie die Druckerpresse.

Der rasche Erfolg der Druckerpresse, der bewirkte, daß der Übergang vom handschriftlichen Kopieren zum Drucken in weniger als einem halben Jahrhundert vollzogen war, bewies, daß das Handwerk diesem Schritt gründlich den Weg bereitet hatte und sich solchen Verbesserungen nicht widersetzte. 

493


Abgesehen von vorübergehendem Widerstand, den die alten Handschriften-Kopisten leisteten, konnte sich die neue Erfindung rasch durchsetzen, weil der erste Schritt zu einer Mechanisierung, die Herstellung eines völlig standardisierten Handsatzes, schon lange vorher im Kloster gemacht worden war, wo eine bewußt mechanisierte Lebensweise das Fundament für weitere Mechanisierung gelegt hatte.

Als Beitrag zu dem wachsenden Gefühl der Befreiung und Autonomie, das die ersten mechanischen Erfindungen auslösten, nahm die handbetriebene Druckerpresse einen zentralen Platz ein. Keiner, der ernst genommen werden will, kann die sozialen Vorteile, die eine Vervielfältigung des gedruckten Wortes bringt, in Frage stellen, denn diese Erfindung brach das Klassenmonopol des geschriebenen Wissens und erschloß die zeitliche Welt ebenso entscheidend, wie die gleichzeitige Entdeckung der Kontinente die räumliche Welt erschloß. Bis zum sechzehnten Jahrhundert unterlag die riesige Menge empirischen Wissens, die innerhalb jedes Handwerks angehäuft war, einer Beschränkung: Es war nie aufgezeichnet worden; und wenn die menschliche Kette der Überlieferung durch Pest oder Krieg unterbrochen wurde, konnten wesentliche Elemente der Tradition verlorengehen.

Mit der Erfindung der Buchdruckerkunst wurde es möglich, technologisches Wissen im großen Maßstab zu sammeln und zu verbreiten; und es ist nicht ohne Bedeutung, daß eines der größten technischen Kompendien, Agricolas Abhandlung über Bergbau und Metallurgie, weniger als hundert Jahre nach Gutenbergs Erfindung erschien und nicht bloß genaue wissenschaftliche Information, reich illustriert, vermittelte, sondern auch eine ungewöhnliche Kenntnis vieler anderer Handwerke bewies. Mit der Zeit folgten auf De Re Metallica viele weitere nützliche Handbücher, sowie eine Reihe von Holzschnitten, wie jene Jost Ammans, die den Fortschritt der Handwerkskünste illustrieren.

Mit den Abschnitten über Technik und Mechanik in der großen französischen Encyclopedie, die unter der persönlichen Aufsicht von Denis Diderot entstand, erreichte diese Bewegung einen zeitweiligen Höhepunkt. Das verstärkte Interesse für Technologie scheint Teil einer weltweiten Bewegung gewesen zu sein, die sich schwerlich aus unmittelbarem Kontakt erklären läßt; denn chinesische und japanische Drucke verraten seltsamerweise vom sechzehnten Jahrhundert an ein ähnliches Interesse für handwerk­liches Können, technische Prozesse und in vielen Fällen sogar für die Umwelt des Arbeiters.

Die große Leistung der mittelalterlichen Technik bestand also in ihrer Fähigkeit, viele wichtige Veränderungen herbeizuführen und zu absorbieren, ohne den riesigen Schatz von Erfindungen und Erfahrungen früherer Kulturen zu verlieren. Darin liegt eines der wesentlichen Momente ihrer Überlegenheit über die moderne Form der Monotechnik, die sich rühmt, so schnell und so weit wie möglich die technischen Errungenschaften früherer Perioden verdrängt zu haben, wenngleich das Resultat, wie schon der Fall des Monotransports durch Auto oder Düsenflugzeug zeigt, auch um vieles weniger flexibel und effizient sein mag als das stärker differenzierte und abgestufte System, das ihm voranging. 

494


Zum Teil war diese polytechnische Überlegenheit der Tatsache zuzuschreiben, daß fachliches Können, ästhetisches Urteilsvermögen und Symbolverständnis in der gesamten Gemeinschaft verbreitet waren, nicht auf einen Stand oder eine Berufsgruppe beschränkt. Ihrem ganzen Wesen nach konnte die Polytechnik nicht auf ein standardisiertes, einförmiges System unter zentraler Kontrolle reduziert werden.

Ein nicht geringer Teil der polytechnischen Tradition lag in den Fertigkeiten, die aus der neolithischen Kultur stammten, in der weibliche Interessen und weibliche Arbeitsweisen immer noch eine große Rolle spielten: nicht nur in der Töpferei, im Korbflechten und im Spinnen und Weben, sondern auch in den spezifisch häuslichen Künsten, die einen so großen Teil der menschlichen Arbeit ausmachen: Kochen, Konservieren, Brauen, Färben, Waschen und sogar Seifensieden. Viele primäre Erfindungen in diesem Bereich blieben jahrtausendelang unverändert, wie die Formen von Krügen und Vasen und vierfüßigen Möbeln, da sie zu einem früheren Zeitpunkt eine zufriedenstellende Gestalt erlangt hatten. Wollte man den akkumulierten Reichtum dieser Tradition im Detail anführen, dann müßte man auch an die Fülle von Koch- und Backrezepten denken, die jede regionale Kultur produzierte: die zahllosen Kombinationen von Nahrungsmitteln und verführerischen Gewürzen, die den animalischen Prozeß des Fressens in eine gesellschaftliche Kunst genußvollen Speisens verwandeln halfen. Auch das ist ein Teil unserer technischen Tradition, ebenso wie die Arzneibücher.

In einer Zeit wie der heutigen, die stolz ist auf ihre Fähigkeit, immer größere Mengen von Nahrungsmitteln zu produzieren — pasteurisiert, homogenisiert, sterilisiert, tiefgekühlt oder sonstwie auf die Geschmacksarmut von Kleinkindernahrung reduziert —, wurde das Verschwinden dieses Erbes zur notwendigen Voraussetzung dafür, daß die von den Erfordernissen der Raumkapsel diktierte Diät demütig als Standard normaler menschlicher Ernährung akzeptiert wird. Hier steht wiederum die polytechnische Tradition für Vielfalt und ästhetische Differenziertheit als wesentliche Voraussetzung der Steigerung organischer Tätigkeit. In Kochkunst, Kleidung, Körperschmuck und Gärtnerei, wie auch in der bildenden Kunst bedurfte es keiner industriellen Revolution, um unendlich viele Modifikationen und Qualitätsverbesserungen herbeizuführen.

495


Die Gesellschaftsordnung des Mittelalters konnte nicht völlig mechanisiert und entpersonalisiert werden, weil sie auf der Anerkennung des höchsten Wertes und der Realität der Einzelseele beruhte, ein Wert und eine Realität, die sie mit gleichermaßen identifizierbaren Gruppen und korporativen Organisationen verbanden. Die Beziehung zwischen der Seele und ihrem Gott, zwischen dem Leibeigenen, dem bewaffneten Gefolgsmann und dem Feudalherren, zwischen Lehrling und Meister, zwischen dem Gildenmitglied und seiner Stadt, ja selbst zwischen dem König und seinem Volk war eine persönliche Beziehung, viel zu komplex und viel zu subtil, um auf eine spezifische Funktion beschränkt oder auf eine spezifische vertragliche Vereinbarung begrenzt zu sein, da sie das gesamte Leben einschloß. Zu den beliebtesten Themen mittelalterlicher Volkssagen zählt das vom tapferen Bauern oder Müller, der dem König widerspricht und ihm seine Meinung sagt; eine Geschichte dieser Art habe ich einmal den Bürgermeister von Den Haag mit schelmischem Blick bei einer großen Feier in Anwesenheit der Königin von Holland erzählen hören. Aber wer hat je einem Computer seine Meinung gesagt?

In Ländern wie England und Holland gab es überdies im örtlichen Maßstab bereits geschriebene Verfassungen und parlamentarische Verfahrensregeln, bevor sie im größeren Rahmen eingeführt wurden. Zu dem Zeitpunkt, da die großen Handwerks- und Kaufmannsgilden, schon durch Reichtum korrumpiert oder vom Staat abhängig, aufhörten, ihre alten Funktionen zu erfüllen, erweckte die englische Arbeiterklasse in ihrer Verzweiflung die Hilfsvereine und Bestattungsgesellschaften zur Unterstützung der Kranken, der Witwen und der Waisen zu neuem Leben — Vereinigungen, die viel früher, im Römischen Reich, entstanden und anscheinend nie gänzlich in Vergessenheit geraten waren, auch wenn sie vom Schauplatz der Geschichte verschwanden.

Dieser soziale Hintergrund der mittelalterlichen Polytechnik wird von Historikern der Technik allzuoft übersehen, welche die Technologie ohne Bezugnahme auf die politischen oder persönlichen Formen, die an ihrer Entstehung mitgewirkt haben, betrachten.

Noch im sechzehnten Jahrhundert war diese dynamische und aktive Polytechnik nicht nur intakt, sondern entwickelte sich weiter, da mit den Entdeckungen Rohstoffe und technische Prozesse nach Europa kamen, die ihr förderlich waren. Zum ersten Mal in der Geschichte waren die Künste und Techniken der ganzen Welt bereit, sich zu vermischen, voneinander zu lernen, den Bereich ihrer praktischen Wirksamkeit und ihres symbolischen Ausdrucks zu erweitern. Unglücklicherweise trat an diesem Punkt ein Wandel ein, der dieses Wachstum zum Stillstand brachte: Ein System einseitiger politischer und militärischer Herrschaft produzierte als Gegenstück ein System der Mechanisierung und Automatisierung, das die menschlichen Prämissen außer acht ließ, auf denen die alten Technologien der Landwirtschaft und des Handwerks beruhten.

496


Nicht, daß das Handwerk rasch ausgestorben wäre. Die großen Verbesserungen in der Herstellung von automatischen Spinn- und Webmaschinen, von Uhren und Taschenuhren wären gewiß nicht möglich gewesen ohne die Hilfe der Handwerker, die vom Holzdrechseln zum Metalldrehen und Werkzeugmachen übergingen und ihre Handwerkserfahrung dazu benutzten, die Lehren der Techniker und Wissenschaftler zu interpretieren. Denn die neuen komplexen Maschinen konnten nicht in allen Details auf dem Reißbrett konstruiert, ja, nicht einmal skizziert werden. Bevor es so weit war, mußten die einzelnen Bestandteile der Maschinen noch manuell hergestellt werden.

