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2.12 - Versprechungen, Bestechungen, Drohungen 

Anfänge des Überflusses (703). Kosten und Nutzen der Megatechnik (710).
Bestechung durch die Megatechnik (713). Quantität ohne Qualität (718). Die Gefahr des Schmarotzertums (722).

Mumford-1970

 

 

   Anfänge des Überflusses 

703-730

Bis zum zwanzigsten Jahrhundert wurde die Ausbreitung der Maschinenindustrie durch Gewohnheiten und Institutionen gebremst, die aus einem früheren Zeitalter des Mangels stammten; aus einer Epoche, die in vielen Regionen chronisch bedroht war vom Mangel an außermenschlicher Energie, an materiellen Gütern oder auch nur an der täglichen Nahrung. Abgesehen von Börsenspiel und Spekulation, herrschten in der Fabrik und auf dem Marktplatz immer noch die Regeln der Sparsamkeit. 

Die schmale Gewinnspanne, mit der selbst eine florierende Landwirtschaft arbeiten mußte, konnte jederzeit durch eine Reihe von Dürrejahren, eine Insektenplage oder eine Seuchenepidemie zunichte gemacht werden. Die Sparsamkeit, die nötig war, um das Überleben zu sichern, wurde gleich am Beginn der Zivilisation durch manipulierten Mangel künstlich verstärkt — durch die Enteignung des landwirtschaftlichen Mehrprodukts zugunsten der herrschenden Minderheit.

Natürlicher Mangel, rückständige Arbeitsmethoden in der Landwirtschaft, zusammen mit sozial erzwungener Not und Entbehrung — dies waren die Antriebe zur täglichen Arbeit.

Um die Reglementierung der Arbeit, die das Machtsystem erforderte, durchzusetzen, wurde den Bauern in England das Gemeinde­land weggenommen, wurden die Löhne in der Landwirtschaft gedrückt, die Arbeitslosen zusammengetrieben und in Arbeitshäusern oder Fabriken gefangengehalten, während man ihre Frauen und Kinder in Spinnereien und Bergwerke schickte, wo sie für einen Hungerlohn vierzehn bis sechzehn Stunden täglich schufteten. Als wollte er seine eigene Philosophie zugleich mit den üblichen Praktiken karikieren, schlug Jeremy Bentham, der Begründer des utilitaristischen Pragmatismus, tatsächlich eine Idealstruktur vor: eine Hälfte Fabrik, eine Hälfte Gefängnis, und beide Flügel unter zentraler Überwachung.

Es ist unfaßbar, daß etwa zwei Jahrhunderte vergingen, bis die kapitalistische Industrie endlich erkannte, daß diese systematische Begrenzung der Löhne und der Kaufkraft den Markt einschränkte, den die neuen Erfindungen und die Massenproduktion erschlossen hatten.

Doch die kapitalistische Wirtschaft verfolgte, bei aller Ausbeutung der Arbeit, ein widersprüchliches Ziel. Während sie den Armen Genügsamkeit predigte, suchte sie die Expansion der Industrie durch Aufstellung des Dogmas zu fördern, wachsende Bedürfnisse seien die unentbehrliche Basis für den weiteren industriellen Fortschritt. Diese Einstellung wirkte in die entgegen­gesetzte Richtung: Denn die Wirtschafts­expansion fand ihre Rechtfertigung nicht nur in der Sicherung vor Not oder in der besseren Befriedigung längst bestehender Bedürfnisse, sondern auch in der Vervielfachung potentieller Bedürfnisse und in der Hebung des Lebensstandardsgenauer: des Ausgabenstandards — der gesamten Bevölkerung.

Dieser Standard war früher auf den verschiedenen Stufen, je nach Kaste, Beruf und Familienstand, fixiert gewesen. Nach dem neuen Prinzip jedoch konnte selbst der ärmste Arbeiter hoffen, ein Stückchen vom Komfort des Bürgertums zu erlangen, während die Mittelschichten mit ihren höheren Einkommen sich einiges von dem Luxus und den sinnlosen Extravaganzen leisten konnten, die einst die Aristokratie als ihr alleiniges Privileg beansprucht hatte — nicht zuletzt auch das Privileg, niemals nach dem Preis zu fragen. (Was ist heute das Einkaufen auf unbegrenzten Kredit denn anderes als die Demokratisierung dieses alten aristokratischen Lasters?)

Seltsamerweise wird eine der wichtigsten Frühfolgen der maschinellen Produktion eigentlich erst heute, da das Phänomen schon wieder verschwunden ist, in vollem Umfang erkannt. In Verbindung mit dem allgemeinen Bevölkerungswachstum setzte sie eine wachsende Zahl ungelernter Arbeitskräfte für die Hausarbeit frei und ermöglichte es zugleich einem größeren Teil der Arbeiterschaft, in das stehende Heer, in die neue städtische Polizei und in die Beamtenschaft einzutreten. Vermutlich waren nie zuvor in der westlichen Welt menschliche Dienstleistungen so reichlich vorhanden und so billig zu haben wie im neunzehnten Jahrhundert, faktisch bis zum Ersten Weltkrieg. Das waren, wie heute jedermann weiß, schöne Zeiten für die Reichen und die Mittelschichten; diese Klassen waren dank dem billigen Hauspersonal und dem mehr als reichlichen Warenangebot die Hauptnutznießer des neuen Machtsystems. Zum Glück führte die Bildung von Gewerkschaften allmählich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen, zur Verkürzung der Arbeitszeit und zur Hebung des Einkommens der Fabriksarbeiter und schließlich auch der nichtindustriellen Werktätigen.

Trotz einiger Verbesserungen blieb jedoch das Einkommen der arbeitenden Klasse im großen und ganzen unzureichend; es langte weder für anständige Wohnungen noch für einen der Produktion entsprechenden Konsum: daher die periodische Markt­übersättigung, die durch Abwertung oder Aufwertung (künstlich erzeugte Knappheit) korrigiert wurde, was sowohl den Arbeitern als auch den Unternehmern Verluste zufügte.

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Diese Krisen kehrten regelmäßig genug wieder, um als zyklische bezeichnet zu werden, und obwohl ihre manisch-depressiven Kurven mit der Zeit durch Arbeitslosenversicherung, Sozialversicherung und Altersrenten ein wenig abgeflacht wurden, blieb das System an sich unzweckmäßig, bis seine Führer endlich zur Kenntnis nahmen, daß man von den alten Geboten der Sparsamkeit abgehen mußte, um die durch die Massenproduktion ermöglichte Überflußwirtschaft soweit zu stabilisieren, daß sie weiterhin expandieren konnte.

Diese Wandlung in der Einstellung war zu tiefgehend, als daß sie über Nacht hätte eintreten können. Durch eine Reihe von tastenden Maßnahmen und Anpassungen, die im einzelnen schwer zu lokalisieren und zu datieren sind, aber allmählich zu einer allgemeinen Wirtschaftspolitik verschmolzen, verwandelte sich in den fortgeschrittenen Ländern, nach vielen Rezessionen und Depressionen, die frühere Mangelwirtschaft in eine Überflußwirtschaft, oder besser gesagt, in eine Ökonomie ungleich verteilten Wohlstands. Dank der enormen Produktionskapazität der modernen Industrie steht heute der Mittelschicht eine Vielfalt von Produkten, die einst den höchsten Einkommensgruppen vorbehalten waren, massenweise zur Verfügung, und dieser Prozeß der Hebung des Lebensstandards und der Marktexpansion könnte theoretisch ewig so weitergehen, bis zu dem Punkt, wo das Marktsystem sich durch seine eigenen Exzesse wieder einmal selber unterminiert.

Der wahrscheinlich explosivste Durchbruch im Übergang von der alten zur neuen Wirtschaftsweise erfolgte in der Automobilindustrie, einem in jeder Hinsicht klassischen Fall. Um für die Massenproduktion einer so komplexen Maschine, wie es sogar das billige Ford-T-Modell war, einen Massenabsatz zu erreichen, war es notwendig, einer weit größeren Einkommens­gruppe zusätzliche Kaufkraft zu geben. Henry Ford erkannte das und führte höhere Löhne für Fließbandarbeit ein. Die Arbeiter trugen selbst ihr Teil zum maschinell erzeugten Überfluß bei, indem sie ihre Familien in bezug auf Wohnung und Nahrung knapp hielten, um Geld für das Auto zu erübrigen. 

Die erste Studie der Lynds über Middletown dokumentierte diese Verlagerung des Schwerpunkts von den Grundbedürfnissen auf technischen Konsum; diese ungesunde Konsumstruktur erwies sich als symptomatisch für eine ähnliche Fehlverteilung der gesellschaftlichen Ausgaben. Das Wachstum des Brutto­national­produkts trug wenig dazu bei, diese Verzerrung zu korrigieren. Nachdem man jedoch die Notwendigkeit des Massenkonsums als unerläßliches Korrelat der Massenproduktion erkannt hatte, war auch der Weg frei für eine Wirtschafts­weise, die auf Überfluß statt auf Sparsamkeit beruhte.

Diese Auffassung wurde in den Vereinigten Staaten noch vor der Wirtschaftskrise von 1929 bis 1939 voreilig als neuer Kapitalismus propagiert; der Slogan Ein Auto für jede Familie trat an die Stelle der Losung von Henri IV.: »Jeden Sonntag ein Huhn im Topf.« Doch die schwere Wirtschaftskrise, die auf die erste Erkenntnis der Bedeutung der Massenkaufkraft folgte, bewies, daß an dieser Formel noch etwas fehlte.

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Was notwendig war, hatte bereits der Erste Weltkrieg gezeigt und wurde von den führenden nationalen Megamaschinen im Zweiten Weltkrieg bestätigt: nämlich eine so unbegrenzte Nachfrage, wie nur ein Krieg — oder ein kriegsähnlicher Zustand — sie möglich macht. Mit der allgemeinen Wehrpflicht wurde eine Nation in Waffen zum Äquivalent von Edward Bellamys Nation im Schlosseranzug, und Hand in Hand damit gingen Kreditexpansion, garantierte Profite in der Kriegsindustrie, Einkommens­steigerung für alle außer für das unterste Drittel der Bevölkerung und, was das Wichtigste war, ein rascher Verbrauch der Produkte durch pausenlose Zerstörung. Das war Massenkonsum par excellence.

Eine unmittelbare Folge des Krieges war die Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunkts auf den Staat, das heißt auf die nationale Megamaschine; und mit der Wiedergutmachung der Kriegsschäden und der Erfindung und Erzeugung neuer Vernichtungs­waffen, die noch komplizierter und teurer waren als die alten, entstanden erstmals die notwendigen Voraus­setzungen für Vollbeschäftigung, Vollproduktion, volle Forschung und Entwicklung und vollen Konsum.

