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8  Das ethische Versagen der Menschen

 Neuffer-1992

 

 

 

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Die von der Evolution vorgegebenen Rahmenbedingungen menschlichen Existierens, die in den vorausgegangenen Abschnitten behandelt wurden, sind unserer verändernden Einflußnahme weitgehend entzogen. Anderes gilt für das menschliche Sozialverhalten, wo unser Gestaltungsspielraum offensichtlich größer ist.

Da Menschen - in ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe - selbst Produkte des Evolutionsprozesses sind, stellen ihr soziales Verhalten und Gestalten allerdings auch evolutionär bedingte Aktionen dar. Das Neue besteht darin, daß wir in den sozialen Handlungsbereich jene eigene Erkennnis‐ und Willensautonomie einbringen, die zwar sicher auch ein Evolutionsprodukt ist, aber doch einen an das Auftreten des Menschen geknüpften eigenen Gestaltungs­faktor darstellt.

Die handelnden Menschen sind sich der Verantwortlichkeit für ihr Verhalten auch als Sozialwesen widerspruchslos bewußt. Ob das allerdings ausreicht, um ihren eigenen Sollvorstellungen und den offenbaren Über­lebens­notwendigkeiten entsprechende stabile soziale Systeme aufzubauen und zu betreiben, das muß nach allen bisherigen Erfahrungen in Frage gestellt werden.

Es spricht vieles dafür, daß der Mensch in seiner bis­herigen Entwicklung noch nicht den Zustand erreicht hat ‐ vielleicht ja auch nie erreichen wird ‐, der ihn als intelligentes soziales Lebewesen in den Stand setzt, den praktischen Anforderungen eines geordneten Zusam­men­lebens unter immer schwieriger werdenden Lebensbedingungen gerecht zu werden.

Es wird in diesem Abschnitt zunächst auf das ethische Versagen der Menschheit einzugehen sein, die Diskrepanz zwischen seinem Sollen und seinem Tun in den Kategorien von Gut und Böse. Daran schließt sich im Folgenden ein leider umfangreicherer Überblick über ihr politisches Versagen an. Solche Charakterisierungen sind nicht als ausschließliche gemeint. Die als ethisches Versagen deklarierten Ausbeutungssysteme zum Beispiel werden in aller Regel auch politisch falsch sein.

Umgekehrt setzt sich mehr und mehr die Auffassung durch, daß ursprünglich nur als ethisch neutrale oder lässige Mängel charakterisierte Umwelt­beschädigungen, die wir unter dem Stichwort politisches Versagen aufführen, auch als moralisch verwerflich anzusehen sind. Je mehr wir über vermeidbares Fehlverhalten und seine Folgen wissen, umso unmoralischer wird es. Die beiden Kategorien des sozialen Versagens über­schneiden sich also und dienen mehr einer schwerpunktartigen Orientierung als einer zwingenden Klassifizierung.

Was unser moralisches Wertsystem angeht, so kann zunächst die eigentlich erstaunliche Tatsache registriert werden, daß über die ethischen Grundpostulate an die sozialen Systeme und an das Verhalten der Individuen inzwischen über alle Kulturkreise hinweg ein fast weltweites Einvernehmen herrscht. Das ist eine starke Formulierung, die durch mancherlei abweichende Positionen modifiziert wird, als Gesamt­zustandsbeschreibung aber gilt.

Das Wertsystem ist in den Grundforderungen der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zwar nicht entstanden, aber voll umschrieben. Gleichheit bezieht sich auf Freiheit; die Freiheitssphäre jedes einzelnen findet ihre Grenze an der gleichen ‐ und gleich begrenzten ‐ Freiheits­sphäre eines jeden anderen. Gleichheit bedeutet also natürlich nicht, daß alle Menschen ihren Eigenschaften oder Fähigkeiten oder Lebens­umständen nach gleich seien oder gleich werden sollten, sondern daß alle Menschen von gleichem Wert sind und die gleichen Rechte auf ihr eigenes Leben und einen angemessenen Anteil an den Gütern dieser Welt haben wie alle anderen auch. So heißt es schon in der Bibel: »Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.« (Matth. 7,12). Die Umkehrung: »Was euch die Leute nicht tun sollen, das tut ihnen auch nicht« ist in dieser goldenen Regel begrifflich enthalten. Bei Kant lautet der »kategorische Imperativ«, in dem er das Prinzip der Sittlichkeit verkörpert sieht: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.«

