Einleitung
1 Gesellschaft und Politik im SED-Staat
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Die Gründung, der 40jährige Bestand und schließlich der Untergang der DDR waren Ergebnisse weltpolitischer Konstellationen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die DDR bildete dabei eine wichtige Säule für die außenpolitischen Interessen der Sowjetunion in Europa und ein wesentliches Element für die Aufrechterhaltung des Status quo im Kalten Krieg. Als das sowjetische Riesenreich ins Wanken kam, gab es die DDR auf. Aber auch die westeuropäischen Staaten, einschließlich der Bundesrepublik, haben die DDR lange als unverzichtbaren Bestandteil der europäischen Nachkriegsordnung betrachtet.
Diese außenpolitischen Faktoren garantierten zwar den Bestand der DDR, erklären aber nicht die bis in das letzte Jahr der DDR andauernde, relative innenpolitische Stabilität. Obwohl die DDR-Geschichte als »Untergang auf Raten« (mitter/wolle 1993) geschrieben werden kann, obwohl die immer neuen politischen Krisen auch von ökonomischen Krisen begleitet waren, obwohl in jeder Phase politische Gegner der SED zusetzten, war die DDR doch insofern stabil, als bis auf die ersten Nachkriegsjahre und den Juni-Aufstand von 1953 nicht unmittelbar sowjetische Panzer zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung gebraucht wurden.
Die gewaltigen Apparate der Machtorgane der SED kamen innenpolitisch nur gegen eine Minderheit der Bevölkerung zum Einsatz. In der Regel genügte der latente Druck, der mit ihrer Präsenz verbunden war. Unter dem Eindruck des raschen Untergangs der DDR darf nicht übersehen werden, daß die lange anhaltende, innenpolitische Stabilität Ergebnis einer Politik der SED war, die Bürger zur aktiven Mitarbeit und zu passiver Duldung zu veranlassen. Die Bilder der Massenerhebung von 1989 dürfen die Loyalität der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem gleichzeitig ungeliebten SED-Staat nicht verdecken. Der Zusammenbruch dieses Staates in den Wochen des Aufstandes zeigt das »Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR« (meuschel 1992).
Schon kurz nach dem Kriege gelang es den deutschen Kommunisten, sich in der Sowjetischen Besatzungszone eine Massenbasis aufzubauen. Die KPD und ab 1946 die SED rekrutierte sich aus Freiwilligen. Auch den kommunistisch kontrollierten und dominierten Massenorganisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) strömten die Menschen, gerade auch junge Leute, zu. In wenigen Jahren gelang es den Kommunisten, zahlreiche Menschen, die vorher dem NS-Regime verpflichtet waren, »umzuschulen« und in das politische System zu integrieren. In den letzten Jahren der DDR verfügte die SED über 2,3 Millionen Mitglieder, fast 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Weitere Millionen waren in den anderen Massenorganisationen erfaßt und damit Teil des politischen Systems.
Die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung hat ihre aktive Teilhabe am DDR-System in den Nachwendejahren vergessen und verdrängt. Wenn dies doch zur Sprache kommt, wird zumeist auf die Verhältnisse und Umstände der DDR-Diktatur verwiesen, die die Spielräume der Individuen klein hielten.
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Es lassen sich viele Zwänge benennen, die eine Anpassung erforderlich machen konnten. Dennoch reicht dies nicht aus, um die eigenen Anteile der Bürger am politischen System zu erklären. Die Lehrer, die Offiziere, die Funktionäre in den Verwaltungen und der Wirtschaft, die Kulturelite, das Heer der unerkannten Spitzel und viele mehr haben immer auch eigenständig, oft mit Eifer und Übereifer dem SED-Staat gedient und darauf geachtet, daß andere die gleichen Anpassungsleistungen wie sie erbrachten.
Zu den »Wahlen« gingen eben 99 Prozent der Bevölkerung. Ein vergleichbares Teilnahmeverhalten gab es auch bei der Jugendweihe, den großen Demonstrationen und immer wieder durchgeführten Unterschriftenaktionen zur Unterstützung politischer Ziele der SED. Teilnahmeverweigerer waren nicht nur politischem Druck ausgesetzt, sondern erlebten auch das völlige Unverständnis der Menschen in ihrer Umgebung, die sich durch die Zivilcourage anderer provoziert oder gar gefährdet sahen.