Englands führende Rolle als Erzeuger automatischer Maschinen vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an ist auf eine ganze Reihe solcher Meisterhandwerker zurückzuführen, von Joseph Bramah und Henry Maudslay bis Nasmyth, Whitworth, Muir, Lewis und Clement — Männer, die Erfindungen machten wie die Schraubenschneidedrehbank (Maudslay), welche ihrerseits komplexere Maschinen ermöglichten. Einer von Maudslays Mitarbeitern bezeugte dessen Kunst: »Es war ein Vergnügen, ihn mit Werkzeug aller Arten umgehen zu sehen, aber er war ganz hervorragend im Umgang mit einer Achtzehn-Zoll-Feile.« Wie im Fall der präzisen Handwerkskunst, die an den ägyptischen Pyramiden zu erkennen ist, wurde auch nun der letzte, vollendete Schliff durch die menschliche Hand erreicht.

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte diese Form handwerklichen Könnens auf manchen Gebieten der Metallbearbeitung einen höheren Grad an technischer Perfektion erreicht als je zuvor. Dank Kraftmaschinen, härterem Stahl, einer größeren Vielfalt von Metallen und Legierungen, präzise arbeitenden Drehbänken und Stanzen, genauerer Kontrolle von Temperatur und Geschwindigkeit gab es kein mechanisches Problem, das der Handwerker nicht hätte meistern können. Ehe all das erreicht war, konnten Maschinen nicht Maschinen produzieren. Der großartige Beweis dieses Könnens und dieses Erfindungsgeistes war der Bau des Crystal Palace in London im Jahre 1851 — das Bauwerk wurde in einem Tempo vorfabriziert und montiert, das heute mit den damaligen Mitteln kaum zu erreichen wäre. Damit will ich sagen: Hätte man das Handwerk nicht durch Hungerlöhne und magere Gewinne zum Tode verurteilt, sondern geschützt und subventioniert, wie viele der neuen mechanischen Industrien in überreichem Maß subventioniert wurden, bis zu den heutigen Düsenflugzeugen und Raketen, dann wäre unsere Technologie als Ganzes, sogar die Feinmechanik, unendlich reicher — und effizienter.

Es wird allgemein zu Kenntnis genommen, daß in der langen Übergangsperiode vom Handwerk zur völligen Mechanisierung die Handwerksberufe sich vermehrten und differenzierten und aus der Mechanisierung im kleinen Maßstab Nutzen zogen, beispiels­weise in der Form von mechanischen Walkmühlen oder von Präzisions­maschinen wie Drehbänken.

497


1568 führte Jost Amman neunzig verschiedene Handwerksberufe an; zweihundert Jahre später wurden in Diderots Enzyklopädie bereits zweihundertfünfzig aufgezählt. Noch 1858, als bereits Fabrikwaren alle Märkte zu erobern begannen, wurden, wie Norman Wymer berichtet, in der kleinen englischen Stadt Lincoln mehr als fünfzig Handwerks- und Gewerbearten ausgeübt; am Ende des Jahrhundert hatten sie alle an Bedeutung verloren, und viele von ihnen waren verschwunden.

Nach einem weiteren halben Jahrhundert hatte der Lebensstandard der Arbeiter sich deutlich gebessert, auch gab es Arbeits­losenversicherung und Gesundheitsdienst, während die Schulbildung der Arbeiterkinder durch öffentliche Schulen gesichert war; zudem hatten sie Radio und Fernsehen zu geistiger Anregung und Zerstreuung. Aber die Arbeit war nicht mehr so abwechslungsreich, interessant und befriedigend; und im Falle einer größeren Störung im mechanischen System würde es nicht genug handwerkliches Können, nicht die nötigen Werkzeuge und das Selbstvertrauen geben, um auch nur einen zeitweiligen Ersatz zu improvisieren. Seebohm Rowntrees vergleichende Untersuchungen über York in den Jahren 1901 und 1941 dokumentierten gründlich diesen Wandel.

Was immer auch die Vorteile eines hochorganisierten Systems mechanischer Produktion sein mögen, das auf außermenschlichen Kraftquellen beruht — und niemand leugnet, daß es viele Vorteile hat —, das System selbst neigt dazu, starrer, weniger anpassungsfähig und weniger menschlich zu werden, proportional zur Vollständigkeit der Automatisierung und der Verdrängung des Arbeiters aus dem Produktionsprozeß. Über dieses Problem werde ich später noch mehr zu sagen haben. Hier möchte ich betonen, daß die bewußte Aufrechterhaltung einer weit gestreuten Gruppe vielfältiger Handwerksberufe eine Garantie der menschlichen Autonomie und ein wesentlicher Faktor der ökonomischen Sicherheit gewesen wäre; und daß die Wiederherstellung dieser fast verlorengegangenen Fertigkeiten, wie William Morris sie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Angriff nahm, ein unentbehrliches Gegengewicht zur Übermechanisierung ist und bleibt. Wo überschüssige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen — in einer Welt, der in der Tat eine Überproduktion von Arbeitskräften droht, mit Millionen demoralisierten Fehlbeschäftigten und Arbeitslosen —, könnte manuelle Arbeit immer noch wichtige Produktionsaufgaben erfüllen und menschliche Dienste leisten, die die Maschine entweder gar nicht oder nur zu übermäßigen Kosten bewältigen kann.

Felix Greenes Film über Vietnam bekräftigte dieses Argument mit erstaunlichem Nachdruck. In Nordvietnam zerstörte die amerikanische Luftwaffe zwischen 1965 und 1968 die wichtigsten Städte und Industrieanlagen, Eisenbahnlinien und Überland­straßen — nicht nur einmal, sondern wiederholt — in der Absicht, die Waffenherstellung, die Versorgung und den Transport von Truppen nach dem Süden unmöglich zu machen.

498


Im Laufe von drei Jahren erwiesen diese Bemühungen sich als völlig erfolglos. Indem die nordviet­namesische Regierung die manuelle Arbeitskraft und die handwerkliche Geschicklichkeit des Volkes mobilisierte, sich mehr auf Muskelkraft als auf Maschinen stützte, einfache Hebegeräte und Wassertransportmittel verwendete, war sie imstande, die Schäden schnell zu reparieren, und weigerte sich nicht nur, sich geschlagen zu geben, sondern fuhr fort, den Krieg in den Süden zu tragen.

So vermochte diese überlieferte Handwerkskultur, diese fast noch primitive Wirtschaft mit Hilfe selbst­erzeugten Materials und selbsterlernter Fertigkeiten, wie sie in einem Bauernland noch lebendig sind, den mächtigen, mechanisierten Kampfmitteln des Eindringlings Trotz zu bieten und die Strategen des Pentagons lächerlich zu machen, die sicher waren, daß sie die Vietnamesen durch Terror zur Kapitulation zwingen oder ihr Militärpotential durch Zerstörung der Produktionsmittel lahmlegen könnten.

Wenn die Herstellung und Verwendung von Werkzeugen, wie viele Anthropologen immer noch meinen, eine der Hauptquellen der geistigen Entwicklung des primitiven Menschen war, ist es dann nicht an der Zeit, daß wir uns fragen, was aus dem Menschen werden wird, wenn er, wie es nun der Fall ist, sein ursprüngliches polytechnisches Können völlig zu verlieren droht? Da es keinen Profit mehr bringt, wird man es vielleicht als Sport und Erholung und noch mehr als nützliche, zunehmend notwendige Form persönlicher Dienstleistung und gegenseitiger Hilfe wiederbeleben müssen.

 

Unterminierung der Polytechnik 

 

Die im neunzehnten Jahrhundert übliche Praxis, technischen Fortschritt ausschließlich mit kraftbetriebenen, zunehmend automatisierten Maschinen gleichzusetzen, führte zu einer Unterschätzung der Fortschritte, die zwischen dem zwölften und dem achtzehnten Jahrhundert durch die Herstellung zweckmäßigerer Behälter erzielt worden waren: sowohl Behälter für den Hausgebrauch, wie Töpfe, Pfannen, Säcke und Tonnen, als auch solche für kollektiven Gebrauch, wie Kanäle und Schiffe. Daß Behälter Kraft übertragen können, wie ein Mühlgraben, oder Kraft nutzbar machen, wie ein Segelschiff, ist eine jener offen­sichtlichen Tatsachen, welche die auf ein rein mechanisches Weltbild orientierten Historiker übersehen haben, zum Teil deshalb, weil Behälter statisch und passiv sind und daher wenig Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

499


Der keineswegs geringste Beitrag der mittelalterlichen Polytechnik bestand darin, daß sie zeigte, wie das Gleichgewicht zwischen den statischen und den dynamischen Komponenten der Technik, zwischen Gebrauchsgegenständen und Maschinen, gewahrt werden kann; und tatsächlich war die erste wichtige Verbesserung, die weltweiten Transport ermöglichte, die Erfindung des dreimastigen Segelschiffes, in dem die Kraft des Windes effektiver als je zuvor genutzt wurde, um einen großen, mit Gütern beladenen Behälter von Hafen zu Hafen zu befördern. Ähnlich bestand der erste Schritt zu schnellem, regelmäßigem Transport im Bau von Kanälen, der in Europa im sechzehnten Jahrhundert begann; und das Netz von Kanälen, das sich von den Niederlanden die Flußläufe aufwärts verbreitete und schließlich, wie der Rhone-Kanal, große Entfernungen umspannte, brachte stetige Verbesserungen sowohl für die Schiffahrt als auch für die Landwirtschaft. Da die Niederlande in dieser Entwicklung die Führung übernahmen, wurden sie, nach Adam Smiths Berechnungen, zum weitaus reichsten Land Europas, im Verhältnis zu Fläche und Einwohnerzahl — zum reichsten und auch zum bestgenährten.

Man könnte in der Tat eine lange Liste nichtmechanischer Verbesserungen aufstellen, die der sogenannten industriellen Revolution um zwei- bis dreihundert Jahre vorangegangen sind. Dazu zählen: die allgemeine Einführung von Glasfenstern für Wohnhäuser vom siebzehnten Jahrhundert an, wofür das holländische dreifenstrige Stadtwohnhaus ein typisches Beispiel ist; die Einführung von Tapeten- und Toilettepapier; die funktionelle Einteilung des Wohnhauses in Speisezimmer, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Dazu kommt eine Vielfalt von Töpfen und Pfannen, eisernen Herden und Backrohren, Keramik- und Glasgeschirr; die Ausstattung der Häuser mit metallenen Wasserleitungen und deren Verwendung in jener entscheidenden Verbesserung, dem Wasserklosett, das 1596 von John Harrington erfunden wurde.