Sind diese idealen Bedingungen — moderne Maschinen, zentralisierte Kontrolle und unbegrenzte Vergeudung und Zerstörung — gegeben, dann steht außer Zweifel, daß die Megatechnik ungeheuer produktiv ist und daß ein größerer Teil der Bevölkerung als je zuvor von ihren Methoden profitiert; denn die Industrie kann höhere Löhne kompensieren, indem sie die zusätzlichen Kosten auf die wachsende Zahl der Konsumenten überwälzt, die durch Werbung und Erziehung dazu gebracht wird, nur nach jenen Massenprodukten zu fragen, die profitbringend verkauft werden können. Urteilt man nur nach den erzeugten Gütern, so besteht kein Zweifel, daß es zum Teil bereits Überflußwirtschaft gibt.

Aber der Gewinn scheint auf dem Papier größer zu sein, als er tatsächlich ist; die Rechnung vernachlässigt nämlich den negativen Überfluß, der diese Leistung begleitet: Erschöpfung des Bodens und der Bodenschätze, Verschmutzung von Luft und Wasser, Friedhöfe rostender Autos, Berge von Papier- und anderen Abfällen, vergiftete Lebewesen, Millionen Tote und Verletzte auf den Autostraßen — alles unvermeidliche Nebenprodukte des Systems. Dies sind die giftigen Ausflüsse unserer Überflußgesellschaft.

Obwohl die Überflußwirtschaft in der Endbilanz einen weit geringeren Nettogewinn aufweist, als ihre stolzen Exponenten gewöhnlich zuzugeben bereit sind, hat sie doch einen wichtigen neuen Faktor eingeführt, der viele ihrer Mängel aufwiegt. Dieser Faktor erklärt zweifellos, wieso sie dermaßen rückhaltlos akzeptiert wurde: Um überhaupt zu funktionieren, muß das megatechnische System nämlich nicht nur die Erträge steigern, sondern sie auch auf die gesamte Bevölkerung verteilen.

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Die Massenproduktion ist mit zwei Vorstellungen verbunden, die faktisch, wenn auch unbeabsichtigt, als humane Moralprinzipien wirken. Erstens: die grundlegenden Güter, als Produkt unserer Gesamtkultur, sollten, sobald sie im Überfluß vorhanden sind, gleichmäßig auf alle Mitglieder der Gemeinschaft aufgeteilt werden; zweitens sollte Leistung, wo immer Arbeit auf menschlicher Anstrengung beruht, nicht durch Entbehrung, Zwang und Bestrafung erzielt werden, sondern hauptsächlich durch angemessene, abgestufte Entlohnung. Dies sind keine kleinen Errungenschaften; sie haben in der Tat revolutionäre Konsequenzen.

 

Ehe wir Bilanz ziehen, wollen wir dem System Gerechtigkeit widerfahren lassen. Im Gegensatz zur Lage der arbeitenden Klassen, wie sie in den Vereinigten Staaten im neunzehnten Jahrhundert, ja bis zu unserer Zeit bestand, scheint die Demokratisierung der gesamten Wirtschaft viele greifbare sozialen Vorteile mit sich zu bringen. Selbst die Tatsache, daß Massenproduktion bei kleinen Mengen — oder auch bei großen, nach denen die Nachfrage ungewiß oder unregelmäßig ist — nicht rentabel sein kann, erschien vorerst nicht als ernsthafter Nachteil.

Solche Überschüsse, wie sie heute breiten Bevölkerungsschichten, Dutzenden Millionen Menschen, zur Verfügung stehen, waren in kleinerem Ausmaß schon den verstreuten primitiven Gemeinschaften bekannt, in Form eines gelegentlichen Überflusses in der Natur, etwa beim Laichzug der Lachse im Nordwestpazifik; und diese Gemeinschaften kannten sogar bereits Mittel des sozialen Ausgleichs, wie den Potlatch (indianisches Freudenfest, bei dem alle Güter an alle verteilt wurden) oder die freigebigen Geschenke der Häuptlinge an schlechtergestellte Stammesgenossen. Der Erfolg der Inkas von Peru bei der Beherrschung ihres ausgedehnten Reiches beruhte einzig und allein auf der Tatsache, daß ihr Regierungssystem, wenn auch oft willkürlich und grausam in der Zerstörung örtlicher Gemeinschaftsbindungen, durch breite Verteilung systematisch gesammelter Überschüsse für materielle Sicherheit sorgte.

Die kapitalistischen Unternehmer haben lange gebraucht, um die Logik dieser Verteilungswirtschaft als Ausgleich ihrer eigenen Profitwirtschaft zu erfassen (eigentümlicherweise kommt die wichtigste Literatur zu diesem Thema nicht aus den Vereinigten Staaten, sondern aus Frankreich). Doch die britische Labour Party hat ihre Wahllosung von 1945 — Jedem einen gerechten Anteil nicht damals erfunden: Sie war während des ganzen neunzehnten Jahrhunderts ein Hauptthema alles sozialistischen Denkens. Die Leistungen der Organisierung und Mechanisierung, die in einem Industriezweig nach dem anderen vollbracht wurden und in der Kriegsproduktion einen Höhepunkt erreichten, ließen zeitweilig die optimistischsten sozialistischen Erwartungen glaubhaft erscheinen.

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Heute sind die Ergebnisse in den fortgeschrittenen Industrieländern so offenkundig und allgemein bekannt, daß sie kaum durch Statistiken belegt oder, es sei denn in den gröbsten Umrissen, rekapituliert zu werden brauchen. Es genügt, zu vermerken, daß die meisten der neuen, revolutionären Forderungen, die 1848 namens der Arbeiterklasse im Kommunistischen Manifest erhoben wurden, heute bereits selbstverständliche Errungenschaften sind, selbst in Ländern, die vermeintlich immer noch am monopolistischen Wohlfahrtskapitalismus (alias freie Marktwirtschaft) festhalten.

Wenngleich Arbeitsmonotonie und Schinderei noch nicht gebannt sind, so wurden sie doch eingeschränkt, zumindest durch Arbeitszeitverkürzung, ganz zu schweigen von Kaffeepausen, Krankengeld, erlaubten Absenzen und längerem bezahlten Urlaub. Obwohl die ökonomischen, politischen und militärischen Vorrechte der Oberschicht immer noch der Gesellschaft einen exorbitanten Tribut abverlangen, ist in der übrigen Bevölkerung doch eine wachsende Egalisierung der Güterverteilung festzustellen: Krankenfürsorge, Schulbildung, Sicherheit vor Arbeitslosigkeit und Not, Unterstützung im Alter — all diese Vergünstigungen stehen den Menschen in wachsendem Maß zur Verfügung, nicht so sehr auf Grund individueller Bemühungen als vielmehr infolge der Produktivität von Industrie und Landwirtschaft.

Dieser gewaltige Wandel von einer streng restriktiven zu einer expansiven hedonistischen Ökonomie läßt sich in einer einzigen Gegenüberstellung zusammenfassen. Vor mehr als einem Jahrhundert konnte Macauly inmitten einer schweren Wirtschaftskrise schreiben, es sei besser, die Arbeitslosen Hungers sterben zu lassen, als die Eigentumsrechte in irgendeiner Weise einzuschränken — etwa durch eine Einkommensteuer zwecks Unterstützung der Arbeitslosen und Hungernden. Im Gegensatz dazu haben die Arbeitslosen in den Vereinigten Staaten nun begonnen, nicht nur das Recht auf Arbeit, sondern auch ein garantiertes Jahreseinkommen zu fordern, ob sie nun arbeiten oder nicht.

Weit davon entfernt, als schockierende Zumutung angesehen zu werden, wurde dieser Vorschlag auch von bürgerlichen Reformern unter der etwas irreführenden Bezeichnung negative Einkommensteuer vorgebracht. Ich selber habe in meinem Buch Technics and Civilization eine ähnliche Einrichtung unter dem viel direkteren Namen elementarer Kommunismus angeregt, wenngleich ich damals — und auch noch heute — an ein viel niedrigeres Existenzminimum dachte, als es nun von jenen gefordert wird, die einfach Bellamys Ideen übernommen haben, ohne kritisch die ernsten Nachteile zu untersuchen, die sich im Zusammen­hang mit den Fürsorgemaßnahmen des Wohlfahrtsstaats gezeigt haben.

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Kaum hatte jedoch die Erkenntnis, daß Massenproduktion auch Massenkonsumtion mit sich bringt, sich durchgesetzt, traten zwei neue Faktoren auf, deren Folgen noch einer gebührenden Würdigung bedürfen. Der eine ist das Absterben vieler wichtiger Industrie- und Dienstleistungszweige, die mit den hohen Löhnen der leistungsstarken und finanzkräftigen megatechnischen Industrie nicht Schritt halten können. Die menschliche Arbeitskraft wurde nicht nur zunehmend durch Automaten ersetzt, sondern wegen ihrer hohen Kosten auch aus jedem anderen Bereich verbannt, da der Arbeiter heute für seine Dienste einen Stundenlohn fordert, den nur die mechanisierte Produktion hereinbringen kann. Obgleich man versucht, vielseitig verwendbare Roboter für die Hausarbeit zu erfinden, besteht wenig Aussicht, daß sie genügend billig und einfach zu handhaben sein werden; daher stößt man in Vorschauen auf das einundzwanzigste Jahrhundert bereits auf den seltsamen und ominösen Gedanken, Intelligenz und Dienstwilligkeit von Schimpansen so zu steigern, daß sie Arbeiten verrichten können, die einst von Menschensklaven ausgeführt wurden.

Doch eine noch ernstere Folge ist zu erwarten, wenn die alten Übel der Zivilisation körperliche Schwerarbeit und Sklavendienste zum Nutzen der herrschenden Unterdrückerklasse einmal gänzlich verschwinden. Wir kommen allmählich darauf, daß wir für den Produktionszwang den Konsumzwang eingetauscht haben. Aber leider, das Zwangsprinzip ist dem System immanent und bleibt die Bedingung, an die der Genuß der Vorteile des Systems geknüpft ist. Statt Arbeitspflicht haben wir heute Konsumpflicht; statt daß man uns ermahnt, Sparsamkeit zu üben, werden wir heute überredet — nein, unablässig gedrängt —, Vergeudung und mutwillige Zerstörung zu praktizieren. Indessen sieht sich ein immer größerer Teil der Bevölkerung einem arbeits- und mühelosen, physisch bequemen, aber zunehmend inhaltsleeren Leben gegenüber.

Die emanzipierten Massen stehen heute vor genau dem gleichen Problem, mit dem jede privilegierte Minderheit früher oder später konfrontiert wurde: Wie die Güterfülle und die Freizeit nutzen, ohne von der einen übersättigt und von der anderen korrumpiert zu werden? Mit zunehmenden Vorteilen der Massenproduktion ist eine Zunahme unerwarteter Nachteile zu beobachten; der tödlichste von ihnen ist vermutlich die Langeweile. Was Thorstein Veblen ironisch »Freizeitleistung« nannte, wird schnell zum lästigen obligatorischen Ersatz für Arbeitsleistung.

