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2.10 - Die neue Megamaschine

   Die Geheimnisse des Tempels (637). Abdankung der höheren Priesterschaft (642). Das allgegenwärtige Auge (649).

Der Organisationsmensch (652). Die Technik der totalen Kontrolle (658). Elektronische Entropie (671).

Mumford-1970

 

  Die Geheimnisse des Tempels  

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Im Zuge der Erfindung der Atombombe wurden die notwendigen menschlichen Komponenten der neuen Megamaschine nicht nur räumlich zusammengeführt, sondern auch mit entscheidenden Rollen betreut; und nicht zufällig war der oberste Leiter Robert Oppenheimer, ein Physiker.

In dieser neuartigen Situation erhielten die Beteiligten Vollmachten, die sie als Individuen weder je zuvor angestrebt noch gar ausgeübt hatten. Während wegen der nötigen militärischen Geheimhaltung ihre Freiheit als Menschen und Bürger eingeschränkt war, wurden ihr Einflußbereich und ihre Autorität als Spezialisten gewaltig vergrößert. Zum ersten Mal waren Wissenschaftler in der Lage, mit Unterstützung, ja auf Drängen der Regierung praktisch unbegrenzte Mittel für ihre Ausrüstung zu beziehen; und wahrscheinlich waren nie zuvor so viele hochqualifizierte Kräfte auf eine einzige Aufgabe konzentriert. 

Nur ein volkreicher Staat, mit gewaltigen materiellen Ressourcen und einer fast unbegrenzten Verfügungs­möglichkeit über Steuern und menschliche Dienst­leistungen konnte eine solche kollektive Anstrengung zuwegebringen. So wurde im Herzen eines konstitutionellen, mit beschränkten Befugnissen ausgestatteten, angeblich unter ständiger öffentlicher Aufsicht und Kontrolle stehenden Regimes insgeheim eine souveräne Macht pharaonischen Ausmaßes errichtet.

Anderseits waren Wissenschaftler nie zuvor gezwungen, unter Bedingungen zu arbeiten, die für den freien intellektuellen Verkehr derart ungünstig sind: Sie wurden nicht nur daran gehindert, Verbindung mit der Außenwelt zu haben, sondern auch daran, in ihrem eigenen Kreis miteinander offen über ihre Aufgaben zu reden. Im Krieg waren diese Vorsichtsmaßnahmen wegen der militärischen Geheimhaltung berechtigt; dann aber wurde Geheimhaltung an sich als Zeichen von Autorität und als Methode der Machtausübung angesehen. Diese Praxis wurde so weit getrieben, daß der Entdecker des schweren Wassers, Professor Harold Urey, dessen Forschungen dieses wichtige Element beigesteuert hatten, nicht erfahren durfte, mit welchen Methoden die Du-Pont-Gesellschaft diesen Stoff gewann.

Nun ist Geheimhaltung das Geheimnis jedes totalitären Systems.

Der Schlüssel zur Ausübung willkürlicher Macht ist die Einschränkung der Kommunikation zwischen Individuen und Gruppen durch Unterteilung der Information, so daß jeder einzelne nur einen kleinen Teil der ganzen Wahrheit erfährt. Es ist ein alter Trick politischer Verschwörer; nun wurde er von der Hauptinstanz, dem sogenannten Manhattan-Projekt, auf alle anderen Bereiche des militarisierten staatlichen Establishments übertragen, obwohl ironischerweise selbst die Spitze der Hierarchie nicht genügend Information oder Wissen besaß, um all die Einzelteile zusammen­zufügen.

Die Geheimhaltung dieses Wissens hätte sich als schwieriger erwiesen, wäre nicht ohnehin schon jedes spezialisierte Forschungsgebiet faktisch zu einer Geheimwissenschaft geworden. Die Wissenschaften sind heute so spezialisiert in ihrem Vokabular, so esoterisch in ihren Begriffen, so verfeinert in ihren Techniken und so begrenzt in ihrer Fähigkeit, Nichtspezialisten, selbst auf verwandten Gebieten, neue Erkenntnisse zu vermitteln, daß Kommunikationslosigkeit unter Wissenschaftlern fast schon zu einem Zeichen beruflicher Qualifikation geworden ist. »Wenn die Mitarbeiter meiner Abteilung sich einmal wöchentlich am Mittagstisch treffen«, sagte mir unlängst ein Physiker, »so sprechen wir nie über unsere Arbeit. Die ist zu privat geworden, um Gesprächsstoff abzugeben. Wir schwatzen über die jüngsten Automodelle oder Motorboote.«

Angesichts dieser Umstände deutet der Erfolg des Manhattan-Projekts darauf hin, daß die Möglichkeit, eine solche Vielzahl der verschiedensten theoretischen und praktischen Talente in enge Zusammenarbeit zu bringen, die ungünstigen Bedingungen intellektueller Isolierung und Kommunikationslosigkeit mehr als aufwog. Die Tatsache, daß die Physiker, Chemiker und Mathematiker, deren hervorragende Arbeit die Atomspaltung verwirklichte, ein internationales Team waren, das Mitarbeiter aus allen fortgeschrittenen Ländern umfaßte, enthüllte die latenten Möglichkeiten einer weltweiten Zusammenarbeit, die durch wissenschaftliche Forschung im Sinne Bacons plus Neotechnik entstanden waren. Die Mitwirkung der Ungarn Szilard, Wigner und Teller, des Dänen Bohr, der Deutschen von Neumann und Fuchs, des Italieners Fermi und der Amerikaner Oppenheimer und Urey verlieh dem amerikanischen Team einen Vorteil gegenüber den Deutschen, die auf die Überlegenheit ihrer sich selbst isolierenden arischen Kultur vertrauten.

Die Form der Teamarbeit, welche die Entwicklung der Atombombe beschleunigt hatte, diente daher in gewisser Hinsicht als Modell für jede höhere Organisationsform, die, von kriegsbedingter Geheimhaltung befreit, trachten würde, die ursprünglichen Nachteile der Megamaschine zu überwinden — faktisch das Modell für eine noch ungeborene Organisation der UNO, mit der Aufgabe, für maximalen Austausch von Wissen oder Energie zu sorgen und gegebenenfalls moralischen Druck auszuüben, um zu verhindern, daß unausgegorene Erkenntnisse vorzeitig und skrupellos angewandt werden.

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Dieses offene Geheimnis internationaler Zusammenarbeit und freien geistigen Austausches versprach für die Zukunft der Menschheit weit mehr als alle esoterischen Daten, die in streng geheimen Akten verschlossen gehalten oder verklausuliert in wissenschaftlichen Journalen publiziert werden.

Um eine solche Integration spezialisierten Wissens zu erzielen, ist jedoch mehr erforderlich als der Wunsch nach inter­disziplinärer Zusammenarbeit: nichts Geringeres als eine Transformation jener klassischen wissenschaftlichen Weltanschauung, die nur meßbaren Daten und wiederholbaren Experimenten Objektivität zuschreibt und die ständige Wechselwirkung zwischen Natur und Kultur, die in der menschlichen Persönlichkeit ihren gemeinsamen Brennpunkt haben, ableugnet. Die Strafe für die Herstellung von Atombomben in einer Menge, die ausreicht, die Menschheit zu zerstören, bestand darin, daß diese mörderischen und selbstmörderischen Waffen in die Hände von nachweislich fehlbaren Menschen gelegt wurden, deren überragende wissenschaftlichen Erfolge ihre Zeitgenossen blind machten für die menschlichen Schwächen der Kultur, die sie hervorgebracht hatte.

Nie zuvor war solche Macht in menschlichen Händen gewesen - kaum auch nur in der Phantasie. Aber schon Macht in vergleichsweise winzigem Ausmaß hat im Laufe der ganzen Geschichte bekanntlich Entartungen und Verirrungen der menschlichen Persönlichkeit erzeugt; und weil Macht zu Hochmut verleitet, hat die christliche Theologie, die dies genau erkannte, Hochmut als die schwerste Sünde bezeichnet. Bei den Führern der Vereinigten Staaten und Sowjetrußlands, denen der Besitz absoluter Waffen zu Kopf gestiegen ist, verhärten sich ideologische Verirrungen bald zu fixen Ideen. Diese Ideen nähren pathologisches Mißtrauen und unerbittliche Feindseligkeit, ähnlich wie in dem Text auf den Wänden des Grabes von Seti — ein Text, der aus dem vierzehnten bis zwölften Jahrhundert vor Christus stammt, der aber, nach Pritchard, Anzeichen eines weit älteren Ursprungs aufweist. In diesem Text bildet sich Re, der Sonnengott, ein, die Menschheit habe sich heimlich gegen ihn verschworen, und plant als Rache deren Vernichtung.

Fast von Anfang an stolzierten, prahlten, drohten und mordeten die über Atomwaffen verfügenden Militärs ganz wie Bronzezeit-Götter; und ihre offiziellen Wahrsager und Zukunftsdeuter, durch die noch größere Zerstörungskraft der Wasserstoff­bombe bestärkt, bestätigten ihre Pläne und kündigten selbstsicher bevorstehende Krisen und Kraftproben an. Trotz ihrer Provokationsversuche zeigten sich diese Voraussagen um nichts richtiger als ihre archaischen Prototypen — wenngleich es in ihrer Natur liegt, schließlich die Katastrophen herbeizuführen, auf die sie so eifrig vorbereiten.

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Diese pathologischen Reaktionen, sorgfältig genährt von Forschungsorganisationen in offiziell geförderten Denkfabriken, haben all die destruktiven Entwicklungsmöglichkeiten der thermonuklearen Waffen vergrößert und zu geheimen Experimenten mit ebenfalls teuflischen bakteriologischen und chemischen Waffen geführt, über deren Wirkung man noch weniger Kontrolle hat, wenn sie erst einmal zur Anwendung kommen.

Lord Actons berühmter Ausspruch über die Macht ist allzuoft wiederholt worden, als daß er seine ursprüngliche Kraft hätte bewahren können; aber er gilt nach wie vor: »Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.« In unserer Zeit kommt diese Korruption gleichermaßen vom Wesen der Kernwaffen wie von den Stellen, die sie herstellen lassen, und von der allgemeinen Demoralisierung, die schon von den alten militärischen Megamaschinen bewirkt und von demokratischen Regierungen, welche deren Methode blindlings kopierten, verstärkt, ja allgemein verbreitet wurde.

Der Zweite Weltkrieg endete formal mit der Kapitulation der Achsenmächte im Mai 1945, aber die modernisierte Megamaschine, die gegen Kriegsende entstanden war, gab weder ihre absoluten Waffen auf noch ihren Plan, die Weltherrschaft anzutreten, mit Hilfe der totalen Vernichtungsgewalt, die dem wissenschaftlich-militärischen Komplex so unmäßige Macht verleiht. Ganz im Gegenteil. Obwohl die älteren Organe von Wirtschaft und Politik nominell ihre Funktionen wieder aufnahmen, verschanzte sich die militarisierte Elite in einer inneren Festung — so schön durch das architektonisch archaische Pentagon symbolisiert —, die der Beobachtung und Kontrolle durch die Gemeinschaft entzogen war. Mit Unterstützung des Kongresses, der sich nicht zu widersetzen wagte, streckte sie ihre Fangarme nach der wirtschaftlichen und der akademischen Welt aus, mittels fetter Subventionen für Forschung und Entwicklung, das heißt, für Waffenexpansion, die diese einstmals unabhängigen Institutionen zu willigen Komplizen im gesamten totalitären Prozeß machten.

So hat der Bereich dieser geschlossenen Festung sich ständig erweitert, während ihre Mauern dicker und undurchdringlicher geworden sind. Mit dem einfachen Hilfsmittel, neue Notsituationen zu schaffen, neue Ängste zu nähren, neue Feinde auszumachen oder mit viel Phantasie die bösen Absichten des Feindes zu übertreiben, wurden die Megamaschinen der Vereinigten Staaten und Sowjetrußlands, statt daß man sie als bedauerliche kriegsbedingte Notwendigkeit abgebaut hätte, zu permanenten Institutionen einer neuen Form permanenten Krieges erhoben: des sogenannten Kalten Krieges. Wie sich herausgestellt hat, ist diese Kriegsform mit ihrer stetig wachsenden Nachfrage nach wissenschaftlichen Entdeckungen und technologischen Neuerungen bei weitem das wirksamste Mittel, um die überproduktive Technologie in vollem Gang zu halten.

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Im Verlauf dieser Entwicklung tauschten die beiden dominierenden Megamaschinen untereinander Eigenschaften aus. Die russische Maschine wich von ihrem veralteten ursprünglichen Modell ab und verlegte sich mehr auf die wissenschaftliche und technologische Seite; die amerikanische Maschine übernahm die reaktionärsten Züge des zaristisch-stalinistischen Systems und verstärkte gewaltig sowohl ihre militärische Kraft als auch die zentralen Kontrollkörperschaften: Atomic Energy Commission, FBI, CIA, National Security Agency — alles Geheimagenturen, deren Methoden und Vorgangsweisen vom amerikanischen Kongreß niemals offen diskutiert oder wirksam in Frage gestellt, geschweige denn gezügelt wurden. Diese Agenturen fühlen sich so stark, daß sie es wagen, die Autorität des Präsidenten und des Kongresses zu mißachten und sich ihnen zu widersetzen.

Dieses erweiterte Establishment erweist sich als ebenso immun gegen öffentliche Kritik, Korrektur und Kontrolle wie nur irgendein dynastisches Establishment des Pyramidenzeitalters. Und dient die moderne Megamaschine, wie jede andere Maschine, auch zur Verrichtung von Arbeit, so besteht die Arbeit, mit der sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Rußland diese vereinigte Armee von Wissenschaftlern und Technikern beschäftigt ist, die Arbeit, die angeblich die Existenz der Megamaschine rechtfertigt und die von ihr geforderten schweren Opfer erträglich macht, in nichts anderem als der Entwicklung des Mechanismus totaler Vernichtung. Die einzige Frage, die die Megamaschine offenläßt, ist, ob die Vernichtung schnell oder langsam vor sich gehen wird; das negative Ziel ist in den grundlegenden ideologischen Voraussetzungen, die das System beherrschen, enthalten. Die Künstler der heutigen Generation, die dieses Ziel in ihrer Anti- und Nichtkunst enthüllen, sind — wie wir bald sehen werden — ehrlicher als die Erfinder jener kollektiven Menschenfalle.

Die Generation, die es zugelassen hat, daß die neue Megamaschine zu einer permanenten Einrichtung im Leben der Nation wurde, nimmt nur unwillig die offenkundige Tatsache zur Kenntnis, daß menschliche Bestrebungen hier gründlich versagt haben; sie hat die Perspektive der totalen Vernichtung akzeptiert, als handle es sich um eine bloße Ausweitung des Krieges, ohne zu durchschauen, daß die zu erwartende quantitative Steigerung ein noch entsetzlicherer Irrsinn ist als der Krieg an sich. Gelähmt, wie ein Affe angesichts einer Pythonschlange, verschloß die Generation, die unmittelbar auf Hiroshima folgte, die Augen und wartete auf das Ende, ohne ein Wort der Vernunft herauszubringen.

Bis in unsere Zeit waren der menschlichen Gewalttätigkeit Grenzen gesetzt durch die dürftigen physischen Ressourcen, die den Regierungen zur Verfügung standen. Da die früheren Megamaschinen sich in der Ausübung ihrer Macht nur auf Menschenkraft stützen konnten, waren sie auf Menschenmaß beschränkt und überdies äußeren Angriffen und innerer Zersetzung ausgesetzt. 

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Aber die neue Megamaschine kennt keine solchen Begrenzungen: Sie kann mit Hilfe eines riesigen Arsenals leistungsfähiger Maschinen und mit einer kleineren Zahl von menschlichen Vermittlern als je zuvor Gehorsam erzwingen und Macht ausüben. Die heutige Megamaschine ist von einem Zaubermantel umhüllt, der sie in einem nie zuvor erreichten Maße unsichtbar macht; ihre menschlichen Werkzeuge sind sogar gefühlsmäßig abgeschirmt durch ihre Distanz von den Menschen, die sie einzuäschern oder auszulöschen gedenken.