Gleichzeitig wurde in Gewerben wie Brauerei, Färberei, Töpferei, Ziegelherstellung, Salzmanufaktur und Transportwesen in wachsendem Ausmaß außermenschliche Energie eingesetzt. John Nef beispielsweise betont, daß von 1564 bis 1634 die verzeichneten Kohlentransporte von Newcastle aus fast um das Vierzehnfache zunahmen, von 32.952 Tonnen auf 452.624 Tonnen. Die Schätzungen Braudels zeigen ein ähnliches Anwachsen der Transporte in Frankreich. Das Gesamtvolumen stieg zwischen 1600 und 1786/87, als in Frankreich verläßliche Statistiken zur Verfügung standen, auf das Fünffache; wie er dazu bemerkt, wäre es also richtiger, zu sagen, daß die Dampfmaschine eine Folge der industriellen Revolution war, nicht deren Ursache.

500


Der geistige Wandel, der dieser frühen technischen Transformation zugrunde lag, führte auch zur Entstehung des mechanischen Weltbildes: ein Übergang von ritueller zu mechanischer Regelmäßigkeit, mit der Betonung auf geordneter Zeiteinteilung, Raummessung, Buchführung, wobei konkrete Objekte und komplexe Ereignisse in abstrakte Quantitäten übersetzt wurden; und es war diese kapitalistische Versessenheit auf repetitive Ordnung, mechanische Disziplin und finanziellen Ertrag, die die lebendige, vielseitige, aber sorgfältig ausgewogene Polytechnik, die im Holland des siebzehnten Jahrhunderts zu solch hoher Blüte gelangte, unterminieren half.

Mittlerweile hatte die Mechanisierung schon vor dem siebzehnten Jahrhundert gewaltige Proportionen angenommen, zweifellos beschleunigt durch die Prozesse, die den Absolutismus als Regierungsform und die kapitalistische Organisation in allen Wirtschaftszweigen, wo große Kapitalinvestitionen für Schiffe und Maschinerie notwendig waren, hervorbrachten. Fernkontrolle durch verschiedene Mittel begünstigte jene, die über Geld verfügten und eine rücksichtslose, fast militärische Herrschaft über andere auszuüben vermochten: Condottieri, seeräuberische Kapitäne wie Sir Francis Drake oder Sklavenjäger wie Sir John Hawkins, tüchtige Organisatoren und Finanzleute wie Jakob Fugger den Älteren, oder dessen Rivalen, die Welser, die bereits Investitionen in Venezuela hatten. Die Mechanisierung des Geldverdienens und das Geldverdienen durch Mechanisierung waren komplementäre Prozesse. Unpersönliche Autorität und unterwürfiger Gehorsam, mechanische Reglementierung und Menschen­führung gingen Hand in Hand. Der Bergmann, der Soldat, der Matrose und schließlich der Fabrikarbeiter führten ihre Aufgabe unter den härtesten und unmenschlichsten Umständen aus, durch Hunger gezwungen, Bedingungen zu akzeptieren, die nur ein Minimum an sozialer Sicherheit, menschlicher Kameradschaft und physischer Gesundheit zuließen.

Als erstes stellten der zunehmende Gebrauch von Panzerrüstungen und später die Einführung von Kanonen und Musketen erhöhte Anforderungen an die Metallurgie: Bergbau, Schmelzerei, Gießerei und Schmiede. Im sechzehnten Jahrhundert waren Bergbau und Schmelzverfahren, wie Agricola anschaulich darstellt, fortgeschrittene Industrien geworden, in dem Sinne, daß viele Arbeitsgänge nun hochmechanisiert waren; einige von ihnen, wie die maschinelle Entwässerung von Bergwerken, wurden, wo Wasserkraft vorhanden war, völlig .automatisiert. In den Bergwerken Sachsens verstand man es zu Agricolas Zeiten bereits, tiefe Schächte zu bohren und Wasserpumpen zur Abschöpfung des Grundwassers zu verwenden; über den unebenen Boden der Stollen wurden Schienen gelegt, auf denen das geförderte Erz sich leichter transportieren ließ. Künstliche Belüftung, wasser­betriebene Ventilatoren, wurde verwendet, um schädliche Gase abzusaugen. Wasserkraft wurde auch zum Zerkleinern der Erzbrocken angewandt. Und es war auch im Bergbau, wo, möglicherweise zum ersten Mal in der Geschichte, Lohnarbeiter anstelle von Sträflingen oder Sklaven eingesetzt wurden.

501


So wurden viele der wichtigsten mechanischen Erfindungen aus dem Bergbau übernommen, einschließlich der Eisenbahn, des mechanischen Aufzugs, des unterirdischen Tunnels sowie der künstlichen Beleuchtung und Belüftung; all das gab es schon Jahrhunderte vor der ersten industriellen Revolution; und die Dampfmaschine, die 1760 von Watt vervollkommnet wurde, war erstmals in Newcomens roherer Form verwendet worden, um Wasser aus Bergwerken zu pumpen. Der Achtstundentag und der dreimalige Schichtwechsel innerhalb von 24 Stunden nahmen ihren Anfang in Sachsen.

Tatsächlich stand der Bergbau im England des frühen neunzehnten Jahrhunderts weder in mechanischer noch in sozialer Hinsicht auf dem Niveau, das in Deutschland im Spätmittelalter erreicht worden war. Wäre dies allgemein bekannt gewesen, hätte der fromme viktorianische Glaube an den automatischen mechanischen Fortschritt von Jahrhundert zu Jahrhundert ein wenig erschüttert werden können.

Der Bergbau stellte das Modell für spätere Formen der Mechanisierung dar — in seiner brutalen Mißachtung menschlicher Faktoren, in seiner Indifferenz gegenüber der Verschmutzung und Zerstörung der Umwelt, in seiner Konzentration auf physikalisch-chemische Prozesse zur Erlangung des gewünschten Metalls oder Brennstoffs und vor allem in seiner topographischen und psychischen Isolierung von der organischen Welt des Bauern und des Handwerkers und von der geistigen Welt der Kirche, der Universität und der Stadt.

Was die Umweltzerstörung und die Gleichgültigkeit gegenüber den Gefahren für das menschliche Leben betrifft, hat der Bergbau große Ähnlichkeit mit dem Krieg - wie er auch oft durch Konfrontation mit Gefahr und Tod einen harten, selbstbewußten Persönlichkeits­typus hervorbringt, mit der Fähigkeit zu Heldentum und Selbstaufopferung, nicht unähnlich dem Soldatentypus. Aber der destruktive Charakter und die grausame Arbeitsweise des Bergbaus sowie die von ihm bewirkte Verarmung und Verwahrlosung der Umwelt wurden an die neuen Industrien weitergegeben, die Bergbauprodukte verwendeten. Diese negativen sozialen Folgen wogen die technischen Fortschritte auf.

Der Bergbau erforderte beträchtliche Risken, er brachte aber auch riesige Gewinne; auch in dieser Hinsicht war er ein Vorbild sowohl für das kapitalistische Unternehmen als auch für die spätere Mechanisierung. Die Bereitschaft zu großen Investitionen im Bergbau wurde durch die Möglichkeit, außerordentliche Profite zu machen, stimuliert. Agricola strich die Chancen für rasche Gewinne im Bergbau, im Vergleich zum Handel, heraus; und Werner Sombart errechnete in Der moderne Kapitalismus, daß der deutsche Bergbau im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert in zehn Jahren soviel Gewinn abwarf wie der herkömmliche Handel in hundert Jahren.

502


Im kapitalistischen Angriff auf die Polytechnik war der Krieg die Speerspitze und der Bergbau der Schaft: Beide waren an methodische Zerstörung gewöhnt, beide strebten danach, »etwas für nichts zu bekommen«, beide stellten physische Kraft über jedes andere menschliche Bedürfnis. In der traditionellen Wirtschaft galten noch die älteren Vorstellungen vom gerechten Preis, basierend auf Zeit und Geschicklichkeit, zur Norm geworden durch Gebrauch und Gewohnheit; aber im Bergbau wie im Groß- und Fernhandel war der höchstmögliche Preis, ohne Rücksicht auf Recht und Billigkeit — »soviel herausgeholt werden kann« —, das Ziel. Möge der Arbeiter sich ducken und der Käufer sich vorsehen!

In dem Maß, als die Kapitalgewinne wuchsen, stand mehr Kapital für Bergwerke, Schiffe und Fabriken zur Verfügung, wie auch für die teure Maschinerie, die vom achtzehnten Jahrhundert an mit der manuellen Arbeit konkurierte und sie vom Markt verdrängte. Diese allgemeine Entwicklung wurde wiederum durch zwei andere Erfindungen, beide sozialer Art, begünstigt, die der Industrie einen Vorteil gegenüber den kleinen, mit örtlichem Material und lokalen Arbeitskräften produzierenden Werkstätten boten. Ich meine das Patentsystem, erstmals in England eingeführt, das dem Erfinder, oder besser gesagt dem Ausbeuter einer neuen Erfindung zeitweilig ein faktisches Monopol gewährte; die andere war die Aktiengesellschaft mit beschränkter Haftung, die die Zahl möglicher Investoren vergrößerte und sie der individuellen Verantwortung im Bankrottfall enthob, die ein individueller Eigentümer oder Teilhaber zu tragen hatte. Diese Veränderungen vervollständigten die Entpersönlichung des gesamten Wirtschaftsprozesses. Nach dem siebzehnten Jahrhundert wurde eine wachsende Zahl anonymer Arbeiter zum Nutzen gleichermaßen anonymer, unsichtbarer und moralisch indifferenter Eigentümer ausgebeutet.

So trugen die einzelnen Komponenten der mechanisierten Industrie dazu bei, die traditionellen Werte und menschlichen Ziele zu beseitigen, die die Wirtschaft unter Kontrolle gehalten und veranlaßt hatten, andere Ziele als Macht allein zu verfolgen. Anonymes Eigentum, Profitmotiv, Managerorganisation, militärische Disziplin waren von Anfang an die sozialen Begleit­erscheinungen der allgemeinen Mechanisierung. Die Beseitigung aller Grenzen führte zur Unterminierung — heute bereits zur fast totalen Zerstörung — der alten Formen der Polytechnik und zu deren Ersetzung durch eine Monotechnik, die auf Maximierung der physischen Kraft beruht und die menschlichen Bedürfnisse so reduziert, erweitert oder umlenkt, wie es zur Inganghaltung einer solchen Wirtschaft erforderlich ist.

503


Die Kriegstechnik, die als erste derart große Anforderungen an den Bergbau gestellt hatte, trug nun ihrerseits zur Mechanisierung bei, indem sie die Industrie zu militärischer Disziplin und täglichem Drill veranlaßte, um eine einheitliche Arbeitsweise und einheitliche Ergebnisse zu garantieren. Diese Wechselwirkung zwischen Krieg, Bergbau und Mechanisierung ist letztlich für einige der leidigsten Probleme verantwortlich, denen wir nun gegenüberstehen.