So ist die Menschheit heute dabei, ihre Wohnung zu wechseln, aber nur, indem sie in einen modernen Flügel des gleichen alten Gefängnisses übersiedelt, dessen Fundamente im Pyramidenzeitalter gelegt wurden: besser gelüftet und hygienischer, mit schönerem Ausblick — und doch ein Gefängnis; und es ist sogar schwieriger denn je, aus diesem Gefängnis zu entfliehen, denn es droht nun einen noch größeren Teil der Menschheit einzukerkern.

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Doch während die früheren Zwangsmittel zur Erzielung von Produktivität und Konformität hauptsächlich äußerlich waren, unterstützt von prunkvollen religiösen Zeremonien und fürstlicher Prachtentfaltung, ist der heutige Konsumzwang internalisiert und deshalb schwerer abzuschütteln. Ein quantitatives Bild vom Wachstum dieses psychologischen Zwanges ergibt sich aus Potters Daten über die Werbung: 1900 wurden in den Vereinigten Staaten jährlich 95 Millionen Dollar für Werbung ausgegeben, 1929 bereits 1120 Millionen und 1951 6548 Millionen Dollar; und auch seither sind die Werbeausgaben stetig weiter­gestiegen. Selbst wenn man Bevölkerungs- und Produktionswachstum berücksichtigt, ist das eine kolossale Steigerung.

 

Kosten und Nutzen der Megatechnik 

In fortgeschrittenen Industrieländern, wo der Wohlfahrtsstaat eine feste Basis hat, sind viele Versprechungen der Megatechnik in Erfüllung gegangen — in Form einer Güterfülle, wie Telekleides sie in dem von mir früher zitierten alten Vers schilderte. Manche dieser Erzeugnisse sind nicht nur begehrenswert, sondern auch von hoher technischer Perfektion. In meinem eigenen Haushalt etwa funktioniert ein elektrischer Kühlschrank schon seit neunzehn Jahren einwandfrei, mit nur einer einzigen kleinen Reparatur: eine erstaunliche Leistung. Sowohl automatische Kühlschränke für den täglichen Bedarf als auch Tiefkühlanlagen sind Erfindungen von bleibendem Wert. Wenngleich man das Auto in seiner heutigen Form nicht so uneingeschränkt empfehlen kann, ist doch kaum daran zu zweifeln, daß bei Beachtung biotechnischer Kriterien anstelle jener der Marktanalytiker und der Modeexperten ein ebenso gutes Produkt mit einer ebenso langen Verwendungsdauer aus Detroit kommen könnte.

Aber was würde aus der Massenproduktion und ihrem System der finanziellen Expansion, wenn technische Perfektion, Dauer­haftigkeit, soziale Nützlichkeit und menschliche Befriedigung die Leitziele wären? Gerade die Faktoren, die den gegen­wärtigen finanziellen Erfolg bedingen — ständig erweiterte Produktion und Reproduktion —, wirken gegen diese Ziele. Um die rasche Absorption ihrer immensen Produktivität zu sichern, verwendet die Megatechnik eine Fülle von Mitteln: Konsumenten­kredit, Ratenverkauf, vielfache Verpackung, funktionswidrige Form, verführerische Neuheiten, schlechtes Material, mangelhafte Ausführung, eingebaute Anfälligkeit und zwangsläufiges Veralten durch häufigen willkürlichen Modewechsel. Ohne ständige Verlockung und Verführung durch die Werbung würde die Produktion stocken und sich dem normalen Ergänzungsbedarf anpassen. Andernfalls könnten viele Produkte ein Niveau erreichen, auf dem von Jahr zu Jahr nur minimale Modifizierungen erforderlich wären.

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Im Zeitalter der Megatechnik wird jede Klasse in einem Maße vom Geldmotiv beherrscht, wie es in der Agrargesellschaft unvorstellbar war. Das Ziel der Wirtschaft ist nicht primär die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse mit minimalem Produktionsaufwand, sondern die Vermehrung der Bedürfnisse, faktischer wie fiktiver, und deren Anpassung an die maximale technische Kapazität der Profitproduktion. Dies sind die heiligen Grundsätze des Machtkomplexes. Avantgarde-Künstler wie Tinguely, deren Skulpturen in den Ausstellungen dazu bestimmt sind, zu explodieren oder zusammen­zufallen, haben nichts anderes getan, als den kaum verhüllten Sinn der Megatechnik in pseudo-ästhetische Form zu kleiden. Die technische Erschließung neuer Bereiche und die Vervielfachung neuer Produkte werfen heute die größten Profite ab.

Nicht zuletzt ist dieses System bemüht, Selektivität und quantitative Begrenzung durch wahl- und zügellosen Konsum zu ersetzen. Noch keiner hat bislang berechnet, wie viele Tausende Kilometer Film und Quadratkilometer Photopapier alljährlich verbraucht werden, um beiläufige Schnappschüsse zu machen, die man kaum mehr als einmal betrachtet, wenn sie vom Entwickeln zurückkommen — als ob der lebendige Genuß, mit den eigenen Augen Bilder einzufangen, keinen Wert hätte, solange er nicht auf ein technisches Äquivalent übertragen wurde. Ebenso unermeßlich ist die Länge der Tonbänder, auf denen ganze Geschäfts­konferenzen und akademische Sitzungen festgehalten sind, deren wesentlicher Inhalt, abgesehen von dem, was in den Köpfen der Teilnehmer zurückbleibt, höchstens ein paar Seiten Maschineschrift füllen würde.

Die Brennbarkeit von Film und Papier mildert dieses ungünstige Urteil ein wenig, denn zum Unterschied von giftigen Chemikalien und zertrümmerten Autos kann man sich ihrer leicht entledigen, ohne der Umwelt großen Schaden zuzufügen. Aber die Haupt­tugend dieser Erfindungen besteht darin, daß sie sich selbst rechtfertigen und sanktionieren, indem sie hohe Profite bringen. (Selektiv angewendet, möchte ich hinzufügen, leisten Filme, Tonbänder und Photographien einen potentiell wertvollen Beitrag zum menschlichen Glück; die Kritik gilt nur den unumstößlichen Ritualen des vom Geld-Lust-Komplex erzwungenen automatisierten Konsums.)

Aber leider sind nicht alle Produkte der Megatechnik so gründlich selbstzerstörend und selbsteliminierend wie Papierbecher und explodierende Skulpturen; und nicht alle sind so harmlos, wenn sie im Übermaß verwendet werden. Damit die megatechnische Wirtschaft reibungslos läuft, ständig expandiert und ein maximales Bruttonationalprodukt erbringt, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden. Vor allem muß jedes Mitglied der Gesellschaft pflichtschuldig eine ausreichende Menge von Gütern erwerben, benützen, verschlingen, vergeuden und schließlich zerstören, um das Wirtschaftswachstum in Gang zu halten.

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Da die Produktivität des Systems gewaltig ist, erweist sich diese Pflicht als gar nicht so leicht zu erfüllen. Denn nicht nur ignoriert die Megatechnik viele lebenswichtige Bedürfnisse und Interessen, wie beispiels­weise den Bau von Wohnungen für die niedrigeren Einkommensgruppen, der ohne staatliche Subventionen nicht zustandekommt, sondern der Arbeiter muß, um seiner Konsum­pflicht zu genügen, auch noch seine Produktionsleistung steigern.

So stellt sich die Arbeitszeitverkürzung, die das System verspricht, bereits als Betrug heraus. Um das erwünschte höhere Konsumniveau zu erreichen, müssen die Familienmitglieder zusätzliche Arbeiten annehmen. Die Praxis der Doppelbeschäftigung, in Amerika unter der Bezeichnung moonlighting bekannt, wird zu einer allgemeinen Erscheinung, und sollte der Konsumzwang sich weiter verstärken, wird sie wohl zunehmen. Die Folge ist ironischerweise die Verwandlung des erkämpften Sechs- oder Siebenstundentages in einen Zwölf- oder Vierzehnstundentag; so landet der Arbeiter faktisch wieder genau dort, wo er begonnen hat, wohl mit mehr materiellen Gütern als je zuvor, jedoch mit weniger Zeit, um sie oder die versprochene Freizeit zu genießen. Dasselbe Bedürfnis hält die Ehefrau, selbst während der Schwangerschaft, davon ab, sich dem Haushalt und den Kindern zu widmen sie muß mitverdienen, um das nötige Maß an statusverleihenden Überflüssigkeiten zu sichern.

Die zweite Bedingung ist nicht weniger rigoros. Die Mehrheit der Bevölkerung muß auf jede Art von Betätigung verzichten, die nicht mit der Verwendung von Maschinen oder Maschinenprodukten verbunden ist. In die erste Rubrik fällt die Abschaffung von manueller Arbeit und Handfertigkeit, selbst im kleinsten häuslichen oder persönlichen Maßstab. Körperliche Arbeit in irgendeiner Form zu leisten, eine Axt oder eine Säge zu gebrauchen, den Garten umzugraben oder zu harken, zu Fuß zu gehen, zu rudern oder zu segeln, wenn ein Auto oder ein Motorboot zur Verfügung steht, ja auch nur eine Dose zu öffnen, einen Bleistift zu spitzen oder eine Scheibe Brot abzuschneiden, ohne ein technisches — vorzugsweise ein motorgetriebenes — Hilfsmittel zu benützen, verstößt einfach gegen die Spielregeln. Insofern ein Minimum an körperlicher Aktivität für die Gesundheit notwendig ist, werden spezielle Übungsgeräte, wie Zimmerfahrräder oder Massageapparate, verwendet. So ist die alte aristokratische Verachtung körperlicher Arbeit nun demokratisiert worden.

Dieser übermäßige Gebrauch der Maschine eliminiert jedes praktische Leistungskriterium; er hat die Kraft eines pflichtmäßigen religiösen Rituals, eines Kniefalls vor einem Heiligtum. Was nicht mit einer oder für eine Maschine getan werden kann, darf überhaupt nicht getan werden.

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Das erreicht einen Höhepunkt in der Camping-Ausrüstung: Hier wird ein Erlebnis, dessen ganzer Sinn in der Rückkehr zu einer rauheren und primitiveren Beziehung zur Natur besteht, zur Karikatur, indem genaue Nachbildungen all der vertrauten Gegenstände, die für das Leben in einer überfüllten Stadt notwendig sind — vom Küchenherd bis zum Fernsehapparat — in die Wildnis mitgeschleppt werden.