Von da führt die direkte Linie der konkretisierenden Ausformung zu den Menschen‐ und Bürgerrechtskatalogen der amerikanischen und Französischen Revolution. Sie mündet in der UNO‐Charter von 1945, die inzwischen so gut wie alle Staaten unseres Globus unterzeichnet und als für sich verbindlich anerkannt haben. In seiner inhaltlichen Ausgestaltung ist dieses Prinzip der »gleichen Freiheit für alle« in vielfältiger Weise konkretisiert und fort­entwickelt worden. Es schließt insbesondere die gleiche persönliche Teilhabe an der kollektiven Macht des Staates auf dem Weg über den demokratischen Prozeß ein. Die politischen Aktions‐ und Wahlrechte erweisen sich als kongeniale Ergänzung der liberalen Zonen garantierter Staatsfreiheit.

Auch die Individualautonomie wird erweitert und in ihren Voraussetzungen abgesichert. Wo es zunächst nur um die Verhinderung von Zwang ging, geht es nunmehr auch um die garantierte Versorgung mit den nur von der Gemeinschaft erbringbaren Lebens‐ und Entwicklungs­voraussetzungen: Brot und Unterkunft, Ausbildung, Arbeitsplatz. Die liberalen und demokratischen Grundrechte werden in mehr oder weniger detailliertem Umfang durch soziale ergänzt und gestützt. An die Stelle der »Brüderlichkeit« aus der Revolutionsformel würden wir heute am ehesten den Begriff Solidarität setzen. Noch einfacher könnte man Nächstenliebe sagen. Sie kann, im Gegensatz zur gleichen Freiheit, nicht verordnet, nicht eingeklagt, nicht durchgesetzt werden. Sie ist die schiere »Menschlichkeit«, die wir freiwillig hinzutun müssen, wenn wir unser sittliches System auf der Höhe seiner Möglichkeiten verwirklichen wollen.

Es ist verblüffend, wie rasch und universell sich diese Wertgesamtheit der humanistischen Sittlichkeit in der von so vielen Kulturen unterschiedlich geprägten Menschheit durchgesetzt hat.

Vorgedacht vermutlich seit Jahrtausenden, zur Reflexion gebracht in der griechisch‐römischen Antike, mit Glaubensinbrunst durchdrungen im Christentum, kritisch gesteigert und geläutert durch die Aufklärung, zur politischen Bewegkraft geworden in der amerikanischen und Französischen Revolution, aufs äußerste herausgefordert und in Frage gestellt vom faschistischen Wahn, als politisches Sittengesetz des Planeten Erde von allen ihren Völkern anerkannt und förmlich unterzeichnet ‐ welch unwahrscheinlicher Triumph in Konkurrenz zu ungezählten rivalisierenden Lehren und Bewegungen in der geistigen Geschichte der Menschheit.

Diese ideologische Durchsetzung und Anerkennung der humanistischen Sittlichkeit als verbindliches moralisches Paradigma in ihrer Universalität gegenüber fast allen kulturellen Alternativen ist eine Erscheinung der Nach­kriegszeit. Dabei handelt es sich um einen spontanen Globalisierungsprozeß, zu dem zielorientiertes politisches Handeln nur einen nachrangigen Beitrag geleistet hat. Im Zeitalter der weltweiten elektronischen Informations­verbreitung setzte die egalitäre, freiheitliche Wertordnung sich in offener ideologischer Konkurrenz Mal um Mal durch. Menschenrechtsforderungen und demokratischer Elan haben eine Diktatur nach der anderen gebrochen: Spanien, Portugal, Griechenland, Chile, Südafrika, die Sowjetunion und ihre ehemaligen Vasallen.

