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4   Die Glücks- und die Leidensbestimmtheit 

 Neuffer-1992

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Der Tod als Ende des Lebens ist unausweichlich. Der Weg dahin führt ebenso unausweichlich durch eine wechselvolle Szenerie von Glücks‐ und Leid­erfahrungen. Für jeden von uns ist der Verlauf dieses Weges ein eigener, unterschieden von jedem anderen. Sehr begünstigte Wegführungen verknüpfen sich mit solchen, die nur schwer und leidvoll zurückzulegen sind. Ganz frei von Leid oder Glück ist keine.

Glücklich zu sein ist elementares Menschenschicksal. Einfach nur lebendig zu sein, sich der Fülle seiner Möglichkeiten bewußt zu werden, kann jeden von uns bis an die Grenze der Überwältigung mit Glück erfüllen. Dies ist eines der großen Menschheitsthemen. Generation auf Generation hat neue Lobpreisungen des Schöpfers erfunden, mit denen die Menschheit ihm den Dank für ihr Dasein abzustatten suchte. Über dieses schiere Daseins‐ und Lebensglück hinaus gibt es eine weite Landschaft vielfältigster speziellerer Glückserfahrungen, für die wir einige wichtige Stichworte schon genannt haben:

Es soll hier nicht versucht werden, die weite Landschaft der disparatesten großen und kleinen Glücksanlässe und ‐erfahrungen auszumalen. Es könnte ohnehin nicht gelingen.

Für die Entscheidung zwischen einem Ja und einem Nein zum Leben sind Art und Maß des dem Menschen zugemessenen Leids sicher wesentliche Kriterien. Die Liste ihrer Plagen ist lang. Krankheiten, Hunger und Not suchen sie immer wieder heim. Verfolgungen, Unterdrückungen, Folter, jede Art Grausamkeit fügen sie einander zu. Streit, Unfrieden, Ängste brechen immer neu auf, Einsamkeit, Eifersucht, Demütigungen quälen sie die Tage und Nächte hindurch.

Die großen Leidensstationen in der Menschheitsgeschichte tragen ihre eigenen Namen: Golgatha, Inquisition, Pogrom, Gulag, Holocaust ‐ und ungezählte mehr. Hier soll jetzt kein Leidenspanorama ausgebreitet werden. Jeder braucht bloß um sich zu schauen, die Zeitung aufzuschlagen, den Fernseher anzustellen, sich seine eigenen Erinnerungen und Erwartungen zu vergegenwärtigen, um mit dem Leiden der Menschen in seiner Überfülle konfrontiert zu sein.

Es läßt sich sehr wohl argumentieren, daß die auf menschlichem Leben liegende Zwangshypothek an Leiden, jedenfalls in ihrer Verbindung mit der Todesbestimmtheit, ein überwältigendes Indiz gegen die Wünschbarkeit menschlichen Lebens sei. Aber Leiden ist keine unbeeinflußbare Größe. Gegen manche seiner Ursachen kann man etwas unternehmen. Ein erheblicher Anteil aller menschlichen Aktivitäten ist auf die Vermeidung, Minderung und Behebung von Leiden gerichtet. Dabei sind in manchen Bereichen die erstaunlichsten Erfolge erzielt worden: bei der Vorsorge gegen Hunger und Kälte, bei der Heilung von Krankheiten und der Befreiung von körperlichen Schmerzen.

Zwar haben auch die erfolgreichsten Gesellschaften es bisher nicht vermocht, diese Fortschritte allen ihren Mitgliedern zugute kommen zu lassen. Bei jedem Kälteeinbruch erfrieren Dutzende von Obdachlosen auf den Straßen auch der reichsten Industrieländer. Unter der Sonne Afrikas verhungern ganze Völkerschaften. Aber das muß nicht immer so bleiben. Sozialsysteme von durchgängiger und hoher Effizienz und Gerechtigkeit liegen nicht grundsätzlich außerhalb menschlicher Realisierungsmöglichkeiten.