DDR-Geschichte – auch Widerstandsgeschichte – kann nicht geschrieben werden, wenn das Phänomen der massenhaften Anpassung und Selbstunterwerfung ignoriert wird. Diese Anpassung war nicht nur ein Zurückweichen vor der repressiven Gewalt der SED, sondern Ausdruck einer geistigen Unfreiheit, einer Bindung aus »Überzeugung«. Diese Bindung garantierte die Macht der SED über die Bevölkerung. Sie war ein Reflex der Menschen auf die äußere Unterdrückung, die zur eigenen Entlastung verinnerlicht wurde. Der immer drohenden Repression konnte man durch die Partizipation am repressiven System entgehen. Dies erforderte aber auch eine Begründung, die den Teilhabern am System Rechtfertigung vor sich selbst und ihrer Umwelt ermöglichte. Die erfahrene Bevormundung und Entmündigung mußte als sinnvoll erscheinen. Die Angst vor der Übermacht der SED mußte ins Positive gewendet werden.
Es darf nicht verkannt werden, daß die Legitimationsgrundlagen des DDR-Staates eine hohe Plausibilität besaßen. Die Formeln Antifaschismus und Sozialismus, die die moralische Legitimität des SED-Staates vornehmlich symbolisierten, drückten Absichten und Ziele aus, die Herrschende und Beherrschte miteinander verbinden konnten. Dies war angesichts der deutschen Verantwortung für den Krieg und den Völkermord entlastend. Die bindende Kraft der sozialistischen und antifaschistischen Legitimation beruhte nicht auf einem breiten Wissen über den Nationalsozialismus und erst recht nicht auf der Aneignung und intellektuellen Durchdringung der marxistischen Theorie. Antifaschismus und Sozialismus waren derart auf einen moralischen Anspruch reduziert, daß schon der Versuch, den Abgleich mit der Realität zu wagen, unter dem Verdikt stand, anti-antifaschistisch oder antikommunistisch zu agieren. Der hohe moralische Anspruch ersetzte geradezu die Wahrnehmung der Realität. Intellektuelle, Theologen und auch entschlossene Kritiker hatten die größte Mühe, die moralisch gestützte Legitimation des SED-Staates in Frage zu stellen.
Auf die Masse der Bevölkerung hat die politische und ideologische SED-Sprache nur mittelbar gewirkt und trug kaum zur Akzeptanz der SED-Herrschaft bei, zumal sie auch einen Überdrußeffekt erzielte. Die SED knüpfte an Verhaltensweisen und Orientierungen an, die mit Antifaschismus und Sozialismus kaum etwas gemein hatten. Das Instrumentalisieren traditioneller Urteile und Vorurteile erleichterte die Anpassung der Bevölkerung an die Erwartungen der SED, stellte zugleich aber auch eine Anpassung der SED an die unreflektierten Verhaltensmuster in der ostdeutschen Gesellschaft dar.
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Insofern ist die relative Stabilität des SED-Regimes im Rahmen des Wirksamwerdens von Orientierungen innerhalb der Traditionen der politischen Kultur zu erklären. Das gilt auch angesichts der Tatsache, daß sich die SED bewußt von den überkommenen kulturellen und politischen Traditionen trennen wollte und verändernd auf sie einzuwirken suchte. Dadurch verhinderte sie zwar eine geistige und praktische Auseinandersetzung mit der Tradition, beförderte aber zugleich, daß der Bodensatz der deutschen politischen Kultur zur Wirkung kam.
Da es der SED ohnehin nie gelang, eine eigenständige und originäre politische und soziale Ethik und Ästhetik zu entwickeln, die in der sozialen Praxis reproduziert werden konnte, fußte die Alltagskultur der DDR weithin auf zurückgebliebenen, provinziellen und oft genug philisterhaften sozialen Verhaltensweisen und Denkmustern. Die intensiven Versuche der SED, eine sozialistische Alltagskultur, eine sozialistische Lebensweise auf der Grundlage der veränderten Produktionsverhältnisse zu schaffen, scheiterten vollständig. Statt dessen wurde eine solche mühselig herbeidefiniert, ohne daß dadurch der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis gelöst werden konnte.