Selbst in ihren starken, autonomen Kulturen so völlig anders vorstrukturierte Gesellschaften wie China, Japan, die Völker Afrikas sind auf dem gleichen Weg. Die vorerst letzte prinzipielle Gegenposition im westlichen Kultur­kreis vertraten die faschistischen Ideologien. Die von ihnen proklamierte unterschiedliche Wertung von Menschen verschiedener Rassen oder Herkunft, von Herrschafts‐ und Sklavenvölkern, von Eliten und Unter­schichten ist mit dem Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen schlechthin unvereinbar. Faschistisches Ideengut befindet sich nach dem Zusammenbruch der totalitären Regime in der Mitte dieses Jahrhunderts weltweit rasch auf dem Rückzug. Auch ein fast ideologiefreies, in seiner Machtpolitik aber faschistoides Regime wie das des Saddam Hussein fand sich in einer weltweiten moralischen Isolation.

Gewiß wäre es naiv, jede Form von Faschismus für endgültig überwunden zu erklären. Doch sieht es ganz so aus, als ob er sich in einem freien Wettbewerb der Ideen und Werte auf die Dauer nicht behaupten könnte.

So bleibt vor allem der in den letzten Jahren deutlich erstarkte islamische Fundamentalismus als mindestens teilweise alternatives Wertsystem neben dem der humanistischen Sittlichkeit in Betracht zu ziehen. Sein proklamiertes Ziel einer mit Gewalt durchzusetzenden Unterwerfung der Welt der Ungläubigen im »Heiligen Krieg« und der Missionierung der gesamten Menschheit weist durchaus totalitäre Züge auf; zur praktischen Radikalität führt das allerdings offenbar vor allem da, wo wirtschaftliche Not oder nationale Demütigung nach einem Ausweg suchen lassen. Wo eine glückliche und kluge Politik solchen Antrieben die Grundlage schmälerte, darf man erhoffen, daß die Radikalisierung in Grenzen gehalten werden kann. Im Zuge einer friedlichen und geordneten Gesellschafts­entwicklung könnten tolerantere Strömungen die Oberhand gewinnen, wie dies bei den nichtmilitanten Gruppierungen des Islam in der Vergangenheit bereits geschehen ist.

Allerdings ist es wohl nur realistisch, für die islamischen Staaten eher mit sozialer Instabilität, Arbeitslosigkeit, Hunger, Übervölkerung und politischer Radikalisierung zu rechnen. Das gibt dem Fundamentalismus vielleicht eine Behauptungschance, die er unter nicht krisenhaften Bedingungen kaum hätte. Ähnliches gilt möglicherweise für den fundamentalistischen Hinduismus.

Solche Überlegungen und Spekulationen beeinträchtigen jedoch kaum unsere allgemeine Hypothese, daß die normative Durchsetzung der humanistischen Sittlichkeit als dominierender Evolutionstrend anzusehen ist.

Wir wagen auf der Grundlage des Gesamtbefunds jedenfalls die These, daß die sich herausbildende globale Menschheitskultur ‐ wenn sie denn die sie akut bedrohenden Katastrophen noch abwenden kann ‐ sich an der humanistischen Sittlichkeit orientieren und ihr die Maßstäbe, wo nicht schon des Handelns, so doch wenigstens ihres Wertens, entnehmen wird.

Dies ist ein beeindruckender Befund. Wie kommt es dazu? Gibt es ein von unserer anthropologischen Kulturausbildung unabhängiges Sittengesetz, das wir nun Stück für Stück freilegen? Erstreckt sich die fortbildende Struktur des Evolutionsprozesses nicht nur auf biologische, sondern auch auf psychische Bildungen? Gibt es so etwas wie ein morphogenetisches Feld des Moralischen?

Es ist eine Hypothese, mit der man jedenfalls erst einmal weitersehen kann. Mehr läßt sich dazu nicht sagen. Wir können schließlich nur vom tangiblen Befund auf die Intention des Verursachers rückschließen. Danach erscheint die Annahme als plausibel, daß die normative Durchsetzung der humanistischen Sittlichkeit in unseren sozialen Ordnungssystemen als ein dominanter Evolutions­trend anzusehen ist.

So etwas schreibt sich nicht leicht dahin, nicht einmal 50 Jahre, nachdem die Feuer von Auschwitz gelöscht worden sind. Wie will man von einem moralischen Fortschritt sprechen, wenn der historische Extrempunkt von Unmenschlichkeit uns so nahe liegt?

Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte, daß Menschen ihre schlimmsten Möglichkeiten in schreckliche Wirklichkeit umsetzen müssen, um sie für alle Zukunft, wo nicht auszuschließen, so doch zu ächten und kaum wiederholbar zu machen. Die Scheiterhaufen der Inquisition mußten erst einmal brennen, ehe die Liebesreligion Christentum das Schwert aus der Hand legte.

Der Erste Weltkrieg mußte seine Hekatomben an Opfer vier Jahre lang im Schlamm der Schützengräben zerfetzen, um Nationalkriege als verbrecherische Absurdität zu entlarven. Der ganz andere, der Zweite Weltkrieg ist da kein Gegenargument. Hier wurde der gewaltigste Raubzug der Geschichte geplant, der eigentlich gar kein Krieg werden sollte. Auch das wird so keiner ein zweites Mal versuchen ‐ was noch nicht das Ende aller Raubzüge bedeutet.

Die Atombombe mußte wohl erst einmal die Bewohner zweier Städte verdampfen lassen, ehe sie zur endgültigen Abschreckung tauglich werden konnte.

Und so mußte zwar gewiß nicht der Holocaust ausbrechen, um die Verwerflichkeit des Völkermords zu demonstrieren. Aber was sich als das schier absolute Verbrechen im kollektiven Bewußtsein der Menschheit fest­gesetzt hat, läßt sich nicht einfach wiederholen.

Auch Panzer über demonstrierende Studenten rollen zu lassen wird nach dem Tian'anmen‐Massaker schwieriger werden. Die 89er Revolution in Osteuropa wäre ohne die Pekinger Bilder womöglich im Feuer der Sicherheitskräfte zusammengebrochen.

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Was an diesen Beispielen sichtbar wird, ist ein schrecklicher Mechanismus moralischen Fortschritts durch die Realerprobung des Bösen. Aber es bleibt dabei, daß das Ergebnis ganz naiv‐zuversichtlich »Fortschritt« genannt werden darf, Fortschritt nicht ohne Einbrüche, Komplikationen und Rückfälle, sich auch keineswegs zeitgleich auf der Erde vollziehend, aber doch als eindrucksvolle Gesamtveränderung.

Allerdings, auch wenn solche Beobachtungen und Schlußfolgerungen zutreffen, so kann daraus noch nicht verläßlich auf einen künftig gleichartigen Verlauf geschlossen werden. Eher steht zu befürchten, daß die sozialen und biologischen Voraussetzungen, welche die Grundlage des derzeitigen Versittlichungs­prozesses bilden, durch die globale politische Fehlentwicklung der Menschheit zerstört werden. So kann sein Fortschreiten, unter tunlicher Vermeidung schlimmer Zwischenerfahrungen, nur erhofft und als Aufgabe begriffen werden.

Zwischen normativer Anerkennung und praktischer Befolgung der Normen besteht nun allerdings im Leben der Gemeinschaft ein nicht weniger ausgeprägter Unterschied als im Leben des Individuums. Wir wissen, was wir wollen, wir wollen es auch ‐ oder auch nicht. Wir handeln, jedenfalls oft, anders. Eine vollständige Beachtung aller Normen ist nach der Lebenserfahrung weder Individuen noch Kollektiven möglich.

Menschen treten einzeln wie gemeinsam als sowohl gut wie böse auf.