Dieser hohe Grad von Entmenschlichung steigert die tödliche Automatik der Megamaschine. Jene, die ihre strategischen Ziele entwerfen, betrachten die Vernichtung von hundert Millionen Menschen an einem Tag mit weniger Abscheu als die Vertilgung von einigen hundert Wanzen. Die Opferung einer ebenso großen Zahl ihrer eigenen Landsleute, sollte das Gleichgewicht des Schreckens einmal versagen, ist für sie ebenfalls akzeptabel geworden.

Auf eine einfache Formel gebracht, verlangt die Religion der Megamaschine riesige Menschenopfer, um in negativer Form die fehlende Dimension des Lebens wiederherzustellen. So erweist sich der Kult des Sonnengottes in seiner letzten, wissen­schaftlichen Gestalt als nicht weniger barbarisch und irrational denn der Kult der Azteken, ja als ungleich mörderischer. Schließlich schlitzten die Aztekenpriester ihren Opfern mit eigenen Händen den Bauch auf, einem nach dem anderen; und der Abscheu der Zuschauer dieses Schauspiels war so groß, daß die Priester sich gezwungen sahen, sich gegen Mißfallens­kundgebungen zu schützen, indem sie allen, die auch nur die Augen abwandten, das gleiche Schicksal androhten. Die Priester des Pentagons und des Kremls können auf solche Drohungen verzichten; in ihren unterirdischen Kontrollzentren können sie ihr Geschäft sauber verrichten — sie brauchen nur auf einen Knopf zu drücken. Unberührbar, unangreifbar, unverletzbar sind die neuen Herren über das Schicksal der Menschheit.

 

   Abdankung der höheren Priesterschaft  

 

Zu den ersten Opfern der Megamaschine zählte die Ehre der Wissenschaftler, die mitgeholfen hatten, uie Maschine zu schaffen. Denn ihr Erfolg als Teil des wachsenden totalitären Establishment beschwor die Gefahr des Verlustes der augenfälligsten wissen­schaftlichen Tugend herauf, des uneigennützigen Strebens nach Wissen, das experimentell verifizierbar, anderen Wissen­schaftlern mitteilbar, für die Öffentlichkeit einsehbar, überprüfbar und korrigierbar ist.

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Niemand konnte der neuen Megamaschine dienen und zugleich am Forscherideal des unzensurierten, unbehinderten Denkens festhalten; denn totale Geheimhaltung, im Krieg notwendig, wurde zum permanenten Wesenszug des Regimes im sogenannten Frieden, das heißt, im Kalten Krieg. Als Gegenwert für diesen Verlust an Autonomie und Objektivität erhielt die neue Priesterschaft eine Autorität, von der sie sich nie hätte träumen lassen. Und sie festigte darüber hinaus ihre neue Position, indem sie die vagen Hypothesen, auf denen der Kalte Krieg basiert, als feststehende, unanfechtbare Wahrheiten ausgab. So weigerte sich einer ihrer Sprecher, Herman Kahn, in einer angeblich objektiven Untersuchung der theoretischen Möglichkeiten thermo­nuklearer Strategie, die Möglichkeit eines Friedens überhaupt in Betracht zu ziehen. Hier verriet seine objektive Untersuchung den typischen Trick des neuen wissenschaftlichen Establishments: Antworten werden nur auf sorgsam ausgewählte Fragen gegeben, die als solche schon die Art der Antwort diktieren.

Alle jene, die den Absolutismus der Megamaschine ablehnten — bemerkenswert viele der Wissenschaftler, die ursprünglich am Atombombenprojekt mitgearbeitet hatten —, zogen sich von der Atomforschung zurück. Sie waren in einer Atmosphäre relativer geistiger Freiheit und moralischer Verantwortung aufgewachsen, so daß sie, mit der Tatsache konfrontiert, daß moralisches Verhalten, wie Henry Adams es prophezeit hatte, zu einer Sache der Polizei geworden war, ihre Energien auf die Kritik der Megamaschine und auf den Widerstand gegen diese verlegten. Einstein, Szilard und Wiener, um nur die Verstorbenen zu erwähnen, zählten zu dieser ehrenhaften Gemeinschaft. Doch weder die amerikanische noch die russische Regierung hatte Schwierigkeiten, weniger klarsichtige — oder moralisch weniger empfindliche — Wissenschaftler anzuwerben, insbesondere aus einer Generation, die methodisch zur Gleichgültigkeit sowohl gegenüber moralischen Werten als auch gegenüber autonomem Handeln erzogen worden war.

Zu ihrer Schande akzeptierten die unterwürfigen Wissenschaftler beider Länder die Megamaschine zu den gleichen Bedingungen und in Hinblick auf die gleichen unaussprechlichen Endziele. Diese neue Generation verschwand aus der offenen Welt der traditionellen Wissenschaft; auf Veranlassung der Militärs zogen sie sich in eine Unterwelt geheimer Aktivität zurück. Das ist die neue Elite, ein moderner Ausdruck für die neue Priesterschaft, die Tempelherren des Geheimwissens, die willigen Diener Pharaos, die sich mit ihm in die Macht teilen. Als Gegenleistung für die unbegrenzten Mittel, die sie für Apparaturen und Assistenten erhielt, und für einen privilegierten Status mit hohen Gehältern und Nebeneinkünften verzichtete diese neue Generation auf das angestammte Recht des Wissenschaftlers: auf autonome, unbehinderte Forschung.

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Weniger als ein Jahrzehnt nach der Zündung der ersten Atombombe hatte die Megamaschine sich bis zu dem Punkt ausgedehnt, wo sie begann, Schlüsselbereiche der gesamten amerikanischen Wirtschaft zu beherrschen; ihre Machtvollkommenheit reichte von Flughäfen, Raketenbasen, Bombenfabriken und Universitäten bis zu Hunderten anderen verwandten Gebieten, und sie verknüpfte die einst getrennten und unabhängigen Unternehmen mit einer zentralen Organisation, deren irrationale, menschen­vernichtende Politik eine noch weitere Ausdehnung der Megamaschine gewährleistete. Finanzielle Subventionen, Forschungsstipendien, Erziehungsbeihilfen — sie alle wirkten unablässig für »Leben, Wohlstand und Gesundheit« der neuen Herrscher, angeführt von Goliaths in eherner Rüstung, die ihre Trutz- und Morddrohung in alle Welt hinausbrüllten. Innerhalb kurzer Zeit wurde die ursprüngliche militärisch-industriell-wissenschaftliche Elite zum obersten Pentagon der Macht, denn sie umfaßte sowohl das bürokratische als auch das Schul-Establishment.

In zwanzig Jahren waren die Ausgaben für das Atomenergieprogramm auf 35 Milliarden Dollar gestiegen: Das war mehr, als die gesamten Militärausgaben der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg. Der nachfolgende Kalte Krieg, ein wichtiges Mittel zur Erweiterung der Megamaschine, kostete die Vereinigten Staaten mehr als fünfzig Millionen Dollar pro Jahr. Davon entfielen, laut Ralph Läpp, etwa sechzehn Milliarden Dollar jährlich auf Auslagen für Forschung und Entwicklung. Die Luftwaffe gab eine Milliarde Dollar für den Versuch aus, ein atombetriebenes Flugzeug zu bauen, nur um zu beweisen, daß die Idee undurchführbar ist, obwohl zur gleichen Zeit, als dieses Geld vergeudet wurde, die Entwicklung der Raketen ein solches Flugzeug für jeden vorstellbaren militärischen Zweck überflüssig gemacht hatte. Köpfe, die frei waren von den technologischen Zwangsvorstellungen der Megamaschine, hätten dem Land eine Milliarde Dollar ersparen können, noch ehe eine einzige Skizze angefertigt war.

Diese falsch orientierte absolute Macht fordert offenbar absolute Immunität gegen unabhängige Überprüfung und absolute Konformität seitens jener, die die Maschine bedienen. Sonst wären nämlich solche lebensbedrohende Strategien der freien öffentlichen Diskussion, kritischer Wertung und demokratischer Kontrolle ausgesetzt. Jene, die über ein ausreichendes Wissen verfügen, um die herrschende Politik in Frage zu stellen, werden dafür vom totalitären Establishment ausgeschlossen oder ausgestoßen. So konnte Dr. Herbert York erst nach Rücktritt von seinem Posten als wissenschaftlicher Berater des Pentagons öffentlich feststellen: »Wenn die Großmächte fortfahren, nur im Bereich von Wissenschaft und Technik nach Lösungen zu suchen, dann werden die Resultate die Situation noch verschlimmern.«

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Wenngleich in den Jahren seit 1945 viel erreicht worden ist, wurde die Errichtung einer Megamaschine, die auf weltweiter Basis operieren könnte, nicht nur durch unerwartete Ausbrüche von Gegenkräften außerordentlich primitiver Art behindert, sondern auch dadurch, daß in den fünfziger Jahren nicht nur eine, sondern zwei antagonistische Megamaschinen mit gleichermaßen absoluten Machtbefugnissen entstanden waren: die sowjetrussische und die amerikanische, während eine dritte, ältere — die chinesische — sich im Übergang von einem Zustand völligen Verfalls zu einem nach quasi-wissenschaftlichen Prinzipien umgestalteten befand. In den beiden ersten Fällen stellen Atomreaktor, Wasserstoffbombe, Weltraumrakete, Fernsehen, chemische Sedativa und Computer bereits die notwendige Ausstattung für totale Kontrolle dar.

Politisch betrachtet, hatte jedoch die russische Megamaschine einen Vorsprung, da sie sich auf das noch funktionierende zaristische Establishment stützen konnte. Die amerikanische Megamaschine hingegen war in ihrer Entfaltung ein wenig gehemmt durch die Notwendigkeit, den Schein einer repräsentativen Regierung und freiwilliger Mitwirkung zu wahren. Außerdem waren ältere Traditionen, die persönliche, regionale und Gruppenautonomie begünstigten, noch nicht völlig verschwunden — trotz zunehmender zentralisierter Macht der rund zweihundert Superkonzerne, die die gesamte amerikanische Wirtschaft beherrschten und in vielen fremden Ländern Fuß gefaßt hatten. Stahl, Kraftfahrzeuge, Chemikalien, Pharmazeutika, Erdöl, Elektronik, Flugzeuge, Raketen, Kybernetik, Fernsehen und viele Hilfsindustrien, gar nicht zu reden vom Bank- und Versicherungswesen und von der Werbung, alle waren nach dem gleichen einheitlichen Prinzip organisiert und bestanden, als Gesamtheit gesehen, aus austauschbaren Teilen: So konnten selbst die unterschiedlichsten Industriezweige in einem einzigen Mischkonzern zusammen­gefaßt werden.

Diese Situation wurde vor mehr als einem Jahrhundert von dem britischen Soziologen Benjamin Kidd sehr richtig beurteilt Er sah, daß die herrschenden liberalen Fortschrittsdoktrinen in eine ganz andere Richtung führten, als ihre Anhänger glaubten. Er sah voraus, daß es nicht zwischen Staaten als solchen, sondern zwischen zwei rivalisierenden Systemen zu einem gewaltigen Kampf kommen würde, um zu entscheiden, welches System die Erde beherrschen sollte. Wir können heute, mit zusätzlicher Erfahrung, diese Analyse einen Schritt weiterführen: Denn obwohl die amerikanische Megamaschine sich als Hüter der freien Welt betrachtet, ist es klar, daß die Freiheit, die noch existiert, ein Überrest aus früheren Zeiten ist — einige wenige Widerstands­nester, um es militärisch auszudrücken — und daß alle Neuerungen, die mit zunehmender Geschwindigkeit und wachsender Zwanghaftigkeit eingeführt werden, auf eine Konvergenz der feindlichen Systeme hinwirken. Um ihre Autonomie zu erhalten, muß die Megamaschine alle historischen, traditionellen oder zukünftigen Alternativen zerstören.

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Was Clinton Rossiter in seiner Studie über die konstitutionelle Diktatur hinsichtlich eines einzigen Aspekts dieser Wandlung, nämlich des politischen, aufzeigte, ist heute in jeder Operation der Megamaschine enthalten. Jede Megamaschine weist dieselben gemeinsamen Züge auf: die Tendenz, autark zu werden, in ihre Struktur Organisationen und Institutionen aufzunehmen, die sonst die Energie, über die sie gebietet, umlenken oder Loyalitätskonflikte auslösen und so ihre automatische Expansion hemmen würden.

Sowohl in Rußland als auch in den Vereinigten Staaten haben zentrale Machtorgane, unbehindert von der öffentlichen Meinung und unkontrolliert von den gewählten Körperschaften, die Techniken der permanenten Krise verbessert, um die Machtbefugnisse zu festigen, die ursprünglich nur den Zweck hatten, einer vorübergehenden Gefahr zu begegnen.

Die Blockade Berlins durch die Russen war ein offenkundiges Beispiel für diese Tendenz; ebenso die provokative Fortsetzung der U-2-Flüge der CIA über Rußland, trotz russischer Proteste, als ein wirksames Mittel, das bevorstehende Gipfelgespräch in Paris im Jahre 1960 zu torpedieren. Die Agenten der Megamaschine handeln konsequent so, als ob sie nur dem Machtsystem verantwortlich wären. Die Interessen und Forderungen der Völker, die den Megamaschinen unterworfen sind, werden nicht nur übersehen, sondern ganz bewußt ignoriert. 

»Die großen Probleme der Atomstrategie«, stellte Professor Hans J. Morgenthau fest, 

»können nicht einmal sinnvoll zur Diskussion gestellt werden, weder im Kongreß noch in der Bevölkerung, da es ohne ausreichendes Wissen keine sachliche Kritik geben kann. Daher werden die großen Entscheidungen über Leben und Tod von den technologischen Eliten gefällt.«

In jedem Bereich, von der Atomenergie bis zur Medizin, wurden Entscheidungen, die das menschliche Schicksal permanent beeinflussen und möglicherweise dem ganzen Abenteuer des menschlichen Lebens ein Ende setzen werden, von selbsternannten und eigenmächtigen Experten und Spezialisten formuliert und ausgeführt, die gegen Menschlichkeit immun sind und deren Bereitschaft, diese Entscheidungen auf eigene Verantwortung zu fällen, der beste Beweis für ihre völlige Untauglichkeit ist, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen.

Die Illusionen und magischen Halluzinationen dieser herrschenden Gruppen, die sich in ihrem verantwortungslosen Handeln, in ihren falschen Prognosen — ein Schweinebucht-Debakel nach dem anderen — und in ihren öffentlichen Erklärungen ausdrücken, können nur ein mögliches Endziel haben. Um dieses Ziel zu verschleiern, greifen sie nach allen Seiten, um die Zahl der Mitschuldigen an ihrem stillschweigenden Komplott gegen die Menschheit zu vergrößern.

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Angefangen von der Entwicklung der Atomreaktoren, hat eine selbstsichere technologische Elite begonnen, jede menschliche Tätigkeit sachkundig unter ihre Kontrolle zu bringen: von künstlicher Befruchtung bis zur Weltraum­forschung.