Die Orientierung an Leistung und Wohlstand förderte nicht die Entwicklung eines sozialistischen Gesellschaftsbewußtseins, das die individuellen, materiellen und kulturellen Bedürfnisse auf die Möglichkeiten der Gesamtgesellschaft ausgerichtet und beschränkt hätte. Wenn auch der im Sozialismus nicht ausrottbare Individualismus und die nicht überwindbaren materiellen Interessen als Erbe eines falschen Bewußtseins aus dem Kapitalismus denunziert wurden, mußte doch in der Praxis damit umgegangen werden.
Um die Motivlagen der Bevölkerung zu erreichen, wurde besonders in der Arbeits- und Leistungsfrage ständig experimentiert. Doch alle materiellen Anreize für die Individuen und alle ideologischen Appelle – selbst die Christen wurden mit der Erinnerung an das christliche Arbeitsethos strapaziert – nützten nicht viel. Das im Grunde ja noch vorhandene, an Leistung orientierte Arbeitsbewußtsein traf auf eine Arbeitsorganisation und eine Verteilungsstruktur, die jede individuelle Motivation neutralisierten.
Das Versagen der gesellschaftspolitischen Konzeptionen mußte darum nahezu zwangsläufig dazu führen, daß die SED und ihre Funktionärsschicht auf die banalisierten Normen ihrer eigenen Sozialisation zurückgriffen und über ihre politische Macht einen starken Konformitätsdruck ausübten. Im Ergebnis zeigte sich eine spannungslose, unkreative und verkrampfte Alltagskultur. Grau in grau war nicht nur die vom Verfall und Braunkohlenrauch gezeichnete urbane Landschaft, sondern auch die öffentliche, zwischenmenschliche Atmosphäre.
Die ständig bevormundeten und ermahnten DDR-Bürger ermahnten sich auch gegenseitig. Das politische und soziale Unbehagen äußerte sich in einem platten Moralismus. Volkspolizisten ließen Verkehrssünder reuevolle Stellungnahmen am Tatort abgeben. Verkäuferinnen bewachten die Kundenschlangen mit strengen Vorhaltungen, als hätten die Kunden den Mangel organisiert. Lokaljournalisten beträufelten die Leser mit ihrem Moralin als Ersatz für Problembewußtsein. Die sprichwörtliche Prüderie in der Sexualmoral entsprach viel mehr chaotischen Verdrängungsakten geängstigter Kleinbürger, deren Flucht in die Hygienisierung des Eros und der Mobilisierung aller Formen bio-logistischer Verkürzungen als einer irgendwie durchdachten ethischen Konzeption.
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Honeckers Äußerung auf dem 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965, daß die DDR ein »sauberer Staat« sei, war eben so neu nicht in Deutschland. Wolf Biermann wurde als Weiberheld diskreditiert und gegen Oskar Brüsewitz eine Entblößungslegende erfunden. Die frustrierten Voyeure im MfS erdachten sich die scheußlichsten Gerüchte zur Diskreditierung von Oppositionellen. Dies alles war nicht erfolglos. Es paßte in die moralinsauren Raster einer mißmutigen Bevölkerung.
Der »deutsche« Sinn für Ruhe und Ordnung, für Sauberkeit und Sicherheit konnte von der SED instrumentalisiert werden, weil sie damit auf Akzeptanz stieß. Nicht nur MfS-Offiziere und SED-Funktionäre bewerteten die Friedensbewegten und andere Unangepaßte nach ihrer Kleidung. Selbst der nie verarbeitete Antisemitismus und Chauvinismus in der ostdeutschen Gesellschaft wurde, wenn es politisch nützlich erschien, mobilisiert.
Der Staatskult der SED, so makaber die Selbstverherrlichung der höchsten Politbürokraten auch war, stieß zwar auf manchen Spott, wurde aber in einer Gesellschaft, die traditionell von einem dominanten Staatsbild geprägt war, nicht abgelehnt. Der Staat als solcher hatte einen so hohen Stellenwert im Bewußtsein der Bevölkerung, auch bei Intellektuellen und in kirchlichen Kreisen, daß die SED davon profitieren konnte.