Und doch hat sich nicht nur in der moralischen Bewertung, sondern auch im praktischen Verhalten der Mächte und der Mächtigen etwas geändert. Gewiß ist immer irgendwo schreckliches Morden und Brennen im Gang, werden Kriege und Bürgerkriege grausam ausgetragen, aber es sind heute eher die kleineren Länder und Völkerschaften, die sich so auf traditionelle Weise ‐ wenn auch mit höchst gesteigerter Effizienz ‐ hinschlachten. Anders als durch die ganze Geschichte hindurch und bis noch vor wenigen Jahrzehnten ist es z.B. nicht mehr vorstellbar, daß Deutschland und Frankreich einen Krieg gegeneinander führen. Der lange als Drohung über uns hängende Vernichtungskrieg zwischen Ost und West ist durch den Zerfall des Sowjetimperiums hinfällig geworden. Auch Japan und die USA werden nicht mehr militärisch gegeneinander kämpfen, wie immer ihre wirtschaftlichen Interessenkonflikte sich verschärfen mögen. Natürlich sind wir immer noch nicht sicher davor, daß irgendwo Sicherheitssysteme versagen und die nukleare Katastrophe über uns hereinbricht. Die Destabilisierung des Sowjetimperiums bringt da ihre eigenen neuen Risiken mit sich. Aber insgesamt stehen wir doch vor einer im Lauf weniger Jahrzehnte dramatisch zum Besseren veränderten Welt. Vielleicht ist es der Beginn einer Epoche, in der das Kriegsführen nach und nach aus der Übung kommt.

Sogar bei der inneren Gewaltanwendung von Regierungen und Machtträgern zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse sind deutliche Verbesserungen zu konstatieren. Die Zahl der autoritären Regime nimmt ab, und der Umfang der staatlichen Repressionsaktivitäten wird geringer. Sicher wird amnesty international noch lange nicht überflüssig werden ‐ seine bisherigen weltweiten Aktivitäten waren eben doch nicht vergebens. Wo erst einmal ethische Normen gesetzt und formal anerkannt sind, auf die man sich berufen kann, wie etwa die UNO‐Deklaration oder die KSZE‐Akte, da entwickeln sie eine oft unscheinbare, aber zähe Wirksamkeit, die immer wieder zur realen Durchsetzung drängt.

Auch hier gilt freilich der Vorbehalt, daß solche praktischen Versittlichungsprozesse der Herrschaftsausübung auf die Dauer nur in stabilen sozialen Ordnungs­systemen eine Chance haben. In dem Maße, in dem solche Ordnungen durch katastrophenartige Ereignisse (Wirtschaftszusammenbrüche, Hungerepidemien, globale Massenwanderungen, Umwelt‐ und Klimakatastrophen) überlastet werden, droht der Zusammenbruch aller erzielten Fortschritte.

Neben dem staatlich organisierten oder wenigstens sanktionierten Gewaltmißbrauch sind es die kriminellen Gewalttaten, von denen eine ständige Bedrohung des moralisch organisierten gesellschaftlichen Zusammen­lebens ausgeht. Einzelkriminalität (Mord, Raub, Vergewaltigung), das Treiben von Verbrecher­organisationen wie Mafia und Drogenkartellen und ebenso die Akte des separistischen und des internationalen Terrorismus sind bisher nirgendwo dauerhaft besiegt worden, sondern scheinen im Gegenteil unaufhaltsam zuzunehmen. Besonders in den Siedlungsballungen der Megapolen, in denen sich immer größere Teile der Erdbevölkerung zusammen­drängen, wächst die Unsicherheit.

Es steigt nicht nur das Risiko, Opfer zu werden. Es steigt vor allem die Angst davor, Opfer zu werden. Angst aber zersetzt das Leben. Die innere Gewalt­prognose kann kaum optimistisch ausfallen. In anderen gesell­schaft­lichen Zusammenhängen werden Widersprüche zwischen den Anforderungen der humanistischen Sittlichkeit und dem praktischen Verhalten sogar durch unsere etablierten Ordnungssysteme gedeckt. Extreme Formen von Ausbeutung, Erniedrigung und Hilfsverweigerung gegenüber einzelnen und Gruppen in unserer Mitte bleiben folgenlos, weil sie »legal« sind. Noch die fortgeschrittensten und wohlhabendsten der westlichen Industrie­gesell­schaften dulden depravierende Armut und unsinnigen Reichtum gleichermaßen nebeneinander, ohne das zutiefst Amoralische der Situation zuzugeben.     wiktionary  depravieren

Das Marktwirtschaftssystem, das solches und manch anderen, minderen Unfug hervorgebracht hat, steht nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wieder hoch in der allgemeinen Wertschätzung. Tatsächlich ist es offenbar das einzige, das flexibel und vital genug ist, um der komplexen Versorgungsaufgabe von heute fünf und demnächst 15 Milliarden Menschen in einer hochtechnisierten Zivilisation annähernd gewachsen zu sein.