Wenn wir die zunehmende Bedrohung der Menschheit durch die Technologie begreifen wollen, dann müssen wir uns klar darüber sein, daß von Anfang an die düstere Atmosphäre des Schlachtfeldes und des Waffenarsenals über dem gesamten Bereich der industriellen Erfindungen lag und das zivile Leben beeinflußte. Die Kriegsmaschine beschleunigte das Tempo der Standardisierung und der Massenproduktion. In dem Maße, als der zentralistische Territorialstaat an Größe, Effizienz und Verfügungsgewalt über besteuerbaren Reichtum zunahm, brauchte er größere Armeen, um seine Autorität zu befestigen. Im siebzehnten Jahrhundert, ehe noch Eisen in großen Mengen in anderen Produktionszweigen verwendet wurde, ließ Colbert in Frankreich Waffenfabriken bauen. Gustav Adolf hatte das gleiche in Schweden getan, und in Rußland gab es schon unter Peter dem Großen 683 Arbeiter in einer einzigen Fabrik: eine bis dahin nie erreichte Zahl.

In diesen Fabriken hatte die Arbeitsteilung in der Serienproduktion bereits begonnen, und jeder Arbeiter führte nur einen Teil des Arbeitsganges aus; und die Schleif- und Poliermaschinen wurden mit Wasserkraft betrieben. Sombart meint, Adam Smith hätte besser daran getan, die Waffenerzeugung anstelle der Nadelfabrikation als Beispiel für die Mechanisierung des Produktions­prozesses zu wählen, mit ihrer Spezialisierung und Zerstückelung der menschlichen Tätigkeit, solange die Maschine nicht genügend entwickelt war, um die ganze Arbeit zu übernehmen.

Standardisierung, Vorfabrikation und Massenproduktion wurden alle zuerst in staatlichen Waffenarsenalen, vornehmlich in Venedig, eingeführt, Jahrhunderte vor der industriellen Revolution. Nicht Arkwright, sondern venezianische Arsenalbeamte waren es, die erstmals das Fabriksystem etablierten; nicht Sir Samuel Bentham und der ältere Brunel standardisierten als erste den Schiffsbau mit Hilfe verschiedener, auf ein einheitliches Maß gebrachter Takelwerkblöcke und -planken; denn schon Jahrhunderte vorher hatte das Arsenal von Venedig den Prozeß der Vorfabrikation so gut gemeistert, daß es ein ganzes Schiff innerhalb eines Monats montieren konnte. Und obwohl die Priorität in Maschinen mit standardisierten und folglich ersetzbaren Teilen dem Erfinder der Buchdruckerei mit beweglichen Typen zukommt, wurde diese Methode doch in der Produktion von Musketen erstmals im großen Maßstab angewandt: zuerst 1785 von Le Blanc in Frankreich und dann 1800 in Eli Whitneys Fabrik in Whitneyville, die für die amerikanische Regierung arbeitete.

504


 »Die Technik der Herstellung austauschbarer Teile«, sagt Usher, »wurde so in allgemeinen Zügen vor der Erfindung der Nähmaschine oder der Mähmaschine eingeführt. Die neue Technik war eine grund­legende Voraussetzung der großen Errungenschaften, die von Erfindern und Fabrikanten auf diesem Gebiet erzielt wurden.«

Aber es gab noch ein anderes Gebiet, wo der Krieg das Tempo von Erfindungen und Mechanisierung, nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, beschleunigte. Nicht nur war, wie Ashton sagt, das Kanonengießen »der wichtigste Hebel zur Verbesserung der Gießereitechnik« und »Henry Corts Anspruch auf die Dankbarkeit seiner Landsleute ... in erster Linie in seinem Beitrag zur militärischen Sicherheit begründet«, sondern der Bedarf an Qualitätsstählen in großen Mengen ging Hand in Hand mit der Steigerung des Artilleriefeuers als Vorbereitung für Angriffe auf offenem Feld. Die Wirksamkeit dieser Konzentration von Feuerkraft demonstrierte der brillante junge Artillerist Napoleon Bonaparte, der mit seinem technischen Genie Europa verheerte, während er die Französische Revolution liquidierte.

Die mathematischen Berechnungen und physikalischen Experimente, die die Zielsicherheit der Artillerie vergrößerten, entsprachen mehr den Wünschen der Militärs als denen der Industriellen mit ihren schablonenmäßigen Methoden; und dieser Einfluß war so allumfassend, daß die Rollen des Kriegs-, des Bau- und des Maschineningenieurs anfangs fast austauschbar waren. Wir dürfen nicht vergessen, daß die gleichen Anforderungen, die an die Zielsicherheit der Artillerie gestellt wurden, letztlich zur Erfindung des Computers geführt haben.

In der Armee schließlich wurde der Mechanisierungsprozeß erstmals in großem Maßstab auf Menschen angewandt; an die Stelle der irregulären, nur im Bedarfsfall aufgestellten Feudal- oder Bürgerheere trat die stehende Armee angeworbener oder zwangs­rekrutierter Soldaten, unter der strengen Disziplin des täglichen Drills, ersonnen, um Menschen zu produzieren, die nicht mehr spontan oder instinktiv reagieren, sondern automatisch Befehlen gehorchen. »Maul halten und weiterdienen!« war das Motto des ganzen Systems; das Kämpfen und das Sterben folgte nach.

Die militärische Reglementierung erwies sich als die Urform der kollektiven Mechanisierung, denn die Megamaschine, die sie schuf, war die früheste komplexe Maschine aus spezialisierten, voneinander abhängigen menschlichen und mechanischen Teilen. Obwohl dieses Machtwerkzeug für militärische Zwecke schon in Mazedonien und im Römischen Reich entwickelt worden war, verfiel es im Westen zum Teil, bis es im sechzehnten Jahrhundert wieder eingeführt und von Prinz Moritz von Oranien und Nassau vervollkommnet wurde.

505


So erschien das Modell der neuen industriellen Ordnung zuerst auf dem Exerzierplatz und auf dem Schlachtfeld, ehe es, voll ausgewachsen, in die Fabrik einzog. Die Reglementierung und Massenproduktion von Soldaten zu dem Zweck, ein billiges, standardisiertes und ersetzbares Produkt herzustellen, war der große Beitrag, den der militärische Geist zum Maschinenzeitalter leistete. Und es ist nicht verwunderlich, daß das erste wichtige Nebenprodukt dieser Wandlung die militärische Uniform war.

Wohl benützte man spezielle Livreen, um die Diener und Garden großer Fürsten und der Stadtverwaltungen zu kennzeichnen — die von Michelangelo entworfene Uniform der päpstlichen Garde wird noch heute getragen —, doch hatten Armeen sich bislang nicht einheitlicher Uniformen rühmen können. Als aber die Armee größer wurde, mußte auch ein äußeres Zeichen ihrer inneren Einheit geschaffen werden, das der Einförmigkeit des täglichen Drills entsprechen sollte. Die militärische Uniform war ein frühes Beispiel der allgemeinen Tendenz zur Uniformität, die die Kasernenarchitektur und die Straßenfassaden des siebzehnten Jahrhunderts mit ihren einheitlichen Dachlinien und ihren gleichförmigen Fenstern geprägt hat. Jeder Soldat mußte die gleiche Kleidung und die gleiche Ausrüstung haben wie alle anderen Mitglieder seiner Kompanie. Drill ließ sie handeln wie ein Mann, Disziplin ließ sie reagieren wie ein Mann, und die Uniform ließ sie aussehen wie ein Mann.

Bei einer Armee von hunderttausend Soldaten, wie Ludwig XIV. sie aufstellte, forderte der Bedarf an Uniformen der Industrie nicht wenig ab. Dies war in der Tat die erste große Nachfrage nach »konfektionierten« Konsumgütern. Individueller Geschmack, individuelles Urteil, individuelle Bedürfnisse außer den Körpermaßen spielten keine Rolle in dieser neuen Produktionsweise; die Voraussetzungen für völlige Mechanisierung waren gegeben. Die Textilindustrie stellte sich auf diese erhöhte Nachfrage ein und nahm im Endprodukt die Nähmaschine vorweg, die erst relativ spät — 1829 — von Thimmonet in Lyon erfunden wurde — wobei es für niemanden überraschend sein dürfte, daß das französische Kriegsministerium sich als erstes um ihre Verwendung bemühte.

Vom sechzehnten Jahrhundert an lieferte also die Armee das Modell nicht nur für die Massenproduktion, sondern auch für den idealen Konsum im Maschinensystem: schnelle konfektionierte Produktion für ebenso schnelle konfektionierte Konsumtion - mit eingebauter Vergeudung und Zerstörung als Mittel, den finanziellen Bankrott infolge von Überproduktion abzuwenden: eine immer wiederkehrende Bedrohung des kapitalistischen Systems in der Übergangsperiode der freien Marktwirtschaft.

Der große Wandel, den der Mechanisierungsprozeß bewirkte, verschob den ökonomischen Schwerpunkt von der Landwirtschaft und den mit ihr verbundenen Zweigen — Textilienerzeugung, Töpferei und Baugewerbe, allesamt aus dem Neolithikum stammend — auf den Bergbau, die Rüstungsindustrie und die Maschinenproduktion.

506


Die Anwendung mechanischer Erfindungen zur Textilienerzeugung, die sich nach dem siebzehnten Jahr­hundert so rasch entwickelte, vergrößerte nur dieses Ungleichgewicht, indem sie das alte Handwerk unterhöhlte und ungelernte Arbeitskräfte in die neuen Fabriken hineinzog, die nach den gleichen Prinzipien organisiert waren wie die Bergwerke und die Arsenale. Die neuen Industrien, Glaserzeugung, Eisenerzberg­bau und Eisenverhüttung, Waffenproduktion sowie die neuen, wasserbetriebenen Textilfabriken lagen für gewöhnlich außerhalb der alten Städte, wo Kunst und Handwerk unter dem Schutz der Gilden und der Gemeinden geblüht hatten. Auch die Buchdruckerei hatte sich entwickelt, ohne den Gildenvorschriften zu unterliegen.