Diese Tendenzen sind bereits so weit fortgeschritten, daß man die letzten Konsequenzen vorhersehen kann, die eintreten werden, wenn keine Gegenströmung einsetzt. Der höchste Triumph der technokratischen Gesellschaft wäre die Integrierung aller menschlichen Tätigkeiten in ein autokratisches, monolithisches System. Das würde zu einer Lebensform führen, in der alle Funktionen, die sich nicht in das System eingliedern lassen, unterdrückt oder ausgemerzt wären. Diese Perspektive allein, sobald sie erst von der Allgemeinheit in ihren Umrissen wahrgenommen wird, scheint erschreckend genug, um eine überwältigende Abwehrreaktion bei den Menschen hervorzurufen. Und wenn diese Reaktion noch aussteht, so braucht man nicht lange nach dem Grund zu forschen. Wenn nämlich die angeführten Bedingungen akzeptiert werden, stellt die Megatechnik selbst in ihrer gegenwärtigen unfertigen Form eine gewaltige Verlockung dar, die um so stärker und verführerischer wird, je mehr die Megamaschine sich ausbreitet, differenziert und konsolidiert.

Dieser Verzicht auf Autonomie um maximaler Nutzung der Megatechnik willen zieht eine weitere Bedingung nach sich: Man darf keine anderen Güter verlangen als jene, die die Maschine im laufenden Jahr anbietet, und man darf auch Güter, die sich als so dauerhaft und attraktiv erwiesen haben, daß man sie den angebotenen neuen vorziehen würde, nicht über ihre vorgesehene halbe Lebensdauer hinaus behalten. Das heißt, man darf keine andere Lebensform verlangen als jene, die sich im Rahmen der jeweiligen Mode bewegt. Ein Leben abseits vom megatechnischen Komplex zu führen, oder gar unabhängig von ihm, und sich dessen Forderungen zu widersetzen, gilt als ausgesprochene Sabotage. Daher die Wut, die die Hippies hervorrufen — ganz gleich, ob ihr Verhalten anstößig ist oder nicht. Nach megatechnischen Begriffen ist es Ketzerei und Verrat oder auch ein Zeichen von Geisteskrankheit, wenn man sich völlig zurückzieht. Der Erzfeind der Überflußgesellschaft ist nicht Karl Marx, sondern Henry Thoreau.

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Bestechung durch die Megatechnik

Untersucht man die megatechnische Bestechung nicht allzu genau, so könnte sie als ein vorteilhafter Handel erscheinen. Wenn der Konsument bereit ist, zu nehmen, was die Megatechnik ihm anbietet, in einer Menge, die der weiteren Expansion des Machtsystems entspricht, genießt er alle Vorrechte, Privilegien, Verführungen und Vergünstigungen der Überflußgesellschaft. Solange er nur keine anderen Güter und Dienste fordert als jene, die von der Megatechnik geliefert werden können, erfreut er sich zweifellos eines höheren Standards materieller Kultur — zumindest von einer bestimmten, spezialisierten Sorte —, als irgendeine andere Gesellschaft je zuvor erreicht hat. Ja, es gibt vielleicht eine größere Fülle an Luxus als an praktischen Dingen, und viele elementare Bedarfsgüter, die sich für die Megatechnik nicht eignen, sind zum Aussterben verurteilt. Im Amüsierviertel gehört es sich nicht, daß man von ihrem Fehlen Notiz nimmt.

Für viele Mitglieder der amerikanischen Gesellschaft, die dieses System voreilig unter dem irreführenden Titel Große Gesellschaft oder Megalopolis-Wirtschaft akzeptiert hat, scheint die weitere Entwicklung dieser prozeßorientierten Technologie nicht nur unvermeidlich, sondern sogar wünschenswert: die nächste Stufe im Fortschritt. Und wer wagt es, sich dem Fortschritt entgegenzustellen? Bei angemessener Entlohnung verlangt eine vom Wohlfahrtsstaat genügend verwöhnte Bevölkerung nichts Besseres, als der Markt ihr anbietet.

Jene, die von Kindheit an durch Schulunterricht und Fernsehgängelung dazu erzogen wurden, die Megatechnik als Gipfelpunkt der Eroberung der Natur durch den Menschen anzusehen, werden diese totalitäre Kontrolle ihrer Entwicklung nicht als schreckliches Opfer, sondern als höchst begehrenswerte Erfüllung akzeptieren und sich darauf freuen, für immer an das Große Gehirn angeschlossen zu werden, so wie sie heute durch tragbare Transistorgeräte — selbst auf der Straße — an Radiostationen angeschlossen sind. Mit der Hinnähme dieser Einrichtungen erwarten sie, daß jedes menschliche Problem für sie gelöst wird, und die einzige Sünde des Menschen wird darin bestehen, den Instruktionen nicht zu gehorchen. Ihr wirkliches Leben wird sich im Rahmen des Fernsehschirms bewegen.

Ist dies eine grobe Übertreibung der heutigen Errungenschaften, Projekte, Versprechungen? Sind dies nur dumme Hirngespinste, auf die kein Mensch mit normalem Verstand ernsthaft verfallen würde? Leider ist dem nicht so: Man kann es gar nicht übertreiben. Man denke an die Liste technologischer und wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeiten, die von solchen Fürsprechern dieses Regimes wie Herman Kahn, B. F. Skinner, Glen Seaborg und Daniel Bell für das Jahr 2000 in Aussicht gestellt werden — von noch wilderen technokratischen Träumen ganz zu schweigen.

Vielen leichtgläubigen Menschen erscheint dieses Zukunftsbild begeisternd, ja unwiderstehlich. Wie hoffnungslos Nikotinsüchtige der Zigarette, sind sie dem technologischen Fortschritt verfallen, so daß sie die akute Gefährdung ihrer Gesundheit, ihrer geistigen Entwicklung und ihrer Freiheit ignorieren.

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Ein Leben, das persönliche Verantwortung und persönliches Bemühen erfordert, erscheint ihnen bereits als utopische Unwirklichkeit und nicht, was es tatsächlich ist, als der normale Zustand aller lebenden Organismen, der im bewußten Wollen des Menschen den Höhepunkt erreicht hat.

Da in der neuen Ökonomie mühelos erworbener Überfluß als höchstes Ziel der Automation gilt und fortwährendes Kaufen und Konsumieren als patriotische Pflicht, ist der gewohnte Zusammenhang zwischen Besitz und persönlicher Leistung zerrissen. Theoretisch könnte bald alles kostenlos zu haben sein. Ohne jedoch auf diesen jüngsten Tag zu warten, haben moralisch Labile in wachsender Zahl unter dem Einfluß der aufreizenden Reklame bereits begonnen, sich mit allem, was ihnen unter die Finger kommt, selber zu bedienen. Ladendiebstahl, Taschendiebstahl, Plünderung, Einbruch Verbrechen, die in frühen Zeiten nur von Asozialen oder von verzweifelten Armen begangen wurden werden zunehmend von Menschen verübt, die nur insofern arm und notleidend sind, als es ihnen unmöglich ist, durch Kauf oder Geschenke in den Besitz all der Güter zu gelangen, welche die Wohlstandsgesellschaft als unerläßlich für ihr Glück hinstellt. Nur durch Diebstahl können sie ihre unersättlichen Bedürfnisse befriedigen. Solch ein moralischer Verfall muß auch das gerechteste Verteilungssystem zu Fall bringen.

Für materiellen und symbolischen Überfluß, durch überflüssige Automation erzeugt, sind diese Maschinen­süchtigen bereit, ihre Rechte als Lebewesen aufzugeben: das Recht, lebendig zu sein, alle ihre Organe ohne aufdringliche Einmischung zu benützen, mit eigenen Augen zu sehen, mit eigenen Ohren zu hören, mit eigenen Händen zu arbeiten, mit eigenen Füßen zu gehen, mit eigenem Geist zu denken, erotische Erfüllung zu finden und Kinder in normalem Geschlechtsverkehr zu zeugen — kurz, als ganze Menschen mit anderen ganzen Menschen zu verkehren, in ständiger Verbindung mit der sichtbaren Umgebung wie auch mit dem unermeßlichen historischen Kulturerbe, von dem die Technologie nur ein Teil ist.

Um in den Genuß der totalen Automation zu gelangen, ist ein bedeutender Teil der Bevölkerung bereit, zu Automaten zu werden — so würde es zumindest scheinen, wenn nicht eine wachsende Zahl von Zusammenbrüchen und Rückzügen anzeigte, daß diesem scheinbar unwiderstehlichen Prozeß dennoch Widerstand geleistet wird, in einem Ausmaß, das schon längst die Zuversicht der Priester und Propheten des Systems erschüttert haben müßte.

Eines aber sollte wenigstens klar werden: Wenn die Mehrheit eines Volkes sich einmal für die Megatechnik entschieden hat oder das System, ohne es anzuzweifeln, passiv hinnimmt, dann hat es keine andere Wahl mehr. Sofern aber die Menschen bereit sind, ihr Leben von Anfang an in die Hand des autoritären Systems zu legen, verspricht dieses großzügig, ihnen so viel davon zurückzugeben, wie unter der Aufsicht einer zentralisierten Bürokratie mechanisch geformt, quantitativ vermehrt, wissenschaftlich geordnet, technisch konditioniert, manipuliert, dirigiert und gesellschaftlich verteilt werden kann.

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Was anfangs nur für die Vermehrung der Gütermenge galt, gilt heute für jeden Aspekt des Lebens. Das gefügige Mitglied der megatechnischen Gesellschaft kann alles haben, was das System erzeugt — vorausgesetzt, daß es und seine Gruppe keine eigenen privaten Wünsche äußern und keinen Versuch machen, persönlich die Qualität zu ändern, die Quantität zu verringern oder die Kompetenz der Entscheidungsträger in Frage zu stellen. In einer solchen Gesellschaft sind Genügsamkeit und kritische Einstellung unverzeihliche Sünden oder vielmehr strafbare Delikte.

»Ist das denn nicht ein fairer Handel?« fragen die Fürsprecher des Systems. »Bietet die Megatechnik mit ihrer Magie nicht das Füllhorn des Überflusses, von dem die Menschheit stets träumte?« Ganz richtig. Viele der Güter, die die Megatechnik heute liefert, und noch mehr jene, die sie in Zukunft zu bringen verspricht, sind wirkliche Güter: auf hohem Niveau standardisiert, mechanisch effizient, verkörpern sie, zumindest in den besten Exemplaren, jene immense Fülle von organisierten, kritisch verglichenen und überprüften wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in unserer Zeit die Menschheit mit einer Macht ausgestattet haben, die sie nie zuvor besaß und von der sie nicht einmal zu träumen wagte. Und wenn dieses Wissen nur von einer hochbegabten Minderheit — Meistern im abstrakten Denken, aber nur allzu oft kleinen Kindern in bezug auf praktische menschliche Erfahrung — verstanden und angewandt werden kann, wie steht es dann um die Vorteile, die heute selbst die Beschränktesten genießen? Gibt es nicht bereits eine Egalisierung des Güterkonsums, wie sie bisher in zivilisierten Gemeinschaften so gut wie unbekannt, in primitiveren Kulturgemeinschaften allerdings trotz deren Armut die Regel war?

