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Teil 8  

Das Ende der Diktatur und

die Rolle der Opposition von

September 1989 bis Januar 1990

 

 Vorblick  

825-850

Seit Ende Juli 1989 begann ein Formierungsprozeß der Opposition, die sich seit Anfang September in neuen Organisationsformen, Bürgerbewegungen wie Neues Forum und Demokratie jetzt, politischen Vereinigungen wie Demokratischer Aufbruch und Vereinigte Linke sowie als Sozialdemokratische Partei, von der Vormundschaft der Kirchen löste, mehr Öffentlichkeit anstrebte, die sich anbahnende Krise der DDR nutzte und die SED zur politischen Auseinander­setzung herausforderte. Die seit dem Frühsommer akut werdende Krise des SED-Staates kulminierte im September in der Fluchtwelle über die CSSR und Ungarn, das am 11. September 1989 seine Grenzen zu Österreich für DDR-Flüchtlinge öffnete. Dies nötigte die Opposition zu einem beschleunigten Aufbau ihrer Organisationen und zur programmatischen Profilierung.

Im September entwickelte sich gleichzeitig in Leipzig aus den Friedensgebeten eine Demonstrationsbewegung, die, zunächst von Ausreiseantragstellern bestimmt, in einen Aufstand der Leipziger umschlug und schließlich weite Teile der DDR-Gesellschaft erfaßte. Von der Protestbewegung wurden die Kirchen, die Künstler und teilweise auch die Betriebe und Blockparteien erfaßt. Anfang Oktober wirkten die Opposition, die Demonstrationswelle sowie die Ausreisebewegung zusammen und konnten die SED zwingen, ihre ursprüngliche Absicht zur gewaltsamen Niederschlagung aufzugeben und sich auf ein gewaltfreies Verfahren der Konfliktregulierung einzulassen.

Dieser Umschwung trat mit dem Gewaltverzicht der SED am 9. Oktober in Leipzig ein und führte zum Rücktritt Honeckers am 18. Oktober. Sein Nachfolger als SED-Chef und Staatsratsvorsitzender wurde Egon Krenz. Die Versuche der SED, den gewaltfreien Dialog zur Konsolidierung ihrer Macht umzumünzen, schlugen fehl und wurden durch den politischen und gesellschaftlichen Druck der Opposition und der Demonstrationen verhindert. Anfang November erreichte die Demonstrationswelle einen ersten Höhepunkt mit der Berliner Demonstration vom 4. November, die u. a. zum Rücktritt der Regierung Stoph am 7. November führte. Die ungeplante und unter dem Druck der Bevölkerung erfolgte Öffnung der Mauer am 9. November leitete schließlich den endgültigen Zerfall der SED ein.

Als im November der Demokratisierungsprozeß unumkehrbar und die deutsche Einheit zum unabweisbaren Thema wurde, mußten sich alle politischen Kräfte um eine politische Neuorientierung innerhalb der veränderten Bedingungen bemühen. Trotz der einsetzenden schweren Krise der SED suchte sie, soviel Macht wie möglich zu erhalten. Mit der Regierung Modrow wich die SED in den besser legitimierten Staatsapparat aus. Die sich konsolidierende Opposition wählte als Verfahren der Demokratisierung den Runden Tisch, der mit der Vermittlung der Kirchen eine geregelte Übergabe der Macht an demokratische Institutionen sichern sollte. Als der Runde Tisch am 7. Dezember seine Arbeit aufnahm, hatte in der Opposition bereits ein kräftezehrender Differenzierungs­prozeß eingesetzt, der ein einheitliches Handeln erschwerte. Die älteren politischen Orientierungen waren teilweise von der Vorstellung einer Identität der ostdeutschen Gesellschaft bestimmt, die nach ihrer Selbstbefreiung eine vom Westen unabhängige alternative Demokratie gestalten sollte.

Die daraus entwickelten Gesellschaftskonzeptionen konnten die tatsächlichen Verhältnisse und politischen Entwicklungen nicht mehr erreichen. Nur ein Teil der Opposition optierte für eine Wiedervereinigung und eine Orientierung an den westdeutschen politischen Traditionen. Außerdem konnte die Opposition in den wenigen Wochen ihres ungehinderten Agierens seit Ende Oktober ihre personellen, strukturellen und materiellen Mängel im Vergleich zu den Ressourcen der DDR-Altparteien nicht hinreichend ausbauen. Diese Schwäche der Opposition ermöglichte es den alten politischen Kräften, wie den gewendeten Blockparteien, wieder Fuß zu fassen oder, wie der SED-PDS, sich als ostdeutsche Interessenvertreter darzustellen.

Mit dem sich abzeichnenden Ende der DDR setzte nicht nur der Funktionsverlust, sondern überhaupt das politische Ende der DDR-Opposition ein. Ein gemeinsames Vorgehen war nur noch in Aktionen gegen die gesellschaftliche Macht der SED und vor allem gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit und seiner Nachfolgeorganisation möglich. Die vollständige Auflösung des MfS von November 1989 bis Januar 1990 wurde nur von der Opposition betrieben und erreicht.

Wenn die demokratische Opposition der DDR auch mit deren Ende selbst verschwand, ihre Akteure sich allmählich in die (west-)deutschen politischen Traditionen und Regularien einfügten, bleibt es das historische Verdienst der DDR-Opposition, im Kampf gegen ein totalitäres Regime die gesellschaftliche Selbstbefreiung politisch ermöglicht zu haben.

Die Opposition hat die Diktatur der SED delegitimiert, die Voraussetzungen für die Demokratisierung geschaffen und die Öffnung des politischen Systems erzwungen. Sie konnte der SED und der ihr verpflichteten Blockparteien bis in das Jahr 1990 hinein ihre Verfahren, die Gewaltlosigkeit und die Rechtsförmigkeit des Machtwechsels, aufzwingen. Damit hat sie auch die deutsche Wiedervereinigung wesentlich gefördert, wenngleich sie im Einigungsprozeß ihre politische Funktion als DDR-Opposition verlor. 

 

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103. Herausforderung der SED durch Neuformierung der Opposition  

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  1. Die Vorgeschichte des oppositionellen Herbstes  

 

Die Gründung der oppositionellen Sammlungsbewegungen und Parteien ab September 1989 hatte einen längeren Vorlauf, der einerseits in dem stetigen Ausbau der Kommunikationsstrukturen und Netzwerke der Oppositionsgruppen angelegt war und sich andererseits in den Verselbständigungstendenzen gegenüber den Kirchen ausdrückte. Dieser Prozeß wurde durch das Legalitätsprinzip gebremst, das eine politische Strategie war, um der drohenden Kriminalisierung durch die SED-Dikatatur zu entgehen.

Die frühesten Überlegungen zur Parteigründung, der Plan von 1984 eine DDR-Sektion einer grünen Partei (vgl. 68.2) zu bilden, waren deswegen fallen­gelassen worden. In dem Maße, wie das Legitimitätsprinzip und antizipatorische Praktiken als strategische Mittel eingesetzt wurden, gingen die Gruppen zu einer organisatorischen Neuformierung über. Es gab zugleich interne Gründe, die diesen Prozeß behinderten. Vor allem radikal basisdemokratisch orientierte Gruppen lehnten größere, durchstrukturierte und vermeintlich hierarchisierte Organisationen ab. Deswegen kam es bei der Bildung des Grün-ökologischen Netzwerkes Arche (vgl. 94.3) zu heftigen Auseinandersetzungen. 

In der Arche wurde aber im Zusammenhang mit den Wahlfälschungen im Mai 1989 über die Bildung grüner Listen (vgl. 101.2) nachgedacht, diese Absicht wurde im Sommer in einer Veranstaltung in Treptow öffentlich erklärt. Andere Vorstöße, wie die Gründung der Demokratischen Initiative in Leipzig 1988, beschränkten sich auf kleine Gruppen und betrieben erst gar nicht den Aufbau einer größeren Organisation.

 

Immer gab es auch einzelne Oppositionelle, die auf die Bildung von Parteien oder parteiähnlichen Organisationen drängten. Zu ihnen gehörte Hans-Jochen Tschiche, der schon 1982 die Gründung des Netzwerkes Frieden konkret (vgl. 64.1) angeregt hatte. Seit etwa 1987 erzählte er Freunden und Bekannten, daß er von der Gründung einer grünen Partei geträumt hätte. Die Absicht war eindeutig, doch nahm zunächst kaum jemand die Idee auf. Einen weiteren ernsthaften Vorstoß unternahm Tschiche während »Frieden konkret VII« vom 24. bis 26. Februar 1989 in Greifswald (vgl. 99), wo er vorschlug, eine »Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft« zu gründen, was im Seminar jedoch keine Mehrheit fand.

Auch Rainer Eppelmann hatte schon seit Ende 1988 über eine Parteigründung nachgedacht. Er wollte in Ostberlin die SPD neu gründen, die 1961 von der westdeutschen SPD aufgelöst worden war. Darüber sprach er auch mit SPD-Politikern, ohne jedoch ein positives Echo zu erhalten. Seit Januar 1989 verfolgten unabhängig davon auch Markus Meckel und Martin Gutzeit den Plan, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, ohne dabei auf viel Resonanz zu treffen. Schon 1988 hatten sie erwogen, eine politische Vereinigung zu bilden. Im Juli 1989 verfaßten sie einen »Aufruf zur Bildung einer Initiativgruppe mit dem Ziel eine sozialdemokratische Partei in der DDR ins Leben zu rufen«, den sie aber zunächst nur wenigen aushändigten und nicht öffentlich verbreiteten.


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Während des Frühjahrs gab es zahlreiche weitere Überlegungen und Diskussionen über die Möglichkeit einer Parteigründung. Ein solches Gespräch fand am 7. Mai 1989 mit Rolf Henrich, Ehrhart Neubert, Ulrike Poppe und Ulrich Stockmann statt. Am 12. August 1989 verschickte die IFM in Berlin eine Einladung, in der sie für den 28. Oktober 1989 zu einem Treffen in Berlin aufrief, um über den Aufbau eines Kommunikationsnetzes auf der Grundlage ihres Aufrufes vom 11. März 1989 zu beraten. Als Kontaktadressen waren Werner Fischer und das Ehepaar Poppe angegeben. Am 13. August 1989 wurde durch Vertreter der Abgrenzungsinitiative bei einer Veranstaltung in der Treptower Bekenntnisgemeinde zur Bildung einer landesweiten politischen Organisation aufgerufen. Ein Besprechungstermin wurde für den 12. September verabredet.

Im Laufe des August redeten verschiedene Akteure mit Bärbel Bohley, die dabei ankündigte, mit Henrich und Katja Havemann etwas organisieren zu wollen. Nach vorherigen Absprachen im Juni während eines Kolloquiums in der Theologischen Studienabteilung (vgl. 100.5) trafen sich am 23. August in Dresden in der Wohnung des Sozialdiakons Rolf Schmidt Rainer Eppelmann, Ehrhart Neubert, Rudi Pahnke, Edelbert Richter, Wolfgang Schnur, Friedrich Schorlemmer, Thomas Seil, Harald Wagner und Thomas Welz konspirativ und verabredeten die Bildung einer politischen Vereinigung Demokratischer Aufbruch - sozial, ökologisch (DA) sowie ein landesweites Treffen am 1. Oktober, wobei auch überlegt wurde, ob man eine sozialdemokratische Partei gründen solle, was jedoch abgelehnt wurde.