Die spätmittelalterliche staatliche Gesetzgebung in England, die dem Beispiel der städtischen Gilden folgte, suchte das quantitative Wachstum zu begrenzen und den Zunftarbeitern sozialen Schutz zu geben. Das Gesetz Edwards VI. verbot Pferdeantrieb in Mühlen, und das englische Lehrlingsgesetz von 1563 war ebenfalls von dem Bestreben geleitet, die Möglichkeiten der Ausbeutung einzuschränken. Sogar das Gesetz von William und Mary beschränkte die Zahl der Webstühle, die ein Meister betreiben durfte. Aber 1809 wurden in England alle diese Bestimmungen im Namen der Wirtschaftsfreiheit aufgehoben. Dies symbolisierte das Ende der Hausindustrie selbständiger Handwerker, die frei waren, zu kommen und zu gehen, wann sie wollten. Von da an bedeutete Freiheit für den Fabrikanten die Freiheit, Arbeiter auszubeuten; und auch die Freiheit, sich über Qualitätsnormen, persönliche Verpflichtungen und menschliche Bedürfnisse hinwegzusetzen.

So folgte der Möglichkeit, automatische, kraftbetriebene Maschinen herzustellen — die zu einer enormen Steigerung der Produktivität in wichtigen Industriezweigen, wie in der Textilindustrie, führte — genauso wie im Pyramidenzeitalter die Praxis, den Arbeiter zu einer Maschine herabzuwürdigen; sie untergrub die Gesundheit, deformierte den Körper, verkürzte das Leben des Arbeiters, machte den Arbeitslosen zum Almosenempfänger und Bettler und verurteilte ihn zum Hungertod. Diese Entmensch­lichung des Arbeiters wurde paradoxerweise von der fortschreitenden Vermenschlichung der Maschine ergänzt — Vermenschlichung in dem Sinne, daß man dem Automaten einige mechanische Äquivalente lebensähnlicher Bewegungen und Zwecke verlieh, ein Prozeß, der in unserer Zeit zu verblüffender Vollendung gelangt ist.

Hier ist nicht der Ort, die Gewinne und Verluste, die durch den unbeschränkten Mechanisierungsprozeß entstanden, gegen­einander abzuwägen. Es gibt nicht einmal genügend Daten, um auch nur grobe Schätzungen anzustellen; erst vom neunzehnten Jahrhundert an stehen für einige Länder Statistiken über Geburten, Sterbefälle und Krankheiten, Industrieproduktion und Konsum zur Verfügung.

507


Wie kann man überhaupt eine hauptsächlich vom Handwerk getragene Polytechnik, deren niedrige Produktionsrate einer ebenso niedrigen Konsumrate entspricht, mit einem System vergleichen, dessen außerordentlich hoher Ausstoß an Energie und Gütern seine Entsprechung in einer ebenso raschen Konsumtion und Zerstörung findet — ja, das bewußt die Konsumtion oder Vergeudung durch unablässige, oberflächliche, modische Veränderungen von an sich dauerhaften Gütern erzwingt? Wenn die erstgenannte tatsächlich ihrem Wesen nach eine Mangelwirtschaft war, wieso konnte sie es sich dann leisten, soviel Energie auf Kunst und Religion aufzuwenden, soviel Menschenkraft in Kriegen zu vergeuden und es den Wohlhabenden zu ermöglichen, so große Armeen von Gefolgsleuten und Gesinde zu halten?

All das deutet weniger auf technische Unzulänglichkeit als vielmehr auf das Fehlen eines gerechten Verteilungssystems hin — eine Schlußfolgerung, die Benjamin Franklin, lange bevor die Megatechnik sich durchgesetzt hatte, bestätigte, als er schätzte, daß bei gleichmäßigerer Verteilung der Arbeit, der Einkommen und des Lebensstandards ein Fünfstundentag genügen würde, um alle menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn anderseits die Wirtschaft des Maschinenzeitalters diese Begrenzungen heute überschritten hat, warum hat dann in den Vereinigten Staaten mehr als ein Viertel der Bevölkerung kein für einen minimalen Lebensstandard ausreichendes Einkommen?

Eines steht fest: nämlich, daß trotz der immensen Vermehrung des materiellen Reichtums der Welt durch unsere hochenergetische Technologie der Nettogewinn nicht annähernd so groß ist, wie für gewöhnlich angenommen wird, wenn man den konstanten Faktor bewußter Vergeudung, raschen Veraltens, organischen Verfalls durch Umweltverschmutzung und Raubbau und vorzeitigen Todes durch Krieg und Völkermord in Betracht zieht.

Daß es beträchtliche Gewinne in vielen alten Bereichen gab, steht außer Zweifel; und daß eine schöpferische Bereicherung durch viele neue technologischen Prozesse und Produkte vor sich ging, ist ebenso evident. Aber die Exponenten des Fortschritts im neunzehnten Jahrhundert und ihre altmodischen Schüler von heute haben das Bild verfälscht, indem sie den Verlusten nicht Rechnung trugen — jenen Verlusten vor allem, die durch die vorsätzliche Ausrottung der Handwerkstradition entstanden, mit ihrem immensen Fundus menschlicher Erfahrung und Fertigkeit, von dem nur ein kleiner Teil auf Konstruktion und Erzeugung von Maschinen übertragen wurde.

In dieser Hinsicht gilt immer noch Leibnitz' Feststellung: »Was das ungeschriebene Wissen betrifft, das auf Menschen verschiedener Berufe verteilt ist, bin ich überzeugt, daß es an Menge und Bedeutung alles übertrifft, was wir in Büchern finden, und daß der Großteil unseres Reichtums noch nicht aufgezeichnet ist.«

 Der Großteil dieses nicht aufgezeichneten Reichtums ist bedauerlicherweise für immer verlorengegangen.

508


Jene, die sich der Megatechnik verschrieben haben, betrachten die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten wiederholten Versuche, den Erfindungsprozeß zu bremsen oder aufzuhalten, als tadelnswert. Tatsächlich hat dieser Widerstand eine lange Tradition. Friedman führt als Beispiel die Geschichte von Kaiser Vespasian an, der sich weigerte, ein arbeitssparendes Gerät, mit dem Bausteine auf den Kapitolinischen Hügel befördert werden sollten, zu genehmigen, weil dies die »kleinen Leute« um Arbeit und Lohn bringen würde. Andere Erfinder sahen sich mit einer etwas egoistischeren Art von Widerstand gegen die Bedrohung althergebrachter Interessen konfrontiert: so etwa der berühmte Erfinder eines mechanischen Bandwebstuhls in Danzig, der wegen seiner Erfindung als gefährlicher Verbrecher zum Tod verurteilt wurde. Die Maschinenstürmerei der aufrührerischen Ludditen in England ist für vergeblichen Widerstand sprichwörtlich geworden — obwohl sie mit ihrem Aufstand nur ihren Lebens­standard zu erhalten trachteten.

Was aber sollen wir zu den Antiludditen, den systematischen Handwerkszerstörern, sagen: zu den erbarmungslosen Unternehmern, die in den letzten zweihundert Jahren faktisch die Werkzeuge beschlagnahmt, die selbständigen Werkstätten zerstört und die lebendigen Traditionen der Handwerkskultur ausgerottet haben? Sie haben eine anpassungs- und noch lebensfähige Polytechnik auf eine Monotechnik reduziert und gleichzeitig Autonomie und Vielseitigkeit des Menschen einem System zentralisierter Kontrolle geopfert, das in zunehmendem Maße automatisch und zwanghaft wird. Wäre es ihnen zweihundert Jahre früher gelungen, die Handwerkstraditionen der primitiven Völker völlig auszurotten, so würde Gummi nicht die Rolle spielen, die es heute in unserer fortgeschrittenen Technologie spielt. Fürchteten sich diese Handwerkszerstörer, das Handwerk bestehen zu lassen, damit es sich nicht mit dem menschlichen Herzen gegen ihre Finanzinteressen verbünde?

 

Die technologische Erbmasse 

 

Noch Mitte des neunzehnten Jahrhunderts existierte ein immenses technologisches Erbe, weit verbreitet unter den Völkern der Erde, in jedem seiner Teile gefärbt von menschlichen Bedürfnissen, Umweltbedingungen, wechselseitigen Kultureinflüssen, ökologischen und historischen Zusammenhängen. 

509


In diesem Erbe waren nicht nur mehr vorangegangene Erfindungen und technische Fertigkeiten akkumuliert, als je zuvor weltweite Verbreitung erlangt hatten, sondern es hatte als Ergebnis fundamentaler Entdeckungen über die Natur — die physikalische wie die biologische — neue Möglichkeiten für eine herrliche Zukunft erschlossen, eine Zukunft, die bereits durch die Erfindung der elektrischen Telegraphie, des Dynamos und des Elektromotors eingeleitet worden war. Angesichts dieses mannigfaltigen, unendlich reichen Erbes unserer Erde waren die Aussichten, die das mechanische Weltbild bot, bereits überholt.

Der Großteil dieser technischen Ausstattung war jahrtausendelang überliefert und bewußt in ein gemeinsames Sammelbecken geleitet worden, das durch Bücher und andere Druckwerke mehr oder minder zugänglich war; viele wertvolle Komponenten, die bis dahin auf die weit verstreuten Gemeinschaften, aus denen sie stammten, beschränkt gewesen waren, wurden nur hie und da durch Nachahmung oder mündliche Nachricht weitergegeben. Die nach dem zwölften Jahrhundert einsetzende Verbreitung dieses Wissensschatzes in Westeuropa war an sich schon so viel wert wie viele neue Erfindungen und trug nicht wenig zu der technischen Dynamik bei, die noch radikalere technische Veränderungen — später fälschlich als die industrielle Revolution mißdeutet — ermöglichte. Im Verlauf dieser schicksalhaften Jahrhunderte (1200 bis 1800) erfuhr die Menschheit mehr über die Erde als bewohnbaren Planeten, über die Organismen, die sie beherbergt, und über die menschliche Kultur, als je zuvor bekannt gewesen war.

Biologen haben den Begriff Erbmasse geprägt, um die ungeheure Menge von genetischem Material, das in immer neuen Kombinationen in einer großen Bevölkerung vorhanden ist, zu charakterisieren. Wenngleich im Verlauf einer längeren Periode manche Gene verschwinden, weil sie lethal sind, und andere wiederum durch die Wechselbeziehungen mit ihrer Umwelt und miteinander Veränderungen und eine selektive Entwicklung erfahren, gibt es viele genetische Merkmale und organische Attribute, die weit in unsere Säugetier-Vergangenheit zurückreichen und deren Fehlen die Höherentwicklung des Menschen blockieren würde.