Der Mangel an politischer Bildung brachte es überdies mit sich, daß die Okkupation des Staates durch die SED und die Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft weithin nicht als politische Fehlkonstruktion erlebt und durchschaut wurde. Der SED-Staat stellte sich als Garant von Ordnung und Sicherheit dar und wurde in dieser Hinsicht nicht hinterfragt. Selbst die Militarisierung der Gesellschaft, die Uniformierung vieler Funktionsträger und ganzer Massenorganisationen wurde hingenommen und als selbstverständlich erachtet. In vielen guten Stuben des Landes hingen die Bilder der jungen NVA-Wehrpflichtigen neben den Bildern der Väter und Großväter in den preußischen Uniformen, als hätte nie ein politischer Systemwechsel stattgefunden. »Bewußte Disziplin« wurde als »wesentliche Bedingung der sozialistischen Gesellschaft« (doye 1982) betrachtet und energisch in Schule und Ausbildung, im Arbeitsbereich und beim Militär sowie in allen anderen Kollektiven eingefordert. Der Begriff verdeutlicht schon an sich, daß Ein- und Unterordnung als Akt der Vernunft propagiert wurde. Diese Art der Einsicht in Notwendiges erschien vielen Menschen nicht als Unvernunft. Bis heute berufen sich nicht nur ehemalige MfS-Offiziere und SED-Genossen darauf, daß sie doch lediglich ihre Pflichten als Staatsbürger erfüllen wollten.
Der Staatsmarxismus hatte sich als kritische Theorie verabschiedet und knüpfte an viele Muster der deutschen politischen Kultur an. Die Kommunisten beerbten die Gemeinschaftsidee und den Volksbegriff der Nationalsozialisten sofort nach dem Kriege. Der »Volksschädling« war lediglich nicht mehr rassisch abartig, sondern der Feind im Klassenkampf. Aber es gelang den Kommunisten nicht, im Gegensatz zu den Nationalsozialisten, eine Identität des Staatsvolkes der DDR zu schaffen. Dem stand die Teilung Deutschlands entgegen.
Um das »Wir«-Bewußtsein der DDR-Bürger zu fördern, wurden dennoch alle Register populistischer Massenkultur gezogen. Eines der Felder, auf dem dies bisweilen gelang, war zweifellos der Sport. Schon der mehrfache Gewinner der »Friedensfahrt«, der Radrennfahrer »Täve« Schur wurde in den fünfziger Jahren von Hunderttausenden als DDR-Sportler bejubelt. Doch Walter Ulbrichts »sozialistische Menschengemeinschaft« und Erich Honeckers »entwickelte sozialistische Gesellschaft« als Klassifizierung einer sozialistischen Nationalkultur hatten ein Kontrastprogramm, den Westen, das eine Art Negativ-Identifikation mit der DDR bewirkte.
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Dies zeigte sich vor allem im Verhältnis der Ostdeutschen zu der nahen und doch so fernen Welt der Westdeutschen. Diese übte eine unwiderstehliche Faszination aus, die über die Mattscheibe und die westdeutschen Besucher vermittelt wurde. Millionen verbanden mit dem Erreichen des Rentenalters die Hoffnung, diese Welt zu besichtigen. Alles in der DDR war bescheidener, kleiner. Materielles schwerer zu erwerben, Ideelles knapper, reduzierter und mit bitterem Ernst gemischt. So witzelten die DDR-Bürger untereinander über die »größte DDR der Welt«.
Dennoch fühlten sie sich nach außen in die Defensive gedrängt und suchten zwanghaft nach Möglichkeiten zur Identifikation mit ihrer Lebenswelt, waren ihnen doch die tatsächlichen oder scheinbaren westdeutschen Identitätsmuster — wirtschaftlicher Erfolg, Reisen, Freizeitangebote und individuelle Selbstbestimmung — unzugänglich. Das Gemeinschaftsgefühl im Osten wurzelte darum auch in der angestrengten Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen und war eine Reaktion auf das Empfinden, auf die Schattenseite der deutschen Nachkriegsgeschichte geraten zu sein.
Die eigene Lebensleistung mußte verteidigt werden. Dazu gehörten die Interdependenz von wahrgenommenen Aufstiegschancen und Vorteilen, die das politische System für Anpassung und Unterwerfung bot, und die in den privaten Nischen, Subkulturen und grauen Märkten ertrotzten Erfolgserlebnisse und selbst geschaffenen, individuellen Spielräume. Als sich die Kirche in den siebziger Jahren als »Zeugnis- und Dienstgemeinschaft« oder als »Lerngemeinschaft« definierte, signalisierte dies zugleich Anpassung und Flucht.