Alle diese Planungen gingen noch im Sommer davon aus, einen längeren Zeitraum zur Durchsetzung der eigenen Ziele vor sich zu haben. Erst die Ereignisse im September mit der dramatischen Zunahme der Massenflucht und der größeren Bereitschaft der Bevölkerung zu öffentlichen Demonstrationen beschleunigten den Formierungsprozeß. Anfang September hatte sich bei vielen Menschen ein kaum erklärbarer Wandel in der Wahrnehmung der Situation vollzogen: »Über diesem Land schwebt ein stummer Schrei - wer nicht völlig taub ist, wird das spüren. Und wenn diese Gesellschaft noch zu retten ist, dann schreit sie nach Veränderung.« (Völlger 1989)

Die Aktivitäten zur Neuformierung gingen zumeist von langjährigen Oppositionellen aus. In den Gründungs­dokumenten, Organisationsformen und auch in den politischen Unternehmungen kamen die bisherigen Orientierungen zum Tragen. In mehreren Initiativgruppen hatten die protestantischen Pfarrer ein Übergewicht, was dazu führte, daß die basisdemokratisch-anarchistisch Gesinnten den DA und die Sozialdemokraten als »Pfaffenparteien« qualifizierten und auch manchen anderen Spott trieben. So wurde ein »Positionspapier zur Bildung einer transradikalen linken Föderative« von den <Fröhlichen Friedrichshainer Friedensfreunden> (Bresch 1990, 34 f.) verteilt. Die Umwelt-Bibliothek in Berlin war bis in den November eine wichtige Nachrichtenbörse der Opposition.

Das basisdemokratische Lager blieb entsprechend seiner Theorien auf Distanz zu den sich entwickelnden Organisationen, wenn auch der konfrontative Ton gegenüber der SED in deren Samisdat immer schärfer wurde und eigene Aktionsformen gesucht wurden. Eine größere Anzahl ihrer Vertreter fand im September im Neuen Forum Anschluß. Bereits im September waren praktisch alle oppositionellen Gruppen im Lande mobilisiert, die von zahlreichen Menschen aus den Kirchen und kritischen Intellektuellen Verstärkung bekamen.


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  2. Fluchtwelle - Entgrenzung der DDR  

 

Nie zuvor hatte sich so deutlich wie im Spätsommer 1989 der spannungsvolle Zusammenhang zwischen der Fluchtbewegung und der politischen Opposition gezeigt, die beide auf ihre Weise auf die Stagnation des politischen Systems reagierten. Für die Opposition war die sich seit dem Sommer 1989 dramatisch zuspitzende Fluchtwelle ein wesentlicher Indikator für den Zustand des SED Staates. In allen Gründungs­dokumenten der Opposition wurde auf die Massenflucht Bezug genommen. In Leipzig spielten die Ausreiseantragsteller Anfang September eine entscheidende Rolle bei der Entfaltung der öffentlichen Demonstrationen. Die faktische äußere Entgrenzung der DDR ging mit dem inneren Aufbruch Hand in Hand.

 

Die verstärkte Fluchtwelle hatte mit Botschaftsbesetzungen schon Anfang 1989 eingesetzt, stieg im Sommer schnell an und führte im August zu einem Massenansturm auf die diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik in Warschau, Prag und Budapest. Die DDR mußte nun auch erste schwere außenpolitische Niederlagen gegenüber den verbündeten Ostblockstaaten hinnehmen, die sich zunehmend weigerten, einfach nur verlängerter Arm der gescheiterten Abgrenzungspolitik zu sein. 

Als Ungarn am 11. September seine Grenzen nach Österreich öffnete und damit die Fluchtwelle noch einmal anstieg, weil viele diese erste und vielleicht letzte Chance zur Flucht wahrnehmen wollten, reagierte die SED mit ihren alten propagandistischen Rezepten. Neben Schuldzuweisungen gegenüber dem Westen setzte sie die absurdesten Geschichten in die Welt. Als das Neue Deutschland am 21. September berichtete, daß ein DDR-Bürger mit einer Mentholzigarette betäubt über Ungarn in den Westen entführt worden sei, war offensichtlich, wie sie angesichts der in die Kameras winkenden übergücklichen Menschen in den österreichischen Aufnahmelagern in die Defensive geraten war. 

Am 29. September beschloß das Politbüro, die Ausreise einiger tausend Botschaftsbesetzer in der CSSR über DDR-Territorium zu gestatten, um wenigstens noch formal eine geregelte Ausreise vortäuschen zu können, die hoheitsrechtlich von der DDR getragen wäre. Honecker ging nun auch zur Volksschelte über und ließ das Neue Deutschland am 2. Oktober 1989 über die Flüchtlinge in den Botschaften urteilen, sie hätten die »moralischen Werte mit Füßen getreten«, man »sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen«. Bis in die SED hinein wurde damit der Bevölkerung deutlich, daß die Partei nicht mehr handlungsfähig war. Durch die Ausreisewelle, die sie nicht mehr stoppen konnte, war die SED in eine ähnliche Lage wie vor dem 13. August 1961 geraten.

Für die Bevölkerung und die Opposition stand nun die Frage im Vordergrund, ob und inwieweit die SED angesichts dieser schweren Niederlagen noch berechenbar bleiben würde und ob sie in diesem selbst verursachten Dilemma nicht auf das Äußerste zurückgreifen könnte. Egon Krenz hatte eine Reise nach China unternommen, um den dortigen Machthabern die Solidarität der SED zu versichern und kam am 3. Oktober unmittelbar vor den Dresdener Unruhen (vgl. 104.1) zurück. Sein Besuch in China wie auch die begleitende Propaganda enthielten die Botschaft, daß die SED die Pekinger Gewaltlösung vom Frühjahr auch in der DDR anwenden könnte. Damit drängte sich die Gewaltfrage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen und politischen Oppositions­bewegung. 


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Die sich im September formierende Demokratiebewegung mußte daher Verfahren finden, die gereizten und herausgeforderten Machthaber auf friedliche Regelungen festzulegen. Das konnte nur erreicht werden, wenn angesichts der ungewollten Öffnung nach außen nun eine innere Öffnung erfolgte, die eine Regulierung der entstandenen Konflikte ermöglichte.

 

   3. September-Aufstand in Leipzig   

 

Die Friedensgebete (vgl. 97) von September bis Anfang Oktober entwickelten sich aus den traditionellen kirchlichen und oppositionellen Protestformen zu einem Aufstand der Leipziger Bevölkerung, der zu einer Initialzündung der Oktoberrevolution in der DDR wurde. Am 4. September beteiligten sich etwa 1.000 Personen am Friedensgebet, anschließend kam es zu einer kleineren Demonstration von einigen hundert Menschen, die stark von den Forderungen der Ausreiseantragsteller geprägt war

An den beiden folgenden Montagen stieg die Beteiligung so stark an, daß am 25. September die Nikolaikirche erstmals nicht mehr alle Besucher faßte und in den folgenden Wochen weitere Kirchen einbezogen wurden. Am 11. und 18. September versuchten die Sicherheits­behörden mit brachialer Gewaltanwendung und zahlreichen Verhaftungen, die Entfaltung von Demonstrationen zu verhindern. Außer den Besuchern der Friedensgebete waren auch zunehmend Leipziger Bürger, die sich mit den Demonstranten solidarisiert hatten, in die Auseinandersetzungen verwickelt worden. Am 18. September traten, u.a. bedingt durch die Öffnung der ungarischen Grenze, die Ausreiseantragsteller erstmals in den Hintergrund.

In der folgenden Woche beteiligten sich schon bis zu 8.000 Menschen an der Demonstration nach dem Friedensgebet, die durch die Stadt führte. Diese Zahl überforderte die Sicherheitsbehörden, die nun entschlossen waren, eine neue Demonstration am 2. Oktober zu verhindern. Eine der Maßnahmen war der Versuch, die Friedensgebete zu blockieren: Dazu wurden sogenannte »gesellschaftliche Kräfte«, zuverlässige Genossen und auch CDU-Mitglieder, in die Kirche geschickt, doch auch nach diesem Friedensgebet konnten die Sicherheitskräfte die vorbereiteten Maßnahmen erneut nicht umsetzen, da sich ein Demonstrationszug von ungefähr 25.000 Menschen formierte. Es kam zwar auch wieder zu brutalen Ausschreitungen der Sicherheitsorgane, die aber die Demonstration nicht aufhalten konnten. Damit war eine Vorentscheidung gefallen, da ersichtlich wurde, daß die Gegenmaßnahmen der SED schon durch die große Zahl der Demonstranten an Grenzen stießen.

Die Unterdrückungsversuche der Sicherheitsorgane fokussierten den sich immer stärker artikulierenden gesellschaftlichen Konflikt auf die öffentlichen Proteste. Die Friedensgebete rückten aus dem Zentrum der Auseinandersetzung und hatten nun eine Katalysatorfunktion. Die inhaltliche Gestaltung der Friedensgebete lag noch vollständig im Rahmen der traditionellen, kirchlichen und oppositionellen Aktionsformen, die sich allerdings durch die Proteste gegen die Vorgehensweisen der Sicherheitskräfte rasch politisierten. Zum alles beherrschenden Thema wurde nun die Gewaltfrage. Die Drohgebärden der Sicherheitsorgane wurden als Ausdruck der strukturellen Gewalt der SED-Herrschaft interpretiert.


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Friedrich Magirius hatte im Friedensgebet am 4. September, das dem 50. Jahrestag des Kriegsausbruches und des Überfalls auf Polen gewidmet war, über die Schuld als »Brücken abbrechen« gepredigt. Er aktualisierte diese Idee: »Wer auf Vernunft und guten Willen setzt, sucht das Gespräch, nicht ohne das Element, das Christus gestiftet hat: Versöhnung.« Doch diese Versöhnung sollte nicht abstrakt bleiben: »Weil wir uns unserer Geschichte des Krieges und der Nachkriegszeit mit all ihren Fehlern und ihrer Schuld stellen, werden wir uns bei aller Respektierung der Trennung von Staat und Kirche nicht auf einen innerkirchlichen Bereich begrenzen lassen.« (Hanisch 1990,18 f.)

 

Am 25. September hielt die Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM) unter Christoph Wonneberger das Friedensgebet, das sich explizit mit der Gewaltfrage befaßte, weil es in den Wochen vorher zu Übergriffen gekommen war. Wonneberger konnte dabei an das ihn seit einem Jahrzehnt (vgl. 49.3) bestimmende Thema des gewaltlosen Widerstandes anknüpfen. In seiner Ansprache sagte er unter Aufnahme eines Bibelwortes: »Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit einem Kopfschuß zu rechnen. (...) Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt, hat bald selbst keine Fluchtwege mehr.« (Dietrich 1994, 419) 

Er forderte die Kontrolle und Begrenzung staatlicher Gewalt. Die Mitglieder der AGM setzten die seit Wochen anhaltenden Polizeiübergriffe in einen unmittelbaren Zusammenhang mit der strukturellen staatlichen Gewalt im Militärwesen, in den Medien und bei anderen Menschenrechtsverletzungen, und in Fürbitten wurde der Inhaftierten gedacht. Außerdem gab die Gruppe »Anregungen zum gewaltfreien Handeln« für die anschließende Demonstration (Dietrich 1994, 422), warnte vor Provokateuren in den eigenen Reihen und mahnte alles zu tun, um den Sicherheitskräften keinen Anlaß zur Gewalt zu geben. 