In ähnlicher Weise kann man von einer technologischen Erbmasse sprechen: eine Akkumulation von Werkzeugen, Maschinen, Materialien und Prozessen, die in Wechselbeziehungen mit Boden, Klima, Pflanzen, Tieren, menschlichen Bevölkerungen, Institutionen und Kulturen stehen. Die Kapazität dieses technologischen Reservoirs war bis zum dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts unermeßlich größer als je zuvor; ja, es war komplexer — und möglicherweise sowohl quantitativ größer als auch qualitativ reichhaltiger —, als es heute ist. Ein wichtiger Teil dieser technologischen Erbmasse bestand aus ausgebildeten Handwerkern und Arbeitsgruppen, die die ungeheure Menge gespeicherten Wissens und Könnens weitergaben. Als man sie aus dem Produktionssystem eliminierte, versiegte jene wichtige Quelle der Kultur.

510


Dieses reichhaltige technologische Reservoir trug nicht nur zur ökonomischen Sicherheit bei; es gestattete ein kontinuierliches Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Phasen der Technologie; und eine Zeitlang ging dies auch tatsächlich vor sich. Wurde die Wasserturbine auch zu einer Zeit erfunden (1825), da Wasser als Energiequelle bereits weitgehend durch Kohle ersetzt wurde, so kehrte sie doch auf einer höheren Ebene in den Kraftwerksturbinen wieder; und noch später wurde das Turbinenprinzip beim Flugzeugmotor mit Strahlantrieb angewandt. Den umgekehrten Vorgang, bei dem eine ältere Technologie von neuen technischen Fortschritten profitierte, veranschaulicht die veränderte Form des Großsegels und des Kranbalkens moderner Segelschiffe - ein Wandel, der aus der genauen Analyse der Luftströmung zum Zwecke der Verbesserung von Flugzeugen resultierte.

Der Stolz des westlichen Menschen auf seine vielen tatsächlichen Errungenschaften in der Mechanisierung läßt ihn leicht all das übersehen, was er früheren oder primitiveren Kulturen verdankte. So hat noch niemand versucht, eine Bestandsaufnahme der ungeheuren Verluste zu machen, die aus der Vernachlässigung oder bewußten Zerstörung des Handwerkserbes zugunsten maschinell erzeugter Produkte entstanden sind. Während der Bestand an komplexen und technisch leistungsfähigeren Maschinen sich in den letzten fünfzig Jahren enorm vergrößert hat, ist die technologische Erbmasse mit dem allmählichen Schwinden des Handwerks kleiner geworden.

So ist eine Monotechnik, die auf Wissenschaft und quantitativer Produktion beruht und hauptsächlich auf Wirtschaftsexpansion, materiellen Überfluß und militärische Überlegenheit abzielt, an die Stelle einer Polytechnik getreten, die in erster Linie, beispielsweise in der Landwirtschaft, den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen lebender Organismen — vor allem denen des Menschen — diente.

Werkzeuge und Werkzeugbenutzer — mit ihrer Eignung für mannigfaltige Zwecke — sind aus vielen Bereichen fast völlig verschwunden. Um eine einfache Reparatur an einem Gartenrechen ausführen zu lassen, prophezeite William Morris einmal mit verzeihlicher Übertreibung, würde man eines Tages gezwungen sein, eine ganze Mannschaft samt technischer Ausrüstung heranzubringen. Dieser Tag ist bereits da. Was sich nicht maschinell reparieren oder fabriksmäßig ersetzen läßt, muß verschrottet werden, denn manuell kann man nichts reparieren. Gerade die Fähigkeit, einfache Werkzeuge mit Geduld und Geschick zu gebrauchen, ist rasch im Schwinden begriffen.

511


Nicht technologische Einsicht und Geschicklichkeit, sondern Habgier, Machthunger, anmaßender Stolz und Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft haben die Völker des Westens davon abgehalten, ihre Handwerkstraditionen und Handwerksgewohnheiten beizubehalten. Hätte man Verständnis für die technologischen Werte gehabt, die auf diese Weise zerstört wurden, oder für die Fähigkeiten der menschlichen Persönlichkeit, die dadurch verloren­gingen, so hätte das wachsende Engagement für eine Monotechnik, die auf der Verdrängung des Menschen beruht, bekämpft und gebremst oder, wenn nötig, sogar aufgehalten werden können.

Es bestand überhaupt kein Grund, zwischen handwerklicher und maschineller Produktion, zwischen einem neuen Beitrag zur technologischen Erbmasse und dem akkumulierten Schatz der Vergangenheit zu wählen. Aber es gab guten Grund, in dieser Erbmasse möglichst viele verschiedenartige Elemente zu erhalten, um den Umfang der menschlichen Wahlmöglichkeiten wie auch der technologischen Erfindungsmöglichkeiten zu vergrößern. Viele Maschinen des neunzehnten Jahrhunderts waren, wie Kropotkin feststellte, ausgezeichnete Hilfsmittel für Handwerksprozesse, sobald sie, wie der leistungsfähige kleine Elektromotor, auf den Maßstab der kleinen Werkstatt und des persönlich kontrollierten Arbeitsganges gebracht werden konnten. William Morris und seine Kollegen, die fast ohne Unterstützung ein altes Handwerk nach dem anderen retteten und wiederherstellten, indem sie persönlich Färberei, Weberei, Stickerei, Druckerei, Glasmalerei, Papierherstellung und Buchbinderei erlernten und ausübten, bewiesen mehr technologische Einsicht als jene, die über ihre »Romantik« spotteten.

Das Äußerste, was unsere maschinenorientierte Kultur zur Bewahrung ihrer reichen technischen Traditionen tat, war, daß man eine begrenzte Zahl von Musterexemplaren in kunst- und naturhistorischen Museen ausstellte und die wenigen — nur selten adäquaten — Informationen von Reisenden und später von gelernten Archäologen und Anthropologen über Arbeitsprozesse und -methoden sammelte. Doch diese Bemühungen waren so einseitig, daß etwa der Artikel über das Handwerk in der letzten Ausgabe der International Encyclopedia of Social Sciences (1968) das Thema so behandelt, als könnte man es auf die Arbeitstraditionen primitiver Völker beschränken! Man kann aus diesem Artikel kaum erraten, daß das Handwerk ein grundlegendes Erbe der ganzen Menschheit und nicht zuletzt ihrer höheren Kultur ist, und daß viele unerforschte Entwicklungs­möglichkeiten zerstört werden, wenn man es erlöschen läßt. Es gibt keinen neuen Beitrag zur Mechanik oder zur Elektronik, der nicht sogleich in die große technologische Erbmasse eingehen könnte. Das einzige, was von ihr nicht absorbiert werden kann, ist ein System, das sie in all ihrer unermeßlichen historischen Mannigfaltigkeit zerstören würde, zugunsten einer menschlich unterdimensionierten Monotechnik.

512


Der subjektive Übergang 

 

Wenn ich den spätmittelalterlichen Hintergrund der modernen Technologie ausführlich behandelt habe, so deshalb, um zwei Punkte herauszuarbeiten, die gewöhnlich übersehen werden. Erstens: Die Periode zwischen dem zwölften und dem achtzehnten Jahrhundert war keine Zeit technologischer Stagnation, durchaus nicht. Sie war auch keine Periode, in der es nur manuelle Arbeit gab und Maschinen geringgeschätzt oder bagatellisiert wurden. Ganz im Gegenteil, es war in zunehmendem Maße eine Maschinen­wirtschaft, und Maschinen, angefangen von der Wassermühle, der Windmühle, der mechanischen Uhr und der Drehbank, waren ein integraler Teil dieser Wirtschaft. Die Verbindung von außermenschlicher Energie und Polytechnik vergrößerte den Bereich menschlicher Freiheit; doch das gemäßigte Tempo der Produktion, die ständige Beschäftigung mit Kunst und die konservativen Traditionen des alten Handwerks ließen keinen Teil dieser Wirtschaft sich einseitig und übermäßig entwickeln.

Im sechzehnten Jahrhundert waren in den fortgeschrittenen westlichen Ländern die Umrisse einer ausgeglichenen Wirtschaft entstanden, die sich auf eine erfinderische Technologie stützte; und wären damals alle Teile dieser Wirtschaft erhalten geblieben, so wäre ihre weitere Mechanisierung mit großem Gewinn für die Menschheit vor sich gegangen, ohne das Gleichgewicht zu stören.

Der zweite Punkt, um den es geht, ist, daß die Kraftelemente in dieser Technologie vom vierzehnten Jahrhundert an außer Kontrolle zu geraten begannen, als die Stabilität des Feudalismus, die auf Brauch und Gewohnheit, Sitte und Ritual beruhte, erschüttert war. Dies war hauptsächlich die Folge der neuen Prinzipien und Anreize des kapitalistischen Finanzwesens, mit seinem Gewinnstreben, seiner Vorliebe für Zahlen und quantitatives Wachstum, die selber Symbole einer neuen, nach der Macht greifenden Klasse waren. Alle diese Motivationen wurden wiederum durch die gebieterischen Forderungen des Militarismus nach Waffen und Ausrüstung verstärkt, in einer Periode nationaler Vereinigung und kolonialer Expansion.

Die Entstehung des mechanischen Weltbildes verlieh vom sechzehnten Jahrhundert an all diesen disparaten Bestrebungen die subjektive Einigkeit, die zur Sicherung ihrer Vorherrschaft notwendig war; und mittlerweile löste sich die Technik, die so lange in der Landwirtschaft, dem in jeder Hinsicht grundlegenden Wirtschaftszweig, und in der regionalen Umwelt verwurzelt gewesen war, von diesen alten Bindungen und verwandelte sich fortschreitend in eine Monotechnik, die sich auf Schnelligkeit, Quantität und Kontrolle konzentrierte.

513


Nach und nach verschwanden die Faktoren, die geeignet waren, die Entwicklung der Technik in Grenzen zu halten; und es entstand eine maschinenbezogene Wirtschaft, wie einst die kanadische Distel in den argentinischen Pampas gedieh, als ihr Eindringen den ökologischen Komplex zerstörte, der die Umwelt im Gleichgewicht gehalten hatte. In diesem Übergang spielte das mechanische Weltbild in all seinen vielen subjektiven Manifestationen eine vielleicht ebenso wichtige Rolle wie das gesamte Arsenal neuer Erfindungen.

Für die Anhänger des mechanischen Weltbilds war die Ausdehnung der Anwendung von Maschinen auf jeden nur möglichen Bereich menschlicher Tätigkeit weit mehr als nur ein praktisches Mittel, die Last der Arbeit zu erleichtern oder den Reichtum zu vermehren. Während die jenseitigen Ziele der Religion verblaßten, gaben diese neuen Tätigkeiten dem Leben einen neuen Sinn, gleichgültig, wie verhängnisvoll die realen Folgen bei kühler, vernünftiger Betrachtung auch sein mochten. Auch hier wurde wieder, wie einst im Pyramidenzeitalter, der Mechanisierungs­prozeß durch eine Ideologie gefördert, die der Maschine absoluten Vorrang und kosmische Autorität einräumte.