Das gleiche gilt für ein konsequent am Liebesprinzip orientiertes mit menschliches Verhalten der Individuen untereinander. Man mag eine solche positive Fortentwicklung unserer menschlichen Verhältnisse mit guten Gründen für unwahrscheinlich halten, ausgeschlossen ist sie nicht. Es läßt sich im Ganzen durchaus ein langsamer Prozeß der Versittlichung erkennen. Er verläuft zwar weder gradlinig noch wirkt er schon universal. Aber auch in seiner derzeit noch fragmentarischen Verlaufsform ist er von eindrucksvoller Kraft und gibt Anlaß zu höchst positiven Spekulationen über das ethische Evolutionspotential der menschlichen Gesellschaft.

Dies wird weiter unten noch näher ausgeführt. Hier genügt der Hinweis darauf, daß ein Wegfall der »unnötigen«, zwischenmenschlich bedingten Leidzufügungen zu einer enormen Verminderung der Gesamtleidenslast führen müßte. Freilich liegt eine solche vollständige Beseitigung aller zwischen­menschlichen Leidens­verursachungen außerhalb des Vorstellbaren, solange der Mensch seiner derzeitigen widersprüchlichen emotionalen Struktur so unkontrollierbar ausgeliefert bleibt, wie es zurzeit noch der Fall ist.

Leidvoll erlebte persönliche Spannungen und Konflikte würden sich auch bei einer hohen Vervollkommnung der effektiven sozialen Verhaltensordnungen nicht vermeiden lassen. Außerdem sind wir von einem solcherart moralisch erhobenen Stand des allgemeinen Umgangs miteinander auch bei optimistischer Betrachtungsweise sicher noch generationenweit entfernt.

Andere Leidensformen werden sich auch bei günstig vorgestellten Geschichtsabläufen nie aufheben lassen. Die Grenzen von Verfall und Hilflosigkeit mögen durch eine Vervollkommnung der medizinischen Möglichkeiten noch ein Stück weiter hinausgeschoben werden. Vielleicht brauchen wir eines Tages nicht mehr an AIDS oder Krebs zugrunde zu gehen. Vielleicht gelingt es sogar, die Alzheimersche Krankheit zu besiegen. Aber insgesamt bleiben die erzielbaren Gewinne marginal. Das Leiden und das Sterben werden wir nie aus dieser Welt bringen. Und die günstig vorgestellten Geschichtsabläufe, die uns auf dem Weg zu einer spürbaren Minderung der Leidenslast immerhin ein gutes Stück voranbringen können, sind in absehbarer Zeit leider nicht gerade die wahrscheinlichsten.

Auf eine Form des Leidens ist besonders einzugehen, da sie sich den Strategien der Minderung überaus hartnäckig widersetzt: das Mitleiden. Menschen leiden bekanntlich nicht nur unter eigenen Nöten, Ängsten, Schmerzen, sondern sind auch fähig, die Nöte, Ängste, Schmerzen anderer mitzuempfinden und darunter selbst heftig zu leiden. Wir schätzen diese Fähigkeit als eine der positivsten menschlichen Eigenschaften überhaupt. Sie erscheint als unmittelbarer Ausfluß zwischenmenschlicher Liebe und Solidarität. Mitleid kann konkrete Hilfsbemühungen gegenüber dem Leidenden in Bewegung setzen und als tröstliche, stützende Erfahrung der Zuwendung die Leidenslast des anderen mindern.

Allerdings ist die Mitleidfähigkeit des einzelnen beschränkt. Wir können uns nicht allen Leiden aller öffnen. Nur ein »gesunder Egoismus«, mit dem wir uns gegen die Leidwahrnehmung rundum abschirmen, setzt uns überhaupt instand, sowohl eigenes Glück zu erleben und zu genießen, als auch im Einzelfall Mitleid zu empfinden.

Dazu wird diese Abschirmung immer wieder punktuell durchbrochen, sowohl von innen durch bewußte eigene Akte der Anteilnahme als auch von außen durch auf uns zukommende, starke Eindrücke. Aber im Großen und Ganzen trennt sie uns recht wirksam von den Leidensozeanen der anderen und übernimmt damit eine Schutzfunktion gegen Mitleidsüberforderungen, denen wir üblicherweise nicht gewachsen sind.