Sind Kühlschränke, Autos, Flugzeuge, automatische Heizsysteme, Telephone, Fernsehgeräte und elektrische Waschmaschinen vielleicht zu verachten? Und was ist mit dem Bulldozer, dem Gabelstapler, dem elektrischen Kran, dem Förderband und tausend anderen nützlichen Erfindungen, die die mühselige Plackerei abgeschafft haben? Was ist mit der schweren geistigen Last der Buchhaltung, die der Computer uns abgenommen hat? Und was mit der hohen Kunst des Chirurgen und des Zahnarztes? Stehen wir hier nicht gewaltigen Errungenschaften gegenüber? Warum sollten wir einigen alten Gütern und Freuden nachweinen, die bei diesem elektro-mechanischen Fortschritt auf der Strecke geblieben sind? Weint denn irgendein vernünftiger Mensch der Steinzeit nach? Wenn alle diese Güter an sich nützlich und wünschenswert sind, wie können wir dann das System verurteilen, das sie allgemein macht? So fragen die offiziellen Sprecher des Systems.

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Ja: wenn man die unmittelbaren Produkte der Megatechnik einzeln untersucht, dann haben diese Behauptungen und Versprechungen ihre Berechtigung und sind echte Errungenschaften. Die einzelnen Vorzüge, getrennt von den langfristigen menschlichen Zielen und einer sinnvollen Lebensform betrachtet, sind unbestreitbar. Keine der effizienten Organisationsformen der Megatechnik, keine ihrer arbeitsparenden Einrichtungen, keines ihrer neuen Produkte, so weit sie auch von altbewährten Formen abweichen mögen, sollte willkürlich herabgesetzt oder vernachläßigt, geschweige denn leichtfertig verworfen werden. Es ist nur eine Einschränkung zu machen, die von den Apologeten des Machtkomplexes sehr bewußt übergangen wird: Alle diese Güter haben nur dann einen Wert, wenn wichtigere Belange des Menschen nicht mißachtet oder negiert werden.

Ein großer Teil der Verheißungen Francis Bacons hat nach wie vor Geltung und wird, weiter gültig bleiben. Ich will hier nur betonen, daß diese Verheißungen nicht bedingungslos sind. Ganz im Gegenteil: Wenn sie einseitig in Erfüllung gehen, so daß nur die Ansprüche der Megatechnik befriedigt werden und unaufhörlich, ohne Rücksicht auf andere menschliche Funktionen und Projekte, das keinem menschlichen Zweck dienende Lustzentrum des Profits stimuliert wird, bringt dies schwere Nachteile, die erkannt und aufgehoben werden müssen. Das von der Megatechnik gestiftete Unheil rührt nicht von ihren Pannen und Fehlschlägen her, sondern von ihrem maßlosen Erfolg in allgemeiner Quantifizierung. Dieser Defekt war bereits in der Konzeption des mechanischen Weltbilds enthalten, das die organischen Bedürfnisse und Rückkopplungsprozesse mißachtete und Quantität und Geschwindigkeit überbetonte, als ob Quantität an sich schon den Wert des quantifizierten Produkts garantierte.

Der denkende Mensch stellt also nicht die mechanischen oder elektronischen Produkte an sich in Frage, sondern das System, das sie hervorbringt, ohne ständig auf menschliche Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen und die Produkte zu modifizieren, wenn diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Zum Glück sickert heute die qualitative Beurteilung allmählich wieder in das System ein, in der Form der Kosten-Nutzen-Rechnung, wie sie von Technikern und Managern aufgestellt wird: eine formelle Anerkennung der Tatsache, daß technische Fortschritte oft nur unter großen sozialen Verlusten erzielbar sind, und daß man, ehe man die Vorteile der Megatechnik bedingungslos akzeptiert, die damit verbundenen Nachteile untersuchen muß, um zu entscheiden, ob die Gewinne sie rechtfertigen und ob sie nicht nur unmittelbar, sondern auch auf lange Sicht erstrebenswert sind. In einer biotechnischen Ökonomie würden rein finanzielle Kriterien in einer solchen Rechnung nicht die Hauptrolle spielen.

 

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Quantität ohne Qualität

 

Der schwerste Fehler der Megatechnik, der nach den historischen Prinzipien des Machtkomplexes unkorrigierbar ist, entspringt unmittelbar ihren erstaunlichen Leistungen: Das menschliche Leben wird an Hunderten Stellen durch schieren quantitativen Überschuß erdrückt und erstickt — beginnend mit dem Geburtenüberschuß. Dieser Überschuß bringt, wie wir heute sehen können, nicht nur Gewinn, sondern auch hohe Kosten und verheerende Nachteile mit sich; schlimmer noch, der Machtkomplex profitiert ebenso von der Erzeugung schädlicher Produkte, beispielsweise Zigaretten oder Insektenvertilgungsmittel, wie vom Anbau nahrhafter Lebensmittel — ja, die Profite sind bei schädlichen Erzeugnissen oft weit höher.

Nun wurde die Entdeckung, daß Quantität an sich kein Segen ist, schon in unvordenklichen Zeiten gemacht, als nur eine begünstigte Minderheit über Güter und Dienstleistungen in relativ unbegrenzter Menge verfügen konnte. Wie ich schon zeigte, wurde das alte zivilisierte Machtsystem, der Vorläufer unserer modernen Überflußwirtschaft, erstmals zwischen dem achten und dem sechsten Jahrhundert vor Christus ernstlich in Frage gestellt, als eine Reihe von Propheten und Philosophen, die erkannten, welch schädliche Folgen die hemmungslose Jagd nach unbegrenzten Mengen von Speise, Trank, sexueller Lust, Geld und Macht hatte, ein neues System freiwilliger Kontrolle einführte. Die exhibitionistischen Konsumformen, die für die Reichen und Mächtigen kennzeichnend waren, wurden nicht mehr als Vorbilder angesehen: Die axialen Religionen und Philosophen predigten stattdessen Enthaltsamkeit, Mäßigung, Einschränkung überflüssiger Bedürfnisse und launischer egoistischer Wünsche, sowohl um des inneren Gleichgewichts als auch um der geistigen Erhebung willen.

Obwohl die Zivilisation etwa 2500 Jahre lang in gewissem Maß unter dem Einfluß der axialen Religionen und Ideologien stand, vermochten diese selbst zur Zeit ihrer größten Verbreitung und höchsten Vollendung die alten Machtsysteme nicht völlig zu verdrängen und die Entstehung des heutigen nicht zu verhindern. Und dies aus zwei Gründen. Erstens haben die neuen Denkweisen sich nie allgemein genug durchgesetzt, um die herrschenden Institutionen der alten Gesellschaft — Krieg, Sklaverei und ökonomische Ausbeutung — zu verdrängen und die sozialen Verirrungen, auf denen sie beruhten, zu überwinden. Aber nicht minder hemmend für sie war die Tatsache, daß ihre Enthaltsamkeitssysteme keinen diesseitigen Lohn verhießen, sondern den Gläubigen entweder ohne einen solchen glücklich machen wollten oder ihn auf eine Kompensation mit Zinsen und Zinseszinsen in einem imaginären Jenseits verwiesen.

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Infolgedessen kümmerten sich die axialen Religionen wenig um gerechte Güterverteilung und beschränkten sich im wesentlichen auf freiwillige Wohltätigkeit. Die ausschließliche Betonung der Qualität des Lebens, der inneren, subjektiven Befriedigung war somit bloß die Umkehrung der früheren Tendenz, die materielle Macht zu überwerten; indessen ist bei allen höheren Organismen ein Gleichgewicht der quantitativen und der qualitativen Faktoren, von Macht und Liebe nötig, um das bestmögliche Leben zu sicher. Weder wertfreie Macht noch machtlose Tugend geben eine angemessene Antwort auf das Problem des Menschen.

Was die Überflußwirtschaft betrifft, so besteht eine merkwürdige Parallele zwischen dem Dilemma, mit dem der moderne Mensch heute durch die Technologie konfrontiert wird, und jenem, das vor langer Zeit infolge der übermäßigen Fruchtbarkeit mancher Spezies in der Natur auftrat. Den Biologen ist schon lange klar, daß die Vermehrungsfähigkeit jeder Spezies, auch solcher, die heute eine sehr bescheidene Rolle spielen, ausreichen würde, um mit ihrer Nachkommenschaft den ganzen Planeten zu übervölkern, wenn sie ungehindert wirken könnte. Zum Glück verfügt die Natur über eine ganze Reihe einschränkender Mittel, die auf längere Sicht einer übermäßigen Vermehrung entgegenwirken und ein Gleichgewicht herstellen. Angesichts ähnlicher Gefahren in der Vergangenheit wurde das menschliche Bevölkerungswachstum nicht nur durch Seuchen, Kriege und Hunger in Schranken gehalten, sondern auch durch Kindesmord, coitus interruptus, Homosexualität und freiwillige Enthaltsamkeit, die gelegentlich durch empirische Empfängnis­verhütungs­mittel ergänzt wurde.

In den letzten drei Jahrhunderten ist auf der ganzen Welt ein stetiges — wenn auch ungleichmäßiges — Bevölkerungswachstum festzustellen, aus Ursachen, die noch immer nicht ganz geklärt sind, da diese Entwicklung selbst in Gebieten vor sich ging, wo weder die natürlichen Ressourcen noch die Arbeitsproduktivität nennenswert zugenommen hat und, wie es scheint, auch keine bedeutenderen Änderungen in den Sexualgewohnheiten und in der Körperhygiene eingetreten sind. Was auch immer die verschiedenen Ursachen und Bedingungen sein mögen, der sogenannten Bevölkerungsexplosion entsprach die technologische Explosion der westlichen Zivilisation; und beide haben ein gemeinsames Resultat — die Verschlechterung des Lebens.

Die Erkenntnis, daß eine solche Vermehrung nicht unbegrenzt andauern kann, ist spät gekommen; doch die erste Wahrnehmung der Gefahren, etwa in Thomas Malthus' Essay über Bevölkerungsentwicklung, neben der Erfindung der ersten billigen Verhütungsmittel — hauptsächlich der Sterilisierungsspülung — verlangsamte das Wachstum in Ländern wie Frankreich und England soweit, daß Bevölkerungsexperten um 1940 hofften, in der nächsten Generation ein Gleichgewicht zu erreichen, oder sogar, wie in Frankreich, einen Bevölkerungsrückgang.

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Diese Prognosen haben sich nicht erfüllt; aber die Tatsache, daß faktisch eine Verlangsamung eintrat, hat gezeigt, daß mit einiger Vernunft eine übermäßige Vermehrung vermeidbar ist. Die Empfängnis­verhütungsmittel, die nötig sind, um das Bevölkerungswachstum auf der ganzen Welt auf ein sozial und ökonomisch optimales Maß zu reduzieren, stehen zu relativ geringfügigen Kosten zur Verfügung. Die noch verbleibenden Hindernisse sind nicht technischer, sondern psychologischer und ideologischer Natur.