Man muß sich nur darüber im klaren sein, daß es sich um ein zwar effizientes, aber deswegen noch lange kein besonders moralisches System handelt. Es kann sich den Prinzipien humanistischer Sittlichkeit in gewissem Maße nur durch die Etablierung vieler an sich systemfremder Korrektur‐ und Ausgleichmechanismen annähern. Deren Funktionieren freilich ist wiederum in hohem Maße von einer stabilen ökonomischen und sozialen Gesamt­entwicklung abhängig, wie wir sie kaum dauerhaft erwarten können. Vor allem versagen sie völlig, wo es um eine angemessene Verteilung der materiellen Güter im internationalen Maßstab geht. Das Leiden und Sterben in der Dritten und Vierten Welt wird auch durch soziale Komponenten im Marktsystem nicht gemindert. Hier hülfe nur die Berufung auf das Solidaritätsgebot. Von dem halten die wirtschaftlich Mächtigen in der Praxis jedoch wenig.

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Nimmt man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte insgesamt in den Blick, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits haben die Regeln der humanistischen Sittlichkeit sich in eindrucksvoller Weise weltweit ‐ wenn auch oft nur verbal als dominantes ethisches System durchgesetzt und Auswirkungen gezeitigt. Der KSZE‐Prozeß ist dafür das prominenteste Beispiel. Das läßt die Hoffnung darauf zu, daß die Menschheit auch zu einer moralischen Verbesserung ihrer Verhaltenspraxis in der Lage ist. Es gibt vielfältige konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der Trend der realen Entwicklung im staatlichen und internationalen Rahmen so orientiert ist. Andererseits ist jede dauerhafte, praktizierte Versittlichung vom Bestehen stabiler, kontinuierlich reformierbarer Ordnungssysteme abhängig.

Die derzeit bestehenden geraten aber zunehmend in Bedrängnis. Unter dem Druck organisierter Kriminalität, politischer und religiöser Radikalisierung, bei Zerfall autoritärer Machtstrukturen in bisher totalitären Staaten, angesichts von Versorgungskatastrophen, einem gigantischen Bevölkerungswachstum und einsetzender globaler Massenwanderungen erweisen sich die gewachsenen Sozialsysteme als zunehmend gefährdet und ineffizient.

Die Entwicklung ist offensichtlich auf Destabilisierung und einen fortschreitenden Abbau der inneren Sicherheit gerichtet. Das aber läßt eine Umsetzung der gerade weltweit durchgesetzten Prinzipien der humanistischen Sittlichkeit in die gelebte Alltagswirklichkeit der staatlichen und überstaatlichen Organisationen und im binnenstaatlichen gesellschaftlichen Zusammenleben kaum erwarten.

Gleichwohl, die Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, sind so komplex und eigendynamisch, daß jede Voraussage mit höchster Unsicherheit behaftet ist. Die mindestens formale Einigung der staatlich organisierten Menschheit auf die Prinzipien der humanistischen Sittlichkeit stellt in sich schon einen so einzigartig bedeutenden Vorgang dar, daß davon möglicherweise noch stärkere Wirkungen ausgehen, als sie uns der Blick auf die so schwierige nähere Zukunft heute verheißt.

Es bleibt zu fragen, ob ein vergleichbarer Versittlichungsprozeß, wie wir ihn für die gesellschaftlichen Organisationsbereiche glauben ausmachen zu können, auch mit korrespondierenden Veränderungen der Individuen einhergeht. Wird also nicht nur die Menschheit besser, sondern werden es auch die Menschen selbst?

Jemanden, der darauf eine positive Antwort zu geben bereit ist, wird man schwerlich finden. Und doch ist der Gedanke nicht abwegig. Denn wenn es beobachtbare Verbesserungen bei der sittlichen Orientierung der Systeme gibt, so ist der Rückschluß auf entsprechende Veränderungen bei den system­gestaltenden Individuen zwar nicht zwingend, aber doch mindestens erwägenswert.