Das Erkennen und Anerkennen solcher systembedingter Mitleidsgrenzen ist nicht zu verwechseln mit der Alltagsschlamperei allgemeiner Mitleidsverweigerung aus dominantem Egoismus, Bequemlichkeit, Stumpfheit, Dummheit oder sogar Grausamkeit. Das ist verbreitet genug und steckt ‐ die seltenen echten Heiligen ausgenommen ‐ ansatzweise in jedem von uns. Aber auch wo der dem Liebesgebot nachlebende - mindestens nachstrebende - Mensch solchen mißbilligten Regungen Zügel anlegt und sich um Mitleidsöffnung bemüht, stößt er rasch auf die dem Individuum dabei gezogenen Grenzen. Diese sind immerhin weit genug, um Raum für vielerlei karitative Aktivitäten und die Ausbildung von gesellschaftlichen Systemen und Institutionen zur Hilfe in den Notlagen des Lebens zu bieten. So ließ sich auch das im Mitleid steckende eigene Leid des Helfenden nicht nur in Grenzen halten, sondern sogar noch in Freude und Befriedigung wenden. Die »guten Taten« wurden als angemessene und in der Regel ausreichende Antwort auf die vorgefundene Leidensstruktur des menschlichen Lebens­systems empfunden. Ob sie das in der Vergangenheit immer und überall waren, wird man mit Fug bezweifeln dürfen.

Sicher ist, daß wir Heutigen dank der elektronischen Medien eine Bewußtseinsausweitung hinsichtlich des menschlichen Leidens erfahren haben, die eine neue Qualität besitzt. Die aufdringliche visuelle Präsentation von Katastrophen, Brutalitäten und Elend jeglicher Art überfordert das normale Mitleidspotential der »Zuschauer« bei weitem. Er reagiert in der Regel mit verstärkter Ablehnung der Sachverhalte als ihn angehende, seine Reaktion herausfordernde Ereignisse. Er erklärt die Abhilfe zur Angelegenheit der öffentlichen Organisationen und konsumiert privat das fremde Leid als Zeitvertreib.

Das ist natürlich kein Ausweg, der auf die Dauer befriedigen kann. Das Leiden der anderen ist im Grunde immer auch eigenes Leiden. Es läßt sich nicht in Portionen aufteilen, die einen »angehen« und mitleiden lassen und damit auch in die Verantwortung möglichen Helfens einbeziehen, und anderen Portionen, die einen nichts angehen und daher gleichgültig lassen können.

Gefordert ist immer das ganz und gar unmögliche »alles«. Das bedeutet, daß jeder zwangsläufig unermeßlich weit hinter dem gebotenen Maß an Mitleiden und Helfen zurückbleibt. Der Mensch sitzt wieder einmal in der Falle und fühlt sich seines stumpfen Gleichmuts wegen elend.

 

Ein anderer Aspekt der Leidensbestimmtheit des Menschen ist die ihm zwangsläufig zufallende Funktion des Leidenzufügens. Wir sind nicht nur Opfer des Leidensprozesses, sondern auch seine Subjekte. Mag das Gebären für eine Frau bei richtiger Vorbereitung heute auch schmerzlos sein, von da an ist das Kind, soviel Freude es seinen Eltern auch bereiten mag, auch eine Quelle von Leiden.

Die Ambivalenz des Eltern‐Kind‐Verhältnisses bleibt mindestens über die Erziehungsperiode hinweg erhalten. Und der junge Mensch, erst recht der Erwachsene, kann gar nicht »durchs Leben gehen«, ohne anderen in irgendeiner Form Leid zuzufügen: Eltern, Lehrern, Freunden, Partnern, Konkurrenten, Fremden, Liebenden. Wir machen Versprechungen, die wir nicht halten, vielleicht nicht halten können, wir verletzen, manchmal gewollt, oft ungewollt, aber als Vorgang unvermeidlich.