Der unentwegt bis Mitte Oktober skandierte und durch rituelle Symbolik, etwa durch Kerzen, gestützte Ruf der Demonstranten in der ganzen DDR »Keine Gewalt!« zeigte, wie dieses Mittel als Legitimation des Aufstandes angenommen wurde. Die der Absage an die strukturelle Gewalt des SED-Staates entsprechende politische Programmatik des Aufstandes drückte sich in dem auf der Straße skandierten traditionellen Ruf »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« aus. Damit wurde die mögliche Differenz zwischen der Zielstellung der Gebete und den Demonstranten überbrückt.

 

Die Verbindung von Friedensgebeten und Demonstrationen führte zu einem Versagen der jahrelang funktionierenden Konflikt­minimierungs­diplomatie zwischen Staat und Kirche, obwohl es eine ständige Begleitung der Friedensgebete durch Gespräche zwischen Staat und Kirche auf allen Ebenen gab. Die vom Staat geforderte Absage und Entpolitisierung der Friedensgebete hätte die angestauten Probleme nicht gelöst, sondern sie noch unkontrollierbarer gemacht. Die verhandelnden kirchlichen Vertreter konnten die Erwartungen der Staatsorgane schon Anfang September nicht mehr erfüllen, auch wenn einige bereit waren, zur Deeskalation beizutragen. 

Bei den Verhandlungen mit den staatlichen Stellen, die die Wiederaufnahme der Friedensgebete zu verhindern suchten, erklärte ein Mitglied des Kirchenvorstandes der Nikolaigemeinde, daß die Absage der Friedensgebete »noch schlimmere Auswirkungen« (Dietrich 1994, 381) haben würde. Gefordert wurde ein Rückzug der Sicherheitskräfte. In den Gesprächen der Pfarrer und Superintendenten mit staatlichen Organen im September wurde darauf verwiesen, daß die Friedensgebete nur deswegen diese Rolle spielten, weil der Staat den Dialog verweigere und mit Gewalt vorginge. 


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Am 5. Oktober erklärte Bischof Hempel den Staatsvertretern, daß die Absetzung der Friedensgebete nur möglich sei, wenn er dies mit einer Erklärung verbinden würde, die die tatsächliche Lage im Lande zur Sprache brächte und die sich auf tatsächliche »Veränderungen« (Dietrich 1994,449) beziehen müßte.

 

Die Staatsorgane gerieten in ein für sie nicht lösbares Dilemma. Je mehr sie zur Gewalt griffen, desto schneller delegitimierten sie sich selbst. Sie mußten auf das Angebot für einen Minimalkonsens reagieren, der in der Forderung nach Gewaltlosigkeit bestand. Gingen sie aber auf dieses Verfahren ein, zog dies absehbar die Fortsetzung und Ausweitung der Demonstrationen nach sich. Andere Mittel versagten inzwischen. Seit Monaten war den Ausreisewilligen in großer Zahl sofort die Ausreise gestattet worden, um den Druck seitens dieses Personenkreises aufzufangen. Als dieses Problem durch die Öffnung der Grenzen in Ungarn entschärft war, nahm die Intensität der Demonstrationen aber noch zu. Jetzt wurde die Parole »Wir wollen raus« durch den Sprechchor »Wir bleiben hier« überboten. Damit hatten die Demonstranten den Ruf nach politischer Veränderung aufgenommen. Gerüchte, die den Demonstranten Gewalttätigkeit unterstellten, wurden von der Bevölkerung nicht geglaubt. So wurde etwa behauptet, daß Wonneberger am 25. September in der Nikolaikirche zur Gewalt aufgerufen hätte.

Die in der Propaganda der SED immer schärfer werdenden Drohungen bremsten die Mobilisierung der Menschen möglicherweise ab, verunsicherten aber zugleich diejenigen, die eine mögliche Gewaltanwendung hätten mittragen müssen. Die in die Friedensgebete und die Demonstrationen eingeschleusten »gesellschaftlichen Kräfte« zur Verhinderung der Politisierung — schließlich mehrere tausend Personen - wurden ungewollt selbst Teil der gewaltlosen Konfliktregulierung. Bei den eingesetzten Sicherheitskräften, vor allem in den Kampfgruppen, verstärkten sich die Vorbehalte und Weigerungen, an Gewaltmaßnahmen teilzunehmen. Im September war die Delegitimation so weit fortgeschritten, daß die zentralistische Machtstruktur ihre Grenzen offenbarte. Obwohl Anordnungen des Politbüros und des MfS zur Vorbereitung energischer Maßnahmen ergingen, gelang es den nachgeordneten Behörden schon nicht mehr, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Da sie deeskalieren wollten, mußten sie die friedliche Auseinandersetzung akzeptieren.

Die Gewaltlosigkeit als Mittel der politischen Auseinandersetzung verband alle an den Friedensgebeten Beteiligten. Sie war für die entschlossenen Oppositionellen wie Wonneberger und die Mitglieder der Oppositionsgruppen das wichtigste strategische Instrument. Für die gemäßigten Kritiker wie Christian Führer, die für die Friedensgebete rechtlich verantwortlich waren, lag Gewaltlosigkeit im Rahmen der ethisch-theologisch motivierten Befriedungsabsichten. Für die kirchenleitenden Verantwortlichen, wie die Superintendenten Friedrich Magirius und Johannes Richter oder Bischof Hempel, waren die Friedensgebete und die gewaltlosen Demonstrationen Hilfen zur Kompensation des politischen Konfliktpotentials. Die Gewaltlosigkeit bündelte die unterschiedlichsten Interessen im Machtkampf, so daß eine kirchliche Entsolidarisierung in dieser Situation kaum möglich war, da diese nur um den Preis der Akzeptanz offener Gewalt hätte geschehen können. In Leipzig nahmen daher selbst kirchliche Loyalisten bis in die Reihen der CFK und im staatlichen Kulturbetrieb Partei für die Gewaltlosen.


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Für die Opposition brachten die Demonstrationen wesentliche politische Vorteile. Einmal unterstützten die Demonstranten die zeitgleich in die Öffentlichkeit tretenden neuen Organisationen, die bis dahin allein politische Alternativen formuliert hatten: Seit dem 25. September wurde in Leipzig »Neues Forum zulassen« skandiert. Zum anderen wurde die in der gesamten DDR nach den Verhaftungen am 11. September anlaufende Solidaritätswelle für die Inhaftierten, die überall von Oppositionellen getragen wurde, zu einem seit 1987 erprobten und bewährten Medium der politischen Mobilisierung. In Leipzig selbst bildete sich schnell eine Kontaktgruppe, die Mitteilungen über die Verhaftungen im ganzen Land verbreitete und tägliche Fürbittenandachten organisierte. 

Die Oppositionellen nutzten damit die Chance, dem sich entwickelnden Aufstand konkrete Inhalte zu geben. In den Friedensgebeten wurde für die Inhaftierten gebetet, auf Straßen und Plätzen ihre Freilassung gefordert. Die eskalierende Protestwelle in Leipzig hatte sich zu einem Aufstand verselbständigt, der nicht mehr durch die SED kanalisiert und kontrolliert werden konnte. Am 25. September und noch deutlicher am 2. Oktober war der SED klar geworden, daß bloße polizeiliche Maßnahmen wirkungslos blieben. Sie mußte eine Entscheidung für oder gegen den Einsatz letzter Gewalt treffen, die vielleicht noch ihren Machterhalt gesichert hätte. Die Mittel dazu hatte sie in der Hand. In der ganzen DDR war seit Anfang September absehbar, daß in Leipzig die Entscheidung über die Macht der SED fallen würde.

Im Gegensatz zu Leipzig scheiterten noch im September Demonstrationsversuche in Berlin. Hier fehlte ein mit der Nikolaikirche vergleichbares Zentrum und vor allem ein den Leipziger Friedensgebeten entsprechender Vorlauf. Eine Demonstration gegen die Wahlfälschungen, die am 7. September auf dem Alexanderplatz geplant war, verhinderten zahllose Sicherheitskräfte, die den Platz weiträumig umstellt und die U-Bahnstationen besetzt hatten. Es kam zu einigen Verhaftungen, als Demonstranten Plakate entfalten wollten. Zehn Tage später organisierte eine Kontaktgruppe aus Vertretern verschiedener Oppositionsgruppen in der Gethsemanekirche das erste der Fürbittengebete zur Solidarisierung mit den Leipzigern, aus denen bald darauf die dauernde Mahnwache hervorging. Am 26. September formierte sich nach dem Fürbittengebet die erste kleinere Demonstration.

 

   4. Erste Phase der Neuformierung   

4.1 Überhasteter Einstieg

Als sich die politische Krise der DDR verschärfte, mußten alle Planungen und Überlegungen der Oppositionellen zur Neuformierung in großer Eile vorangetrieben werden. Vor allem kam es darauf an, Öffentlichkeit für die verschiedensten Projekte herzustellen, die alle noch nicht ausdiskutiert und noch weniger koordiniert waren. Zwar fand während des gesamten Septembers eine Vielzahl von Gesprächen zwischen Oppositionellen der unterschiedlichsten Initiativen statt, doch konnte weder eine Einigung über das strategische Vorgehen noch über die zu wählenden Organisationsformen erzielt werden. So gingen die verschiedenen Initiativen unabhängig voneinander in die Öffentlichkeit. Über inhaltliche Fragen und Ziele der neuen Organisationen wurde zunächst wenig gesprochen. Grundlage waren die Demokratisierungsforderungen, wie sie sich in den letzten Jahren im sehr heterogenen oppositionellen Spektrum ausgeformt hatten.


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Diese wurden vor dem Hintergrund der Staatskrise jetzt aktualisiert. Fast durchweg spielten Rechts- und Menschenrechtsfragen, Ökologie sowie politische Themen, die sich aus der Friedensproblematik ableiteten, eine entscheidende Rolle. Theologische Begründungen, wie sie jahrelang in zahlreichen Oppositions­papieren üblich waren, fehlten in allen Erklärungen.

Im September ergaben sich zudem gravierende Unterschiede in der Wahl der Mittel. Alle Initiativen wollten Mobilisierungseffekte erzielen, um aus der Minderheitsposition herauszukommen. Sie mußten dabei, wie in den Vorjahren, ein hohes Maß an Legitimation aufbieten, um die breite Unzufriedenheit in eine politische Aktionsform gegenüber der SED umzuformen und zugleich die Risiken bei einer Beteiligung kalkulierbar zu halten. Entsprechend groß war die Bandbreite zwischen solchen Projekten, die lediglich einen öffentlichen politischen Dialog ermöglichen wollten, und denen, die eine programmatisch definierte Interessenvertretung auch organisatorisch anstrebten. Gemeinsam war den Grundsatzpapieren und Gründungsaufrufen allerdings das Angebot, die gesellschaftliche Kommunikation unter Einschluß der SED wieder in Gang zu bringen und auf eine demokratische Grundlage zu stellen, damit ein Verfahren zu finden, das die Situation beendete, die die SED immer mehr zur Gewaltanwendung trieb.