Ein sehr bedrohlicher Aspekt der neuen Megamaschine ist daher die Tatsache, daß sie in den Vereinigten Staaten und in Sowjetrußland eine mächtige und ständig wachsende herrschende Kaste hervorgebracht hat: eine Kaste, die den Janitscharen in der Blütezeit des türkischen Despotismus vergleichbar ist. Der nächste logische Schritt bestünde darin, wie bei den Janitscharen mit der Selektion der Elite bereits in der Wiege zu beginnen und sie bewußt für den erwünschten Zweck zu deformieren, so daß keine störenden menschlichen Attribute ihre bedingungslose Loyalität zur Megamaschine beeinträchtigen. John Hersey schlug eine solche Entwicklung in seinem satirischen Roman The Child Buyer vor, einem Werk, das eingehendere Diskussion verdient hätte, als es hervorgerufen hat. Doch schon ist ein nächster Schritt zu sehen, der darüber hinausführt: nichts Geringeres als die Selektion der Elite aus einem Depot tiefgekühlter Spermen und Eizellen, deren Frucht in einer künstlichen Gebärmutter unter Kontrolle ausgebrütet wird. Die ersten kühnen theoretischen Schritte zur Ausführung dieses Planes wurden als unvermeidlicher Fortschritt der Wissenschaft schon von mehr als einem Priester der Megamaschine vorgeschlagen. Auch hier wiederum gilt: »Man kann es tun, also muß man es tun.«

Aber noch ein weiterer Schritt zur Konsolidierung der Megamaschine steht uns bevor, und es ist nicht zu früh, sein Ergebnis vorwegzunehmen, um, wenn möglich, die Gegenkräfte zu wecken, die zu seiner Verhinderung notwendig sind. War der erste Schritt zur Herrschaft des Sonnengottes die Vereinigung von Macht und Autorität in der Person des Gottkönigs, so bestand der zweite in der Ersetzung des Königs, der immer noch ein menschliches Wesen war, durch eine bürokratisch-militärische Organisation. Der dritte Schritt jedoch, die Errichtung der allumfassenden Megamaschine selbst, konnte nicht getan werden, ehe ein gleichwertiger mechanischer Herrscher, ohne menschliche Teile oder Attribute, erfunden war.

Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sah der große Basler Historiker Jacob Burckhardt voraus, daß eine neue Art und Weise der Machtausübung Ausdruck einer Zivilisation sein würde, die wieder einem absoluten Despotismus ohne Gesetz und Recht zustrebt — noch absoluter als jedes frühere System. »Dieses despotische Regime«, schrieb er, »wird nicht mehr von Dynastien getragen sein. Sie sind zu weich und zu gutherzig. Die neue Tyrannei wird in den Händen von Militärkommandos sein, die sich Republikaner nennen werden. Ich scheue immer noch davor zurück, mir eine Welt vorzustellen, deren Herrscher sich keinen Deut um Gesetz, Wohlfahrt, einträgliche Arbeit, Industrie, Kredit und so weiter scheren und mit absoluter Brutalität regieren.«

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Diese Welt braucht man sich nicht mehr vorzustellen: Sie ist fast schon da. Und wenn Burckhardts Voraussage an irgendeinem Punkt fehlgeht, dann darin, daß er diese Despoten mit menschlicheren Zügen ausstattete, als sie tatsächlich aufzuweisen versprechen; Mit ihrer Objektivität, ihrer Neutralität und ihrer unpersönlichen Haltung haben sie bereits bewiesen, daß sie noch absoluterer Formen berechneten Terrors und Verbrechens fähig sind als jedes altmodische Militärkommando.

Im Zuge ihrer Umgestaltung nach modernen technologischen Prinzipien hat die neue Megamaschine auch den Herrn der letzten Entscheidung und Gottkönig in transzendenter, elektronischer Form hervorgebracht: den zentralen Computer. Als wahrer Stellvertreter des Sonnengottes auf Erden war der Computer ursprünglich erfunden worden, um astronomische Berechnungen zu erleichtern. Mit der Verwandlung von Babbages plumpem, unfertigem Modell in einen phantastisch schnellen Elektro­mechanismus, dessen bewegliche Teile elektrische Ladungen sind, verdrängte die Weltraumelektronik die Himmels­mechanik und verlieh dem exquisiten Gerät seine echt göttlichen Eigenschaften: Allgegenwart und Unsichtbarkeit.

In dieser Form hat der Computer ein höheres Leistungsvermögen in der Speicherung von Informationen und der Lösung von Problemen, die eine fast augenblickliche Integration einer Vielzahl von Variablen erfordern, mit größeren Mengen von Daten, als das menschliche Gehirn im Lauf eines ganzen Lebens verarbeiten kann. Wenn man vergißt, daß es das menschliche Gehirn war, das dieses quasi-göttliche Instrument erfunden hat, es mit Daten füttern und ihm die zu lösenden Probleme stellen muß, dann muß man auch dem armseligen Sterblichen verzeihen, der diese Gottheit anbetet. Anderseits erliegen alle jene, die sich mit diesem neuen Instrument identifizieren, der gegenteiligen Halluzination — nämlich, daß sie wahrlich Gott sind oder zumindest an seiner Allmacht teilhaben.

Die besonderen Vorzüge des Omni-Computers, die ihn hoch über alle menschlichen Entscheidungsträger erheben, sind seine blitzschnelle Arbeitsweise und — abgesehen von gelegentlichen Pannen — seine Unfehlbarkeit, sofern man es so nennen kann, da er doch mit unvollständigen Informationen und nach Anweisungen von keineswegs unfehlbaren menschlichen Wesen arbeiten muß. Mag man ihm all diese wunderbaren Fähigkeiten auch offen zugestehen, so bleiben ihm doch zumindest drei hinderliche Mängel.

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Der Computer leidet unter den gleichen fundamentalen Schwächen, die bereits die Entscheidungen von Kaisern und Königen unterhöhlt haben: Er berücksichtigt nur jene Informationen, die seine Großwesire und Höflinge ihm einfüttern; und wie bei Königen üblich, verlangen die Höflinge — sprich mathematische Modelltheoretiker und Programmierer — vom König nur solche Antworten, die sich auf die von ihnen selber gelieferten unzureichenden Informationen stützen können. In diesen Informationen muß eine Menge wichtiger Aspekte der menschlichen Erfahrung fehlen, damit sie den spezifischen Begrenzungen Seiner Majestät entsprechen.

Leider kann Computer-Wissen, da es aufbereitet und programmiert werden muß, nicht so wie das menschliche Gehirn in ständiger Fühlung mit dem unendlichen Strom der Wirklichkeit bleiben; denn nur ein kleiner Teil der Erfahrung läßt sich in abstrakten Symbolen ausdrücken und festhalten. Veränderungen, die nicht quantitativ gemessen oder objektiv beobachtet werden können, aber unausgesetzt stattfinden, vom Atom bis zum lebenden Organismus, liegen außerhalb der Reichweite des Computers. Bei all seiner phantastisch schnellen Arbeitsweise sind seine Komponenten außerstande, auf organische Veränderungen qualitativ zu reagieren.

 

   Das allgegenwärtige Auge  

 

In der ägyptischen Theologie war das Auge das wichtigste Organ des Sonnengottes Re: Es besaß eine unabhängige Existenz und spielte eine kreative und direktive Rolle in allen kosmischen und menschlichen Vorgängen. Der Computer erweist sich als das Auge des wiedererstandenen Sonnengottes — daß heißt, als das Auge der Megamaschine, das als Argusauge oder Detektiv dient, wie auch als allgegenwärtiges vollziehendes Auge, das absolute Unterordnung unter seine Befehle fordert, da ihm kein Geheimnis verborgen bleibt und kein Ungehorsam der Bestrafung entgeht.

Die wichtigsten Mittel, die erforderlich waren, um die Megamaschine richtig und wirksam in Gang zu halten, waren Konzentration politischer und ökonomischer Macht, Telekommunikation, schnelle Beförderung und ein System der Informationsspeicherung, das jedes Ereignis im Reich des Gottkönigs in Evidenz hält; sobald diese Hilfsmittel zur Verfügung standen, hatte das zentrale Establishment ein Monopol auf Energie und Wissen. Die Herrscher der vorwissenschaftlichen Epochen verfügten über keine derart umfassenden Hilfsmittel: Die Beförderung war langsam, die Fernkommunikation unsicher, auf von menschlichen Boten beförderte schriftliche Botschaften beschränkt, während die Informationsspeicherung, von Steuerlisten und Büchern abgesehen, sporadisch war und überdies häufig durch Feuer oder Krieg vernichtet wurde. Mit jedem neuen König mußten wesentliche Teile geändert oder ersetzt werden. Nur im Himmel konnte es allwissende, alles sehende, allmächtige, allgegenwärtige Götter geben, die das System wahrlich beherrschten.

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Mit der Atomenergie, der elektrischen Kommunikation und dem Computer wurden schließlich alle notwendigen Bestandteile der modernisierten Megamaschine verfügbar: Der Himmel ist endlich näher gerückt. Theoretisch schon heute, praktisch in naher Zukunft wird Gott — sprich: der Computer — in der Lage sein, jede Person auf der Erde augenblicklich zu finden und durch Bild und Ton, über die Priesterschaft, anzusprechen; er kann jede Einzelheit im täglichen Leben des Untertanen kontrollieren, anhand eines Akts, in dem alles verzeichnet ist: Herkunft und Geburt, vollständige Angaben über den Bildungsgang, alle Krankheiten und Nerven­zusammenbrüche, sofern sie behandelt wurden; Eheschließung, Spermen-Konto, Einkommen, Kredite und Versicherungs­prämien, Steuern und Pensionsbezüge; und schließlich eine Liste aller jener Körperorgane, die knapp vor dem Eintritt des Todes chirurgisch entfernt werden dürfen.

Am Ende würde keine Handlung, kein Gespräch und mit der Zeit wahrscheinlich auch kein Traum oder Gedanke dem wachsamen, gnadenlosen Auge dieser Gottheit entgehen; jede Lebensäußerung würde in den Computer eingefüttert und unter dessen allumfassendes Kontrollsystem gebracht werden. Dies würde nicht nur die Invasion der Privatsphäre bedeuten, sondern die totale Zerstörung der menschlichen Autonomie: faktisch die Auflösung der menschlichen Seele.

Vor fünfzig Jahren wäre diese Beschreibung allzu grob und übertrieben erschienen, um auch nur als Satire akzeptiert zu werden: H. G. Wells, der in Modern Utopia ansatzweise ein zentrales Identifikationssystem skizziert, wagte es nicht, diese Methode auf jedes Detail des Lebens auszudehnen. Vor zwanzig Jahren noch konnte man ein so weitblickender Denker wie Norbert Wiener gerade nur die ersten schwachen Umrisse dieser modernen Version vom Auge des Re wahrnehmen. Jetzt aber hat ein Jurist, Alan F. Westin, die erschreckenden Konturen des Gesamtsystems nachgezeichnet und mit Beweisen belegt, als Nebenprodukt einer Übersicht über die große Zahl öffentlicher Stellen und technischer Einrichtungen, die den Bereich der persönlichen Freiheit einschränken.

Westin zeigt nebenbei, daß die zahllosen Akten, die von den einzelnen bürokratischen Stellen für ihre spezifischen Zwecke angelegt wurden, dank dem phantastischen technologischen Fortschritt auf dem Gebiet der elektrochemischen Miniaturisierung heute bereits in einem einzigen zentralen Computer gespeichert werden können: nicht nur die wenigen Punkte, die ich oben wahllos angeführt habe, sondern auch Daten über Zivildienst, Loyalitätsüberprüfung, Grund- und Hausbesitz, Konzessions­anträge, Gewerkschaftsmitgliedschaft, Sozialversicherungsbeiträge, Reisepässe, Strafregister, Autozulassung, Führerschein, Telephongespräche, Kirchensteuer, Arbeitsverhältnisse — die Liste wird schließlich so lang wie das Leben selbst, zumindest wie das abstrahierte, symbolisch verdünnte, aktenmäßig erfaßbare Leben.

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Die Mittel für eine derart totale Überwachung ergaben sich aus dem Quantensprung von der Makromechanik zur Mikromechanik; der scheinbar so kompakte Mikrofilm früherer Jahrzehnte ist, in Westins Worten, »photochromatischen Mikrobildern gewichen, die es ermöglichen, die ganze Bibel auf einer dünnen Plastikfolie von etwa 12 Quadratzentimeter Fläche zu reproduzieren oder den Inhalt sämtlicher Bücher der Kongreß-Bibliothek in sechs Aktenschränken mit je vier Laden unterzubringen«. Daß dieser wahrhaft kolossale Sprung ironischerweise das Ergebnis der Forschung einer Registrierkassenfirma, der National Cash Register Company, war, schmälert nicht die Großartigkeit der Erfindung — es bestätigt nur die obige Beschreibung des Machtpentagons.

Wenn irgendetwas die magischen Kräfte der Wissenschaftspriester und ihrer technischen Gehilfen beweisen oder der Menschheit die unübertroffene Eignung des göttlichen Computers für absolute Herrschaft vor Augen führen kann, dann genügt wohl diese Erfindung. Hiermit wird der letzte Sinn des Lebens vom Standpunkt der Megamaschine schließlich klar: Er besteht darin, eine endlose Reihe von Daten zu liefern und zu verarbeiten, um die Rolle des Machtsystems zu erweitern und seine Herrschaft zu sichern.

Wenn irgendwo, dann liegt hier die Quelle der unsichtbaren höchsten Macht, die imstande ist, die moderne Welt zu reagieren. Hier ist das Mysterium tremendum, allmächtig und allwissend, neben dem alle anderen Formen von Magie plumper Schwindel sind und alle anderen Arten von Kontrolle der charismatischen Autorität entbehren. Wer wagt es, über Kräfte von solcher Größe zu lachen? Wer vermag der unermüdlichen, unfehlbaren Aufsicht dieses höchsten Herrschers zu entrinnen? Welches Versteck wäre so entlegen, daß es den Unbotmäßigen verbergen könnte?

Zehn Jahre, bevor diese Möglichkeiten unbegrenzter Informationsspeicherung in jener elektronisch sublimierten Form verwirklicht wurden, extrapolierte der Jesuitenpater Pierre Teilhard de Chardin die weiteren Etappen des technologischen Prozesses, die uns bevorstehen - sofern keine Bremsung vorgenommen wird und keine natürliche Verlangsamung eintritt. Noch bevor die Megamaschine identifiziert war, und lange bevor der Computer das Kontrollsystem vervollkommnet hatte, das heute in so großer Eile installiert wird, gelangte er zu der Überzeugung, daß die Milliarden Jahre physikalischer und biologischer Evolution zu diesem Endziel hinführen oder vielmehr unaufhaltsam dorthin geführt werden.

Da es eines der Hauptanliegen dieses Buches ist, zu zeigen, daß ein solches Ergebnis, obwohl möglich, so doch nicht prädeterminiert und noch weniger die ideale Erfüllung der menschlichen Entwicklung ist, werde ich mich mit dieser These später ausführlich auseinandersetzen. Hier will ich nur eine vorsichtige, aber beruhigende Prognose wagen: Dieser weltweite Supermechanismus wird sich auflösen, noch lange bevor der Mensch im Kosmos den Omegapunkt erreicht hat.

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   Der Organisationsmensch  

 

Weder die antike noch die moderne Megamaschine, wie automatisch ihre einzelnen Mechanismen und Arbeitsgänge auch sein mögen, hätten ohne die bewußte Erfindungstätigkeit des Menschen entstehen können; und die meisten Attribute dieses großen kollektiven Gebildes waren zuerst in einer uralten archetypischen Figur verkörpert: im Organisationsmenschen. Vom primitivsten Ausdruck der Stammeskonformität bis zur höchsten politischen Autorität ist das System selbst eine Erweiterung des Organisations­menschen — er ist zugleich Schöpfer und Geschöpf, Urheber und Opfer der Megamaschine.

Ob die Arbeitsmaschine oder die Militärmaschine zuerst entstanden ist, ob die allgemeine Struktur der Bevormundung zuerst vom Priester, vom Bürokraten oder vom Soldaten entwickelt wurde, sind müßige Fragen, da für ihre Beantwortung keine gesicherten Daten vorhanden sind. Wir müssen mit unserer Beschreibung des Organisationsmenschen an dem Punkt beginnen, wo er durch Dokumente und symbolische Beweise sichtbar wird. Da die ersten konkreten Aufzeichnungen, nach den paläolithischen Höhlen, Tempelrechnungen sind, die Empfang und Ausgabe von Getreide registrieren, ist es wahrscheinlich, daß die peinlich genaue Ordnung, welche die Bürokratie in jeder Phase kennzeichnet, ursprünglich von den rituellen Gepflogenheiten des Tempels stammt; denn diese Art von Ordnung ist unvereinbar mit den gefährlichen Abenteuern der Jagd oder den unberechenbaren Wendungen des Krieges. Doch auch was diesen betrifft, gibt es bemerkenswert frühe Aufzeichnungen mit genauen Zahlen über Kriegsgefangene, requiriertes Vieh und andere Kriegsbeute. Schon auf dieser frühen Stufe ist der Organisationsmensch an seiner Sorge um quantitative Buchführung zu erkennen.