Die Technologie hat leider bis heute weder aus sich heraus noch in Form ihrer bevorzugten ökonomischen Anreize ein Mittel entwickelt, um die Vermehrung der Maschinen und der Maschinenprodukte zu bremsen; Macht wie Profit sind davon abhängig, daß mehr Güter für mehr Konsumenten produziert und daß die Produkte so schnell wie möglich konsumiert werden.

So wird auf lange Sicht — und darunter versteht man eine Zeitspanne von wahrscheinlich weniger als hundert Jahren — unser expandierendes megatechnisches System, wenn es seinen gegenwärtigen Kurs unverändert weiterverfolgt, die Erde für eine Bevölkerung im Ausmaß der gegenwärtigen wahrscheinlich unbewohnbar machen, ja schließlich würde sogar eine weniger zahlreiche Bevölkerung dem Untergang geweiht sein, wenn dieselben wahnsinnigen Kräfte weiterwirken. Wenn ein renommierter Wissenschaftler wie Dr. Lee du Bridge die massenweise Verwendung nicht ausreichend geprüfter Schädlings­vertilgungs­mittel, Antibiotika und möglicherweise ebenso gefährlicher Pharmazeutika mit der Begründung verteidigen kann, es würde zehn Jahre dauern, sie ausreichend zu testen und ihren Wert und ihre Unschädlichkeit zu garantieren, und die »Wirtschaft könne nicht warten« — so ist es offenkundig, daß bei ihm die finanziellen Interessen stärker sind als die wissenschaftlichen und daß für die Wirtschaft der Schutz des menschlichen Lebens von untergeordneter Bedeutung ist.

Nicht, daß es im letzten Jahrhundert an Warnungen vor Fehlanwendung sowohl der Wissenschaft als auch der Technik gemangelt hätte. Noch vor dem Schock, den das Verbot des DDT auslöste, hatte bereits das Wenner-Gren-Symposium von 1955 in seiner Untersuchung der Rolle des Menschen bei der Veränderung der Erdoberfläche den ungeheuren Umweltzerstörungen, die die verantwortungslose Fehlanwendung der Technik angerichtet hatte, gebührende Beachtung geschenkt; und die späteren Unter­suchungen vieler anderer fähiger Biologen, vor allem Rachel Carsons und Barry Commoners, haben erstaunlich schnell die Lage klargemacht.

Selbst jene, die sich persönlich durch die Steigerung der Quantitäten nicht bedroht fühlen, können nicht umhin, deren statistisch nachweisbare Folgen in den vielen Formen der Umweltschädigung und der Störung des ökologischen Gleichgewichts zu erkennen, die das Nebenprodukt unserer megatechnischen Wirtschaft sind.

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Es ist eine ironische Folge des Quantitätsprinzips, daß viele der begehrtesten Gaben der modernen Technik verschwinden, wenn sie en masse verteilt oder wenn sie — wie beim Fernsehen — allzu konstant oder allzu automatisch angewendet werden. Die Produktivität, die in jeder Hinsicht eine größere Wahlfreiheit bei stärkerer Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Präferenzen bieten könnte, wird statt dessen zu einem System, das sein Angebot auf Dinge beschränkt, nach denen eine Massennachfrage erzeugt werden kann. So verschwindet die Wildnis, wenn Zehntausende Menschen gleichzeitig mit ihren Autos in eine unberührte Gegend strömen, um »der Natur nahezukommen«, und an ihre Stelle tritt Megalopolis.

Kurz, die Megatechnik hat keineswegs das Problem des Mangels gelöst, sondern es nur in einer neuen Form präsentiert, in der es noch schwerer zu lösen ist. Resultat: Eine ernste Beeinträchtigung des Lebens als unmittelbare Folge eines unverwendbaren und unerträglichen Überflusses. Der Mangel aber bleibt bestehen; zugegeben, kein Mangel an maschinell erzeugten materiellen Gütern oder an technischen Dienstleistungen, aber an allem, was eine vollere Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen würde, die auf anderen Werten als auf Produktivität, Geschwindigkeit, Macht, Prestige und Profit basiert. Weder in der Umwelt als Ganzem noch in der einzelnen Gemeinschaft und deren typischen Persönlichkeiten sorgt man für jene Bedingungen, von denen Gleichgewicht, Wachstum und sinnvoller Ausdruck abhängen. Die Mängel liegen nicht in den einzelnen Produkten, sondern im System: Es. fehlt ihm an der Empfindlichkeit, der wachen Wahrnehmung und Anpassung, der eingebauten Kontrolle, dem harmonischen Gleichgewicht von Aktion und Reaktion, von Äußerung und Hemmung, die alle organischen Systeme aufweisen — vor allem die menschliche Natur selbst.

In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, schrieb Goethe, und diese Wahrheit gilt nicht nur für geniale Schriftsteller, sondern für alle Organismen: Das Wesen des Organismus ist selektive Organisierung und quantitative Beschränkung. Alles Leben existiert innerhalb eines engen Bandes von Hitze und Kälte, Ernährung und Hunger, Wasser und Durst: Ein Mensch stirbt, wenn er drei Minuten nicht atmet, einige Tage ohne Wasser, einen Monat ohne Nahrung ist. Doch zuviel ist ebenso schlecht wie zuwenig. Wenngleich überschüssige Mengen, in Reserve gehalten, eine wichtige Rolle bei der Erhaltung des Gleichgewichts im Organismus spielen und Freiheit und Entfaltung ermöglichen, entfaltet der Mensch sich nicht durch ständigen Verbrauch unbegrenzter Mengen. Kurz, den glänzendsten Errungenschaften der modernen Technologie fehlen genau jene spezifischen organischen Wesenszüge, die Galilei, Descartes und deren Nachfolger zuerst systematisch vernachlässigten und dann verwarfen.

 

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Die Gefahr des Schmarotzertums 

 

In der Überflußwirtschaft, selbst in der begrenzten Form, wie sie bisher in den Vereinigten Staaten herrscht, bringen die ungeheuren Verlockungen — Sicherheit, Freiheit, Wohlstand — leider eine ebenso ungeheure Gefahr mit sich: die Gefahr eines allgemeinen Schmarotzertums. Frühere Kulturgemeinschaften hatten bereits kleinere Kämpfe mit diesem Feind auszutragen: Die Kundschafter des Odysseus bei den Lotusessern waren von der honigsüßen Nahrung und der träumerischen Sorglosigkeit so betört, daß sie mit Gewalt zurückgeholt werden müßten. So mancher Kaiser oder Despot machte die Erfahrung, daß Permissivität in der Form sinnlicher Verführungen und Verlockungen ein wirksameres Mittel zur Erziehung von Willfährigkeit sein kann als Zwang. Hat der Schmarotzer sich erst eingenistet, dann identifiziert er sich mit seinem Wirt und sucht dessen Prosperität zu fördern. Da das Schmarotzertum im Tierreich ausgiebig beobachtet worden ist, verfügen wir über genügend Tatsachen­material, um voraussagen zu können, welche Folgen es letztlich beim Menschen haben wird.

Nun bietet die Megatechnik als Gegenwert für bedingungslose Hinnähme ein müheloses Leben an: eine Fülle massengefertigter Güter, die mit einem Minimum an physischer Aktivität, ohne schmerzliche Konflikte oder schwere Opfer erworben werden; ein Leben auf Raten, aber mit unbegrenztem Kredit, und der Endpreis — Überdruß und Verzweiflung — in Kleindruck. Wenn der Mensch bereit ist, auf Bewegungsfreiheit, Selbstgenügsamkeit und Autonomie zu verzichten, erhält er, sofern er seinem Leviathan-Wirt treu bleibt, viele der Güter, um die er einst hart arbeiten mußte, und dazu eine große Draufgabe betörender Überflüssigkeiten, die er wahllos und schrankenlos — aber natürlich unter dem eisernen Diktat der Mode — konsumieren darf.

Die letzten Konsequenzen einer solchen Unterwerfung könnten sehr wohl das sein, was Roderick Seidenberg vorausgesehen hat: ein Rückfall in den Urzustand der Bewußtlosigkeit, in dem selbst jene begrenzte Bewußtheit verloren geht, die andere Tiere brauchen, um zu überleben. Mit Hilfe halluzinogener Drogen könnte dieser Zustand von den offiziellen Manipulatoren und Konditionierern sogar als Bewußtseinserweiterung dargestellt oder mit sonst einer beruhigenden Phrase erklärt werden, welche die Werbefachleute liefern.

Sollte es noch eines Beweises für das wahre Wesen der elektronischen Kontrolle bedürfen, so hat kein Geringerer als McLuhan ihn beigesteuert; in Understanding Media sagt er: »Die elektromagnetische Technologie erfordert äußerste menschliche Fügsamkeit (von mir hervorgehoben) und meditative Ruhe, wie sie einem Organismus paßt, der sein Gehirn nun außerhalb des Schädels trägt und seine Nerven außerhalb der Haut.

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Der Mensch muß seiner elektrischen Technologie mit der gleichen servomechanistischen Treue dienen, mit der er einst seinem Floß, seinem Kanu, seiner Buchdruckerkunst und allen anderen Verlängerungen seiner physischen Organe gedient hat.« Um sein Argument zu beweisen, leugnet McLuhan frech die ursprüngliche Aufgabe der Werkzeuge und Utensilien als direkte Diener menschlicher Zwecke. Mit einer ähnlichen Verdrehung möchte McLuhan die Zwänge des Pyramidenzeitalters als wünschenswerten Wesenszug des totalitären elektronischen Komplexes wiederherstellen.

Die Große Bestechung erweist sich als wenig besser denn die Bonbons eines Kindesverführers. Eine solche parasitäre Existenz, wie die Megatechnik sie bietet, wäre im Endeffekt eine Rückkehr in den Mutterleib: diesmal in einen kollektiven. Zum Glück ist der Säugerembryo der einzige Parasit, der sich als fähig erweist, diesen Zustand zu überwinden: Der erste Schrei des Neugeborenen verkündet triumphierend sein Entrinnen. Aber man beachte: Hat ein Menschenkind erst den Mutterleib verlassen, so werden die Umstände, die dort seinem Wachstum förderlich waren, zur Behinderung. Nichts kann die Entwicklung so wirkungsvoll hemmen wie mühelose, sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses, jedes Wunsches, jedes blinden Impulses durch mechanische, elektronische oder chemische Mittel. In der ganzen organischen Welt beruht Entwicklung auf Anstrengung, Interesse und aktiver Teilnahme — nicht zuletzt auf der stimulierenden Wirkung von Widerständen, Konflikten, Hemmungen und Verzögerungen. Selbst bei den Ratten kommt vor der Paarung die Werbung.