Die aufgestülpten sozialistischen Rollen wurden nicht einfach nur gespielt, sondern im Vollzug überprüft, ob sie Vorteile und private Freiräume ermöglichten. Dafür steht die sozialistische Jugendweihe, die der SED als Musterbeispiel für eine erfolgreich etablierte sozialistische Lebensweise galt, da sie glaubte, in der Jugendweihe seien private und »gesellschaftliche« Interessen miteinander verbunden worden. Die Jugendweihe wurde in den fünfziger Jahren mit massivem Druck durchgesetzt. Schon nach wenigen Jahren beteiligten sich etwa 97 Prozent der Jugendlichen an diesem Ritual.
Die Jugendlichen verpflichteten sich auf die sozialistische Ideologie und gelobten dem SED-Staat die Treue. Dennoch nutzten die DDR-Bürger die Veranstaltung für eigene private Zwecke. Die häusliche Feier war eine ganz und gar unpolitische und unideologische Lebensäußerung der Familie. Die in der Jugendweihe geschworene Treue war für die Herrschenden die Vergewisserung des Untertanengeistes der »sozialistischen Persönlichkeiten«. Für diese war der Treueschwur der entrichtete Freikaufpreis zur Sicherung privater Spielräume. Damit war aber auch eine stillschweigende Übereinkunft zwischen beiden hergestellt, ein Berührungspunkt zwischen offizieller und informeller Kultur geschaffen, der zwar nicht die Gegensätze überwand, aber das Unverbindbare im ritualisierten Verfahren koexistieren ließ.
Die Jugendweihe ist nur ein Beispiel für die sozialistischen Rituale, die von den Belobigungszeremonien und Ordensverleihungen bis zu den Massenfesten reichten. Der aufgesetzte Ernst konnte die Peinlichkeit oft nur mühsam verkleistern. Aber die Teilnahme garantierte auch immer einen privaten Anteil — und war es nur die Gelegenheit, die ergatterte Prämie mit den Kollegen ins Wirtshaus zu tragen.
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Der Kitt, der die abgegrenzte DDR-Gemeinschaft zusammenhielt, die unterschiedlichen Interessen der Träger der Macht und der Abhängigen überspielen half, bestand nicht aus einer ideologisch definierbaren sozialistischen Identität, sondern aus einer Gemengelage sozialer Techniken, die zum Leben und Überleben erlernt werden mußten. Darauf bezog sich auch das eigentümliche Wir-Bewußtsein. Für alle galt es, in den täglichen Verhaltensweisen und in der Planung der Biographie die Grenzen und Möglichkeiten der angebotenen sozialistischen Standards auszuloten.
Wenigstens für die ältere Generation war die DDR auch eine »Aufsteigergesellschaft« (niethammer 1991,45), die die soziale Integration begünstigte. Dies erzwang eine soziale Konformität und führte zu der Unfähigkeit, sich auf politische Konflikte einzulassen bzw. zur Fähigkeit, politischen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Die Theorie von der bloßen Flucht der DDR-Bürger in die privaten Nischen ist so gesehen zu einfach.
Viele Bindungen an das System, darunter auch und vorwiegend die durch soziale Sicherheit erzeugten, wurden in die Nische mitgenommen. Und das Private durchflocht das Politische. Der große Tausch zwischen Herrschern und Beherrschten machte es möglich, daß der persönlich errungene Aufstieg im System dieses auch mit einem Stück Intimität ausstattete. Gerade diese »menschelnde« Seite des Systems machte den politischen Zugriff so hart, weil er jede intime Distanz durchbrach, wie sie das Politische in der Politik verhinderte. Der politische Druck, den die SED ausübte, wurde weitergegeben und gleichzeitig nach Kompensationsmitteln gesucht, diesen zu ertragen. Wer aufbegehrte, gefährdete den Mitmenschen und die Gemeinschaft. Bei dieser Art Massenflucht vor dem Konflikt waren Kritiker schnell isoliert und oft genug denunziert.