In den späteren Prozessen der Organisierung und Mechanisierung muß man jedoch die angeborene, tief im menschlichen Organismus verwurzelte — und auch bei vielen anderen Spezies anzutreffende — Fähigkeit sehen, Verhalten zu ritualisieren und Befriedigung in einer repetitiven Ordnung zu finden, die den Menschen mit organischen Rhythmen und kosmischen Ereignissen verbindet.

Dieser ursprünglichen Masse repetitiver, standardisierter Handlungen, die sich zunehmend von anderen körperlichen und geistigen Funktionen trennten, scheint der Organisationsmensch entsprungen zu sein. 

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Oder, um es umgekehrt auszudrücken, wenn man die Organe und Funktionen des menschlichen Körpers und außerdem das historisch Erworbene — Kunst und Kultur — abzieht, bleiben nur das mechanische Gerippe und die Muskelkraft übrig, die für das Wirbeltier lebenswichtig, für sich allein aber funktions- und bedeutungslos sind.

Unser Zeitalter hat dieses ideale Geschöpf als Roboter wiedererfunden; aber als erkennbarer Teil des menschlichen Organismus und als integraler und unentbehrlicher Aspekt aller Kultur war die Organisation selbst stets vorhanden. Gerade weil mechanische Ordnung bis zu diesen Uranfängen zurückverfolgt werden kann und weil die Mechanisierung in der menschlichen Entwicklung stets eine Rolle gespielt hat, können wir heute verstehen, welche Gefahr eine Isolierung des Organisationsmenschen als selbständige Persönlichkeit darstellt, losgelöst vom natürlichen Lebensraum und von den kulturellen Faktoren, mit ihren Begrenzungen und Hemmungen, die einen vollends menschlichen Charakter garantieren.

Der Organisationsmensch kann also, kurz gesagt, als jener Teil der menschlichen Persönlichkeit definiert werden, dessen weitere Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten unterdrückt wurden, um die verbleibenden Teilenergien zu kontrollieren und sie in ein mechanisch geordnetes kollektives System einzugliedern. Der Organisationsmensch ist das Bindeglied zwischen dem antiken und dem modernen Typus der Megamaschine; vielleicht haben sich deswegen die spezialisierten Funktionäre mit der sie stützenden Schicht von Sklaven, Soldaten und Untertanen — kurz, die Herrschenden und die Beherrschten — in den letzten fünftausend Jahren so wenig verändert.

Wie jeder andere kulturelle Typus ist der Organisationsmensch ein menschliches Artefakt, obgleich der Stoff, aus dem er gemacht ist, zum System der organischen Natur gehört. Historisch gesehen ist es ein Anachronismus, den Organisationsmenschen als rein neuzeitliches Produkt oder einzig als Produkt einer entwickelten Technologie hinzustellen: Er ist vielmehr ein äußerst primitiver Idealtypus, der aus den weit reicheren Entwicklungsmöglichkeiten des lebenden Organismus herausgeschnitten ist, dem die meisten Lebensorgane entfernt oder einbalsamiert und gedörrt wurden und das Gehirn eingeschrumpft, um den Erfordernissen der Megamaschine entgegenzukommen. (Der heute geläufige Beiname für einen solcherart reduzierten Menschen — Schrumpfkopf — ist mörderisch in seiner Treffsicherheit.)

Für den begrenzten Bereich der amerikanischen Großkonzerne gibt T.H. White eine klassische Beschreibung von Auswahl, Ausbildung und Disziplinierung des Organisationsmenschen auf den höheren Kommandostufen, von der Verwandlung der glücklichen — oder zumindest glücksuchenden — Minorität in reibungslos funktionierende Komponenten des größeren Mechanismus.

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Doch dies ist nur ein kleiner Teil der Konditionierung, die mit der Erziehung des Kleinkinds zur Reinlichkeit beginnt und, durch Gleichsetzung von Wohlfahrtsstaat und Militärstaat, schließlich jeden Aspekt des Lebens bis zum Tod und zur Organtransplantation umfaßt.

Das Maß an äußerem Druck, das notwendig ist, um den Organisationsmenschen zu formen, ist wahrscheinlich nicht größer als das, welches irgendeine Stammesgemeinschaft benötigt, um die Einhaltung alter Traditionen und Rituale zu sichern; tatsächlich können allgemeine Schulpflicht, Wehrpflicht und Massenmedien in der modernen Gesellschaft Millionen Menschen ebenso leicht nach ein und derselben Schablone prägen wie einige hundert Menschen, die einander von Angesicht zu Angesicht gegen­überstehen. Der Soziologe Max Weber meinte, die »bürokratische Persönlichkeit« (wie er es nannte) sei zum vorherrschenden Idealtypus der modernen Welt bestimmt. Sollte die gegenwärtige Kräftekonstellation ohne Nachlassen oder Richtungsänderung weiterwirken, könnte diese Prophezeiung ohne weiteres in Erfüllung gehen.

Die charakteristischen Eigenschaften des Organisationsmenschen entsprechen weitestgehend der Maschine, die er bedient; daher verstärkt jener Teil seiner Persönlichkeit, der in mechanische Vorrichtungen projiziert wurde, seinerseits diese Projektion, indem er alle nicht konformen organischen oder menschlichen Funktionen eliminiert. Jede Menscheneinheit trägt den Stempel mechanischer Regelmäßigkeit: das Programm zu befolgen, den Anweisungen zu gehorchen, den Schwarzen Peter weiterzugeben, sich nicht persönlich mit den Nöten anderer Personen zu befassen, nur auf das zu reagieren, was unmittelbar vor einem, sozusagen auf dem Schreibtisch, liegt, und keine menschliche Rücksicht zu üben, wie lebenswichtig sie auch sein mag; niemals den Sinn einer Anweisung anzuzweifeln oder nach deren Endzweck zu fragen; jeden Befehl auszuführen, gleichgültig, wie sinnlos er erscheint, kein Urteil über Wert und Relevanz der anfallenden Arbeit abzugeben und schließlich Gefühle, Emotionen oder moralische Bedenken, die den Arbeitsablauf behindern könnten, auszuschalten — dies sind die Standardpflichten des Bürokraten; und es sind auch die Bedingungen, unter denen der Organisationsmensch gedeiht, faktisch ein Automat innerhalb eines kollektiven Automationssystems. Das Vorbild des Organisationsmenschen ist die Maschine. Und je vollkommener der Mechanismus wird, desto kleiner und bedeutungsloser wird der Rest von Leben, der nötig ist, um den Prozeß weiterzuführen.

Letztlich hat der Organisationsmensch nur als entpersönlichter Servomechanismus in der Megamaschine eine Daseins­berechtigung. In diesem Sinn müßte man Adolf Eichmann, den willfährigen Menschenvertilger, der Hitlers Politik und Himmlers Anordnungen mit unbeirrbarer Genauigkeit ausführte, als den Helden unserer Zeit feiern.

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Aber unsere Zeit produzierte unglücklicherweise viele solche Helden, die bereit waren, aus sicherer Entfernung, mit Napalm oder Atombomben, durch einen bloßen Knopfdruck das zu tun, was die Menschenvertilger in Belsen und Auschwitz mit relativ altmodischen Methoden taten. Diese waren langsamer, aber viel wirtschaftlicher dank sorgfältiger Verwertung der Nebenprodukte — der menschlichen Abfälle, des Zahngolds, des Fetts, des Knochenmehls für Kunstdünger — sogar der Haut für Lampenschirme. In jedem Land gibt es heute unzählige Eichmanns in Verwaltungsbüros, in Wirtschaftsunternehmen, in Universitäten, in Laboratorien, beim Militär: ordentliche, gehorsame Leute, die bereit sind, jedes offiziell sanktionierte Phantasieprojekt auszuführen, wie entmenschlicht und niederträchtig es auch sein mag.

Je mehr Macht dem Organisationsmenschen gegeben wird, desto weniger Skrupel hat er, sie anzuwenden. Und was diesen Idealtypus noch bedrohlicher macht, ist, daß er so täuschend menschlich aussieht. Sein Robotermechanismus simuliert Fleisch und Blut; und wenn man von ein paar Troglodyten absieht, unterscheidet ihn äußerlich nichts von einem vernünftigen menschlichen Wesen, manierlich, bescheiden und sogar liebenswürdig. Wie Himmler, kann er auch ein »guter Familienvater« sein.

Dieser Typus war in früheren Kulturen nicht unbekannt; sogar in unserer Zeit veranstalteten diese Servomechanismen altrömische Gladiatorenkämpfe und bedienten sich der knochenbrechenden Folterwerkzeuge der heiligen Inquisition. Doch bevor die Megatechnik in alle Bereiche eindrang, hatte der Organisationsmensch weniger Möglichkeiten: Er war in der Minderheit, größtenteils auf die Bürokratie oder die Armee beschränkt. Heute hingegen tritt er in Massen auf; und da er, wenn er um sich schaut, nur Seinesgleichen erblickt, betrachtet er sich selbst als normales Exemplar der menschlichen Spezies.

Wie wirkungsvoll die vom Organisationsmenschen erwarteten Reaktionen blinden Gehorchens in die moderne Persönlichkeit eingebaut wurden, zeigt ein psychologisches Experiment unter der Leitung von Dr. Stanley Milgrim in Yale, über das in The Journal of Abnormal and Social Psychology berichtet wurde.

Der Experimentator versuchte herauszufinden, welche Art von Menschen imstande wäre, auf Befehl ihre Mitmenschen in Gaskammern zu schicken oder ähnliche Greueltaten wie in Vietnam zu begehen. Man wählte vierzig Versuchspersonen aus verschiedenen Altersklassen aus und sagte ihnen, das Experiment sei eine wissenschaftliche Untersuchung der Auswirkung von Strafen, in Form von Elektroschocks, auf den Lernprozeß.

Die Versuchspersonen wurden vor ein Armaturenbrett mit dreißig Schaltern gesetzt. Im Raum nebenan war durch eine Glaswand ein Lernender zu sehen, der auf seine Rolle entsprechend vorbereitet war, scheinbar auf einem elektrischen Stuhl, tatsächlich jedoch an keinen Strom angeschlossen.

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An den Schaltern, die von den Versuchspersonen benutzt wurden, waren Schilder angebracht, denen zufolge mit jedem Schalter ein bestimmter Schock, von leicht bis schwer, als Strafe für Fehlverhalten ausgelöst werden konnte. Nach dem Schalter, der mit »Gefahr: Schwerer Schock« bezeichnet war, gab es zwei weitere Schalter, die die drohende Aufschrift »XXX!« trugen. Wie verabredet, reagierte der Lernende mit Schmerzensschreien, wenn der 300-Volt-Schalter betätigt wurde, klopfte aber dennoch an die Wand und forderte den Lehrer auf, fortzufahren. Zu diesem Zeitpunkt waren noch zehn weitere Schalter übrig, die stufenweise höhere Spannung und größere Schmerzen anzeigten.

Von vierzig Versuchspersonen widersetzten sich nur vierzehn den Anordnungen des Experimentators und weigerten sich, fortzufahren, wenn die Reaktion starken Schmerz oder Qual anzeigte. Zu ihrer Ehre zeigten sich einige der Versuchspersonen, die fortfuhren, von dem Experiment erschüttert; doch »im Interesse der Wissenschaft« gingen 65 Prozent über den Gefahrpunkt hinaus.

Obwohl ein Experiment an nur vierzig Versuchspersonen keinen wirklichen Aufschluß gibt, hilft es doch das Verhalten vermeintlich zivilisierter Menschen in verschiedenen Zeitaltern erklären, die im Namen der höchsten Autoritäten — der königlichen, geistlichen, militärischen oder (wie heute) der wissenschaftlichen — gräßlichen Foltern beiwohnten oder sie sogar selbst ausführten. Dies ist besonders leicht möglich in einer Kultur wie der unseren, die dem Glauben huldigt, im Sinne der Objektivität aus rein wissenschaftlichen Experimenten Gefühle, Emotionen, ja alle subjektiven Reaktionen eliminiert werden müssen. In jenem Test hörten die Teilnehmer auf, verständnisvolle, mitfühlende Menschen zu sein: Die Mehrheit war bereit, Foltern nicht nur mitanzusehen, sondern sie unter autoritärer Leitung auch selbst auszuführen. Dieses Experiment erklärt vielleicht, warum sadistische Praktiken, die zuerst unter angeblich streng wissenschaftlicher Disziplin mit der Vivisektion von Tieren eingeführt wurden, heute weit über diese Grenzen hinausgehen.

Wenn diese Charakterisierung als gröbste Verzerrung erscheint, so nur deshalb, weil die Realität so selbst­verständlich geworden ist, daß wir sie nicht einmal mehr zu erkennen vermögen. Ich möchte deshalb als Beleg die Worte eines prominenten Biologen anführen, eines Nobelpreisträgers, der von seinen Kollegen als führend auf seinem Gebiet geschätzt wird. Beurteilt man ihn nach seinen Schriften, so erscheint er als rationale, normale Persönlichkeit, frei von irgendwelchen erkennbaren neurotischen Zwängen oder Verirrungen. Diese attraktiven Wesenszüge verstärken leider das Gewicht der Gedanken über den menschlichen Fortschritt, die er als Genetiker einer Gruppe von wissenschaftlichen Kollegen vortrug.

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Dieser Wissenschaftler sagte: »Der Mensch als Ganzes muß sich weiterentwickeln, um seiner besten Errungenschaften würdig zu sein. Wenn der Durchschnittsmensch die von der Wissenschaft erschlossene Welt nicht zu begreifen vermag, wenn er die technischen Mittel, die er heute anwendet, sowie deren weitere und größere Auswirkungen nicht verstehen lernt, wenn er nicht imstande ist, bewußt am großen Unternehmen der Menschheit teilzunehmen und in einer konstruktiven Rolle darin echte Erfüllung zu finden, wird er zu einem immer bedeutungsloseren Schräubchen einer riesigen Maschine werden. In dieser Situation werden seine Fähigkeit, sein Schicksal selbst zu bestimmen, und sein Wille, dies zu tun, dahinschwinden, und die Minderheit, die über ihn herrscht, wird schließlich Mittel und Wege finden, ohne ihn auszukommen.«

Ich habe diesen Wissenschaftler nicht erfunden: Sein Name ist Herman Muller. Noch bevor Muller die Eigenschaften und Zwecke der neuen Megamaschine beschrieb, hatte ich bereits sowohl den alten als auch den modernen Typus identifiziert. Es ist bemerkenswert, daß ich nach zehnjährigem Studium eine lange Liste von Wissenschaftlern anführen könnte, die Mullers Feststellung unterstützen und von denen einige nicht weniger prominent sind als Muller. Beunruhigend ist, daß mit der gleichen Motivierung, die Muller benützte, Hitler die Juden für ungeeignet befand, an seinem großen Unternehmen teilzunehmen und »in einer konstruktiven Rolle darin echte Erfüllung zu finden«. Eichmann und seine Kollegen erhielten Befehl, ihre Opfer in die Gaskammern zu treiben, um die Endlösung für jene wertlosen Nichtarier zu vollziehen.

»Mittel und Wege finden, um ohne ihn auszukommen«, scheint eine harmlose Redewendung zu sein; aber ist ihre Harmlosigkeit nicht unheilverkündend? Wäre es nicht ehrlicher gewesen, zu sagen: »ihn loszuwerden«? Diese treuen Knechte der Megamaschine nehmen bereits mit Sicherheit an, daß es nur eine akzeptable Weltanschauung gibt, und zwar jene, für die sie eintreten: Nur eine Art von Wissen, eine Art menschlichen Handelns hat Wert — ihre eigene, oder jene, die sich direkt aus der ihren ableitet. Letztlich meinen sie, daß nur eine Art von Persönlichkeiten als wünschenswert anzusehen sei — jene, die in der militärisch-industriell-wissenschaftlichen Elite, die die Megamaschine bedient, verkörpert ist.