Dieses gegenseitige Zufügen von Leid ist durch die Menschheitsgeschichte hindurch beklagt worden. Man hat es zur Sünde abgestempelt oder als schicksal­hafte Tragik erfaßt. Beide Aspekte haben ‐ je nach der subjektiven Vermeidbarkeit des Geschehens ‐ ihre Berechtigung. Es bleibt allemal die schwer erträgliche Einsicht, daß Menschen nach den Konstruktionsregeln dieser Evolution nicht nur Leidende, sondern zwangsläufig auch Leidzufügende sind.

Dies ist eine weitere schwere Hypothek, die als Preis menschlichen Existierens zu tragen ist. Wie gehen die Menschen nun um mit ihrem unabwendbaren Leid, wie reagieren sie über das rein kreatürliche Erdulden hinaus? Im wesentlichen haben sie zwei Strategien verfolgt. Sie haben versucht, dem Leiden einen Sinn zu geben, und sie haben seine zeitliche Begrenztheit stipuliert.

Im religiösen Kontext ist Leiden vor allem interpretiert worden als Buße für falsches (sündiges) Verhalten und als Prüfung der Standhaftigkeit des Glaubens. In weltlicher Sicht wird es weithin als charakterbildend verstanden.

Die näherliegende Interpretation, daß es sich um einen Systemfehler der Schöpfung handeln könnte, kommt praktisch nicht vor.

Was die Zeitgrenze angeht, so bietet sich einmal der physische Tod als völlige Auflösung des Leidenssubjekts als natürliches Ende der Leiden an. Dagegen lassen die religiösen Interpretationen die Leidensphase in der Regel über den Tod hinaus andauern ‐ sei es im Fegefeuer oder gar in ewiger Verdammnis, sei es in einem langen Zyklus leidvollen Wiedergeborenwerdens. Erst mit dem Eintritt ins Paradies oder dem Eingehen ins Nirwana endet alles Leid. Nur in sehr speziellen Fällen der Heiligkeit soll sich an das irdische Leben gleich eine leidensfreie jenseitige Existenzform anschließen.

Für den Agnostiker ist dies alles so möglich, so wahrscheinlich wie unwahrscheinlich. Rational auseinandersetzen kann er sich nur mit dem Lob des Leidens als lebensbereicherndem und persönlichkeitsformendem Erfahrungsbereich. Sicher ist, daß Leidensphasen Menschen zu besserer Erkenntnis ihrer selbst und ihrer Lebensumstände verhelfen können. Unwesentliches wird als solches deutlicher, die Empfindsamkeit für die Belange anderer steigert sich, notwendige Lebenskorrekturen werden vollzogen. Das alles kann so sein. Ein weiteres kommt hinzu. Leiden auszuhalten, es zu ertragen, ohne unterzugehen, wird als Leistung empfunden. Überstandenes Leid kann fast gleichbedeutend sein mit Erfolg.

Tatsächlich provoziert das Leiden oft eine Konzentration der Kräfte, eine Steigerung der Fähigkeiten, die dem Nichtleidenden versagt bleiben. Der Mensch spürt, daß er mit seinem Leiden den Preis für etwas bezahlt, das für seine Entwicklung wichtig ist. Insofern kommt der oben notierten charakterbildenden Qualität des Leidens sogar ein gewisser Wahrheitsgehalt zu.

Allerdings, mißhandelte Kinder werden kaum in den Genuß solcher läuternder Erfahrungen kommen. Und auch für Erwachsene ist das eher eine Ausnahmereaktion ‐ oder wohltätig tröstende Rationalisierung. Normalerweise ist Leiden einfach gräßlich, und seine Folgen sind alles andere als heilsam. Auf die Dauer zerstören sie den Menschen Schritt für Schritt mit erbarmungsloser Konsequenz bis in den Kern seiner Existenz. Daß die dem Leiden abzugewinnenden positiven Folgen in einem rechtfertigenden Verhältnis zu seinem immanenten Elend stehen, ist eine schlichte Verdrehung der Lebenswirklichkeit. Das Übermaß menschlichen Leidens ist der vielleicht durchschlagendste Einwand dagegen, die Schöpfung, wo nicht für gelungen, so doch auch nur für erträglich zu befinden. Umso mehr Scharfsinn wird darauf verwandt, dem Leiden eine unwiderleglich höhere Bedeutung anzudichten, die es kritischer Wertung entziehen soll.