Wenn eine Ideologie derart universale Bedeutungen vermittelt und solchen absoluten Gehorsam verlangt, ist sie in der Tat zu einer Religion geworden, und ihre Gebote haben die dynamische Kraft eines Mythos. Wer ihre Prinzipien in Frage stellt oder ihren Befehlen trotzt, tut dies auf eigene Gefahr, wie rebellierende Arbeiter in den folgenden drei oder vier Jahrhunderten erfahren sollten. Vom neunzehnten Jahrhundert an vereinte diese neue Religion Denker ohne Unterschied des Temperaments, der Herkunft und der sonstigen Überzeugung: So grundverschiedene Denker wie Marx und Ricardo, Carlyle und Mill, Comte und Spencer verschrieben sich dieser Doktrin; und vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts an stellten die arbeitenden Klassen, die sich stark genug fühlten, den neuen Kräften Widerstand zu leisten, den kapitalistischen und militaristischen Ausdrucksformen dieses Mythos ihre eigenen Mythen entgegen — die des Sozialismus, des Anarchismus oder des Kommunismus —, denen zufolge die Maschine nicht der herrschenden Elite, sondern den proletarischen Massen dienen sollte. Gegen diese maschinenbedingte Utopie wagte nur eine Handvoll Häretiker, meist Dichter und Künstler, aufzustehen.

Die Mechanisierung wurde dadurch beschleunigt, daß sie das neue Weltbild nicht nur repräsentierte, sondern auch realisierte: In Verbindung mit einer bestimmten Mission — der Ausbreitung des Reichs der Maschine — hatte die Forderung nach technischem Fortschritt die Wirkung eines göttlichen Befehls, den in Frage zu stellen frevlerisch und dem zu trotzen unmöglich war. Einer solchen Ideologie gegenüber war die Polytechnik hilflos: Sie hatte keine entsprechende Ideologie, auf die sie sich stützen konnte; als William Morris, der archetypische Handwerker, sich gezwungen sah, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, wandte er sich dem marxistischen Kommunismus zu.

514


Da die einzelnen Gewerbe, Handwerke und Berufe im Verlauf von Jahrhunderten entstanden waren, beruhte ihre innere Einheit zum großen Teil auf einem unbewußten traditionellen Erbe, und ihre Werte waren noch nicht in eine Philosophie übersetzt worden, geschweige in eine gemeinsame systematische Methode. Die Unterscheidung, die Descartes, wie schon bemerkt, zwischen einer Kleinstadt, die allmählich, Haus für Haus, Straße für Straße gewachsen ist, und einer Großstadt machte, die als einheitliche Struktur von einem Kopf geplant wurde, ist mit dem Unterschied zwischen der diffusen polytechnischen Tradition und der Monotechnik vergleichbar. Das Machtsystem erlaubt nur eine Art von Komplexität, jene, die seiner Methode entspricht und zeitgemäß ist - ein so einheitliches System, daß seine Komponenten im wesentlichen austauschbar sind, als wären sie von einem einzigen kollektiven Geist erdacht.

Dieser quasireligiöse Kult der Mechanisierung wurde vom siebzehnten Jahrhundert an von einigen der besten Talente, die es in England, Frankreich und Amerika gab, gefördert; seine Wortführer waren überall am Werk, sie erläuterten nicht nur seine Vorzüge, sondern demonstrierten sie auch praktisch im Kontor, in der Fabrik, in der Armee und in der Schule; und in dem Maß, als sie zahlreicher wurden, festigten sie ihre Reihen und verbanden Theorie und Praxis enger miteinander. Gegen diese geschlossene ideologische Front waren die Exponenten der älteren Künste, des Handwerks und der Geisteswissenschaften hilflos; arm an Mitteln, zersplittert, führten sie Rückzugsgefechte und klammerten sich in ihrer Schwäche oft an veraltete Methoden und Ideen. Was in beiden Lagern fehlte, war die historische Perspektive — und sie fehlt immer noch. Die Wahl, die sich bot, war niemals die zwischen einer sterbenden, unwiederbringlichen Vergangenheit und einer dynamischen, unwider­stehlichen Zukunft. Wenn man so argumentiert, dann sind beide Parteien im Unrecht.

In Wirklichkeit gab es viele vorteilhafte und praktikable Alternativen zu dem Weg, der in den führenden Ländern der westlichen Zivilisation tatsächlich verfolgt wurde und heute schon fast die ganze Welt umfaßt. Einer der großen Vorzüge in sich abgeschlossener nationaler und regionaler Kulturen besteht darin, daß, wenn die Möglichkeiten bewußt genutzt werden, jene potentiellen Alternativen unter verschiedenen Bedingungen erprobt und die Vorteile miteinander verglichen werden können. Jede Geschichts­philosophie, die die Mannigfaltigkeit der Natur und der Menschheit in Betracht zieht, muß erkennen, daß die natürliche Selektion im Menschen eine höhere Stufe erreicht hat und daß jede mechanische oder institutionelle Organisierung menschlicher Aktivitäten in der Absicht, die Möglichkeiten fortgesetzter Erprobung, Selektion, Erweiterung und Steigerung zugunsten eines geschlossenen, völlig vereinheitlichten Systems einzuschränken, nichts Geringeres ist als ein Versuch, die kulturelle Entwicklung des Menschen aufzuhalten.

515


Leider konnte eine Kultur, die die Geschichte aus ihren Grundprämissen verbannt hatte, aus dieser nichts lernen. Daher wurden die Vorteile der .Mechanisierung keineswegs mit der bestehenden Polytechnik verbunden, sondern in dem Bestreben, das eigene System abzusichern, zum Teil verwirkt.

Die Resultate dieser Konzeption sind heute schmerzlich sichtbar: Jeder Fehler, jede Unzulänglichkeit wiederholt sich heute — oft unmittelbar — im Weltmaßstab. Je universaler diese Technologie wird, desto weniger werden die Alternativen und desto geringer die Möglichkeit, irgendeiner der Komponenten des Systems wieder Autonomie zu verleihen. Doch damit greifen wir vor: Die erhärtenden Details folgen im nächsten Kapitel. Es genügt, hier hervorzuheben, daß, wenngleich große Teile des polytechnischen Erbes für immer verloren sind, das Konzept einer mannigfaltigen Polytechnik in jedem auf den Menschen orientierten System eine Notwendigkeit bleibt. In einem solchen System werden der Organismus und die menschliche Persönlichkeit den Mittelpunkt bilden, nicht die Maschine.

 

Die begrabene Renaissance 

 

Zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, bevor das neue Machtsystem im Kapitalismus und Kolonialismus exemplarische Form angenommen hatte, gab es einen Augenblick, da es scheinen mochte, als würde eine neue Ordnung entstehen, in der die alten Formen der Polytechnik wiederhergestellt und durch die Leistungen einer wissenschaftlich orientierten Technologie verstärkt werden würden.

Diese Möglichkeit kam in der Persönlichkeit und den Werken einer ganzen Reihe großer Künstler jener Periode zum Ausdruck; sie war sogar in den Leistungen weniger bedeutender Künstler, wie Vasari und Cellini, zu erkennen. Aber vor allem war es Leonardo da Vinci, in dessen Geist die neue Ordnung Gestalt zu gewinnen begann; er wurde jedoch von anderen, in entgegen­gesetzter Richtung wirkenden Kräften entmutigt. Diese Kräfte sollten tatsächlich die nächsten vier Jahrhunderte beherrschen. 

In gewissem Sinne, wie ich in den letzten Kapiteln dieses Buches zeigen werde, kündigten Leonardos Vision und Werk eine künftige Form der Integration an, die bis heute noch nicht erreicht ist.

516


Es gibt viele Arten, das Leben Leonardo da Vincis zu betrachten. Man mag ihn als gewissenhaften Maler sehen, dessen Leidenschaft zur Perfektion die Zahl seiner Kunstwerke beschränkte, oder als den hervorragenden Techniker, dessen Erfindungen und Verbesserungen bereits bestehender Erfindungen (einschließlich des fliegenden Webschützen) ihn als einen der größten Techniker aller Zeiten ausweisen, oder als frustriertes Genie, dessen Fähigkeiten von seinen Gönnern nie entsprechend gefördert wurden — oder schließlich als den universalen Geist, der alles Bestehende, wenn nicht alles Wissen, als sein Reich ansah.

Im großen und ganzen konzentriert sich das heutige Interesse an Leonardo zunehmend auf das weite Gebiet seiner mechanischen Projekte und Erfindungen. Ich anerkenne alle diese Charakterisierungen. Man kann aber Leonardo auch anders sehen, nämlich als Vorläufer eines Zeitalters, das noch nicht begonnen hat; eines Zeitalters, das anders sein wird als Leonardos eigenes und in scharfem Gegensatz zu dem unseren stehen wird. Gerade die Wesenszüge, die Leonardo als einen Gescheiterten erscheinen lassen und ihm vorgeworfen werden, zeichnen ihn unter dem hier entwickelten Gesichtspunkt besonders aus.

Wäre man Leonardos Beispiel der Universalität in größerem Maße gefolgt, so hätte sich das Tempo der technischen und wissen­schaftlichen Entwicklung verlangsamt. Das heißt, man hätte den Fortschritt den menschlichen Bedürfnissen angepaßt und wertvolle Teile des kulturellen Erbes bewahrt, anstatt sie rücksichtslos auszurotten, um das Reich der Maschine zu erweitern. Statt rascher Fortschritte auf der Basis unkoordinierten Wissens auf Spezialgebieten, hauptsächlich jenen, die mit Krieg und ökonomischer Ausbeutung verbunden waren, hätte es langsamere, aber besser koordinierte Fortschritte gegeben, die den Prozessen, Funktionen und Zwecken des Lebens gerecht geworden wären.

Hätte man Leonardos Beispiel tatsächlich befolgt, so wären Natürlichkeit, Mechanisierung, Organisierung und Humanisierung Hand in Hand gegangen. Dann hätte eine Methode die andere beeinflussen und unterstützen können; man hätte die Kontinuität mit der Vergangenheit gewahrt, doch mit wachem Blick für nützliche Neuerungen; man hätte ständig frühere Fehler kritisiert und korrigiert und nach einer Erweiterung der Möglichkeiten gestrebt; man hätte neue Werte eingeführt, nicht um die von früheren Zeiten und anderen Kulturen geschaffenen zu zerstören, sondern um sie zu bereichern und zu festigen. Eine solche praktische Synthese der Technologien und der Ideologien wäre nach beiden Seiten, zur Vergangenheit und zur Zukunft hin, offen gewesen; man hätte immer mehr Elemente der Vergangenheit einbezogen und weiterentwickelt und zugleich immer größere Bereiche der Zukunft in einem umfassenden Konzept planen und vorzeichnen können. Zum Unterschied von den Technokraten späterer Zeiten war Leonardo voll Bewunderung für seine Vorgänger.