Der systemerhaltende Zirkel der sich selbst verstärkenden Zwänge muß auch auf der geistigen Ebene gesehen werden. Nachhaltig wirkte auf die Menschen ein, daß der SED-Marxismus der Geschichte eine Struktur gab. Die Weltgeschichte wurde zu einem determinierten Geschehen, in dem die DDR Folge des Waltens ewiger Gesetze der Natur und der Gesellschaft war. Den Bürgern wurde das Angebot unterbreitet, durch Teilhabe am System zu »Siegern der Geschichte« zu werden. Wenn auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit den Bürgern eher nahelegte, sich auf der Verliererseite zu fühlen — wenigstens im Vergleich mit Westdeutschland —, enthielt die Botschaft doch auch einen Trost.
Wenn schon die Tristesse des DDR-Alltags nicht abweisbar war, machte das Ganze doch wenigstens einen Sinn. Die Opfer schienen nicht vergeblich zu sein und verborgene Zusammenhänge die Schwierigkeiten »wissenschaftlich« erklärbar zu machen. Alle Ungereimtheiten und alle Mängel wurden zu Übergangserscheinungen deklariert, die zwangsläufig vor der Offenbarung des wahren Sozialismus aufzutreten hätten. Die Plausibilität dieser Metaphysik rührte aus der Hoffnung auf Besserung, die stärker als die sinnliche Wahrnehmung war. Gerade auch Intellektuelle betrachteten die Stationen der marxistischen Eschatologie von der Urgesellschaft bis zum Sozialismus wie tatsächliche Geschichtsereignisse. Die Interpretation wurde zum Wirklichkeitsersatz.
In der Geschichte einen Anteil des Zufalls zu erkennen oder sie als offen zu betrachten, haben stets nur Außenseiter vermocht. Die sozialistische Langeweile, die Stagnation, die berechenbare Lebensplanung waren Sicherheitsfaktoren. Das Leben mit der schon und noch nicht erfüllten sozialistischen Verheißung entsprach der Haltung, »nichts dagegen machen zu können« und auch nichts dagegen machen zu müssen.
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Es war eine Form der Verarbeitung von Ohnmachtserfahrungen, ein Selbsttrost. Die Bindung an die DDR wuchs so aus einer tiefen Resignation und Ergebung. Selbst noch 1989, als Honecker erklärte, die Mauer würde noch 50 oder 100 Jahre stehen, kam es weder zum Gelächter noch zum Aufbegehren, sondern eher zu einem betretenen Schweigen.
Und dann geschah 1989 das Unwahrscheinliche. Die Bevölkerung demonstrierte zu Hunderttausenden gegen das Regime. In der DDR waren es nur wenige Menschen, die auf diesen Moment gewartet und hingearbeitet hatten. In Westdeutschland hielt dies ebenfalls kaum jemand für möglich. Die tiefe Bindung an die SED, die Überzeugung von der Endgültigkeit des DDR-Sozialismus zerbrach in wenigen Wochen, selbst bei einem erheblichen Teil der SED-Genossen. Die Mechanismen der Unterdrückung funktionierten nicht mehr, weil die Selbstunterdrückung ihr Ende fand. Die Phänomene liegen auf der Hand. Noch am 6. Oktober 1989 abends marschierten in einem Fackelzug Tausende Jugendliche in FDJ-Uniform in Berlin jubelnd an der Tribüne Honeckers vorbei. In den Seitenstraßen hatten sie unter Anleitung der FDJ-Sekretäre die Sprechchöre eingeübt: »FDJ — SED — Alles ist bei uns ok!« Tags darauf waren noch viele von ihnen in der Stadt. Im Zentrum schlössen sie sich nun aber der ersten großen Demonstration gegen die SED an.
Heute, nach einigen Jahren, können die meisten ehemaligen DDR-Bürger sich kaum noch vorstellen, daß sie einmal »überzeugt« waren und in welchem Maße sie am politischen System mitgewirkt haben. In der Erinnerung stellt sich alles anders dar. Bis hinauf in die höchsten Ränge der SED-Hierarchie, bis hin zu ehemaligen Politbüromitgliedern werden Geschichten des Widerstrebens, der Verweigerung und des Einspruchs erzählt. Nur einige wenige Sündenböcke werden benannt: Honecker, seine Frau Margot, Erich Mielke.