Alle Initiativen gingen von Berlinern aus, die mehr oder weniger andere Oppositionelle aus dem Lande hinzuzogen. Dies ergab sich aus der relativ hohen Kommunikationsdichte in Berlin. Die Beteiligung an den ersten Initiativen war von vielen Zufällen abhängig. Zudem spielten bei der Zusammensetzung der Initiativgruppen persönliche Spannungen eine Rolle. So lehnte Bohley die Zusammenarbeit mit Schnur ab, weil sie ihn für einen MfS-Spitzel hielt, sie wollte auch nicht mit Eppelmann arbeiten, weil dieser einen entsprechenden — wie sich erst später herausstellte — berechtigten Verdacht gegenüber einem anderen Oppositionellen nicht ernst genommen hatte. 

Alle Initiatoren mußten im September noch unter schwierigsten Bedingungen arbeiten. Dazu gehörten zahlreiche Behinderungen und Störungen in der Kommunikation, Telefonsperren, Hausarrest, Abriegelungen von Wohnungen sowie Sabotageakte an Fahrzeugen. Hinzu kamen viele Zuführungen und Verhöre. Das MfS konnte auf zahlreiche IM in der Oppositionsszene zurückgreifen, deren Einfluß auf die inhaltliche Arbeit, auf die interne Polarisierung oder die Behinderung von Arbeitsprozessen damals noch nicht erkannt wurde. Das MfS hat seine IM zunächst nicht in Führungspositionen der Opposition eingeschleust, denn sowohl Schnur als auch Böhme sind ausdrücklich von den Oppositionellen um Mitarbeit gebeten worden. Erst im Oktober versuchte das MfS gezielt, daraus Kapital zu schlagen.

Die Kommunikation zwischen den Berliner Initiatoren und Aktivisten in anderen Städten war bis in den Oktober so schlecht, daß im Lande viel improvisiert werden mußte. Auf dringende Appelle zur Abstimmung in politischen Einzelfragen konnte oft nicht reagiert werden. Die erforderlichen Kontakte wurden durch zahlreiche zeitaufwendige Besuche aufrechterhalten. Auch die materiellen Voraussetzungen für die Opposition waren im September noch denkbar schlecht. Für die Öffentlichkeitsarbeit konnte die Opposition zunächst nur auf ihren Samisdat zurückgreifen, der sich zwar seit dem September rasch ausweitete, aber angesichts der schnellen politischen Abläufe zu träge und zu auflagenschwach war. Die älteren Oppositionsorgane versuchten sich umzustrukturien.


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Die Umweltblätter nannten sich nun telegraph, und die Vielzahl der neuen Blätter wie der Merseburger telegraph entsprachen in Form und Auflage noch dem Samisdat der achtziger Jahre. Eine wahre Explosion gab es aber in der Herstellung und Verbreitung von Flugblättern. Vor allem die Texte der Gründungs­initiativen wurden in vielen tausend Exemplaren verbreitet und immer neu abgeschrieben. Die größte öffentliche Wirkung erzielte die neue Opposition über die Westmedien, die allerdings oft andere Schwerpunkte setzten.

 

4.2 Sozialdemokratische Partei (SDP)

Am 28. August 1989 stellte während eines Menschenrechtsseminars in der Berliner Golgathakirche Markus Meckel den Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei vor, der faktisch eine konfrontative Absage an die SED und ihr politisches System enthielt, er löste damit sofort eine große politische Aufregung aus. Veränderung sei nur noch durch »die grundsätzliche Bestreitung des Wahrheits- und Machtanspruchs der herrschenden Partei« möglich. Gefordert wurden u.a. »Rechtsstaat und strikte Gewaltenteilung, (...) parlamentarische Demokratie, (...) soziale Marktwirtschaft, (...) Freiheit der Gewerkschaften und Streikrecht« (Gutzeit 1989). 

Der Aufruf war von Ibrahim Böhme, Martin Gutzeit, Markus Meckel und Arndt Noack unterzeichnet, und im September kam die Bildung erster Strukturen informeller Art schon voran, wenn auch die zur Mitgliedschaft Entschlossenen zunächst nur kleine Gruppen bilden konnten. Allein schon die Gründungsabsicht stellte eine schwere Herausforderung der SED dar, und dementsprechend gab es auch noch Ängste. Immerhin konnten die Initiatoren bei ihrer Gründung am 7. Oktober in Schwante bei Berlin bereits auf ein landesweites Verbindungsnetz zurückgreifen, das zunächst noch wesentlich an die innerkirchliche Kommunikation angelehnt war. Hier wurde das Statut angenommen, das politische Grundsätze der SDP formulierte und einen ersten Strukturplan vorgab. Es wurde ein Vorstand aus 15 Personen mit Stephan Hilsberg als erstem Sprecher und Angelika Barbe sowie Markus Meckel als dessen Stellvertreter gewählt. Böhme wurde Geschäftsführer, um das absolute Übergewicht der Theologen nicht allzu deutlich in Erscheinung treten zu lassen.

In seiner Rede beim Gründungsakt am 7. Oktober bezog Meckel in der deutschen Frage Stellung auf Grundlage seiner früheren Positionen (vgl. 72.2.4): »Wir anerkennen die Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit unserers Volkes.« (Meckel 1989) Dies sollte offene Grenzen, Blockfreiheit, vollkommene Selbstbestimmung der Deutschen und Rückzug aller alliierten Truppen einschließen.

 

4.3 Neues Forum (NF)

Nicht die ersten Papiere der SDP, sondern das am 9. September in Grünheide in der Wohnung von Katja Havemann gegründete Neue Forum wurde zum eigentlichen, großen oppositionellen Ereignis in der Öffentlich­keit. Die Westmedien griffen diesen Vorgang als Sensation auf. Auch die Popularität von Bohley, die das NF initiiert hatte, erhöhte die Aufmerksamkeit. Das NF hatte vor den anderen Gruppierungen einen zeitlichen Vorsprung, der außerdem durch die programmatische Offenheit begünstigt schien, da der Gründungsaufruf nicht so konfrontativ wie die Erklärungen der Sozialdemokraten war.


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Er setzte politisch bei den Erfahrungen der Menschen an und erklärte: »In unserem Lande ist die Kommunik­ation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.« In der »gegenwärtigen krisenhaften Situation« sei die Beteiligung vieler Menschen am »gesellschaftlichen Reformprozeß« nötig. Dazu sollte das NF als eine gemeinsame »politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen«, gebildet werden. 

In inhaltlichen Fragen hielt sich dieses erste Papier offensichtlich bewußt zurück, vermied den Begriff Sozialismus und benannte dabei Alternativen, die indirekt traditionelle Vorstellungen eines demokratischen Sozialismus enthielten. So hieß es: »Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in die Ellenbogengesellschaft. (...) Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie und selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln.« 

Das NF fühlte sich »Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur« (Arnold 1989) verpflichtet. Als Mobilisierungsbewegung gab sich das NF bewußt legalistisch, erklärte, daß es sich auf gesetzlicher Grundlage anmelden wolle und stand auch darin in der Tradition der DDR-Opposition. Erstunterzeichner waren neben Bärbel Bohley und Katja Havemann u.a. die bekannten Oppositionellen Michael Arnold, Martin Böttger, Erika Drees, Frank und Katrin Eigenfeld, Hans-Jochen Tschiche, Jens Reich, Jutta und Eberhard Seidel sowie Rolf Henrich. Am 19. September versuchte das NF, sich beim Ministerium des Inneren offiziell anzumelden, worauf der Bescheid erging, daß für das NF »keine gesellschaftliche Notwendigkeit« bestünde.

 

Am 1. Oktober trafen sich in der Wohnung von Sebastian Pflugbeil in Berlin, umstellt von Sicherheits­organen und Volkspolizei, Vertreter des NF vor allem aus dem Berliner Raum und erarbeiteten einen Rundbrief sowie einen »Problemkatalog«. Dieses Treffen reagierte auf den »Ansturm von Menschen«, den das NF erlebt hatte, sorgte dafür, daß das Konzept eines bloßen Dialogforums verlassen wurde und sich die Grundlagen für eine politische Organisation »für Veränderungen und Reformen« herausbildeten. Im Rundbrief wurde, noch ganz auf Legitimation des Dialogansatzes bedacht, erklärt: »Wir wollen hier bleiben und arbeiten. (...) Für uns ist <Wiedervereinigung> kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben.«

Zurückgewiesen wurde die Kriminalisierung durch die SED ebenso wie eine gesellschaftliche Marginalisierung: »Wir wollen uns weder in die Illegalität noch ausschließlich in den kirchlichen Raum abdrängen lassen.« Als Organisationsstruktur für eine »legale politische Plattform« wurde vorgeschlagen, Gruppen in Wohngebieten und regionale Zentren zu bilden und einen Sprecherrat aus den Regionen zu wählen. Außerdem sollten überregionale Themengruppen entstehen. Der Problemkatalog enthielt die "Aufforderung, über wirtschaftspolitische und kulturpolitische Fragen zu diskutieren. Die energischsten Forderungen betrafen das »Rechts- und Staatswesen«, sie verlangten, »uneingeschränkte Grundrechte« zu gewährleisten. Ausdrücklich wurden rechtliche Regelungen eingefordert, »damit oppositionelles Handeln nicht kriminalisiert« werden könne, »sämtliche Verwaltungsakte überprüfbar« seien und »uneingeschränkte Freizügigkeit« (Schult 1989) bestehe.


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Mit diesem ausführlichen Katalog bekannte sich das NF prinzipiell zu den Grundlagen der bürgerlichen Demokratie. Einige Elemente zeigen auch den Einfluß von Henrichs anthroposophischen Ideen.

Nach den ersten gescheiterten Anmeldungsbemühungen forderten Demonstranten »Neues Forum zulassen« und Tausende Bürger unterschrieben diesen ersten Aufruf. In großen Veranstaltungen, häufig in den Kirchen, wurden die Themen des NF debattiert. Am 4. Oktober schrieb Jens Reich für das NF einen Brief an Gorbatschow, in dem er ihn in der DDR begrüßte und in Anspielung auf die Reformen in der UdSSR erklärte, daß man in der DDR »die Demokratie wie die Luft zum Atmen« (Reich 1989) brauche.

Die Malerin Bohley wurde zur Symbolgestalt der DDR-Revolution. Ihr politischer Ansatz wurzelte in der Verbindung mit den Dissidenten um Havemann und in der emanzipativen Friedens- und Frauenbewegung der frühen achtziger Jahre. Sie gehörte später der Menschenrechtsbewegung an. Bis in den Herbst 1989 brachte sie mit der Verbindung einer ethisch motivierten Kritik an den patriarchalischen Strukturen in Kirche, Gesellschaft und Politik und der Unversöhnlichkeit gegenüber der hinterhältigen konspirativen Zersetzung der Persönlichkeit von Menschen durch das MfS eine spezielle weibliche Note in die Politik. Was sich im Zuge der Wende in der Öffentlichkeit oft als Politikverweigerung und Realitätsverlust zeigte, war in ihrer Abneigung gegenüber allem begründet, was die Authentizität menschlicher und politischer Willensbildung einschränkte. Sie war die Jeanne d'Arc der deutschen demokratischen Revolution und zog über die Revolution hinaus den Haß der Verlierer der Herrschaftsgeschichte auf sich, ohne daß jene ihre Legitimation beschädigen konnten.