Diese Bedingung ist für die menschliche Entwicklung so wesentlich, daß im Spiel, wo der Mensch alle Bedingungen willkürlich festlegen kann, räumliche und zeitliche Grenzen gesetzt und die strengen Regeln, verstärkt durch Strafen, von den Launen und Wünschen der Spieler unabhängig sind. Das Wesen des Spiels liegt in der Spannung und im Wetteifern, nicht nur im Gewinnen oder Verlieren: Allzu leichter Gewinn verdirbt die Freude am Spiel - auch für den Gewinner. Wenn das einzige Ziel des Fußball­spiels darin bestünde, den Ball ins Tor zu bringen, dann wäre die einfachste Art, zu gewinnen, wie William James einmal feststellte, in einer dunklen Nacht den Ball heimlich dorthin zu tragen. Nach dem gleichen irreführenden Prinzip des leichten Erfolgs wurde kürzlich behauptet, einsames Onanieren sei besser als Geschlechtsverkehr.

Doch der mühelosen, automatisch geregelten, reibungslos sicheren, ausschließlich auf dem Lustprinzip fußenden Existenz, wie die Megatechnik sie verspricht, würde der belebende Hauch der Wirklichkeit fehlen, den sogar ein Spiel bietet. In Ägypten und Griechenland hatten wahrscheinlich sogar die Sklaven es besser, was ihre organischen Bedürfnisse betraf — zumindest jene Sklaven, die in Kunst und Handwerk tätig waren.

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Zu diesem Thema gibt es auch Beispiele aus dem Tierreich. Leiter von Tiergärten haben festgestellt, daß ihre Tiere in besserer Verfassung bleiben, wenn sie, wie in der freien Natur, einen Kadaver zu zerreißen bekommen, als wenn man ihnen das Fleisch bereits in Stücke geschnitten vorsetzt. Interesse stimuliert Anstrengung, diese wieder hält das Interesse wach.

Für kürzere Perioden, etwa bei Krankheit und Genesung oder schwerer Übermüdung, mag es angebracht sein, in ein quasi-parasitäres Verhalten zurückzufallen, wie man es als Patient in einem Sanatorium oder als Passagier an Bord eines Schiffes tut. Aber diesen Zustand zum Ziel des Lebens zu machen und darin den Lohn für alle früheren Mühen und Plagen des Menschen zu sehen, heißt vergessen, wodurch der Mensch sich ursprünglich über das Tierreich erhoben hat: durch ein intensiveres und anstrengenderes Leben, als die Mehrzahl der anderen Tiere es führen.

Keine Nabelschnur band den Menschen an die Natur; weder Sicherheit noch Anpassung waren die Leitlinien der menschlichen Entwicklung; und da das tropische Klima allzusehr Lässigkeit und Trägheit fördert, erhob sich der Geist des Menschen dort am höchsten über die tierische Enge, wo die Bedingungen besonders schwierig waren: am Rand der Wüste, an periodisch über die Ufer tretenden Strömen, in rauhen, kargen, unwirtlichen Gegenden; dort erreichte er nicht nur Ausgewogenheit und Wachstum, sondern auch das höchste — wenngleich seltene — Attribut der menschlichen Persönlichkeit: Transzendenz.

Obwohl die Domestizierung zu keiner so allgemeinen Entartung führt wie das totale Schmarotzertum, so zeigen doch neueste Untersuchungen von Curt P. Richter an der Wanderratte, daß unter solchen Bedingungen noch etwas Ernsteres als Autonomie­verlust auftritt. Die Wanderratte wurde erstmals um 1800 domestiziert, um Opfer für den rohen Sport der Rattenhatz zu liefern; und bis Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war eine domestizierte Rasse von Albinoratten entstanden, in verschiedenen genetischen Variationen - ohne Zähne, ohne Fell, fettleibig, mit angeborenem grauen Star -, die bei der wilden Art nicht vorkommen.

Richter vergleicht die Bedingungen der Rattendomestizierung mit denen des heutigen Wohlfahrtsstaats — reichliche Nahrung, keine Gefahren, keine Belastung, Gleichförmigkeit von Umwelt und Klima und so weiter. Aber unter diesen scheinbar günstigen Bedingungen trat ein organischer Verfall ein: Verkleinerung der Nebennieren, die dem Körper Streß und Müdigkeit bekämpfen und gewisse Krankheiten abwehren helfen; zugleich ließ die Tätigkeit der Schilddrüse, des Stoffwechselregulators, nach. Es ist wohl kein Wunder, daß das Gehirn der Hausratte kleiner und wahrscheinlich auch ihre Intelligenz geringer ist. Hingegen reifen die Geschlechtsdrüsen früher, werden größer, aktiver und bewirken schließlich eine höhere Fruchtbarkeitsrate. Wie menschlich!

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Richter verweist auf typische Krankheiten einer, allzugut geschützten menschlichen Bevölkerung: vermehrtes Auftreten von Arthritis, Hautkrankheiten, Diabetes und Kreislaufstörungen; Tumore sind häufiger bösartig, anscheinend infolge übermäßiger Sekretion von Sexualhormonen. Ebenso auffallend ist die Abnahme der Vitalität und die Zunahme neurotischer und psychotischer Störungen. Das sind keine schlüssigen Beweise; aber sie legen den Gedanken sehr nahe, daß jede Definition einer vorteilhaften Ökonomie, die sich auf die Erlangung eines Maximums an physischen Subsistenzmitteln bei einem Minimum an organischer Anstrengung beschränkt, die komplexeren, auch negative Elemente einschließenden Voraussetzungen jeder organischen Entwicklung ignoriert.

Zu diesem Thema machte Patrick Geddes als Biologe vor langer Zeit einige Bemerkungen, die noch heute Gültigkeit haben. In seiner Analysis of the Principles of Economics stellte er fest, daß die »Bedingungen für die Degeneration in der organischen Welt einigermaßen bekannt sind. Diese Bedingungen sind oft von zweierlei unterschiedlicher Art: Entzug von Nahrung, Licht und so weiter, was zu Unterernährung und Entkräftung führt; die andere - ein Leben in Untätigkeit, verbunden mit überreichlicher Nahrung und verminderten Umweltgefahren. Es ist bemerkenswert, daß im ersten Fall nur der jeweilige Typus dezimiert oder schlimmstenfalls ausgerottet wird, während im zweiten Fall die ungenügende Inanspruchnahme des Nervensystems und anderer Systeme infolge einer solchen Lebenserleichterung zu einer weit tückischeren und gründlicheren Degeneration führt, wie aus der Entwicklungsgeschichte von Myriaden Parasiten abzulesen ist.«

Die vielfach bereits erkennbaren Persönlichkeitsveränderungen als Folge des Versuchs, mit Hilfe der Megamaschine ein Leben herbeizuführen, das möglichst wenig Denken, physische Anstrengung und persönliche Anteilnahme erfordert, sind noch nicht gewertet und beurteilt worden; doch die Extreme, auf welche diese Entwicklung sich hinbewegt, sind offenkundig: Infantilität und Senilität. Den Psychoanalytikern ist schon lange eine latente Tendenz des Menschen, in den Mutterleib zurückzukehren, bekannt. Selbst nachdem das Kind diese perfekte Umwelt verlassen hat, behält es eine Illusion der Allmacht: Es braucht nur zu schreien, und alle seine Wünsche werden erfüllt. Wenn es laut brüllt, erhält es von der Umwelt eine unmittelbare Antwort: Ein vertrautes Gesicht erscheint, eine Hand streichelt es, eine Brust bietet ihm Nahrung.

Diese magische Mühelosigkeit auf das Erwachsenenleben zu übertragen, war der stillschweigende Zweck des Systems der Automation, das der moderne Mensch geschaffen hat. Aber der Zustand, in dem der Säugling sein Leben beginnt, die Periode, in der er zwischen seinem eigenen Körper und seiner unmittelbaren Umwelt nicht unterscheiden kann, wird in einem

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späteren Stadium zur Unfähigkeit, sich selbst zu erkennen oder irgendwelche Wünsche zu hegen, die nicht sogleich in der gegebenen Umwelt befriedigt werden können. Der Preis dieser magischen Wunscherfüllung ist totale Abhängigkeit; und gäbe es keinen weiteren Entwicklungsprozeß, der das fordernde Kind von seinen nachgiebigen Eltern löst, dann käme es zu einer fort­schreitenden Nichtbeanspruchung wichtiger Organe und zum Rückfall in einen Zustand völliger Denkunfähigkeit.

Beginnt demnach die Automation mit der Herstellung infantiler Abhängigkeit, so endet sie — in dem Maße, als es ihr gelingt, ihre Lebensordnung der ganzen Gesellschaft aufzuzwingen — mit seniler Entfremdung und Verkümmerung, mit dem Ausfall bereits entwickelter Eigenschaften und Funktionen. Letztlich also bewirkt die Automation künstlich vorzeitiges Alter; denn sie reduziert den menschlichen Organismus auf jenen Zustand der Hilflosigkeit, Geistesschwäche und Arbeitsunfähigkeit, der der schlimmste Fluch des alternden Menschen ist. Die gegenwärtige Welle schamloser Pornographie ist vielleicht ein letzter Beweis für jene Senilität: Sie konzentriert sich unvermeidlich auf abstrakte Bilder oder auf das, was vom Sex bleibt, wenn die aktive Liebesfähigkeit schwindet.

Der traumatische Schock, der oft alte Menschen überwältigt, wenn sie das Pensionsalter erreicht haben, ist die Erkenntnis, daß sie nicht mehr gebraucht werden, obwohl sie noch imstande wären, Leistungen zu vollbringen. Die grausamste Prüfung des pensionierten Arbeiters ist die Konfrontation mit einer Zukunft, in der er keine Funktion mehr zu erfüllen, keinen Platz mehr einzunehmen und keine Verantwortung mehr zu tragen hat. Jene, die dem Alter mit Vernunft entgegensehen, versuchen, diese Schlußphase der Entsagung, Entfremdung und Lähmung so lange wie möglich hinauszuschieben. Aber je erfolgreicher und umfassender die megatechnische Automation wird, in desto frühere Lebensstadien verlegt sie jene Alterssorgen, bis schließlich eines Tages die Merkmale ,der Infantilität in die der Senilität übergehen werden, ohne eine Lücke zu lassen für etwas, das man rechtens als reifes, selbstbestimmtes und erfülltes Leben bezeichnen könnte.