Diesen Führern erscheint ihre Position so unanfechtbar, daß sie sich bereits das Recht anmaßen, auf Grund ihrer eigenen unmaß­geblichen Meinung Persönlichkeitstypen zu etablieren und jene, die ihre Methoden angreifen oder die Gültigkeit ihrer Ziele bezweifeln, einzuschüchtern, zu unterdrücken, oder, wenn nötig, »ohne sie auszukommen«. Dies also ist die letzte Forderung des Organisationsmenschen: das Recht, die Welt nach seinem eigenen verkümmerten Ebenbild umzugestalten.

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   Die Technik der totalen Kontrolle 

 

Bisher weist die menschliche Kultur in ihrer Entwicklung viele Merkmale auf, die in der Evolution der Arten entdeckt wurden: Die Tendenz zu Abschließung und isolierter Entwicklung in adaptiver Wechselwirkung mit der Umwelt wurde durch Entdeckungen und Wanderungen aufgewogen, die die Möglichkeiten von gegenseitigem Austausch, Vermischung und wechselseitiger Kommunikation erweiterten. Zwar sagt man der Bequemlichkeit halber der Mensch, doch ist dies bloß ein sprachlicher Trick: denn ein solch gleichförmiges und universales Geschöpf existiert nur im statistischen Sinn. Bis heute war keine einzelne politische Struktur, keine einzelne Ideologie, keine einzelne Technologie, kein einzelnes Persönlichkeits­typus je auf dem ganzen Planeten vorherrschend. Noch nie war der Mensch homogenisiert.

Was auf die menschlichen Lebensräume und die menschliche Kultur zutrifft, gilt gleicherweise für die historische Bedingtheit des Menschen. So wie keine einzelne Religion oder Kultur je alle Möglichkeiten der menschlichen Entwicklung enthalten kann, vermag auch keine einzelne Generation alle diese Potentialitäten zu verkörpern. Tatsächlich war vor unserer eigenen noch keine Generation so einfältig, es für möglich zu halten, ausschließlich innerhalb ihres engen Zeitraumes zu leben, nur von Wissen geleitet, das erst jüngst entdeckt wurde; und noch nie zuvor hat eine Generation ihre Forderungen als endgültig und absolut akzeptiert, ohne sie mit historischer Erfahrung oder Zukunftsprojekten und idealen Möglichkeiten zu verbinden. Die Schibboleths der Jetzt-Generation treffen nicht einmal auf die tierische Existenz zu, denn alle höheren Organismen sorgen für ihre Zukunft, durch Kopulation und Aufzucht der Jungen; und einige nehmen sogar zukünftige Bedürfnisse vorweg und speichern Nahrung.

Um der Kontinuität und der kulturellen Akkumulation willen haben frühere Kulturen gewöhnlich Brauch und Tradition überbewertet und sogar lieber die Fehler beibehalten, um nicht mit deren Ausmerzung auch die Errungenschaften preiszugeben. Doch die Idee, daß die Vergangenheit, statt respektiert zu werden, liquidiert werden müsse, ist ein besonderes Merkmal des megatechnischen Machtsystems. Der Anthropologe Raglan vermerkte dies mit ernüchternden Worten: »Es wird häufig angenommen, der Verfall sei auf die lähmende Last des Konservativismus zurückzuführen, und gewiß stimmt es, daß religiöse oder politische Theorien, die den Glauben an die Unfehlbarkeit der Alten implizieren, oft zu Verfall führen müssen . .. Anderseits wird viel seltener erkannt, daß der Verfall der Kultur noch schneller durch Mißachtung der Vergangenheit herbeigeführt werden kann.«

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Wenn eine Kultur, wie die heutige, ihre Vergänglichkeit und Kurzlebigkeit kultiviert, als ob Dynamik ein absoluter Wert und Stabilität ein Handikap wäre, ignoriert sie die offensichtlichen Tatsachen nicht nur der organischen Kontinuität, sondern auch der physischen Existenz. Wären alle chemischen Elemente so wenig stabil wie die radioaktiven, dann wäre auf unserer Erde niemals organisches Leben entstanden — ja es gäbe nicht einmal einen Planeten wie den unseren, der, wie Lawrence Henderson nachweist, für das Leben prädisponiert ist.

Trotz vieler Fixierungen, Stockungen, Rückschläge und Verluste sind die kumulativen Ergebnisse der menschlichen Entwicklung in den letzten hunderttausend Jahren an Reichtum und Mannigfaltigkeit denen vergleichbar, die die Natur in der Entwicklung der Arten nur im Schneckentempo erreichen konnte. Jede Rasse, jede Kultur, jeder Stamm, jede Stadt, ja jedes Dorf hat neue Typen der Spezies Mensch hervorgebracht — stets ähnlich genug, um als Homo sapiens identifizierbar zu sein, doch auch unterschiedlich genug, um die Möglichkeit höherer und reicherer Errungenschaften zu bieten. Selbst bei jenen Attributen, die allen Menschenrassen gemeinsam sind, wie Sprache, soziale Organisation und Moralnormen, gab es von Beginn an eine bipolare Entwicklung: Die eine Tendenz geht zu Individualisierung und Autonomie, die andere zu breiterer Assoziation und Homogenität; die eine ist egozentrisch, lokalisiert und von innen gelenkt, die andere strebt nach Uniformität, Universalität und Globalität.

Von Zeit zu Zeit drangen diese Entwicklungen in das bewußte Denken des Menschen ein, was manchmal zu erstaunlich tiefen Erkenntnissen bei primitiven Völkern führte. Doch erst in den letzten Jahrhunderten begann man die Bedingungen zu analysieren, unter denen die menschliche Kultur sich entwickelte, und zwischen positiven Wachstumsformen und pathologischen Abweichungen zu unterscheiden, die zu Funktionsstörungen und Tod führen. Man kann nicht behaupten, daß das heutige Wissen auf den Gebieten der Archäologie, der Anthropologie und der Geschichte genügend umfassend und fundiert ist, um mehr als ein vielversprechender Ansatz zu gültigen Wahrheiten zu sein. Doch haben wir bereits ein genügend klares Bild von der biologischen und der gesellschaftlichen Evolution, um zu erkennen, daß die auf Mannigfaltigkeit, Selektion und Veränderung hinwirkenden Faktoren durch jene ausgeglichen werden müssen, die auf Kontinuität, Regelmäßigkeit, Stabilität und Universalität hinwirken; und daß Leben und Wachstum bedroht sind, wenn eine der beiden Komponenten fehlt.

Obwohl wir noch nicht genug Distanz haben, um ein völlig objektives Urteil abzugeben, ist es doch klar, daß unsere eigene Kultur in einen gefährlich unausgeglichenen Zustand geraten ist und nun ein verzerrtes, einseitiges Denken entstehen läßt.

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Ein Teil unserer Zivilisation — der mit der Technologie verbundene — hat die Herrschaft über alle anderen Komponenten, die geographischen, die biologischen und die anthropologischen, an sich gerissen; tatsächlich verkünden die fanatischsten Befürworter dieses Prozesses, die gesamte biologische Welt werde heute von der Technik ersetzt, und der Mensch werde entweder zur willfährigen Kreatur seiner Technologie werden oder überhaupt zu existieren aufhören.

Die Megatechnik verlangt nicht nur in menschlichen Belangen den Vorrang; sie stellt die Forderung nach technologischer Veränderung über jede Erwägung ihrer eigenen Effizienz, ihrer eigenen Kontinuität und ironischerweise sogar ihrer eigenen Lebensfähigkeit. Um ein solches System aufrechtzuerhalten, das den grundlegenden Postulaten aller lebenden Organismen widerspricht, muß es durch absolute Konformität der menschlichen Gemeinschaft geschützt werden; zur Herstellung dieser Konformität ist ein System totaler Kontrolle vorgesehen, die beim menschlichen Organismus, noch ehe er überhaupt gezeugt ist, beginnt. Die Mittel zur Herstellung dieser Kontrolle liefert die Megamaschine; und ohne den subjektiven Mythos der Maschine, in dem diese als allmächtig, allwissend und allvermögend erscheint, wäre es nicht schon heute so weit gekommen.

Greifen wir noch einmal auf die Liste der möglichen künftigen Erfindungen zurück, die jene, welche sich dem Mythos der Maschine ergeben haben, heute so eifrig propagieren: auf eine so plausible Liste, wie sie beispielsweise Arthur Clarke aufgestellt hat. Von mehr als einem Dutzend technischer Errungenschaften, die er anführt, von der Mondlandung bis zur Wetterbeeinflussung, vom künstlichen Scheintod bis zum künstlichen Leben, hat keine auch nur die geringste Beziehung zur entscheidenden historischen Aufgabe des Menschen, die heute dringlicher ist denn je - der Aufgabe, menschlich zu werden. Wenn nur eine einzige Generation dieser Aufgabe nicht gerecht wird, könnte dies die auf Abwege geratene menschliche Gesellschaft um eine ganze geologische Epoche zurückwerfen; und es gibt Gründe, zu befürchten, daß dies in unserer Zeit bereits zu geschehen beginnt.

Die einzigen Entdeckungen und Erfindungen, die diese Propheten der Technologie nicht berücksichtigen, sind jene inneren menschlichen Instrumente, die schließlich die Technik selbst unter ständige menschliche Bewertung und Lenkung bringen würden. Im Gegenteil: um solche Gegenangriffe im Keim zu ersticken, propagieren sie den Glauben, die Technik biete heute die einzig vorstellbare und annehmbare Art zu leben.

Die Schaffung eines beschränkten, gefügigen, wissenschaftlich konditionierten menschlichen Tieres, das total einer rein technischen Umwelt angepaßt ist, hat mit der raschen Umgestaltung dieser Umwelt selbst Schritt gehalten; es wurde, wie bereits festgestellt, teils durch Verstärkung der Konformität mit Hilfe greifbarer Belohnungen erreicht, teils durch die Versperrung jeder realen Alternative, außerhalb der Grenzen des megatechnischen Systems.

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Amerikanische Kinder, die laut Statistik drei bis sechs Stunden täglich vor dem Fernsehschirm verbringen, deren Kinderlieder Werbetexte sind und deren Wirklichkeitssinn abgestumpft ist durch eine Welt, die vom täglichen Umgang mit Superman, Batman und deren monströsen Verwandten beherrscht wird, werden nur mit heldenhafter Anstrengung fähig sein, sich von diesem System genügend zu lösen, um ein gewisses Ausmaß an Autonomie zu erlangen. Die Megamaschine hat sie unter Fernkontrolle und formt sie nach ihren Stereotypen, weit wirksamer als der autoritärste Vater. Kein Wunder, daß die erste Generation, die unter dieser Vormundschaft aufgewachsen ist, sich in einer Identitätskrise befindet.

Diese Koordinierungsmethode hat bereits einen neuen psychologischen Typus geschaffen: einen Typus, der fast von Geburt an den Stempel der Megatechnik in all ihren Formen trägt — außerstande, direkt auf Bilder und Geräusche, auf Muster oder konkrete Objekte zu reagieren, außerstande, in irgendeiner Hinsicht ohne Angst zu handeln, ja außerstande, sich lebendig zu fühlen, außer mit Erlaubnis oder auf Befehl der Maschine und mit Hilfe der außerorganischen Apparatur, die der Maschinengott zur Verfügung stellt. In einer Vielzahl von Fällen hat diese Konditionierung bereits den Punkt totaler Abhängigkeit erreicht; und dieser Zustand unterwürfiger Konformität wurde von den gefährlicheren Propheten dieses Systems als die endgültige Befreiung des Menschen begrüßt. Aber Befreiung wovon? Befreiung von den Bedingungen, unter denen der Mensch gedeiht: nämlich in einer aktiven, wechselseitig förderlichen Beziehung des Gebens und Nehmens mit einer mannigfaltigen und empfänglichen, unprogrammierten menschlichen und natürlichen Umwelt — einer Umwelt voll von Schwierigkeiten, Versuchungen, schweren Entscheidungen, Herausforderungen, angenehmen Überraschungen und unerwarteten Belohnungen.

Wiederum schienen die ersten Schritte zur Herstellung von Kontrolle harmlos zu sein. Man denke an B. F. Skinners Lernmaschine. Als Lehrmethode in Gegenständen wie Sprachen, die viel Wiederholung und Korrektur erfordern, um genau zu memorieren, mag eine solche Maschine vielleicht die Last des Lehrers erleichtern und den Schüler befähigen, rascher den Punkt zu erreichen, wo der Lehrer ihm bei Problemen, die nicht in einer Maschine programmiert werden können, aktive Hilfe zu leisten vermag. Dies kann, muß aber nicht unbedingt, Lehrern und Schülern zum Vorteil gereichen.

Wie so viele andere technischen Einrichtungen können Lernmaschinen nützliche Hilfsmittel sein. Aber die Tendenz der Megatechnik, deren Hauptzweck es ist, den diese Maschinen verwendenden Konzernen maximale Profite zu sichern, geht dahin, solche gelegentlichen kleineren Hilfsmittel in große permanente Einrichtungen umzuwandeln und die Verwendung der Maschine auf jeden Gegenstand im Lehrplan und auf alle Altersstufen auszudehnen.

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 Das bedeutet, der mechanischen und elektronischen Ausstattung die Zeit, die Mühe, das Geld und das Gefühl zuzuwenden, die für menschliche Beziehungen und menschliche Personen aufgewendet werden sollten. Schließlich würden frühzeitig geübte Lerngewohnheiten und systematisches Gedächtnistraining eine bessere Ausbildung gewährleisten als ganze Batterien von Maschinen - und wären auch in viel größerem Umfang anwendbar. Doch solche menschlichen Mittel bringen keine Dividenden.

Eine programmierte Pseudoerziehung ist in der Tat das perfekte Instrument des politischen Absolutismus, und die allgemeine Einführung dieses Systems wäre verhängnisvoll für selbständiges Urteilen, kritisches Widersprechen und schöpferisches Denken. In der nachnapoleonischen Bürokratie Frankreichs konnte der Erziehungsminister sich rühmen, genau zu wissen, was jeder Lehrer zu einer bestimmten Stunde in jeder Schule lehrte. Aber diese Art von Kontrolle war noch nicht geeignet, den menschlichen Dialog völlig zu unterdrücken und jede spontane menschliche Reaktion auszuschalten; denn der Lehrer war immer noch eine konkrete Person, der man widersprechen, trotzen und den Gehorsam verweigern konnte; und die Schüler einer Klasse, mochte die Disziplin auch noch so streng sein, stärkten einander durch ihre Gegenwart und vermochten auf ihren Lehrer einzuwirken - und sei es auch nur durch Unfug und Unordnung! Solche Kontakte spotteten der Prahlereien des Ministers über die angebliche Uniformität. Diese letzten Spuren menschlichen Kontakts zu beseitigen — das heißt, Isolierung und totale Unterwerfung zu gewährleisten —, bemüht sich die heutige Technik.

Angesichts des Lehrermangels suchen bürokratische Erziehungs-Experten eifrig nach mechanischen Lösungen für jede Schwierigkeit, anstatt ihre Bemühungen darauf zu verwenden, geeignete Personen in größerer Zahl für den Lehrerberuf zu gewinnen und die sterilen, Energie und Interesse abtötenden Prozeduren zu vermindern. Sie fördern nicht nur die erweiterte Anwendung von Lernmaschinen und Computern, sondern sind auch emsig bemüht, andere Formen einseitiger Kommunikation auszunützen, etwa Fernsehsendungen via Satelliten für das ganze Netz, um solche Relikte der zweiseitigen Kommunikation und aktiven Teilnahme zu verdrängen, wie sie in gewissem Ausmaß selbst in den schlechtesten Schulen existieren, wo Lehrer und Schüler einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.