Warum sollten nicht auch Generationen einzelner aus den Irrungen ihrer Vorgänger lernen? Doch messen oder wissen läßt sich da nichts. Allenfalls hilft vielleicht der Blick ins eigene Leben ein winziges Stück weiter. Jeder von uns hat sich irgendwann so verhalten, daß er hinter seinen eigenen moralischen Maßstäben zurückblieb. Und wohl jedem ist es auch schon so ergangen, daß er etwas ohne Bewußtsein eines Unrechts tat und erst hinterher merkte, daß es Unrecht war.

Aus solchen Erfahrungen kann man Lehren ziehen und sein künftiges Verhalten ändern. Ein gutes Leben mag so verlaufen, daß der Mensch im Prozeß der Reifung und des Alterns auch ein besserer wird. Wir wollen da nichts ausschließen, aber wir müssen doch wohl auch eingestehen: Würde uns morgen ein neues Leben geschenkt, in das wir alle Erfahrungen und Gewissensschärfungen des bisherigen einbringen könnten, so würde auch dieses neue Leben kein schuldloses sein ‐ so wenig wie jedes spätere.

In der christlichen Lehre hat diese Erfahrung ihren Ausdruck im Begriff der Erbsünde gefunden. Das ist eine gute Bezeichnung, weil sie die Unvermeidlichkeit des Schuldigwerdens im Leben deutlich macht. Wir stoßen hier auf eine weitere der kritischen Diskrepanzen der aus dem Evolutionsprozeß hervorgegangenen Welt: den unvereinbaren Widerspruch zwischen der Soll-Evolution der Moral und der Kann‐Evolution des Individuums.

Man darf das Ausmaß der darin angelegten Spannung nicht unterschätzen. Es geht ja nicht nur um das Einsacken einer gefundenen Geldbörse oder Fahrerflucht nach einem Unfall. Es geht auch kaum um Mord und Totschlag, die ja gewiß nicht jeder begeht. Es geht um die ungezählten und alltäglichen Akte von Gleichgültigkeit und Lieblosigkeit, von unterlassener Hilfe, von verletzter Solidarität. Nicht die Kriminalität ist das eigentliche Thema der Erbsünde, sondern der permanente Verstoß gegen das Liebesgebot. Und auch hier kommt es weniger auf die korrigierbaren als auf die unvermeidbaren Verstöße an.

Es ist unmoralisch, daß ich mein Haus nicht mit Obdachlosen teile, mein Geld nicht mit den Armen, meine Zeit nicht mit den Gesprächsbedürftigen, meine Kraft nicht mit den Schwächeren, meinen Mut nicht mit Hoffnungs­losen. Ich könnte das natürlich nicht ‐ oder jedenfalls nur ganz unzulänglich ‐, ohne mich selbst aufzugeben. Aber es bleibt Schuld, weil ich immer hinter dem Maß nicht nur des Unmöglichen, sondern auch des Möglichen zurückbleibe.

Für die wenigen anscheinenden Ausnahmen unter den Menschen hilft man sich mit der Kategorie der Heiligen. Aber damit rückt man sie auch schon aus dem normalen mensch­lichen Verhaltens­bereich hinaus. Von den Heiligen also einmal abgesehen ‐ keiner ist so »gut«, wie er sein sollte. Jeder muß wohl oder übel mit seiner Eigennützigkeit und Fehlsamkeit leben ‐ und andere dabei enttäuschen, verletzen, entmutigen. Es ist schließlich kein Wunder, daß die Dichtungen der Menschen seit Jahrtausenden das Thema ihres Schuldigwerdens in immer neuen Varianten abgehandelt haben ‐ immer neu und immer das gleiche.

Trotzdem: In der Überschrift zu diesem Abschnitt ist vom ethischen »Versagen« der Menschen die Rede. Und davon gibt es in der Tat mehr als genug. Aber die Veränderungsrichtung, die wir glauben ausgemacht zu haben, weist ins Positive, hin zu einer Versittlichung sowohl der Maßstäbe wie des praktischen Verhaltens, auch des persönlichen Verhaltens des Individuums. Da ist noch Raum, in dem wir etwas bewirken können. In der Annahme der persönlichen moralischen Herausforderung ließe sich ein Ja zum Leben vielleicht noch am ehesten begründen.

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Martin Neuffer Nein zum Leben Ein Essay 1992