 

Zweifelt jemand noch daran, daß die Megamaschine, wenn sie erst voll in Tätigkeit ist, zwangsläufig solches kollektive Schmarotzertum hervorbringen wird, so kann ihm mit massenhaft Beweismaterial fast vom Anfang der geschriebenen Geschichte an gedient werden. Nichts ist augenfälliger in der gesamten Menschheitsgeschichte als die chronische Unzufriedenheit, das Unbehagen, die Angst und die psychotische Selbstzerstörung der herrschenden Klassen, sobald sie »alles haben, was das Herz begehrt«. Denn die herrschende Minderheit, das Häuflein der Privilegierten, erlitt stets, was letztlich der Fluch einer solchen sinnlosen Existenz ist: schiere Langeweile. Siehe den mesopotamischen Dialog über den Selbstmord, der in Pritchards Schriften und in The Intellectual Adventure of Ancient Man zitiert wird.

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Könige haben sich schon immer gerühmt, daß jeder ihrer Wünsche Befehl war. Der klassische Beweis ihrer Macht und ihres Erfolgs bestand in ihrer Verfügung über grenzenlose Mengen von Speise und Trank, Gewändern und Schmuck, über die Dienste zahlloser Sklaven, Lakaien und Beamten, über unbegrenzte Sinnesfreuden und nicht zuletzt über unbeschränkte Möglichkeiten des Sexuallebens, denn schon damals wurde erotische Lust rein mengenmäßig erfaßt. Überfluß, einst das Monopol des Königs und seines Hofes, wird heute als Geschenk des Machtsystems an die gesamte Menschheit hingestellt.

Man beachte jedoch den großen Unterschied zwischen diesen beiden Formen. Im alten System existierte eine heilsame Herausforderung, die es nicht mehr geben wird, sobald die gegenwärtigen Tendenzen erst allgemein geworden sind. Das Schmarotzertum der Minderheiten im Altertum war faktisch die ambivalente Folge ihrer ursprünglich räuberischen Lebensweise. Nur mit äußerster Anstrengung und unter ständiger Lebensgefahr unterwarfen jene Herrscher und ihre Krieger die viel zahlreichere bäuerliche Bevölkerung und beuteten sie aus. Selbst als die siegreichen Monarchen genügend Macht besaßen und ausreichende Tribute erhielten, um in eine parasitäre Lebensweise verfallen zu können, mußten sie doch stets auf der Hut sein vor Angriffen neidischer Rivalen und Anschlägen anderer räuberischer Herrscher und Fürsten, die ihren Machtbereich zu erweitern suchfen, oder auch vor Massenaufständen der ausgebeuteten Völker und der Sklaven, wie etwa im Falle des Auszugs der Juden aus Ägypten.

Bei den ersten Anzeichen einer Revolte oder sogar in vorbeugender Vorwegnahme griff die herrschende Klasse zu Streitaxt und Schwert, um ihre Autorität wiederherzustellen. Diese Spannung hielt die Hauptnutznießer des parasitären Systems in einem Zustand tierischer Wachsamkeit und Bereitschaft; und gewöhnlich übten sie ihre Kampftüchtigkeit bei der Löwen- und Tigerjagd. Jene, die sich verweichlichten und in parasitäre Trägheit versanken, wurden bald von fähigeren und aktiveren Rivalen verdrängt.

Der Krieg alten Stils war also nicht nur das übliche Mittel, um die Überschußenergien der archaischen Wirtschaft zu absorbieren; er hielt auch die herrschende Minderheit in Berührung mit den grundlegenden Realitäten der organischen Existenz, Realitäten, die eine nur auf dem Macht-Lust-Prinzip basierende Überflußwirtschaft stillschweigend negiert oder offen verhöhnt. Wie unsere gegenwärtigen militärischen Megamaschinen gebaut sind, werden selbst diese persönlichen Risken und Anstrengungen bald zu existieren aufhören; die einzige Gruppe, die in Sicherheit ist (wenn sie nicht in ihre bösartige Strategie die bakteriologische Kriegführung einschließt), wird die Militärkaste sein, die in ihren unterirdischen Kontrollzentren oder ihren mobilen Unter­wasser­verstecken sitzt.

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Sollte einmal eine weltweite Macht sich durchsetzen, wie es in Form eines Bündnisses heute antagonistischer militärischen Megamaschinen geschehen könnte, dann wäre die Voraussetzung für ein uneingeschränktes Schmarotzertum, das heißt, für die allgemeine Verkümmerung der menschlichen Entwicklungs­möglichkeiten gegeben.

In dem Bestreben, die Frage »Ist das Leben lebenswert?« zu beantworten, stellte William James fest, daß die psychologischen Begleiterscheinungen des biologischen Parasitentums zeigen, daß die organische Aktivität in ihrer höchsten Form zwischen zwei Polen oszilliert: zwischen positiv und negativ, Lust und Schmerz, gut und böse; und daß ein Versuch, nur in den Kategorien des Positiven, des Angenehmen und der Fülle zu leben, eben jene Polarität zerstört, die notwendig ist, damit das Leben seinen vollen Ausdruck findet. »Es ist wirklich ein bemerkenswertes Faktum«, sagte James, »daß Leid und Not in der Regel die Liebe zum Leben nicht vermindern; sie scheinen sie eher zu verstärken. Die Hauptquelle der Melancholie ist Überfülle. Not und Kampf sind es, die uns erregen; die Stunde des Sieges gibt uns ein Gefühl der Leere. Nicht von den Juden in der Gefangenschaft, sondern von jenen aus den glorreichen Tagen von Salomos Größe stammen die pessimistischen Äußerungen in der Bibel.«

Selbst primitive Völker, von denen man annehmen würde, sie hätten ein allzu hartes Leben, haben dieses fundamentale Paradoxon erkannt: die innerhalb gewisser Grenzen austauschbaren Rollen von Lust und Schmerz; so haben sie Übergangsriten und Einweihungsprüfungen erfunden, die häufig mit körperlicher Verstümmelung verbunden waren und stoische Tapferkeit erforderten. Wenn physische Leistungen, Anspannung, Gefahr und rastlose Bemühungen nicht mehr notwendig sind, um den Lebensunterhalt zu erwerben, was wird den modernen Menschen dann gesund erhalten? Schon tritt auf Knopfdruck oder Schalterbetätigung ein ganzes Heer von mechanischen Dienern in Aktion. Unter diesen Bedingungen mag der Sport als zeitweiliger Ersatz für Arbeit dienen; aber nach den üblichen Regeln des Machtkomplexes wird er größtenteils hochbezahlten Berufssportlern übertragen und von Tausenden überernährten, untertrainierten Zuschauern verfolgt, deren einzige aktive Teilnahme am Spiel darin besteht, den Schiedsrichter anzugreifen.

Die Jugend einer solchen halbparasitären Kultur improvisiert heute ihre eigenen Übergangsriten in Form mörderischer Banden­überfälle, sadistischer Quälereien, blindwütiger Sachzerstörung und halsbrecherischer Autorennen, ohne Zügelung durch Stammesbräuche oder elterliche Weisheit. Die Kultur des alten Rom, die das Schmarotzertum in größtem Maßstab als römische Lebensart praktizierte, lieferte stellvertretende Qualen und Gefahren in der Arena: endlose Orgien der Gewalt, die in Massenmorden gipfelten.

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Ehe wir die versprochene Überfluß­wirtschaft als unvermeidlich hinnehmen, in jenen Formen, in denen sie sich uns heute präsentiert, sollten wir erst einmal die Anzeichen von Zerfall und Demoralisierung genauer untersuchen — wie ich es im nächsten Kapitel tun werde; sie sind bereits sichtbar in jeder Kultur, die auch nur leicht von dem erneuerten Machtsystem berührt worden ist.

Auch in diesem Fall wäre ich, wie in The City in History, meiner eigenen Interpretation der Gegebenheiten nicht so sicher, hätte mir nicht schon vor mehr als hundert Jahren einer der hervorragendsten politischen Interpreten, die Europa je hervorgebracht hat, vorgegriffen: Alexis de Tocqueville.

Bei seinen Beobachtungen der Demokratie in Nordamerika übersah er nicht die vielen Verheißungen der neuen Technologie; er sagte sogar ausdrücklich, die Geschichte der letzten siebenhundert Jahre sei eine Geschichte der fortschreitenden ökonomischen und sozialen Egalisierung gewesen. Er erkannte aber auch den furchtbaren Preis, den man für diese Fortschritte wahrscheinlich würde zahlen müssen.

Er sagte: 

»Ich suche die neuen Formen zu entdecken, in denen der Despotismus in der Welt auftreten wird, inmitten einer Masse von Menschen, die alle gleichberechtigt und gleichartig sind und unablässig danach streben, sich die kleinen, erbärmlichen Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Leben ausmachen ...

Über diesem Menschengeschlecht steht eine gewaltige Schutzmacht, die für die Genüsse der Menschen sorgt und über ihr Schicksal wacht. Diese Macht ist absolut, exakt, ordentlich, vorsorglich und milde. Sie könnte wie die Autorität eines Vaters sein, wenn sie, gleich jener, das Ziel verfolgte, junge Menschen auf das Erwachsensein vorzubereiten; aber sie trachtet im Gegenteil danach, sie permanent im Zustand der Kindheit zu halten; sie ist durchaus damit zufrieden, daß die Menschen ihr Leben genießen, vorausgesetzt, sie denken an nichts anderes als an Genuß.

Solch eine Regierung arbeitet gerne für das Glück der Menschen, doch will sie der alleinige Urheber und Herr dieses Glückes sein; sie sorgt für die Sicherheit der Menschen, vermehrt die lebensnotwendigen Güter, vermittelt ihnen Vergnügungen, regelt ihre wichtigsten Angelegenheiten, leitet ihre Wirtschaft, ordnet die Erbfolge und teilt die Hinterlassenschaften auf. Was bleibt noch, außer den Menschen alle Mühe des Denkens und alle Lebenssorgen zu ersparen? ...

Nachdem sie jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft in ihren mächtigen Griff bekommen und nach ihrem Willen umgeformt hat, streckt die oberste Macht ihren Arm nach der ganzen Gemeinschaft aus. Sie überzieht die Gesellschaft mit einem engmaschigen Netz komplizierter, einheitlicher Regeln, durch das auch die originellsten Denker und die energischsten Charaktere nicht hindurchkommen, um sich über die Masse zu erheben. Der Wille der Menschen wird nicht gebrochen, sondern aufgeweicht, gebeugt und gelenkt; selten werden die Menschen von der Macht zum Handeln gezwungen, doch ständig vom Handeln abgehalten ...

Ich war immer der Meinung, daß eine Knechtschaft von der ordentlichen, ruhigen und freundlichen Art, wie ich sie eben beschrieben habe, viel leichter, als man gewöhnlich annimmt, mit manchen äußerlichen Freiheitsformen verbunden werden kann und daß sie sogar unter den Fittichen der Volkssouveränität entstehen könnte.«

Kein anderer hat die Lockungen und die Gefahren der erfolgreichen Megatechnik, die in der Errichtung einer weltweiten Megamaschine gipfelt, treffender definiert. Was bei den utopischen und den Science-Fiction-Autoren reine Spekulation war, kommt nun der Verwirklichung bereits bedenklich nahe.

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