Diese Methode, sich auf die mechanische Lösung des Quantitätsproblems zu verlassen, wo in Wirklichkeit mechanische Vereinfachung und menschliche Bereicherung nötig ist, festigt das System, das von der alt-neuen Megamaschine eingeführt wurde.

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Heute ist die einfache Lernmaschine bereits überholt. Auf der New Yorker Weltausstellung 1964 wurde die Schule der Zukunft in ihrer endgültigen Raumkapsel-Form präsentiert; jeder Student wird in eine Art einsame Lern-Larve verwandelt und verbringt den ganzen Tag in einem geschlossenen, eiförmigen Abteil, wo die von einer Zentralstation aus eingeschleuste Information an ihn verfüttert wird. So weicht das Motto der Großbäckereien und Nahrungsmittelfabriken, »Nichts von Menschenhand berührt«, dem noch dreisteren des mechanistischen Behaviorismus: »Nichts von der menschlichen Persönlichkeit berührt«. Die Einzelzelle, bis auf Verstümmelung eine der grausamsten Formen der Bestrafung, wird heute als normales Unterrichtsmittel vorgeschlagen.

Dieses Mittel soll nicht nur dazu dienen, den Schüler von wechselseitigen menschlichen Kontakten fernzuhalten, sondern ihn auch von jeder Berührung mit der realen Welt isolieren, außer mit jenem Teil, der für ihn von einer höheren Autorität vorprogrammiert wurde, so daß er noch vollständiger unter der Kontrolle der Megamaschine steht. Wenn dieses System sich durchsetzt, wird nicht nur das Lernen, sondern auch jede andere menschliche Tätigkeit über offizielle Kanäle und unter ständiger Überwachung durch eine zentrale Behörde vor sich gehen. Das ist nicht Erziehung, sondern Tierdressur. Da der Mensch das anpassungsfähigste aller Tiere ist, hat eine beachtliche Anzahl von Menschen, wenigstens in ihrem Denken, bereits diese sterile Auffassung vom Lernen übernommen. Offensichtlich ahnen sie nicht, daß diese Art technischen Fortschritts der menschlichen Persönlichkeit Gewalt antut, ja, daß er ein beunruhigendes Zeichen menschlicher Regression ist.

Unsere Zeitgenossen sind bereits so daran gewöhnt, den technischen Fortschritt als absolut und unaufhaltsam zu akzeptieren, wie schmerzhaft, häßlich, geistig verkrüppelnd oder physiologisch schädlich seine Resultate auch sein taögen, daß sie die neuesten technischen Angebote, vom Überschallflugzeug bis zur Lernzelle, mit freudiger Zustimmung aufnehmen, besonders dann, wenn dem Gerät noch eine wissenschaftliche Erklärung beigegeben ist und es eine technisch fortgeschrittene Type zu sein scheint.

Seinerzeit hat Tolstoi diese allgemeine Verirrung in seinem Essay Was ist Kunst? verspottet. Dort schildert er den modernen Menschen, wie er auf raffinierteste Weise die Fenster seines Hauses abdichtet und die Luft mechanisch absaugt, um dann mit Hilfe einer noch ausgefalleneren mechanischen Apparatur die Luft wieder zurückzupumpen — anstatt einfach die Fenster zu öffnen. Tolstoi ahnte nicht, daß dieser Unsinn kaum eine Generation später wirklich ausgeführt werden würde, nicht nur als durchaus zulässiges Mittel, Staub und giftige Abgase fernzuhalten oder übermäßige Hitze zu mildern, sondern auch in Häusern und Schulgebäuden mitten in der freien Natur, wo ringsum frische Luft ist und die natürlichen Geräusche weniger Lärm verursachen als das eingebaute Ventilationssystem.

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Tolstois Satire hat heute leider ihre Pointe verloren. Denn es ist etwas geschehen, das noch unverzeihlicher ist: Jeder Bereich der Umwelt wird nach den gleichen Prinzipien umgestaltet, um sicherzustellen, daß das Leben des Menschen in jedem Aspekt von außen gelenkt werden kann. In vergangenen Epochen war der technische Fortschritt oft behindert durch das Fehlen technischer Einrichtungen, den Mangel an sorgsam überprüfter Information oder theoretischem Wissen, das Nichtvorhandensein materieller Mittel zu ausreichendem Austausch und Zusammenwirken. Sonderbarerweise verhalten sich viele Menschen immer noch so, als mangelte es ihnen an diesen Dingen. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Kein Bereich der menschlichen Umwelt oder Organisation zeigt bislang irgendwelche Anzeichen von Stillstand oder übermäßiger Stabilität - außer der Automation selbst. Ganz im Gegenteil, die Technik hat eine ungestüme Dynamik hervorgebracht, da die einzig wirksame Art von Lenkung darauf gerichtet ist, alle Teile noch rascherer Veränderung zu unterwerfen, während das System selbst immer unbeweglicher und starrer wird. Der Mensch verliert auf diese Weise die Herrschaft über jeden Aspekt seines eigenen persönlichen Lebens: Er wird in ein Ding verwandelt, das dazu bestimmt ist, mit den gleichen Methoden, die den Atommeiler und den Computer hervorgebracht haben, kollektiv verarbeitet und umgeformt zu werden.

Die Bereitschaft des modernen Menschen, diese Außenlenkung zu akzeptieren, nachdem er in den vergangenen Jahrhunderten bereits ein beträchtliches Maß an kommunaler, korporativer und persönlicher Freiheit ausgekostet und genossen hattte, wurde sowohl durch äußeren Druck als auch durch innere Ängste gefördert. Das rein zahlenmäßige Wachstum - nicht nur der Gesamtbevölkerung, sondern auch der einzelnen gesellschaftlichen Gebilde, von Städten bis zu Armeen und Bürokratien - hat den Einzelmenschen furchtsam und unsicher gemacht. Er fühlt sich außerstande, Ereignisse zu meistern, die so weit über seinen Gesichtskreis oder seine physische Reichweite hinausgehen. »Fremd und voll Angst in einer Welt, die nicht von mir erschaffen.«

Sind seine kleinen, intimen Gemeinschaftsformen einmal eliminiert oder lahmgelegt, so sucht er Sicherheit in großen, unpersönlichen Organisationen, nicht allein beim Staat, sondern bei seinen Versicherungsvereinen oder Gewerkschaften, die ebenfalls wichtige Teile des Machtsystems sind. Leider bringt der Aufstieg dieser kollektiven Gebilde die Notwendigkeit immer weiterer Reglementierung und Machtzentralisierung mit sich. So bewirkt die Flucht vor der Freiheit, wie Erich Fromm vor dreißig Jahren aufzeigte, eine neue Art von Befreiung — die permanente Befreiung von Verantwortung und aktiver Entscheidung.

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In der Endphase der technischen Entwicklung werden die organisierten Wissenschaften, wie manche Science-Fiction-Autoren scharfsinnig entdeckt haben, versuchen, hauptsächlich mit physikalischen und chemischen Mitteln auf direktem Weg das zu vollbringen, was andere menschliche Institutionen — Religion, Moral, Recht — indirekt und mit nur teilweisem Erfolg durch Ermahnung, Überredung oder warnende Drohung zu erreichen suchten: nämlich die Natur des Menschen zu ändern. Die Wissenschaft schlägt unbekümmert vor, die Fähigkeiten des Menschen am Ursprung durch genetische Eingriffe und später durch weitere Programmierung seiner Existenz zu verändern, um keine unvorhergesehenen Abweichungen oder Rebellionen zuzulassen. Radikale Veränderungen, die Könige und Priester niemals erfolgreich durchführen konnten, es sei denn durch Verstümmelung, wollen die Wissenschaftler von heute kühn durch chirurgische Eingriffe, Chemotherapie und elektronische Kontrolle erzielen. Aber der Drang, Kontrolle auszuüben, ist so zwanghaft, daß diese Experimente finanzielle Unterstützung von philantropischen Stiftungen erhalten; so könnten, ehe noch diese Worte gedruckt sind, radikale Entscheidungen gefällt worden sein, die die Chancen für eine weitere menschliche Entwicklung gefährden.

Die deutlichste Vorwegnahme des grausigen Schicksals, das den Menschen erwartet, wenn er sich völlig der Megamaschine unterwirft, kommt von jener Gruppe, die heute alle strategischen Machtpositionen im modernen Staat besetzt hält: von den Wissenschaftlern. Man könnte Hunderte Beispiele ähnlicher subjektiver Verirrungen anführen, die in scheinbar vernünftiger Form als »die nächsten Stufen des Fortschritts« vorgebracht werden; ich werde mich jedoch auf einige typische Beispiele beschränken; zuerst ein aufschlußreiches wissenschaftliches Symposium über die Zukunft des Lebens, das von einer internationalen pharmazeutischen Gesellschaft als öffentliche Informationsarbeit geplant war und an dem ein stattliches Aufgebot berühmter Wissenschaftler teilnahm.

Die vorgelegten Arbeiten führten zu einer Diskussion darüber, welche Kontrollformen man anwenden könnte, um das genetische Niveau der Bevölkerung zu heben und ungünstige Gene, die nicht mehr durch natürliche Selektion ausgeschaltet werden, zu eliminieren. Dies warf die Frage der künstlichen Züchtung überlegener Erbanlagen auf, und das wiederum führte zu einer Auseinandersetzung, ob menschliche Wesen das natürliche Recht besäßen, ihre eigenen Kinder zu zeugen.

Zu diesem Thema war die Erklärung eines Wissenschaftshistorikers bezeichnend: »Im Anschluß an Cricks Stellungnahme zu dem humanistischen Streit, ob jedermann das Recht hat, Kinder in die Welt zu setzen, möchte ich sagen, daß in einer Gesellschaft, in der der Staat für die Wohlfahrt seiner Bürger — für Gesundheit, Spitäler, Arbeitslosenversicherung und so weiter — verantwortlich ist, die Antwort nur negativ sein kann.«

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Es mag unfair erscheinen, einen Gelehrten auf eine beiläufige Äußerung in einer Diskussion festzunageln, auch wenn er ihre Veröffentlichung zugelassen hat. Aber schon die Tatsache, daß er seine Antwort ohne jedes Zögern und ohne jede Einschränkung gab, zeigt an, daß diese Auffassung weit verbreitet ist. Allzu viele dieser selbsternannten Herrscher haben bereits gefordert, daß als Gegenleistung für erwiesene Wohltaten Gehorsam und strikte Befolgung der Anweisungen — ihrer Anweisungen — offiziell erzwungen werden, ganz so, wie es auf Grund der üblichen bürokratischen Gepflogenheiten in modernen Spitälern mit wehrlosen Patienten geschieht.

Dieser Zwang bedeutet mehr als die Befolgung ärztlicher Ratschläge, wie sie mit Recht jenen erteilt werden, die an schweren erblichen Gebrechen leiden. Er impliziert, wie der weitere Diskussionsverlauf zeigte, das Recht des Wissenschaftlers ein, anhand seiner provinziellen, zeitgebundenen Kriterien menschliche Idealtypen aufzustellen und auf dieser Basis Samen und Eizellen zur Fortpflanzung auszuwählen. Sir Francis Crick ging sogar noch weiter und sprach sich für das Recht aus, mit der Veränderung der menschlichen Gene zu experimentieren, wenngleich er zugab, daß dabei ungünstigenfalls auch Ungeheuer herauskommen könnten.

Manche Diskussionsteilnehmer ließen insbesondere eines vermissen: die Einsicht, daß jene, die über das nötige Wissen und Können zur Vornahme solcher Eingriffe verfügen, zwar ihre spezielle Eignung zur Bestimmung der Zukunft des Menschen­geschlechts eindeutig beweisen müßten. Das Fehlen solcher Beweise oder vielmehr der naive Glaube, wissenschaftliche Leistung wäre der einzig erforderliche Befähigungsnachweis, schien niemanden zu stören. Nach einer solchen Diskussion würde man kaum glauben, daß Tausende Jahre hindurch Tausende der weisesten Männer darüber nachgedacht haben, was die erstrebenswertesten Charaktereigenschaften seien, welche Züge modifiziert oder unterdrückt werden sollten und welche Charakterkombination — oder besser noch, welches Kollektiv von Charakteren — erstrebenswert wäre, um den idealen Menschen zu schaffen.

Eine Kultur nach der anderen gab ihre eigene Antwort auf diese Frage, indem sie Idealtypen schuf und sie in ihren Göttern, Helden, Heiligen und Weisen verkörperte. Es stellte sich jedoch heraus, daß keine dieser Idealgestalten oder ihrer Varianten jemals ganz gelungen und allgemein anwendbar war. Beschränkt man sich etwa auf die Griechen, so entsprechen weder Zeus noch Apollo, weder Prometheus noch Hephaistos oder Herakles, weder Achilles noch Odysseus allen Anforderungen. Wenden wir uns den bewußteren Bemühungen der Religionen und der Philosophie zu, einen idealen Menschentypus zu formulieren, so fällt die Wahl ebenso schwer:

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Der Konfuzianer, der Taoist, der Zoroastriker, der Buddhist, der Platoniker, der Stoiker, der Zyniker, der Christ und der Mohammedaner — sie alle bildeten ihre eigene Auffassung vom vollkommenen Menschen, oft in defensivem Gegensatz zu gröberen Typen, die in früheren Zivilisationen vorgeherrscht hatten. Aber keine dieser Idealformen erreichte Vollkommenheit in ihrem selbstgewählten Rahmen, wenngleich einzelne Persönlichkeiten, wie Sokrates oder Franz von Assisi, nahe daran waren. In einer der höchstentwickelten Kulturen der Geschichte, der hellenischen, wurde nie Konsens erzielt.

Dies heißt, so schließe ich daraus, daß der einzig gangbare Weg zur Lösung dieses Problems der ist, den die Natur vor langer Zeit eingeschlagen hat: für eine unendliche Vielfalt von biologischen und kulturellen Typen zu sorgen, da kein einzelner Typus, wie wertvoll und erfolgreich er auch sein mag, all die latenten Möglichkeiten des Menschen verkörpern kann. Keine einzelne Kreatur, keine einzelne Rasse und keine einzelne Periode kann mehr tun, als neue Variationen über dieses unerschöpfliche Thema zu schreiben.

Viele Biologen, deren Kenntnis der Evolution sich nicht auf Molekularphänomene beschränkt, sind überzeugt, daß die Vorstellung, einen signifikanten Teil der menschlichen Erbmasse durch spezifische Selektion von Genen einzelner Exemplare zu verbessern — ganz abgesehen von den Zweifeln an der technischen Durchführbarkeit —, eine Wahnidee ist: In der Rinderzucht erwiesen sich die Resultate allzu spezifischer Selektion, wie in dem berüchtigten Fall von Zwergwuchs beim Block Angus, sehr oft als Bumerang. 

Aber die Tatsache, daß so hervorragende Genetiker wie Muller und Crick sich einredeten, der direkte Eingriff sei nicht nur möglich, sondern erstrebenswert — »Man kann, darum muß man« —, zeigt, wie sehr die anmaßende pharaonische Vorstellung totaler Kontrolle von solchen Köpfen Besitz ergriffen hat. Wie bei der Tiefkühlung von Leichen für spätere Wiederbelebung, diesem modernen Äquivalent der Mumifizierung zwecks Erlangung der Unsterblichkeit, gehen auch diese Pläne auf die gleichen archaischen Phantasievorstellungen zurück, die mit dem Erfolg der ersten Megamaschine im Pyramidenzeitalter hervorbrachen. Die Schlußfolgerung scheint unausweichlich: Der einzige Teil der menschlichen Persönlichkeit, der sich bislang der rationalen Kontrolle entzieht, ist jener, der diese Phantasien gebiert.

Das Verdächtigste an dieser Diskussion ist aber nicht der Mangel an wissenschaftlicher Einsicht, sondern der an vernünftiger Selbsterkenntnis und Selbstkritik. Noch nie hat die Mißachtung der Geschichte, daß heißt, der akkumulierten menschlichen Erfahrung, sich so eindeutig als Quelle des Irrtums erwiesen. Ich spreche nicht nur von der Menschheitsgeschichte, sondern auch von der organischen Evolution.