 

4.4  Demokratie jetzt  (Dj)  

Am 12. September traf sich die <Initiative Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung> und erarbeitete den <Aufruf zur Einmischung in eigener Sache> und die <Thesen für eine demokratische Umgestaltung der DDR>. Darin wurde zu einer <Bürgerbewegung Demokratie jetzt> aufgerufen, die zu den nächsten Wahlen mit einer eigenen Liste antreten wollte. Die Papiere wurden zuerst auf der Synode des BEK am 15. September im Eisenach verteilt, noch im September verbreitete sich der Aufruf im ganzen Land. Kristallisationskerne der entstehenden Bürgerbewegung waren oft kirchliche und oppositionelle Zentren. Die Beteiligung blieb zwar weit hinter den Zahlen des NF zurück, die Gruppen waren aber wesentlich konsistenter, da sie eine konkrete inhaltliche Vorgabe als Arbeitsgrundlage hatten. Der Einfluß der Initiatoren, wie Hans-Jürgen Fischbeck, Wolfgang Ullmann oder Konrad Weiß, blieb in der Bewegung dominierend.

Die Umgestaltung wurde mit den Folgen des »Staatssozialismus« begründet, die in der »staatlichen Verfügung der Produktionsmittel«, der »Uniformierung der Gesellschaft« und der »Entmündigung« der Bürger sichtbar seien und zur Abwehr der Reformen in Osteuropa und zum Wahlbetrug geführt hätten. In einer reformierten sozialistischen Gesellschaft, die eine Alternative zur westlichen Konsumgesellschaft wäre, sollten »soziale Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde« gewahrt, »der gesellschaftliche Konsens im öffentlichen Dialog gesucht«, durch verantwortliche

    wikipedia  Wolfgang_Ullmann  1929-2004


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Arbeit ein »lebendiger Pluralismus« geschaffen, durch »Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit« der innere Frieden gesichert, »Ökonomie und Ökologie in Einklang gebracht« und »Wohlstand nicht mehr auf Kosten der armen Länder gemehrt« werden. In den theoretischen Erläuterungen wurde von einer zu erringenden »neuen Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker« gesprochen. Die deutschen Staaten sollten sich »um der Einheit willen aufeinander zu reformieren.« 

Weiter wurde die Entstaatlichung der Medien, der Bildungseinrichtungen, der Parteien, der Gewerkschaften, der Wissenschaften und der Kunst gefordert. Die Wirtschaft solle unabhängig, dezentral, in der Preisbildung marktorientiert und auch in privaten Eigentumsformen handeln können. Die Umweltpolitik solle öffentliche Kontrolle der Umweltdaten ermöglichen, den Energieverbrauch senken sowie auf der Grundlage eines Wandels der Werte und des Lebensstils beruhen.

Die inhaltlichen Aussagen von Demokratie jetzt fußten auf dem politischen Entwicklungsprozeß der IAPPA (vgl. 86.5.1) und standen somit in der Logik ihres 1986 begonnenen Weges, der auch eine Verselbständigung von der Vormundschaft der Kirchen bedeutete. Die Sozialismusvorstellung vereinigte die protestantisch-sozialethischen und zivilisationskritischen Komponenten, die in der Tradition der DDR-Opposition Freiheitswerte mit intentionalen Aspekten der sozialistischen Idee verband. Diese Sozialismusvorstellung betonte einerseits Gemeinschaftswerte, wie sie andererseits Menschenrechte, Pluralismus und Marktmechanismen integrierte. Dj wollte dem Sozialismus, der als Alternative zur »westlichen Konsumgesellschaft« nicht verloren gehen sollte, mit der Demokratisierung zur »eigentlichen« Gestalt verhelfen. (Demokratie jetzt, 1989)

 

4.5 Demokratischer Aufbruch - sozial - ökologisch (DA)

Erste Nachrichten über den Demokratischen Aufbruch kamen über die Westmedien von Edelbert Richter, der nach Rücksprache mit Ehrhart Neubert entgegen der ursprünglichen Absicht bei einem Besuch in der Bundesrepublik die Gründung des DA Mitte September bekanntgab, als er von der Entstehung des NF gehört hatte. Nach gegenseitiger Abstimmung bekannten sich auch die anderen Initiatoren zur beabsichtigten Gründung. Thomas Welz organisierte von der Samaritergemeinde aus das Treffen für den 1. Oktober, und noch im September trat der Initiativkreis in Berlin in Erscheinung, betrieb Öffentlichkeitsarbeit und erörterte auf verschiedenen Zusammenkünften inhaltliche Fragen. Eppelmann und Pahnke brachten ihre großen Freundeskreise ein. Aber schon bald bildeten sich auch erste Gruppen des DA ohne genaue inhaltliche Vorgaben. Da der von Richter angekündigte Programmentwurf zunächst ausblieb, erarbeitete Neubert verschiedene Konzepte mit stark sozialethischem Charakter und einen »Entwurf einer programmatischen Erklärung«, die er an frühere Texte Richters anlehnte und mit der bis Ende Oktober operiert wurde.

Am 1. Oktober kamen etwa 80 Oppositionelle aus dem ganzen Land zusammen, um in der Samariter­gemeinde den DA zu gründen. Ein großes Polizeiaufgebot verhinderte aber wie erwartet den Zugang zu den Räumen. Eppelmann konnte aber den bis dahin geheim gehaltenen Treffpunkt, die Wohnung von Neubert, auf kleinen Zetteln mitteilen. 


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Sofort entwickelte sich ein Wettlauf mit den Sicherheitsorganen, die die Verfolgung der Abfahrenden aufnahmen. Insgesamt 17 Delegierte erreichten jedoch die Wohnung, bevor das MfS den weiteren Zugang absperrte und bis in die Nachtstunden mit Bewaffneten blockierte. Die übrigen wichen in die Gemeinderäume der Altpankower Gemeinde aus, wo das MfS die Zugänge ebenfalls bald besetzte und eine Arbeit verhinderte. In der Wohnung von Neubert arbeitete die Gruppe mit Falcke, Nooke, Pahnke sowie den Schriftstellerinnen Daniela Dahn, Margot Friedrich und Rosemarie Zeplin an den vorbereiteten Texten. Ein von Pahnke entworfener Aufruf zur Bildung des DA wurde umformuliert, und die programmatische Erklärung wurde nur redaktionell bearbeitet. 

Das MfS hob die Sperrung des Telefons zeitweise auf, um Schnur die Gelegenheit zu geben, die Versammlung zum Abbruch der Arbeit aufzufordern, was aber abgelehnt wurde. Inzwischen wurde auch bekannt, daß Richter in Weimar durch das MfS, das in ihm den geistigen Kopf sah, festgesetzt war. Sein Programmentwurf kam verspätet und unvollständig über Kuriere an. In der Nacht gelang es Pahnke und Neubert noch zu Eppelmann zu fahren, wo Journalisten warteten. Diesen wurden die Texte mit der Erklärung übergeben, daß nun der DA gegründet sei.

Die politische Stellung des DA im Verhältnis zu den anderen Oppositionsgruppen blieb zunächst unklar. Möglicherweise trug dazu das MfS bei, da die angereisten Sozialdemokraten wie Meckel und Böhme, nicht durchkamen. Sie wollten im DA eher ein Dach für alle anderen Oppositionsgruppen sehen. Nach dem Treffen vom 1. Oktober ergab es sich fast von selbst, daß sich im DA all diejenigen formierten, die nicht in die SDP wollten und im Vergleich zum NF und Dj eine höhere Verbindlichkeit anstrebten. Die ersten DA-Papiere zielten auf eine Verbindung zwischen einer konsequenten Liberalisierung, der Gewaltenteilung, der Entideologisierung des Staates sowie der Pluralisierung der Eigentumsformen und beharrten gleichzeitig auf einem sozialistischen Charakter der anzustrebenden Gesellschaftsverfassung.

 

4.6 Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)

Die wohl kleinste Oppositionsgruppe, die ihre Kontinuität seit 1986 gewahrt hatte, war die IFM. Ihr Ausweitungs- und Formierungsprozeß hatte schon im Frühjahr 1989 begonnen und kam im September nur schleppend voran. Sie löste sich bis in den Oktober hinein nicht von ihrer traditionellen Gruppenstruktur. Die IFM gab zudem viele Akteure in andere Gruppen ab. Barbe ging zur SDP ebenso wie Böhme, der als MfS-Spitzel ohnehin überall auftauchte. Bohley hatte das NF mitbegründet, und Böttger war inzwischen nach Karl-Marx-Stadt verzogen und wurde dort zu einer Säule des NF. Die IFM spielte als Vermittlerin zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen in Berlin dennoch eine wichtige Rolle.

 

4.7  Initiative Vereinigte Linke (VL)

Nach Verabredungen kamen Vertreter der ehemaligen linken Gruppen wie Gegenstimmen und Demokratische Sozialistinnen (vgl. 93.2.2) überein, eine eigene Organisation aufzubauen. Mit Datum vom 4. September und dem Hinweis auf ein Treffen in Böhlen bei Leipzig, das aber dort nicht stattgefunden hatte, wurden eine »Mitteilung über ein Treffen von Vertretern verschiedener sozialistischer Tendenzen«, ein Appell »Für eine vereinigte Linke in der DDR« und das Papier »Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR« veröffentlicht.


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Diese sogenannte »Böhlener Plattform« lief im September um. Zunächst waren keine Strukturen erkennbar, wenn auch deren Vertreter wie Thomas Klein und Herbert Mißlitz bei zahlreichen Gesprächen und internen Absprachen zwischen den verschiedenen Oppositionsgruppen mitarbeiteten und sich als Initiativgruppe Vereinigte Linke vorstellten. Nicht überschaubar war, ob und in welchem Ausmaß es der Gruppe gelungen war, nennenswerte Potentiale von linksintellektuellen und kritischen SED-Genossen zu gewinnen. Am 2. Oktober traf sich in der Umwelt-Bibliothek in Berlin eine Koordinierungsgruppe, die erste organisatorische Schritte unternahm.