Es gehört zur Paradoxie der DDR-Wirklichkeit, daß an diesen Erfahrungen versuchter und gelungener Verweigerung auch etwas richtig ist. Die Anpassung und die Bindung an das DDR-System hatten Grenzen, die aber nicht in der Anpassungswilligkeit der Bürger, sondern in der Konstruktion der Gesellschaft lagen. Das gesellschaftspolitische Konzept sah vor, die gesamte Gesellschaft als einheitliches, politisches und soziales Organisationssystem zu ordnen. Es wurde vorausgesetzt, daß ökonomische, soziale, ideologische Widersprüche prinzipiell aufgehoben seien und individuelle und »gesellschaftliche« Interessen im Sozialismus identisch wären. Da nicht sein konnte, was nicht sein durfte, lief dieser Anspruch auf die Liquidierung von Öffentlichkeit und Gesellschaft überhaupt hinaus. Die ins Private und Inoffizielle verbannte Gesellschaft barg für die Herrschaftssicherung der SED auch Probleme. Zwar sollte unter der Decke gehalten werden, was nicht ins Bild der sozialistischen Gesellschaft paßte, aber zugleich wurde es damit für die SED unberechenbar. Darum wurde die konspirierende Gesellschaft mit konspirativen Mitteln in Schach gehalten.
Trotz dieses Eindringens in die privaten Lebensräume, blieb dem DDR-Bürger keine Wahl. Er mußte die Spannung zwischen erwarteter Lebensweise und seiner eigenen Lebenspraxis durchhalten. Hinzu kam, daß dem von der SED kreierten Leitbild der »sozialistischen Persönlichkeit« kein Mensch gerecht werden konnte. Der allseitig gebildete und der Weisheit der Partei ergebene Mensch mußte eine Fiktion bleiben und überforderte alle, die sich diesem Anspruch aussetzten.
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Fast alle Menschen wurden auf die eine oder andere Weise »überprüft«, unzählige diszipliniert, weil sie hinter dem Typ des neuen Menschen zurückblieben, gerügt, erzogen und kleinlichst behandelt. Auf Grund dieser Erfahrungen und der auch immer wieder erfolgreichen Verteidigung der privaten Lebensräume können ehemalige DDR-Bürger ihre Lebensgeschichte als Flucht- und Verweigerungsgeschichte erzählen.
Doch diese von der SED selbst provozierten Verweigerungen lassen sich nicht aus einer politischen Gegnerschaft erklären und sind schon gar nicht Ausdruck oppositionellen Handelns. In der Regel war die Verweigerung Folge der nicht zu realisierenden Anpassung und damit selbst Teil der Anpassungsstrategie. Verweigerung ging auch mit dem politischen Widerspruch Hand in Hand, war aber als Massenerscheinung zunächst die soziale Technik, die Leben und Überleben ermöglichte. Sie stabilisierte das politische System weit mehr, als daß sie dieses in Frage stellte.
Der Bürger fand – auf eigenes Risiko – einen Ausgleich für die alltäglichen Frustrationen und konnte die gesellschaftspolitischen Fehlleistungen der SED kompensieren. Die SED hat aus eben diesen Gründen die privaten Spielräume immer weniger angetastet. Wurde in den sechziger Jahren der Konsum von Westfernsehen noch kriminalisiert, belieferte die SED Ende der achtziger Jahre die Dresdener, die zuvor im »Tal der Ahnungslosen« vom Blick nach Westen ausgeschlossen waren, mit westlichen Fernsehprogrammen. Vor allem griff sie nicht ein, wenn Verweigerungshandlungen nicht öffentlich wurden. Sie ließ ihre Untertanen nörgeln, solange dies keine politische Qualität erlangte.
Oft kam es zu der merkwürdigen Situation, daß die Bürger mit angedrohten Verweigerungen einen Handel mit den Staatsorganen eingingen. Häufig wurde auch angekündigt, daß man den Wahlen fernbliebe, weil Genehmigungen nicht erteilt worden waren, weil kein Wohnraum zugewiesen wurde oder Konflikte nicht gelöst wurden. In solchen Fällen setzten die zuständigen Organe alles daran, das Problem noch rechtzeitig vor der Wahl zu lösen oder wenigstens verbindliche Zusagen zu geben. Zu diesen Formen der Verweigerungen gehörte das Abbestellen von Zeitungen, das Fernbleiben von Versammlungen oder auch ein passives Verhalten am Arbeitsplatz.