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Jene Ameisenarten, die eine strikte Kontrolle bei der Züchtung spezieller Typen erreichten, sind seit rund sechzig Millionen Jahren unverändert geblieben. Sie lassen das endgültige Schicksal einer ähnlich gearteten menschlichen Bevölkerung erahnen. Oh schöne neue Welt!

In dieser neuen wissenschaftlichen Hierarchie kann man nur eine einseitige Kommunikation feststellen: Jene, die mit höchstem Sachverständnis über einen winzigen Sektor exakten Wissens sprechen, nehmen allzu häufig schamlos das Recht für sich in Anspruch, im Namen der Menschheit über allgemein menschliche Erfahrungen zu reden, über die sie nichts Besseres sagen können als gewöhnliche Sterbliche. In vielen Diskussionen über die wissenschaftlich gelenkte Zukunft wird das Recht des Volkes auf Widerstand überhaupt nicht erwähnt; während selbst in der Feudalgesellschaft, wie Marc Bloch nachgewiesen hat, die Vasallentreue, wie demütig sie auch sein mochte, ein echter Vertrag war, der auf Gegenseitigkeit beruhte; und das Recht auf Widerstand gegen ein ungerechtes oder willkürliches Regime war nicht nur vorausgesetzt, sondern oft ausdrücklich festgelegt. Der Souverän selbst war dem Volk Rechenschaft schuldig — »der Schweinehirt dem Herrn, der ihn beschäftigt«, schrieb ein Mönch aus dem Elsaß um 1090. Mit einer Reihe von Maßnahmen, häufig unter dem Deckmantel des öffentlichen Interesses, wird dieses kostbare Recht — das Recht auf Widerspruch und Widerstand — heute heimlich aufgehoben.

Sehr verdächtig in all diesen Diskussionen über künftige technische Möglichkeiten, hauptsächlich durch Extrapolierung vorhandener Tendenzen oder im Anfangsstadium befindlicher Erfindungen, ist der tief eingewurzelte Fatalismus, den sie enthüllen: Man weigert sich, die Möglichkeit einer totalen Umkehr bestehender Trends in Betracht zu ziehen. Dieser Fatalismus ist gleichermaßen charakteristisch für Soziologen wie Professor Jacques Ellul, der offenkundig die Übel der Megamaschine verabscheut, und für jene, die diese Entwicklung zu beschleunigen suchen, auch wenn dadurch viele kostbare menschliche Errungenschaften deformiert und vernichtet werden.

Ich will noch ein letztes Beispiel anführen, das ich nur deshalb wähle, weil es leider typisch ist. In Genetics and the Future of Man erklärt ein Sozialwissenschaftler, ein angesehener Fachmann für Bevölkerungspolitik, eine systematische genetische Kontrolle sei »unvermeidlich« und »würde der Wissenschaft und der Technik zugute kommen, weitere Verbesserungen der Erbmasse ermöglichen, damit wieder der Wissenschaft weiterhelfen, und so weiter in einer unendlichen Spirale«. Er gelangt zu dem Schluß: »Wenn der Mensch seine eigene biologische Evolution erobert, dann vermag er auch alles andere zu erobern. Er wird endlich Herr des Universums sein.«

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Das ist ein museumsreifes Beispiel archaischen wissenschaftlichen Denkens, das sich im Kreis dreht, denn die erste Voraus­setzung des Automatismus — etwas sei »unvermeidlich« — wird als Axiom hingestellt. Ein solcher Wissenschaftler ignoriert die Tatsache, daß jeder Punkt seiner Deduktion unbewiesen und unbeweisbar ist, angefangen von der Vorstellung, menschliche Entwicklung sei gleichbedeutend mit bedingungsloser Unterstützung von Wissenschaft und Technologie.

Selbst wenn die Wissenschaftler in der Lage wären, die spezifischen Eigenschaften zu erkennen, die den Embryo für diese Berufe prädisponieren, auf Grund welcher rationaler Kriterien könnte man sagen, daß die Verstärkung, Intensivierung oder weitere Verbreitung dieser Eigenschaften ein erstrebenswertes Ziel für den Menschen darstellen? Stärkere Gründe sprechen für die Annahme, daß aus einem weit reicheren genetischen Reservoir geschöpft werden muß — in der menschlichen Zukunft ebenso wie in der vormenschlichen Vergangenheit —, um weitere Verbesserungen zu erzielen; und daß es heute ganz anderer Charakter­eigenschaften und Menschentypen bedarf, um das gegenwärtige kulturelle Ungleichgewicht der Menschheit zu überwinden.

Wenn man Wissenschaftler und Technologen als das höchste Produkt der menschlichen Evolution hinstellt, als die Inkarnation des »wahren, vollkommenen Menschen«, dann kann man nur sagen: Welch glückliche Lösung! Aber sie ist so naiv in der narzißtischen Idealisierung des Wissenschaftlers, daß es schon peinlich ist. Ein solches Selbstlob wäre zum Lachen, wenn es nicht so weite Verbreitung hätte und wenn nicht dieser heute übliche Glaube ein ungeheures Hindernis für die Herausbildung andersgearteter Persönlichkeitsstrukturen wäre, die nicht in das Machtsystem hineinpassen und den vorgeschriebenen technisch-wissenschaftlichen Formeln nicht entsprechen.

Dieser Plan einer genetischen Kontrolle zeigt, daß die Idee der Kontrolle an sich letztlich absurd ist — die anmaßende Vorstellung, daß unvollkommene Menschen, die mit den unvollkommenen Instrumenten ihrer Kultur und ihrer Zeit arbeiten, geeignet sein könnten, absolute Kontrolle über die unendlichen Entwicklungsmöglichkeiten der menschlichen Zukunft auszuüben.

Noch ein Begriff bedarf schließlich der Auslegung: der Begriff Eroberung. In welcher Hinsicht hat Eroberung auch nur den geringsten Sinn in bezug auf die Stellung des Menschen in der Natur? Welche Bedeutung hat dieser Begriff in Verbindung mit den Wechselbeziehungen der Arten oder mit den Versuchen des Menschen, seine biologischen Grenzen mittels außerorganischer Lebensformen zu überschreiten?

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Der Ausdruck Eroberung ist ein überholter militärischer Terminus, wenn auch unser ganzes Machtsystem seine Geltung bestärkt; in Wirklichkeit ist er ein ideologisches Fossil aus den traumatischen Anfangs­episoden der Zivilisation, die Krieg, Sklaverei, organisierte Zerstörung und Massenmord hervorbrachten. Eroberung und Kultivierung sind historische Feinde — sie stehen an entgegengesetzten Polen.

Kurz, Eroberung ist in keiner Hinsicht ein Beweis menschlicher Überlegenheit, obwohl die Eroberer darüber stets anderer Meinung waren. Jede gültige Konzeption der organischen Entwicklung muß die grundlegenden Begriffe der Ökologie — Zusammenwirken und Symbiose — ebenso enthalten wie Kampf und Konflikt, denn auch die Raubtiere sind nur Teil einer Ernährungskette und erobern ihre Beute nicht, außer um sie zu fressen. Die Idee der totalen Eroberung ist eine Extrapolation aus dem bestehenden Machtsystem: Sie weist nicht auf ein wünschenswertes Ziel, die Anpassung, hin, sondern auf eine pathologische Abweichung, bestärkt durch Belohnungen von der Art, wie das System sie bereit hält. Was den Krönungsgedanken betrifft, »Der Mensch wird endlich Herr des Universums sein« — was ist dies anderes als ein paranoides Hirngespinst, vergleichbar dem Wahn eines Irren, er sei der Kaiser der Welt? Ein solcher Wunsch ist zahllose Lichtjahre von der Realität entfernt.

Der entscheidende Sicherheitsfaktor in der menschlichen Entwicklung liegt darin, daß die vielen experimentellen Irrtümer und subjektiven Verirrungen des Menschen nicht genetisch fixiert werden. Wie bei keiner anderen Spezies mischt jede neue Menschengeneration die genetischen Karten und verteilt sie in neuen Kombinationen, die es neuen menschlichen Faktoren ermöglichen, frühere Fehler wiedergutzumachen und neue Experimente anzustellen. In der Entwicklung jeder uns bekannten Kultur wurden viele Fehler gemacht, und einige davon, wie Krieg, Sklaverei und Klassenausbeutung, haben die menschliche Entwicklung ernsthaft behindert. Dennoch ist keine dieser Abweichungen so tief eingefleischt, daß sie unabänderlich und ewig wäre. Wenn in Zukunft menschliche Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnitten sind, dann nur deshalb, weil das herrschende Machtsystem es mit Absicht getan hat, in genau der Art und Weise, wie es die Wortführer der Technokratie empfehlen.

Hält man die Illusion der technologischen Zwangsläufigkeit für unausweichliche Realität - zum Beispiel »genetische Kontrolle kommt unvermeidlich«, so fügt diese Einstellung bloß zu den vielen äußeren Zwängen des Machtkomplexes einen inneren Zwang hinzu. Solche Meinungen erweisen sich oft als sich selbst erfüllende Prophezeiungen und machen die Entstehung einer weltweiten Megamaschine wahrscheinlicher. Dieses übergeordnete Machtsystem mit seiner Zwanghaftigkeit und seinem Automatismus könnte sich schließlich als die ernsteste Gefahr für die Entwicklung der Menschheit erweisen.

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Während das kulturelle Erbe zu einem gewissen Teil von Generation zu Generation, von Kultur zu Kultur umprogrammiert und durch die Pläne und Handlungen einzelner Denker sogar von Stunde zu Stunde modifiziert wird, könnte die genetische Kontrolle den Menschen aus dem Dasein hinausprogrammieren und einen Ersatz-Homunkulus schaffen, als fixen Bestandteil eines von allem Menschlichen gesäuberten automatischen Systems. Dank ihrer kulturellen Leistungen hat die Menschheit bislang einen solchen verhängnisvollen Stillstand vermieden.

 

  Elektronische Entropie 

 

Aber möglicherweise steht der Menschheit noch ein ganz anderes Los bevor, wenn sie blindlings den gegenwärtigen Kurs weiterverfolgt: weder Stillstand der Entwicklung mit schließlichem Erlöschen des Bewußtseins, noch Übertragung aller Funktionen des menschlichen Verstands auf eine weltweite Megamaschine, noch auch abenteuerliche genetische Selektion oder chemische Synthese, wie Charles C. Price oder Joshua Lederberg meinen, woraus jene biologischen Ungeheuer entstehen könnten, die Olaf Stapledon für die weitere Zukunft schildert.

Vielleicht findet der Homo sapiens auf einem kürzeren Weg ein rascheres Ende, wie es bereits in vielen modernen Kunstwerken angedeutet und von Professor Marshall McLuhan und dessen Anhängern mit psychedelischer Überspanntheit beschrieben wird. Die scheinbar solide ältere Megamaschine mit ihren starren Begrenzungen und vorhersagbaren Operationen könnte ihr genaues Gegenteil entstehen lassen: eine elektronische Anti-Megamaschine, die darauf programmiert ist, Unordnung, Ignoranz und Entropie zu fördern. In ihrer Revolte gegen totalitäre Organisation und Versklavung sucht die Generation, die heute für McLuhans Doktrinen empfänglich ist, nach totaler Befreiung von Organisation, Kontinuität und Zweck jeder Art durch systematische Demontage, Auflösung und Anti-Kreativität. Ironischerweise würde eine derartige Rückkehr zur Ziellosigkeit, der Wahr­schein­lichkeitstheorie zufolge, den statischsten und vorhersagbarsten aller möglichen Zustände mit sich bringen: den der unorganisierten Materie.

In der ersten Phase dieser Befreiung, wie McLuhan sie sieht, wird die weltweite Telekommunikation zu einer Loslösung von allen vorangegangenen Kulturen und vergangenen Reglementierungsformen führen; selbst die Maschinen werden verschwinden und von elektronischen Äquivalenten oder Substituten ersetzt werden. McLuhan scheint in seinen tranceartigen Prophezeiungen wirklich zu glauben, daß dies bereits geschehen sei und daß sogar das Rad verschwinden werde, während die ganze Menschheit auf eine vorprimitive Stufe zurückfalle, in der die Menschen nicht Gedanken, sondern nur Empfindungen austauschen und sich vorsprachlicher Kommunikationsmittel bedienen.

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In der elektronischen Phantasmagorie, die er heraufbeschwört, werden nicht nur die altmodischen Maschinen endgültig überholt sein, auch die Natur wird ersetzt werden; die einzigen Überreste der mannigfaltigen Welt konkreter Formen und geordneter Erfahrung werden Geräusche und taktile Bilder auf stets gegenwärtigen Fersehschirmen sein, oder abstrakte, kondensierte Informationen, die auf den Computer übertragen werden können.

Die Psychiatrie enthüllt die wahre Natur dieses prophezeiten Zustands. Was ist er anderes als das elektronische Äquivalent der Bewußtseinsspaltung und Ich-Erweiterung, die nach Einnehmen von LSD oder ähnlichen Drogen auftritt? Soweit McLuhans Konzept überhaupt einer Realität entspricht, ist es die einer elektronisch verursachten Massenpsychose. Es ist wohl für niemand eine Überraschung, daß heute, da die Möglichkeiten für sofortige Kommunikation bereits weltweit gegeben sind, die Symptome dieser Psychose schon in allen Teilen der Welt wahrgenommen werden können. In McLuhans Fall wird die Krankheit als Diagnose angeboten.

Im übrigen ist der Vorschlag, den Menschen in die Gegenwart einzusperren und ihn von Vergangenheit und Zukunft abzuschneiden, nicht erst unserer Zeit entsprungen und auch nicht an die ausschließliche Orientierung auf die elektronische Kommunikation gebunden. Die alte Bezeichnung für diese Form zentralisierter Kontrollmacht ist Bücherverbrennung. In der Vergangenheit war dies die bevorzugte Methode, um die absolute Macht des Königs aufrechtzuerhalten, sobald die Verbreitung geschriebener Aufzeichnungen jenen Macht zu geben drohte, die den offiziellen Kontrollzentren trotzten. Die Bücherverbrennung in China im Jahre 213 vor Christus durch den letzten Herrscher der Tschin-Dynastie wurde periodisch als Endlösung wiederholt, wann immer Zensur und Verbotsgesetze, wie sie in totalitären Ländern heute noch herrschen, versagten.

Obwohl meine Generation Bücherverbrennung gewöhnlich mit den öffentlichen Scheiterhaufen assoziiert, die die Nazis in den dreißiger Jahren anzündeten, war dies eine relativ harmlose Manifestation, denn es konnte nur ein symbolischer Bruchteil der auf der Erde existierenden Bücher vernichtet werden. Es blieb McLuhan vorbehalten, eine absolutere Form der Kontrolle als den höchsten Beitrag der Technik zu präsentieren: eine, die zu totalem Analphabetentum führen würde, ohne dauerhafte Aufzeichnungen, außer denen, die offiziell dem Computer eingefüttert und nur jenen zugänglich wären, die sich dieser Einrichtung bedienen dürfen. Die Ablehnung unabhängig geschriebener und gedruckter Aufzeichnungen bedeutet nichts geringeres als die Auslöschung des diffusen, von vielen Gehirnen getragenen kollektiven Gedächtnisses der Menschheit; damit wird alle menschliche Erfahrung auf die der gegenwärtigen Generation und des flüchtigen Augenblicks reduziert.

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Die Augenblicksaufzeichnung löscht sich selbst. Faktisch, wenn auch nicht mit Absicht, würde dies die Menschheit in einen weit primitiveren Zustand als den der Stammesgemeinschaft zurückstoßen; denn auch schriftlose Völker haben einen großen Teil ihrer Vergangenheit festgehalten, indem sie ein außerordentliches Gedächtnis entwickelten und durch konstante Wiederholung — selbst auf Kosten von Kreativität und Erfindung — die entscheidenden Verbindungen zu ihrer Vergangenheit bewahrten. Die Barden dieser mündlichen Kultur konnten eine ganze Ilias ohne ein einziges geschriebenes Wort vortragen.