Aber wenn das Leiden sich denn schon nicht aus sich selbst heraus rechtfertigt ‐ wird es dann nicht durch das Lebensglück aufgewogen? Bedingen sich Freude und Leid nicht gegenseitig? Tatsächlich gibt es hier einen Zusammen­hang. Aber er ist nicht so umfassend, wie gern angenommen wird. Entscheidend ist: Es bedarf keiner Leidenserfahrung, um glücklich sein zu können. Es gibt Menschenschicksale, die glückspilzartig gedeihen. Alle potentiellen Leidensklippen werden umschifft. Vollgepackt mit Lebensfreude und Zufriedenheit, gelangt der Glückliche irgendwann an ein freundlich gestaltetes Ende ‐ während andere Lebensläufe von Schmerz zu Schmerz, von Elend zu Elend steuern und für Glückserfahrungen nur minimale Gelegenheit bieten. Beides sind extrem einseitige und entsprechend seltene Verlaufsformen des Lebensschicksals. Sie verdeutlichen aber, daß man sehr glücklich sein kann, ohne je sehr gelitten zu haben, und daß auch intensive Leiden keineswegs von sich aus Glückserlebnisse hervorbringen oder durch solche kompensiert werden.

Trotzdem bestehen gewisse Zusammenhänge.

Wer heftig leidet, empfindet das schlichte Ende des Leids, die Rückkehr zur Null‐Normalität, als intensives Glücksereignis (jedenfalls für eine Weile). Wer sich an vergangene Leiden erinnert, ist in der Lage, gegenwärtiges Glück intensiver zu erfahren. Umgekehrt kann gegenwärtiges Glück überschattet werden von der Erwartung seines Endes. Diese Wechselwirkung kann im konkreten Fall sehr stark sein.

Für unser Thema kommt es jedoch allein darauf an, ob Leidens­erlebnisse ganz allgemein die Voraussetzungen für Glückserfahrungen sind. Dies ist eindeutig zu verneinen. Damit entfällt eine weitere denkbare »Rechtfertigung« des Leidens als solches.

Es bleibt für jeden einzelnen die Bilanzierung von Leid und Beglückung als voneinander prinzipiell unabhängigen, einander durchdringenden Seinsformen. Dabei mag man zu dem Ergebnis kommen, daß das Leben sich »lohnt«, trotz allen eigenen und fremden Leids ‐ aber natürlich auch zum Gegenteil: daß es zu teuer erkauft ist.

Solche Bilanzierung ist im Übrigen keine Rechenoperation. Wir können unsere Glücks‐ und Leidenserfahrungen nicht wiegen und gegeneinander aufrechnen. Wir können nur wägen, was uns so und so auf dem Herzen liegt. Dabei stellt sich dann wohl auch heraus, daß Glück und Leid keine voll kompensatorischen Begriffe sind. Dem Leidenden in seiner Not verschafft es wenig Trost und Erleichterung, daß neben ihm andere heftig glücklich sind. Eher drückt ihn das noch stärker nieder, erbittert ihn vielleicht. Dem Glücklichen dagegen mag das Wissen um das Elend des Nächsten, um die Not so vieler anderer, den Genuß seiner bevorzugten Lage wohl überschatten. Er schleppt die Last der anderen mit, ohne daß er vermöchte, sie an seinem Glück teilhaben zu lassen.

Es sieht ganz so aus, als gäbe es eine immanente Überlegenheit der Leidens‐ über die Glückserfahrungen, so wie sie auch im Todesziel des Lebens vorgezeichnet ist. In unseren heftig glücklichen Lebensstunden mögen wir uns das nicht eingestehen, in den bedenkenden wird es bitter klar.

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Martin Neuffer Nein zum Leben Ein Essay 1992