517


Die simpelste Erklärung für Leonardos Genie besteht darin, es mit einem angeblich verschwundenen Merkmal des Geistes der Renaissance in Verbindung zu bringen: es als Produkt einer Kultur anzusehen, die intellektuell so wenig entwickelt war und so sehr der wissen­schaftlichen Spezialisierung ermangelte, daß ein einzelner Denker sie in ihrer Gesamtheit beherrschen konnte. Das ist ein falsches Kompliment für Leonardo und eine Herabsetzung des damals vorhandenen Kulturgutes. Denn es ist eine Tatsache, daß, zumindest seit der Erfindung der Schrift, keine Kultur jemals einem einzelnen in ihrer Gänze verfügbar war; selbst einem Aristoteles, einem Ibn Khaldun oder einem Thomas von Aquin waren notwendigerweise weite Bereiche menschlicher Erfahrung verschlossen.

Trotz der Vielfalt seiner Interessen war Leonardo äußerst aufgeschlossen, höchst empfänglich für neue technische Möglichkeiten und neue Motive, und mehr als einmal drohten sie ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, so wie es später manchen Unternehmern erging. Wie ein Erfinder der viktorianischen Zeit träumte auch er bisweilen von raschen finanziellen Erfolgen. »Morgen früh, am 2. Januar 1496«, verzeichnet er in einer seiner Notizen, »werde ich den Ledergürtel machen und zu einem Versuch schreiten ... Einhundertmal in jeder Stunde werden vierhundert Nadeln fertig sein, das sind 40.000 in einer Stunde und 480.000 in zwölf Stunden. Angenommen, nur 4000 Stück in der Stunde, ergibt dies bei fünf Soldi je tausend Stück 20.000 Soldi; 1000 Lire je Arbeitstag und, wenn man zwanzig Tage im Monat arbeitet, 60.000 Dukaten im Jahr.« Sogar die kürzere Arbeitswoche war einbezogen in diesen kühnen Traum von Freiheit und Macht durch eine erfolgreiche Erfindung; doch glücklicherweise entzog sich ihm diese allzu leichte Art des Erfolges.

Abgesehen von solchen zeitweiligen Verirrungen erlag Leonardo nie "völlig derart utilitaristischen Projekten; und trotz der Intensität seiner Studien in Malerei, Bildhauerei, technischen (militärischen und zivilen) Entwürfen sowie in Geologie und Anatomie ließ er sich nie von einem einzelnen Interesse ganz beherrschen; ja, er verzichtete auf praktische Erfolge, da er nur sehr langsam zu endgültigen Ergebnissen gelangte, möglicherweise deshalb, weil ihn der Prozeß mehr interessierte als das Resultat. Jedenfalls bewahrte er seine Vielseitigkeit und sein Gleichgewicht.

Wäre sein Moralempfinden nicht so wach gewesen, dann hätte er seine Erfindung des Unterseeboots nicht unterdrückt, in der Erkenntnis, daß die Seele des Menschen zu teuflisch ist, als daß man ihr eine solche Waffe anvertrauen könnte. So wie in der Tier- und Pflanzenwelt die ökologische Mannigfaltigkeit es nicht zuläßt, daß eine einzelne Spezies absolut vorherrscht, hätte in der menschlichen Gesellschaft Leonardos Denkweise — wenn sie sich durchgesetzt und unser Erziehungssystem geleitet hätte - die Herrschaft der Megamaschine verhindert.

518


Leonardos praktische Versäumnisse waren keineswegs Fehler, sondern vielmehr der Preis, den er zahlte, um ein fühlendes, denkendes, wertendes, handelndes menschliches Wesen zu bleiben. In einer Zeit, da bereits die Buchdruckerkunst erfunden war, hat dieser unermüdlich notierende und aufzeichnende Mann nichts publiziert. Er sammelte zuerst im Geist, in einer Vollständigkeit, wie sie vermutlich seit Imhotep, dem meisterhaften Pyramidenerbauer, nie wieder erreicht worden war, die notwendigen Elemente einer Kultur, die jedem Aspekt des organischen Lebens gerecht werden sollte. Und auch diese Synthese war nirgends bewußt veranschaulicht, sie fand nur in Leonardos Werk und Zeit ihren Ausdruck; doch der Wunsch, sie auszudrücken — und sei es auch nur unvollständig — erfüllte sein ganzes Leben.

Bezeichnenderweise stand er damit nicht allein: Geister von gleichem Rang, wie Dürer und Michelangelo, waren um ihn, und ähnliche traten in späteren Generationen hervor, von Christopher Wren bis Goethe und George Perkins Marsh. Erfolg und Ehren aber waren für jene bereit, die sich in den Dienst des Machtsystems stellten und sich dessen Weisungen fügten.

Es ist sinnlos, sich mit dem Wenn und Vielleicht zu beschäftigen. Hätte aber Leonardos Geist das moderne Zeitalter beeinflußt, dann wäre der ganze Prozeß von Erfindung, Erforschung, Kolonisierung und Mechanisierung langsamer vonstatten gegangen, ohne andere menschliche Neigungen so brutal zu unterdrücken und ohne andere Interessen und Kulturformen so blindlings zu verwerfen. Auf der Habenseite hätte dies eine wirksamere Assimilierung und Koordinierung des neuen Wissens garantiert. Da diese versäumten Entwicklungsmöglichkeiten im erstaunlichen Gehirn des Menschen immer noch vorhanden und, wenn auch äußerst zersplittert, in allen Organen des menschlichen Geistes, in Sprache, Tradition, Geschichte, Architektur, Büchern und Aufzeichnungen gespeichert sind, ist die in Leonardos Leben skizzierte Synthese immer noch aktuell, um so mehr, als die Herrschaft des Sonnengottes zu scheitern droht, nicht nur an menschlichem Versagen, sondern an ihrem eigenen kolossalen, aber sich selbst negierenden Erfolg.

Man braucht nur Leonardos Notizen durchzusehen, um zu erkennen, daß in seinem Kopf die Hauptkomponenten des modernen Weltbildes vereinigt waren. Da er bereit war, seine eigenen Träume zu untersuchen, erkannte er bereits die schrecklichen Möglichkeiten der Zerstörung und Entmenschlichung, die dem modernen Menschen drohten, wenn er nicht seine genaue Beobachtung der äußeren Natur durch Selbsterkenntnis und historische Einsicht ergänzte und ethische Prinzipien entwickelte, um den anmaßenden Egoismus im Schach zu halten, der bereits bewiesen hatte, wie wenig er sich dazu eignete, die neuen, dem modernen Menschen zur Verfügung stehenden Kräfte zu bändigen.

519


Selbst das Schießpulver, der stählerne Panzer und die fortgeschrittene Bergbautechnik hatten Kräfte der Zerstörung und Eroberung entstehen lassen, die es kleinen Gruppen entschlossener Männer ermöglichten, sowohl konstruktive als auch destruktive Taten zu setzen, die bis dahin Zehntausende sehnige Körper erfordert hatten.

Nicht die unbedeutendste von Leonardos Qualitäten war sein stets wacher Zweifel, der sich hinter seinen eifrigen Experimenten und phantasievollen Versuchen verbarg. Während er peinlich genaue anatomische Sektionen vornahm, die den Untersuchungen Vesalius' um fast ein halbes Jahrhundert vorausgingen, verzeichnete er zugleich seinen Wunsch, den Geist und die gesell­schaft­lichen Institutionen des Menschen ebensogut erfassen zu können wie den Körper. In Leonardos Ängsten und Hemmungen waren Gegenströmungen wirksam, die die Tatsache erklären mögen, warum er sich trotz seiner immensen schöpferischen Energie nicht entschließen konnte, zu publizieren; vielleicht war es dieser Widerstand, der ihn veranlaßte, sein Werk provisorisch und unvollständig zu lassen. Spezialisierung und Publizierung hätten ihm sicherlich Erfolg gebracht, aber um den Preis, das Ganze zu vergessen, unvollständig und unausgewogen, vielleicht irrational und destruktiv zu werden.

Was ich hier zum Lobe Leonardos sage, muß den geschäftigen Spezialisten von heute als reiner Hohn erscheinen, jenen, die ihre Karriere damit beginnen, neu erlangtes Wissen oder technische Kenntnisse recht bald anzuwenden; jeder von ihnen ist begierig, möglichst rasch eine leitende Stellung zu ergattern, um sein Wissen zur Beherrschung der physikalischen Umwelt, der organischen Reproduktion und letztlich anderer menschlicher Gehirne zu nutzen.

Für Leute dieser Mentalität wäre es beruflicher Selbstmord, Leonardos Beispiel zu folgen und als lebenslange Leistung nur eine Handvoll kleiner Projekte oder Publikationen aufweisen zu können. Eine solche Vielfalt von Interessen, wie Leonardo sie verfolgte, solche Zurückhaltung und Selbstkontrolle, solche Selbstzensur, wie er sie übte, übersteigen den geistigen Horizont des Machtkomplexes. Den erfolgsüchtigen Wissenschaftlern und Technikern von heute Leonardo als Modell vorzuhalten, hieße sie wütend machen. In keiner Hinsicht war Leonardo ihr Vorbild und Vorläufer.

Dennoch wäre es ein Irrtum, zu glauben, Leonardos Beispiel sei für unsere Zeit ungeeignet. Es eignet sich nur deshalb nicht, weil diejenigen, die nach Macht streben, nicht gewillt sind, den Preis für die Erlangung des Gleichgewichts zu zahlen, und die menschliche Erfüllung nicht erstrebenswert finden. Wenn man ein vieldimensionales und kohärentes Weltbild erwerben will, muß man auf rasche Erfolge und unmittelbaren Gewinn verzichten.

Auf jedem Gebiet der Erfindung und Organisierung muß man bereit sein, langsamer vorzugehen, vorwärts und rückwärts zu schauen, weniger Entdeckungen zu machen, ebensoviel Zeit für die Verarbeitung des Wissens aufzuwenden wie für dessen Aneignung; vielleicht in irgendeinem Bereich in einem ganzen Leben weniger zu tun, als der einseitige Spezialist in einem Jahrzehnt tun kann. Vom Standpunkt des Machtsystems erfordert dies ein unmögliches Opfer: das Opfer der Macht für das Leben.

520-521

#

 

 

www.detopia.de      ^^^^