Die in den Gründungsdokumenten angesprochenen Inhalte zeigten, daß die Initiative konsequent die basisdemokratisch-sozialistische Linie des äußersten linken Spektrums der DDR-Opposition fortsetzte. Der nötige Umgestaltungsprozeß in der DDR in Richtung auf einen »demokratischen und freiheitlichen Sozialismus« sollte die »Gefahren eines Ausverkaufs an den Kapitalismus oder einer Militärdiktatur mit neostalinistischer Option« bannen. Dies sollte u.a. auf der Basis »des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln, (...) des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten, (...) des Prinzips der sozialen Sicherheit« und »der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität« erfolgen. Vorgeschlagen wurden sowohl direktdemokratische Formen als auch eine parlamentarische Demokratie. Die DDR sollte ihrem Charakter nach von »Antidespotismus, Antistalinismus, Antifaschismus, Antimilitarismus, Antikapitalismus, Antinationalsozialismus, Antirassismus« geprägt sein. (Vereinigte Linke 1989)

Die Initiative wollte ausdrücklich auch SED-Genossen integrieren. Eine solche Absicht hätte aber nur gelingen können, wenn diese eine ähnliche Freude am Theo-retisieren gehabt hätten. Die SED-Theoretiker blieben bis auf wenige Ausnahmen der Initiative fern, zumal sie im September auf den Fortbestand der SED setzten. Innerhalb des Spektrums der neu formierten oppositionellen Organisationen hatte die VL eine deutliche Außenseiterrolle und konnte zunächst nur kleinere Gruppen gewinnen.

 

4.8 Grüne Liste im NF

Obwohl die formalen Bedingungen für die Gründung einer grünen Partei im September überaus günstig waren, weil die Umweltbewegung über einen hohen Organisationsgrad verfügte, kam es nicht zu einem derartigen Zusammenschluß. Das im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen im Mai 1989 geplante Projekt des Netzwerkes Arche, eine »Grüne Liste« zu formieren, war noch nicht vorangekommen. Obwohl es in der Arche auch Überlegungen zur Parteigründung gab, wurde eine solche Entscheidung hinausgeschoben. Noch im gleichen Monat gab es Absprachen mit Bohley, die grünen Interessen innerhalb des NF als eine Sondergruppe, die Grüne Liste im NF, zu etablieren. Mit dieser Regelung konnte zwar die große Popularität des NF genutzt, aber keine Verbesserung für die Umweltbewegung erzielt werden. Daher hatte sie auch keinen langen Bestand.


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4.9  Kooperation innerhalb der Opposition

Nachdem kurz hintereinander die neuen Oppositionsorganisationen gebildet worden waren, löste dies im Lande bei vielen Gruppen besorgte Reaktionen aus. Kenner der Berliner Szene wußten, daß die Berliner traditionell zerstritten waren und fürchteten eine Fortsetzung der alten Auseinandersetzungen. Zudem waren zumeist nur die ersten Aufrufe bekannt und eine detaillierte Information über Inhalte und Strategien kaum vorhanden. Eine Gruppe von 66 Weimarer Bürgern, die sich größtenteils auch vorher schon oppositionell betätigt hatten, faßte am 20. September eine Entschließung, die lautete: »Wir, die Unterzeichnenden, begrüßen die Bildung von Initiativen zur demokratischen Umgestaltung in der DDR. Sie hoffen aber zugleich, daß sie zu einem einheitlichen politischen Handeln kommen!« Nur einer vermerkte: »Bitte nicht einheitlich.« (Weimarer Bürger 1989)

Die Initiative zur demokratischen Erneuerung (DI) in Leipzig lud alle oppositionellen Bewegungen zum 24. September zu einem Gespräch in die Markusgemeinde ein, um zu einer Abstimmung bzw. zu einer möglichst weitgehenden organisatorischen und inhaltlichen Zusammenarbeit zu gelangen. Die Vertreter der einzelnen Bewegungen ließen sich darauf aber nicht ein. Die DI löste sich allerdings bald auf und schloß sich dem NF an. Einige ihrer Vertreter engagierten sich später auch in anderen Gruppen.

Noch im September kam es in Berlin zwischen den Initiativgruppen zu einem intensiven Austausch. Er sollte einerseits die Koordination von Aktivitäten erleichtern, andererseits die jeweilige politische Funktion der verschiedenen Bewegungen klären. Die raschen Fortschritte des NF lösten eine Debatte aus, ob dieses nicht als Dach für andere Bewegungen fungieren sollte. Martin König schlug vor, Dj unter das Dach des NF zu stellen, was aber mehrheitlich abgelehnt wurde. Auch die Rolle des DA blieb zunächst unklar, denn auch hier gab es integrative Vorstellungen. Selbst die SDP-Gründer erwogen anfangs, ihre Partei innerhalb des DA zu plazieren. Bisweilen gab es heftige Angriffe auf die anderen Gruppen, weil sie vermeintlich die Einheitlichkeit der Oppositionsbewegung verhinderten. Erst Anfang Oktober war die Eigenständigkeit der jeweiligen Initiativen weitgehend abgeklärt. Außerdem begannen in diesem Monat im ganzen Land die gemeinsamen Vorstellungen der Oppositionsgruppen als eine über Monate aufrechterhaltene Arbeitsform. Diese Veranstaltungen fanden zumeist in kirchlichen Räumen statt, wie z. B. am 6. Oktober als »Werkstatt — Wohin DDR?« in der Erlöserkirche in Berlin, an der 2.000 Menschen teilnahmen.

Schon im September war in Berlin eine Kontaktgruppe gebildet worden, die sich während des gesamten Herbstes bewährte. Eines ihrer ersten wichtigen Arbeitsergebnisse war die »Gemeinsame Erklärung« vom 4. Oktober, die von Vertretern von Dj, DA, Demokratische Sozialistinnen, IFM, SDP, NF und verschiedenen Friedenskreisen in der Wohnung von Reinhard Weidauer nach vorherigen Verabredungen formuliert wurde. Die Erklärung, die später als Wahlplattform der Opposition bezeichnet wurde, enthielt ein Bekenntnis zur Vielfalt der oppositionellen Bewegungen, forderte das Ende der Repressionen und benannte die Mindestanforderungen für eine freie und geheime Wahl, die unter UNO-Kontrolle stattfinden müsse. Sie endete mit dem Appell: »Wir rufen alle Bürgerinnen und Bürger der DDR auf, an der demokratischen Erneuerung mitzuwirken.« (Barbe 1989)


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Auf lokaler und regionaler Ebene gab es fast immer eine Zusammenarbeit zwischen den Gruppen, die auch zu eigenwilligen Zusammenschlüssen führte. In Merseburg bildete sich eine Demokratische Initiative, die mehrere Gruppen zusammenschloß. In Dresden hielt die enge Verflechtung von NF und DA bis in den November an. In Eisenach spielte der DA anfangs die Rolle einer Massenbewegung, die an anderen Orten das NF übernommen hatte.

 

4.10  Die Herausforderung für die Partei 

Die SED hat die gezielte politische Herausforderung durch die Neuformierung der Opposition sofort verstanden. Sie reagierte zunächst noch neben offenen und verdeckten Repressionen mit den klassischen Mitteln, wie dem Versuch, die Kirche gegen die Opposition zu instrumentalisieren oder die Zersetzungs­arbeit in der Opposition zu organisieren. Als beides, in zahllosen Papieren des MfS dokumentiert, keine Wirkung erzielte und die Opposition schnell an Boden gewann, versuchte sie vorbeugend wenigstens in den eigenen Reihen eine gewisse Immunisierung gegen den »neuen Sauerteig« zu erreichen. 

Die Einschätzungen des MfS, aus denen eindeutig hervorging, daß nun die Machtfrage gestellt war, waren nur der Parteispitze zugänglich. Wohl aber zirkulierten verschiedene Argumentationspapiere für den Gebrauch in der SED, die auch schnell in der Opposition bekannt wurden. Wahrscheinlich haben Gesellschaftswissenschaftler noch im September ein Papier »Einige Argumente zum Konzept eines illegalen sogenannten <Neuen Forums>« entwickelt, das zutreffend, wenn auch polemisch, die neue Konfliktlinie schilderte. Der Aufruf des NF würde aus der Massenflucht und aus den »verständlichen Sorgen« »Indizien für nicht funktionierende Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft« ableiten. Er »verdichtet jedoch wirkliche Sorgen und reale Widersprüche im Sozialismus zu einer Problemsicht, die eine Lösung der anstehenden Fragen gegen die bestehenden politischen Strukturen nahelegt und zugleich eine Legalisierung einer Opposition unter Berufung auf Verfassungsrechte einfordert.« Als Gefahr für die sozialistische Ordnung wurde schon die »Sammlung von kritischen Bürgern, Andersdenkenden, Enttäuschten und - eine andere Sicht wäre Blauäugigkeit — offenen und verdeckten Gegnern« dargestellt. Deswegen sollte nach dem Rat der SED-Gesellschaftswissenschaftler versucht werden, mit den Bürgern zu einer »neuartigen Konsensbildung« zu kommen, während Angriffe auf »die führende Rolle der SED nicht zugelassen« werden dürften. (Internes Papier 1989)

Nicht nur die Opposition hatte sich auf längere Zeiträume eingestellt, sondern auch die SED und das MfS. Dessen Maßnahmepläne gingen meist noch von der Annahme aus, daß die Bewegung wie vor Jahren in langfristigen Maßnahmen eingedämmt werden könnte.

 

5. Die Septembersynode des BEK

Die wachsende innenpolitische Spannung und die Fluchtbewegung führten zu einer deutlichen Akzentverschiebung in der KKL, die am 2. September einen Brief an Honecker schickte und diesen zusammen mit einem Appell zum Bleiben in der DDR eine Woche später an die Gemeinden weitergab. 


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Im Gegensatz zu den jahrelangen beschwichtigenden Äußerungen gab die KKL nun deutliche Signale zu den Gründen der Unzufriedenheit und der Fluchtwelle. Sie bat darum, eine »offene und wirklichkeitsnahe Diskussion« zu führen, statt mit »Belehrungen oder sogar Drohungen« zu reagieren. Es sollten »erkennbare Veränderungen wirksam, (...) eine realistische Berichterstattung« gestattet, jeder »Bürger als mitverantwortlicher Partner« respektiert, »Reisemöglichkeiten« eröffnet und die »Rückkehr« von Ausgereisten ermöglicht werden (Leich 1989). 

Der Brief war mit einer knappen Mehrheit verabschiedet worden. Er löste hektische kirchenpolitische Aktivitäten aus. So wurden u.a. hochrangige Gespräche zwischen Staat und Kirche abgesagt. Vor allem war es nun Bischof Leich, der unmißverständlich auf Distanz ging und die Absage zahlreicher Kirchenleute zu den üblichen Empfängen und Feierlichkeiten zum bevorstehenden 40. Jahrestag der DDR einleitete. Vergeblich versuchte der Staat, auf die Kirchen Einfluß zu gewinnen, damit sie noch einmal geschlossen einen Beitrag zur Stabilisierung der SED-Herrschaft lieferten. Einige unter den höchsten Kirchenfunktionären folgten noch diesem Ansinnen, doch viele, die bisher aus kirchenpolitischen Gründen geschwiegen hatten, gaben nun ihre Zurückhaltung auf.