Soll diese Sofort-Revolution erfolgreich sein, so muß die Bücherverbrennung im Weltmaßstab erfolgen und alle Arten öffentlich zugänglicher Aufzeichnungen einschließen. Die Losung eines solchen Absolutismus lautet wie die des Anarchismus im neunzehnten Jahrhundert: »Verbrennt die Dokumente!« McLuhans Verunglimpfung des gedruckten Worts, die sich in seiner Feindschaft zum »typographischen Menschen« — einer Ausgeburt seiner Phantasie — ausdrückt, hat bereits zu physischen Angriffen auf Bücher und auch zu chronischer Interesselosigkeit an deren Inhalt geführt. 

Ähnlich unsinnige Studentendemonstrationen hat es an den Universitäten aller Kontinente gegeben. Wie bei so vielen anderen Erscheinungen des Machtsystems, hat die elektronische Kommunikation nur das Tempo beschleunigt, nicht das Ziel geändert. Das Ziel ist die völlige Auflösung der Kultur — oder dessen, was McLuhan als »Stammeskommunismus« bezeichnet, obwohl es in Wirklichkeit die extreme Antithese von allem ist, was man angemessenerweise als kommunistisch oder als stammesmäßig bezeichnen könnte. Was den Ausdruck Kommunismus betrifft, so ist dies ein propagandistischer Euphemismus für totalitäre Kontrolle.

Nun hat die elektronische Kommunikation offensichtlich den Fähigkeiten und dem praktischen Zusammenwirken der Menschen eine neue Dimension hinzugefügt; das ist ein Gemeinplatz aus der Gedankenwelt des neunzehnten Jahrhunderts, den McLuhan in ein verblüffendes persönliches Paradoxon zu verwandeln suchte. Noch bevor das Fernsehen für kommerzielle Auswertung reif war, konnte man seine wertvollen Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben und die Mängel, die sich seit 1945 tatsächlich gezeigt haben, voraussehen.

Ich möchte hier zitieren, was ich zu diesem Problem in Technics and Civilization (1934) schrieb, zu einer Zeit, da das Fernsehen noch im Experimentalstadium war. Damals sagte ich in meiner Interpretation der Neotechnik: »Mit der Erfindung des Telegraphen begann eine Reihe von Erfindungen die Zeitspanne zwischen Mitteilung und Antwort trotz räumlicher Entfernung zu überbrücken: Dem Telegraphen folgte das Telephon, dann die drahtlose Telegraphie, die drahtlose Telephonie und schließlich das Fernsehen.

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Folglich ist die Kommunikation heute wieder an den Punkt der unmittelbaren Verständigung von Person zu Person zurückgelangt, von dem sie ausging; aber die Möglichkeiten dieser unmittelbaren Verständigung sind nicht mehr durch Raum und Zeit begrenzt, sondern nur noch durch die verfügbare Energiemenge und die Vollkommenheit und Zugänglichkeit der Apparatur. Sobald das Radiotelephon durch das Fernsehen ergänzt wird, wird sich die Telekommunikation vom persönlichen Umgang nur dadurch unterscheiden, daß kein direkter physischer Kontakt möglich ist.«

Ich wies nicht nur auf die Verwendungsmöglichkeiten und Auswirkungen der Elektronik hin, sondern sah auch, im Gegensatz zu McLuhan, ihre Nachteile voraus — nicht zuletzt, daß »unmittelbare Kommunikation im Weltmaßstab nicht notwendigerweise eine weniger triviale oder engstirnige Persönlichkeit bedeutet«. Darüber hinaus äußerte ich die Meinung, daß die Wahrung räumlicher und zeitlicher Distanz eine der Voraussetzungen für vernünftige Urteile und kooperativen Austausch sei, da sie vor unüberlegten Reaktionen und voreiligen Schlüssen schütze. »Die Aufhebung der Grenzen für den engen Kontakt zwischen Menschen«, fuhr ich fort, »war in ihren ersten Stadien ebenso gefährlich wie das Einströmen breiter Bevölkerungsschichten in neue Länder: Es vermehrte die Spannungszonen ... und mobilisierte und beschleunigte Massenreaktionen von der Art, wie sie vor dem Ausbruch eines Krieges auftreten.«

Diese Feststellungen dürften, so fürchte ich, den Anspruch auf Priorität und besondere wissenschaftliche Einsicht, den man - dreißig Jahre später - für McLuhan als einzigen Propheten des Elektronenzeitalters erhebt, etwas ankratzen. Aber McLuhan ist fast konkurrenzlos in der Kunst, die Irrationalität der Megatechnik zu rationalisieren, so daß man zugleich mit seinen Irrtümern auch eine Menge ähnlicher Fehlurteile ausräumen kann.

Man hat abwechselnd das Dampfschiff, die Eisenbahn, die Post, den elektrischen Telegraphen und das Flugzeug als Mittel bezeichnet, örtliche Schwächen zu überwinden, Mißverhältnisse zwischen natürlichen und kulturellen Reichtümern zu korrigieren und die Welt politisch zu vereinigen, Menschheitsparlament, Weltföderation. Aus der technischen Vereinheitlichung, glaubten fortschrittliche Geister, würde menschliche Solidarität erwachsen. Im Lauf von zwei Jahrhunderten wurden diese Hoffnungen widerlegt. Mit dem Fortschritt der Technik nahmen Sittenverfall, Gegensätze und Massenmorde zu, nicht nur in lokalen Konflikten, sondern im Weltmaßstab. Es gibt überhaupt keinen Grund zu der Annahme, daß Radio und Fernsehen zu unserem Wohlergehen beitragen werden, solange sie nicht zu Instrumenten weiserer Entscheidungen geworden sind, und alle Aspekte des menschlichen Lebens umfassen, nicht nur jene, die dem Pentagon der Macht genehm sind.

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Für dieses Problem haben McLuhan und seine technokratischen Zeitgenossen eine einfache Lösung. Sie wollen die menschliche Autonomie in all ihren Formen durch ein modernes elektronisches Modell der Megamaschine ersetzen. Die Massenmedien, so argumentiert er, werden »fertiggestellt, bevor sie fertig durchdacht sind. Ja, daß sie fertig vor uns hingestellt werden, droht zu verhindern, daß sie überhaupt bedacht werden«. Genau. Hier verrät McLuhan alles. Da alle technischen Apparate eine Erweiterung der Körperorgane des Menschen sind, einschließlich seines Gehirns, muß jene periphere Struktur nach McLuhans Analyse schon durch ihre Masse und Allgegenwart alle autonomen Bedürfnisse und Wünsche verdrängen; und da die »Technologie zu einem Teil unseres Körpers geworden ist«, ist keine Distanzierung oder Loslösung möglich. »Haben wir erst unsere Sinne und unser Nervensystem der privaten Manipulation jener ausgeliefert, die aus der Benützung unserer Augen, Ohren und Nerven Gewinn zu ziehen suchen, so bleiben uns wirklich keine Rechte (sprich Autonomie) mehr.«

Diese letzte Feststellung kann sehr gut als Warnung genommen werden, uns selbst so rasch wie möglich von dem Machtsystem zu lösen, das als so schrecklich geschildert wird; für McLuhan führt sie aber zu einer Forderung nach bedingungsloser Kapitulation. »Unter den Bedingungen der elektronischen Technologie wird Lernen und Wissen zur einzigen Aufgabe des Menschen«, meint er. Abgesehen von der Tatsache, daß dies ein rührend akademisches Bild von den Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen ist, sind die Arten von Lernen und Wissen, von denen McLuhan so hingerissen ist, eben jene, die einem Computer einprogrammiert werden können: »Wir sind heute in der Lage ....«, sagte er, »das gesamte Geschehen auf das Gedächtnis eines Computers zu übertragen.« Man kann keine bessere Formel für die Behinderung und letztliche Unterdrückung der menschlichen Entwicklung finden.

Weit davon entfernt, unmittelbare Kommunikation zu untergraben, machten Schrift und Druck sie weit größeren Menschen­gruppen räumlich und zeitlich zugänglich als jedwede weltweite Direktübertragung im Rundfunk von heute. Als die mündlich überlieferte Odyssee zu einem Buch wurde, sprach Homer nicht nur zu den Dorfbewohnern, vor denen er seine Epen rezitierte, sondern zur ganzen Welt; und der Schrei des redegewandten Bauern in Ägypten, einmal auf Papyrus aufgezeichnet, wurde — dank den Schreibern, die den Text kopierten —, statt von der herrschenden Minderheit unterdrückt zu werden, noch Tausende Jahre später gehört.

Bei der Kommunikation, wie bei jedem anderen Aspekt der Technik, ist die Polytechnik, die alle technischen Mittel benutzt, der Monotechnik überlegen, besonders jener, die streng auf die Bedürfnisse des Machtkomplexes zugeschnitten ist. Tatsächlich aber verdienen nur große Dichtungen, wie die Homers, oder außerordentliche Ereignisse, wie die Kriegserklärung des redegewandten Bauern an den Absolutismus, weltweite Verbreitung, nicht jedoch triviale Gedanken, Ereignisse und Szenen, die nur übertragen werden, um die ausgehungerten Sinne durch Vorspiegelung von Leben vor dem Verkümmern zu bewahren. In jeder Menge zerstören sie die persönliche Reaktion auf das unmittelbare Erlebnis.

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Audiovisueller Primitivismus (McLuhans Weltdorf) ist Humbug. Echte Kommunikation, sei sie mündlich oder schriftlich, flüchtig oder beständig, ist nur zwischen Menschen möglich, die einer gemeinsamen Kultur angehören und dieselbe Sprache sprechen; und wenngleich dieser Bereich durch Sprachkenntnisse und Erweiterung des kulturellen Horizonts mittels Reisen und persönlicher Kontakte vergrößert werden kann und soll, ist die Vorstellung, daß alle diese Beschränkungen fallen könnten, eine elektronische Illusion. Diese Illusion ignoriert das charakteristischste Merkmal aller organischen Formen - der biologischen wie der kulturellen -, nämlich deren Bereitschaft, sich Beschränkungen aufzuerlegen, um sich die besten Lebenschancen zu sichern. Das Radio hat einige seiner größten Triumphe tatsächlich nicht mit globalen, sondern mit lokalen Übertragungen erzielt, wo es sich in der Förderung sozialen Zusammenhalts und prompter Reaktionen als äußerst wirksam erwies. Man denke nur an die Prager Ereignisse im August 1968. Die spontane Mobilisierung des Widerstandes, ermöglicht durch tragbare Rundfunkempfänger, bewies, wie elastisch die neue Technik ist, wenn sie in kleinen Einheiten angewendet wird.

Man beachte: Dies war in keiner Hinsicht der Ausdruck von Stammeskultur; es war im Gegenteil Beweis für die koordinierte Intelligenz einer straff organisierten und eng verbundenen historischen Stadt. Zu dieser Zusammenarbeit hätte es nicht kommen können, wäre die Bevölkerung Prags über die ganze Tschechoslowakei verstreut gewesen, in einer formlosen, zusammenhanglosen Megalopolis, nur durch sehr starke zentrale Radiosender erreichbar, die schon von kleinen Truppen­einheiten unschwer besetzt werden können.

Die elektronischen Medien heben zwar die Entfernungen oberflächlich auf, aber sie haben gezeigt, welch hohen Preis die bloße Vortäuschung einer mehrdimensionalen Kommunikation erfordert. In der echten Kommunikation hat jeder Faktor seine eigene spezifische Rolle zu spielen: die sichtbare Geste, das direkt gesprochene Wort, die geschriebene Botschaft, das gemalte Bild, das gedruckte Buch, das Radio, der Plattenspieler, das Tonbandgerät und das Fernsehen. Anstatt diese verschiedenen Multimedien einzig durch Fernsehen, Radio und den Computer zu ersetzen, sollte eine hochentwickelte, leistungsfähige Technologie danach trachten, sie alle zu erhalten, jedes für die angemessene Funktion in der entsprechenden Situation. Ebenso wie mit dem Transportsystem, das nicht auf den sich frei bewegenden, autonomen Fußgänger verzichten kann, ohne überfüllte Stadtzentren oder eine ebenso unerwünschte Ausbreitung der Vorstädte zu verursachen, verhält es sich auch mit einem wirksamen Kommunikationssystem.

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Was not tut, ist eine Technologie, die so mannigfaltig, so vielseitig, so flexibel ist und auf menschliche Bedürfnisse so schnell reagiert, daß sie jedem legitimen menschlichen Zweck dienen kann. Das wahre Multimedium ist der menschliche Organismus selbst.

Anthropologische Untersuchungen haben wiederholt gezeigt, daß die Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit, die McLuhan der mündlichen Kommunikation zuschreibt, genau das ist, was keine primitive Stammeskultur tolerieren könnte, ohne ihren Zerfall zu riskieren. Wenn unser komplexes Kulturerbe weiterhin den Geboten McLuhans folgt, wird es sich vor unseren Augen auflösen — löst es sich nicht bereits auf? Nur, auf einem hohen Niveau der Individualisierung, die zuerst durch das gemalte oder geschnitzte Bild, das geschriebene Symbol und das gedruckte Buch ermöglicht wurde, kann wahre Freiheit erreicht werden — die Freiheit, dem vergänglichen Augenblick und der unmittelbaren Umgebung zu entrinnen, vergangene Erfahrung zu aktualisieren oder künftiges Handeln zu modifizieren. Wenn einer nur unmittelbare Reize und Empfindungen wahrnimmt, schließt der Arzt auf Gehirnverletzung.

McLuhans Ideen über die Rolle der elektronischen Technik werden meiner Meinung nach deshalb allgemein akzeptiert, weil sie die dominierenden Komponenten des Machtsystems vergrößern und vulgarisieren, während sie zugleich gegen dessen Herrschaft zu revoltieren scheinen. Indem er den Erdball auf Grund der elektronischen Telekommunikation als Stammesdorf behandelt, vereinigt er faktisch die lähmenden Beschränkungen einer noch schriftlosen Kultur, die die verstreute bäuerliche Bevölkerung der Welt zu einer leichten Beute militärischer Eroberung und Ausbeutung machte, mit dem charakteristischen historischen Übel der »Zivilisation«: der Unterdrückung großer Bevölkerungen zum ausschließlichen Vorteil einer herrschenden Minderheit.

Unter diesem Regime stellen also die elektronischen Medien keineswegs spontane Kommunikation her, sondern sind bereits einer sorgfältigen Kontrolle unterworfen, damit garantiert keine gefährlichen, das heißt unorthodoxen, Ansichten durchschlüpfen können. Ein solches System gestattet weder eine Auseinandersetzung noch einen Dialog in der Art eines echten Gesprächs; was da vor sich geht, ist größtenteils nur ein minuziös vorbereiteter Monolog, auch dann, wenn mehr als eine Person auf dem Bildschirm zu sehen ist. Eine Bevölkerung, die völlig auf eine solcherart kontrollierte mündliche Kommunikation angewiesen ist, selbst wenn diese jede Menschenseele auf der Welt erreicht, wäre nicht nur der herrschenden Minderheit ausgeliefert, sondern würde in wachsendem Maße schriftunkundig werden, und es würde bald keine gegenseitige Verständigung mehr geben. 

So drängt sich einem nochmals die Parallele zwischen dem Pyramidenzeitalter und unserer Epoche auf: Hier ist tatsächlich der elektronische Turm von Babel in Sicht. Weltweite Telekommunikation in diesem Sinn wäre letztlich Exkomm­unikation von jeder erkennbaren Gemeinschaft.

Wir müssen nun das klinische Bild genauer untersuchen, das diese Medienrevolution darbietet, mit ihrem Sofort-Wissen, ihrer Sofort-Macht und ihrer Sofort-Zerstörung. Für sich betrachtet, gibt dieses Bild Anlaß zu ernsten Befürchtungen. Doch das System hat schon begonnen, aus sich selbst heraus Reaktionen zu entfalten, die seine weitere Herrschaft, wenn nicht gar seine Existenz gefährden.

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