Gerade im Arbeitsleben schufen sich die DDR-Bürger eine breite Palette zur Aushebelung der politischen Vorgaben. Vielfach kam es zu informellen Absprachen über die Verteilung von Prämien, über Normengestaltung und andere arbeitsorganisatorische Fragen. Dies geschah mehr oder weniger unter den Augen derer, die diese Instrumente zur Leistungssteigerung einsetzen wollten. Selbst die formale Mitgliedschaft in den Massenorganisationen war mit der Verweigerung eines politischen Engagements verbunden. Wer nachweisen konnte, daß er organisiert war, entzog sich weiteren Verpflichtungen.
Die Verbindung von Anpassung und Verweigerung als das verhaltensbestimmende Muster der Existenzsicherung konnte von den marxistischen Gesellschaftswissenschaften nicht ohne weiteres thematisiert werden. Den Soziologen etwa wurde die Aufgabe zugewiesen, den Nachweis für die Überwindung der Entfremdung im Sozialismus zu erbringen. Ergebnisse, die dem nicht entsprachen, wurden nicht veröffentlicht. Wenn aber die Phänomene nicht zu umgehen waren, wurden in jenen, für die DDR-»Kultur« so typischen, euphemistischen Umkehrungen die Defizite als Reserven beschrieben.
Im Zusammenhang mit der Vergangenheitsaufarbeitung in Ostdeutschland ist die Dialektik von Anpassung und Verweigerung besonders auch am Fall der Kirchen diskutiert worden. Die Kirchen waren ideologisch und organisatorisch nicht in die Staatsgesellschaft integrierbar.
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Daraus ergab sich, daß jede Form der versuchten Selbstbehauptung zur Verweigerung von Ansprüchen führen mußte. Aber diese Verweigerung konnte zugleich die raffinierteste und höchste Form der Anpassung sein, wenn die Bedingungen und Mittel der Gesellschaftspolitik akzeptiert wurden, wenn das Prinzip des nichtöffentlichen Aushandelns von Konflikten, die konspirative Absprache, als Verkehrsmittel gewählt wurde.
Die weitgehende Verständigung von Beherrschten und Herrschenden über den Verzicht auf öffentliche Kritik unter der Bedingung der Gewährung von Gegenleistungen bedeutete eine Entpolitisierung der Gesellschaft und gehörte zum Kalkül aller Beteiligten. Dieses auf Gegenseitigkeit beruhende Stillhalteabkommen verwischte die Grenzen zwischen Herrschenden und Beherrschten. Es führte zur wissentlichen und willentlichen Ruhigstellung und Neutralisierung kritischer Potentiale. Unzufriedenheit und Zufriedenheit sind keine besonders guten Kriterien, um die politische Verbundenheit mit dem System zu messen.
Die Masse der Bürger war immer unzufrieden. Aber politisch war sie trotzdem befriedet. Immerhin versuchte die SED, das Ausufern der Unzufriedenheit zu verhindern und zahlte dafür mit ganz und gar unsozialistischer Münze. In der DDR wußte schließlich jeder, daß vor Feiertagen oder in angespannten politischen Situationen plötzlich Bananen oder andere importierte Mangelwaren in den Handel kamen. Intellektuelle und Künstler wußten, daß ihre Privilegien einen politischen Preis hatten. Kirchenleute wußten, daß ihr Versprechen, Kritik in den eigenen Reihen nicht zuzulassen, höchst vorteilhaft war. Gegen die Ausschaltung einer unabhängigen Öffentlichkeit, gegen die Außerkraftsetzung demokratischer Verfahren und eines verläßlichen Rechtes konnte angesichts der Machtverteilung wenig unternommen werden.
Im Zirkel von Anpassung und Verweigerung blieb aber auch weithin jegliche soziale und politische Ethik auf der Strecke. Es kam zur »Kumpanei« (besier 1991, 39) und nicht zur Interesseneinheit in der DDR-Gesellschaft. Daß Kumpane keine Freunde sind, zeigte sich dann im Herbst 1989. Das System zerfiel, weil es die Bevölkerung nicht mehr an sich zu binden vermochte, und die Gesellschaft wieder zu sich selber fand. Dazu brauchte es aber politische Subjekte, die diesem Prozeß Gestalt gaben. Und diese konnten keine anderen sein, als diejenigen, die sich schon längst nicht mehr hatten anbinden lassen, die Gegner der SED-Herrschaft.
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