 

Die Synode des BEK vom 15. bis 19. September in Eisenach geriet zu einem Fiasko für die Loyalisten. Trotz intensiver konspirativer Einflußnahme gewannen die kritischen Theologen wie Große die Oberhand. Am Rande der Synode wurden schon einige Papiere der Oppositionsbewegungen verteilt, einige ihrer Vertreter wie etwa Falcke oder Schorlemmer gehörten zu den Rednern. Auch Leich sprach sich offen für die nun außerhalb der Kirchen agierenden Oppositionsgruppen aus. Die Synode erklärte in ihrem Beschluß:

»Wir brauchen: ein allgemeines Problembewußtsein dafür, daß Reformen in unserem Land dringend notwendig sind; die offene und öffentliche Auseinandersetzung mit unseren gesellschaftlichen Problemen; (...) verantwortliche pluralistische Medienpolitik; demokratische Parteienvielfalt; Reisefreiheit für alle Bürger; wirtschaftliche Reformen; verantwortlichen Umgang mit gesellschaftlichem und persönlichem Eigentum; Möglichkeit friedlicher Demonstrationen; ein Wahlverfahren, das die Auswahl zwischen Programmen und Personen ermöglicht.« (Rein 1989,216)

Das Bekenntnis zu Demonstrationen signalisierte den Umschwung in nur wenigen Wochen (vgl. 101.4). Dieser Erklärung der Synode, die über alle politischen Stellungnahmen seit der Gründung des BEK hinausging, folgten wütende Angriffe in der SED-Presse und durch Staatsorgane, die die Kirche auf die Seite der Konterrevolution übergelaufen sahen. Tatsächlich war der sogenannte Weg des 6. März 1978 (vgl. 39.2.1) beendet, wenn auch innerkirchliche Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Kirche auf allen Ebenen bis in den November anhielten. In diesen Monaten waren die Oppositionsgruppen trotz der erklärten Unabhängigkeit noch auf Nutzung von Kirchenräumen angewiesen und mußten sich noch immer verschiedenen Bedenken und Behinderungen aussetzen. 


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   6. Aufstand der Intellektuellen   

 

Schon einige Tage nach der Veröffentlichung des Aufrufes des Neuen Forums ergriff die Reformwelle auch die Künstler. In einer Vielzahl von Resolutionen forderten sie von der SED den Dialog, die Einleitung von Reformen, Meinungsfreiheit und die Anerkennung der neuen oppositionellen Bewegungen. Fast immer bezogen sich die Erklärungen auf die Fluchtwelle. Diese Texte wurden an Regierungs- und Parteistellen sowie an die DDR-Medien gegeben, die sie allerdings nicht veröffentlichten. Schnell kursierten tausende Exemplare ihrer Abschriften.

Eine Vorreiterrolle nahm die Resolution des Berliner Bezirksverbandes des Schriftstellerverbandes der DDR vom 14. September ein, die von Daniela Dahn, Sigrid Damm, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Gerti Tetzner, Christa Wolf und Rosemarie Zeplin eingebracht und mit großer Mehrheit angenommen worden war. Darin wurde angesichts der Krise, deren »Ursachen in nicht ausgetragenen Widersprüchen im eigenen Land« bestünden, für »die weitere Entwicklung des Sozialismus« der »demokratische Dialog« (Berliner Verband 1989) gefordert.

Besonders wirksam war die Resolution der Unterhaltungskünstler, die während einer Verbandstagung am 18. September verabschiedet wurde. Unter den Unterzeichnern befanden sich viele Liedermacher, wie Gerhard Schöne, und Musiker, wie Conrad (»Conny«) Bauer, die seit Jahren bei kirchlichen und oppositionellen Veranstaltungen aufgetreten waren und der Opposition nahestanden. Im Text hieß es: Das »Land braucht die millionenfache Aktivierung von Individualität« (Unterhaltungskunst 1989). Auch zahlreiche Theater meldeten sich zu Wort. Am 26. September schrieben die »Vertrauensleute der Gewerkschaftsgruppe Künstlerisches Personal« des Deutschen Theaters einen »Offenen Brief« an Ministerpräsident Stoph, in dem die Öffnung der DDR-Medien für das »Neue Forum und Andere« (Gewerkschaftsgruppe 1989) gefordert wurde. 

Ihnen folgten in Berlin u. a. am 29. September das Berliner Ensemble, am 3. Oktober das Maxim Gorki-Theater, am 4. Oktober die Volksbühne und am 5. Oktober das Berliner Kabarett »Die Distel«. Häufig wurden diese Erklärungen zu Beginn der Vorstellungen verlesen. Einen umfangreichen Forderungskatalog trug das Ensemble des Dresdner Staatsschauspiels allabendlich seit dem 6. Oktober vor, der am 15. Oktober noch einmal erweitert wurde. Darin wurde das Recht auf Information, Dialog, selbständiges Denken, Pluralismus, Recht auf Widerspruch und Reisefreiheit betont, und auf ihren Beruf anspielend äußerten die Schauspieler selbstbewußt: »Wir treten aus unserer Rolle heraus.« (Staatsschauspiel 1989)

 

Nach den schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften am 7. Oktober schlossen sich immer neue Theater, Künstlerverbände und Künstlergruppen der Bewegung an. In den Resolutionen wurde fast durchweg, neben den Forderungen nach Reform und Dialog, gegen die Gewalt­maßnahmen protestiert. So forderte der »Aufruf im 41. Jahr der DDR« vom 8. Oktober der »Sprechergruppe junger Theaterschaffender im Verband der Theaterschaffenden«: »Schluß mit der Gewalt gegen friedliche Demonstranten« (Sprechergruppe 1989). Am 9. Oktober schaltete sich der Dirgent Kurt Masur in Leipzig ein, um einen friedlichen Ausgang der Demonstrationen zu erreichen (vgl. 104.3). Ab Mitte Oktober gingen Gruppen von Künstlern auch zu eigenständigen Aktionen über (vgl. 105.1).

Zwar blieben zunächst die politischen Forderungen der Künstler meist hinter denen der Opposition zurück, dennoch war ihr Aufbruch zum Protest ein wesentlicher Mobilisierungsfaktor geworden. Die Bühnen und künstlerische Foren, oft in Kirchen, wurden für Wochen zu einer wichtigen Säule der sich befreienden Öffentlichkeit. Die Solidarisierung mit dem NF und den anderen Oppositionsgruppen führte diesen neue Potentiale zu.


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Zahlreiche Künstler beteiligten sich selbst aktiv in den Oppositionsgruppen, sehr oft durch persönliche Bekannschaften mit Oppositionellen angeregt. Von diesem Zusammenspiel profitierte die Opposition erheblich. So war es Christa Wolf zu verdanken, daß das Neue Deutschland erstmals überhaupt die Oppositionsgruppen und die Namen einiger ihrer Initiatoren erwähnte, als sie Mitte Oktober einen Aufruf »im Auftrag der demokratischen Bürgerinitiativen« zum Bleiben in der DDR veröffentlichte. Sie schrieb: »Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein interessantes Leben. Keinen schnellen Wohlstand, aber Mitwirkung an großen Veränderungen. Wir wollen einstehen für: Demokratisierung, Freie Wahlen, Rechtssicherheit, Freizügigkeit. (...) Helfen Sie uns, eine wahrhaft demokratische Gesellschaft zu gestalten, die auch die Vision eines demokratischen Sozialismus bewahrt. Ein Traum? Verhindern Sie mit uns, daß er wieder im Keim erstickt wird. (...) Fassen Sie zu sich selbst Vertrauen.« (Wolf 1989) Im politischen Kontext dieser Wochen entsprach das den Leipziger Rufen »Wir bleiben hier«, es sollte helfen, den politischen Prozeß nicht abreißen zu lassen, wovon nur die SED profitiert hätte.

In dieser frühen Phase der Revolution konnte die Reichweite der von den Künstlern angestrebten Reform des Sozialismus kaum bemessen werden. Der Umstand, daß viele Resolutionen die Verteidigung und Dynamisierung des Sozialismus gegen die Stagnation der SED und deren Führung beinhalteten, ließ keine Rückschlüsse auf die verfolgten Ziele zu. Hier handelte es sich oft ebenso um den Versuch, einer gescheiterten politischen Idee wieder Leben einzuhauchen, wie um die Legitimation für kritische Einsprüche in den gewohnten Sprachmustern. Selbst Schriftsteller und Künstler wie Helga Schütz, die überhaupt nicht am Sozialismus interessiert waren, bezogen zu diesem Zeitpunkt ihre kritischen Maßstäbe aus dem Sozialismus innewohnenden Intentionen. Der Aufbruch unter den Künstlern führte auch zur Krise des SED-gelei-teten Kulturbetriebes in allen Bereichen. Am 23. Oktober legten etwa die Leiter des Volksbuchhandels einen »Entwurf zu einer Strukturreform« vor, um den Buchhandel aus der wirtschaftlichen und ideologischen Bevormundung herauszuführen.

Im Oktober setzte auch unter den Künstlern eine politische Differenzierung ein. Am 26. Oktober trat Heinz Kamnitzer als Präsident des P.E.N.-Zentrums zurück, weil das Präsidium ihn bei einer Resolution für die Demokratisierung überstimmt hatte. Am 28. Oktober las Walter Janka (vgl. 15.1) im Deutschen Theater aus seinem Buch »Schwierigkeiten mit der Wahrheit« und leitete damit die Auseinandersetzung um die Kunst im Sozialismus ein. Erstmals wurde das Schweigen der Künstler selbst zum Thema einer kritischen Diskussion.

 

   7. Bewegung in den Blockparteien CDU und LDPD  

7.1 CDU: »Brief aus Weimar«

So fest auch die Blockparteien in das politische System eingespannt, so sehr ihre Funktionäre SED- und oft auch MfS-abhängig waren, stellte doch ein Teil der Parteibasis stets ein gewisses Unsicherheits­potential dar, zumal die CDU-Mitgliedschaft auch dazu benutzt wurde, der Nötigung zu entgehen, in anderen Organisationen mitzuarbeiten.


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Außerdem wirkten in der CDU auch christliche Orientierungen, die eine vollständige Anpassung an die SED ausschlossen, obwohl an den Widerstand der CDU in den ersten Jahren der SBZ nicht angeknüpft werden konnte. Die Selbstkontrolle in der CDU war so stark, daß es, abgesehen von einzelnen Fällen, zu einer politischen Artikulation von Kritik und Widerspruch jahrelang nicht mehr gekommen war. Im kirchlichen Spektrum galt die CDU außerdem als die angepaßteste Gruppe unter den Christen, doch immerhin hatten CDU-Mitglieder in Sachsen schon an den Auszählungen und Protesten bei den Wahlfälschungen im Mai 1989 teilgenommen.

So erregte es Aufsehen, daß am 10. September die vier Thüringer CDU-Mitglieder und Mitarbeiter im kirchlichen Dienst Martina Huhn, Martin Kirchner, Christine Lieberknecht und Gottfried Müller sich mit einem »Brief aus Weimar« an die Mitglieder und Vorstände der CDU wandten, der schnell in der CDU, in kirchlichen Kreisen und in der Westpresse bekannt wurde. Sie hatten alle eine gewisse Nähe zu den kirchlichen Aktivitäten des »Konziliaren Prozesses«. In 30 Punkten wurde zunächst die Krise der DDR, die sich in der Ausreisebewegung und der Überforderung der Kirchen durch ihre politische »Stellvertreterrolle« zeigte, beschrieben: Die CDU wäre dadurch »herausgefordert, ihre gesellschaftliche Mitverantwortung an höheren Maßstäben zu messen«. Die »innerparteiliche Demokratie« solle sich nicht am »demokratischen Zentralismus« orientieren, die Meinungen der Mitglieder sollten »authentisch zum Ausdruck« kommen. Im Demokratischen Block solle sich die CDU mehr profilieren, mehr Minister in der Regierung und in den Regionen mehr Einfluß fordern. Auf gesellschaftlicher Ebene solle mehr »Offenheit«, Unabhängigkeit der CDU-Presse, Nachprüfbarkeit von Verwaltungsentscheidungen, die Respektierung der »Mündigkeit des Bürgers«, völlige Reisefreiheit und Rückreiserecht von Ausgewanderten sowie eine »realistische Sicht ökonomischer Fakten« befördert werden (Huhn 1989).

Diese Forderungen blieben zwar hinter denen der Opposition zurück, weil sie das politische System eher dynamisieren als verändern wollten, bedeuteten aber in der Situation im September geradezu eine Provokation der erstarrten Partei. Der Brief wurde in der CDU heftig diskutiert und die gleichgeschaltete CDU-Propaganda reagierte abwehrend. Intern plante der Parteichef Gerald Götting den Ausschluß der Autoren. Noch Mitte Oktober ließ der Hauptvorstand der CDU eine Propagandaschrift ausgeben, in der im SED-Stil erklärt wurde, daß faktisch alle Forderungen des Briefes ohnehin in der CDU erfüllt seien. »Nicht rütteln« lassen wollte aber die Parteiführung am »bewährten Prinzip der Gemeinsamkeit aller Kräfte der Nationalen Front« (Hauptvorstand 1989).

Die Reformgruppe hatte in Gestalt von Kirchner, der im Zuge der Wende Generalsekretär der CDU wurde, auch das Mf S am Tisch. Die Gruppe gab der Partei schließlich in der Wende eine demokratische Legitimation, konnte einflußreiche Positionen einnehmen und hatte die Partei insgesamt gegen die alte Führung rebellisch gemacht. Am 10. Oktober verlangte die Betriebsleitung und die Gewerkschaftsgruppe der CDU-Druckerei Union eine »objektive, realistische, kritische und umfassende Berichterstattung« (Korn 1989). Aus der Partei heraus kam es zu zahlreichen Protesten gegen die eigenen Spitzenfunktionäre und gegen den Führungsanspruch der SED. Mancherorts versuchte die CDU auch, sich bei Demonstrationen mit Rednern zu profilieren. 


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Kaum zu überwinden war das Mißtrauen der Oppositionellen gegen die sich zögernd wandelnde CDU, die jedoch im Zuge der Differenzierung der Opposition auch für eine größere Anzahl Oppositioneller schließlich eine politische Heimat wurde. Mit der Wahl Lothar de Maizieres zum neuen Parteivorsitzenden am 10. November 1989 hat die CDU eine Neuorientierung eingeleitet. Dabei hat sie mangels einer umfassenden politischen Bildung der Partei und angesichts des Abbruchs ihrer demokratischen und geistigen Traditionen ihre Legitimation zeitweise aufbessern wollen, indem sie an den »Konziliaren Prozeß« anzuknüpfen versuchte. De Maiziere hatte sich in der ThSA die entsprechenden Unterlagen besorgt, was sich in offiziellen Äußerungen auch niederschlug. Während des Herbstes 1989 fanden an vielen Orten, z.B. in Weimar, Demonstrationen gegen CDU-Funktionäre in Staatsdiensten statt. Die CDU beteiligte sich wie andere etablierte Organisationen am Kaderaustausch- und Versteckverfahren, um ihre Wende glaubhaft zu machen.

 

7.2  LDPD  

Ähnlich wie in der CDU waren die Motive zur Mitgliedschaft in der LDPD eher unpolitischer Natur. Die geistigen und politischen liberalen Traditionen waren in der Partei völlig abgeschnitten, die soziale Basis der Liberalen zerstört, und selbst gelegentliche Kritik ging kaum über eine allgemeine Artikulation von Unzufriedenheit hinaus. Seit dem Frühjahr 1989 wurde erkennbar, daß die LDPD-Spitze mit Manfred Gerlach (vgl. 14.1) sich um eine Profilierung mit etwas größerer Eigenständigkeit der Partei bemühte. Der langjährige LDPD-Chef hatte seit den fünfziger Jahren selbst an der Liquidierung liberaler Traditionen mitgearbeitet und war einer der Gehilfen Honeckers bei der Zerstörung des Mittelstandes. 

Die sich 1989 verstärkenden Tendenzen zu einer größeren Eigenständigkeit, ablesbar in Veröffentlichungen der parteieigenen Zeitung Der Morgen, waren auf Gerlachs persönlichen Ehrgeiz und auf seine Einsicht zurückzuführen, daß die DDR den Anschluß an das sowjetische Reformprojekt nicht verpassen dürfe. Als sich die Opposition formierte, war es zunächst die LDPD, die im Gegensatz zur SED und den anderen Blockparteien, Verständnis für das NF äußerte, wenngleich auch Gerlach nicht am Führungsanspruch der SED rührte.

Als im Oktober die Papiere der Opposition zirkulierten, gab auch die LDPD-Führung am 18. Oktober ein Positionspapier in Flugblattform heraus, das die kritische Rolle der LDPD betonte und die SED sowie deren Disziplinierungsversuche gegenüber Gerlach scharf kritisierte. Dieser wollte aber immer noch »keine Opposition« (ZV der LDPD 1989) betreiben. Seinen kritischen Äußerungen verdankte er im Oktober und November 1989 eine ungewöhnliche Popularität, die ihn schließlich auch davor bewahrte, in die Rücktrittswelle der alten Kaderelite zu geraten. Da er selbst die politische Bewegung nicht nutzte, wurde er jedoch schließlich zu einem Hindernis für die demokratische Erneuerung der LDPD, der es nicht gelang, liberale Orientierungen wirksam zu beleben. So gab es nicht einen einzigen Text der LDPD, der in der Wende geistig normierend und orientierend wirkte. Immerhin hatten die wenigen Vorstöße des Parteivorsitzenden dafür gesorgt, daß die Parteibasis teilweise mit Elan in die Wende zog. An vielen Orten, etwa in Nordhausen, boten die lokalen Parteiorganisationen schon Anfang Oktober den Oppositionellen Räume und andere Hilfen an. Die LDPD konnte im Gegensatz zur CDU nur sehr wenige Oppositionelle integrieren.


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Nur auf lokaler Ebene, wie etwa in Halle unter dem Einfluß von Hans-Dietrich Genscher, besserte die Unterstützung der bundesdeutschen FDP die Legitimation der Blockpartei auf. Als Abspaltung aus dem NF war im Dezember 1989 zunächst auf regionaler Basis die Deutsche Forumpartei entstanden, die sich als Anwalt liberaler Traditionen in Abgrenzung zur LDPD verstand. Sie ging am 4. Februar 1990 mit der LDPD in der neugegründeten FDP auf.

 

   8. Betriebsbelegschaften   

 

Die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung führte in den Belegschaften der Betriebe kaum zu einer politischen Artikulation. Dies war der große Unterschied zwischen dem Aufbruch 1989 und dem 17. Juni 1953. Der Hauptgrund war die Aufhebung einer eigenständigen sozialen und politischen Interessenvertretung der Arbeiterschaft durch die SED-abhängige Einheitsgewerkschaft FDGB, das Fehlen unabhängiger Betriebsräte und eine weitgehende Entpolitisierung der Arbeiter. Die Belegschaften konnten daher kaum zur politischen Selbstorganisation gelangen, so daß sich Unzufriedenheit allenfalls passiv durch Demotivation und Verweigerung der Leistungsanforderungen äußern konnte. Da die SED den Anspruch aufrechterhielt, Vertreter der Arbeiterklasse zu sein, gingen ihre Spitzenfunktionäre bis in den Herbst in die Großbetriebe, wo sie vergeblich um Zustimmung warben. Was in den Betrieben nicht möglich war, haben viele Belegschaften auf der Straße bei den großen Demonstrationen nachgeholt. Arbeiter haben ab November auch bei der Auflösung der SED-Strukturen und der Kampfgruppen in den Betrieben eine aktive Rolle gespielt.

Große Aufmerksamkeit erregte, daß sich am 28. September 21 Gewerkschaftsfunktionäre im Namen der Belegschaft des großen Berliner Betriebes VEB Bergmann-Borsig mit einem offenen Brief an FDGB-Chef und Politbüromitglied Harry Tisch wandten. Sie berichteten über wachsende Unzufriedenheit und »nachlassende Leistungsbereitschaft« als Folge des Widerspruchs zwischen »Realität und Propaganda«. Ursache für die Massenflucht, die sich auch in ihrem Betrieb auswirke, sei »das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat und seiner führenden Partei« (Rein 1989,152 f.). Die Gewerkschaftsgruppe arbeitete politisch weiter und veröffentlichte im November einen umfangreichen Forderungskatalog. Gleichzeitig schlössen sich einige ihrer Vertreter dem DA an.

Arbeitsniederlegungen gab es in einigen Thüringer Städten bei der Schließung der Grenzen zur CSSR am 3. Oktober. Kleinere Streiks und Streikandrohungen begleiteten zwar die Herbstrevolution, fielen gegenüber den großen Demonstrationen aber kaum ins Gewicht. Im Januar 1990 unterstützten Berliner Bauarbeiter und die Taxifahrer noch einmal die Opposition, um die Auflösung des MfS zu erzwingen. Die kommunistische Einheitsgewerkschaft FDGB wurde, wie alle anderen Massenorganisationen, im Herbst von der Krise erfaßt, konnte aber mit den ihr zugewiesenen sozialen Funktionen überleben, bis sie im Zuge der Umstellung auf die rechtlichen Grundlagen der Bundesrepublik nach der Vereinigung aufgelöst wurde.


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Seit Oktober gab es in Berlin und in Teltow auch Bemühungen zu unabhängigen Gewerkschaftsgründungen. Die Teltower Initiative Reform erregte öffentliches Aufsehen, konnte aber faktisch keine große Bedeutung außerhalb des eigenen Betriebes gewinnen, auch wenn es hier sogar zur Gründung eines Betriebsrates kam. Auch in anderen Großbetrieben entstanden Betriebsräte. Etwas weiter kam die Initiative für unabhängige Gewerkschaften mit Uwe Bastian, Renate und Joachim Hürtgen, die zu dem kleinen alternativ-marxistischen bzw. trotzkistischen Flügel der Berliner Opposition (vgl. 93.2.2) gehörte. 

Nach Vorarbeiten im Oktober veröffentlichte die Gruppe ihren Aufruf Anfang November. Zeitweise erreichte sie einige hundert Interessenten, doch war ihr basisdemokratisches Konzept, das Arbeiterräte und -komitees vorsah, bereits deswegen utopisch, weil es auf einem Klassenbegriff beruhte, der die Wirklichkeit der Arbeitswelt nicht mehr erreichte. Diese ideologische Kopfgeburt gewann keine Basis und stieß bei denjenigen, die an der Entwicklung unabhängiger Gewerkschaften nach westlichem Vorbild interessiert waren, auf Ablehnung. Die Initiative blockierte eine demokratische Gewerkschaftsreform mehr, als daß sie ihr diente. Die Verbindung zur Opposition blieb minimal, da sie nur der VL nahestand.

 

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Unveröffentlichte Quellen:

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