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9   Das politische Versagen der Menschen

Neuffer-1992

 

 

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Die "erfolglosesten Erfolgreichen" haben wir oben die Menschen genannt. Zwar fehlt uns die Vergleichsmöglichkeit mit mutmaßlich vorhandenen anderen intelligenten Lebewesen und ihren Kulturen in unserem Kosmos. Die Formulierung zielt also mehr auf die Verdeutlichung der enormen Spannung zwischen menschlicher Leistung auf der einen und Fehlentwicklung auf der anderen Seite.

Auch als singuläre Erscheinung ist der Weg von den ersten Einzellern vor vier Milliarden Jahren über die frühen Hominiden vor vier Millionen Jahren zum Homo sapiens sapiens vor 40.000 Jahren von atemberaubender Dramatik. Das gilt nicht weniger, wenn wir uns den Weg des Menschen in diesen vierzigtausend Jahren vergegenwärtigen. Er hat Sprache, Religionen, Dichtung und Philosophie ausgebildet. Er hat Dörfer und Städte, Paläste und Kathedralen gebaut. Er hat für Nahrung gesorgt, Fertigkeiten und Künste aller Art entwickelt. Er hat Kunst und Wissenschaft zu immer neuen Höhen getrieben und eine Technik erfunden, die seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten um fast beliebige Potenzen steigert.

Die Menschen haben den Kosmos in seiner Entstehung und in seinen Ausmaßen untersucht und berechnet. Sie verfügen über ziemlich sichere Kenntnisse über Räume, die sie nie betreten werden, über Zeiträume von Jahrmilliarden, in denen es sie noch nicht gab und künftig nicht geben wird. Sie kennen die chemischen Prozesse im Sonneninneren und berechnen die Dauer des für uns lebenspendenden Verbrennungsvorgangs. Sie bauen Raumsonden und Teilchenbeschleuniger, weit über die Grenzen ihrer möglichen biologischen Präsenz hinaus forschend. Ihre Computer vollführen Millionen von Rechenoperationen in Bruchteilen von Sekunden, ihre Informationschips speichern Wissen, für dessen Aneignung ein Menschenleben nicht ausreicht, auf Quadratzentimetern.

Sie sind schon eine unglaubliche Art.

Gleichzeitig zeigen sie sich von ihren eigenen Fähigkeiten und Hervorbringungen in verhängnisvoller Weise überfordert. Nicht nur daß sie beide immer wieder in der gräßlichsten Weise mißbrauchen, um sich gegenseitig Leid zuzufügen oder einander zu übervorteilen ‐, auch in bester Absicht unternommenes Menschenwerk führt immer wieder zu schrecklichem Mißlingen. Einer der Gründe dafür liegt offensichtlich in einem falschen Selbstverständnis, einer Überschätzung der eigenen Aufgaben und Möglichkeiten in dieser Welt.

Man muß dies vor dem Hintergrund ihrer außerordentlichen Erfolge in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Lebensformen und mit anderen Widrigkeiten ihrer äußeren Lebensbedingungen sehen. Was lag da näher, als sich als »Krone der Schöpfung«, als Herren der Erde zu fühlen. Dies gilt wohl nicht für alle Kulturen. Indianer und die Ureinwohner Australiens sahen ihre Rolle in der Welt als eine bescheidenere was sie dann auch in ganz anderem Sinn wurde. Aber die in der Gegenwart absolut dominante technische Zivilisation beruht gänzlich auf jener Vorstellung einer absoluten Suprematie und Verfügungsgewalt des Menschen über alle vorgefundene Welt.

wikipedia  Supremat

Die christliche Lehre, sozusagen die »Hausreligion« der europäischen Industrienationen, fördert solches Selbstverständnis nach Kräften. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde« ‐ ein höherer Anspruch der Kreatur ist schlechterdings nicht denkbar. Und die Positionsverleihung in Gottes Bund mit Noah läßt auch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

»Furcht und Schrecken vor euch sei über allen Tieren auf Erden und über allen Vögeln unter dem Himmel, über allem, was auf dem Erdboden wimmelt, und über allen Fischen im Meer; in eure Hände seien sie gegeben. Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich's euch alles gegeben.«

Die Erde und alles, was sie trägt, steht dem Menschen zur Verfügung. Das konnte nicht gut gehen.

Der für die Entwicklung der Moderne so wichtige Calvinismus ging noch weiter und setzte den wirtschaftlichen Erfolg als Indikator jenseitiger Erlösungs­bestimmtheit ein. Auch die weitgehend nachchristliche Epoche, in der wir leben, ist von diesem Selbstverständnis noch ganz und gar geprägt. Bis weit in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts hinein war die maximale Ausbeutung aller Naturschätze ebenso selbstverständliche Handlungsmaxime wie die sorglose Nutzung der Naturumwelt zur kostenlosen Deponierung aller Abfälle einer steil ansteigenden industriellen Produktion. Deren Wachstum galt als natürliches Oberziel allen Wirtschaftens.

Die Forderung, daß alle, auch die sich emanzipierenden sozialen Unterschichten, an den materiellen Gütern teilhaben sollten, entsprach inzwischen der allgemeinen Überzeugung und wurde zum treibenden politischen Prinzip. Auch die privilegierten Gruppen und Schichten stimmten ihm zu, jedenfalls in Maßen. Sie konnten es um so eher, als sie nichts aufzugeben gedachten. Im Gegenteil, das Wirtschaftswachstum sollte den Armen zu bescheidenem Wohlstand und den Reichen zu noch größerem Reichtum verhelfen.

Der Erfolg der darauf gerichteten Bemühungen war durchschlagend, wenn auch in recht unterschiedlicher und nicht immer erhoffter Weise. Die westlichen Industrie­nationen und Japan erlebten eine enorme Steigerung des Lebensstandards. Dem Ziel einer sozialen Egalisierung näherte man sich dabei allerdings nur punktuell, etwa in Skandinavien, oder nur vorübergehend wie in England oder auch gar nicht, wie in den USA.

Die Länder des »Ostblocks« litten unter der doppelten Last hoher Rüstungsaufwendungen und planwirtschaftlicher Ineffizienz. Da die notwendigen Erneuerungs­investitionen nicht mehr zu finanzieren waren, setzte ein schleichender Verfallsprozeß ein. Der schließlich eingeleitete Systemwechsel, meist halbherzig in Gang gesetzt, hat bisher keine durchgreifende Wende zum Besseren bewirkt.

Die Länder der dritten und vierten Welt waren ihrer Geschichte und sozialen Struktur nach für ein Hineinwachsen in die industrielle Gegenwart schlecht vorbereitet. So wurden sie allzu oft Opfer von allerlei Experimenten der Entwicklungshilfe und krasser wirtschaftlicher Ausbeutung durch die Industrienationen. Was sie an Reichtümern gewinnen konnten, konzentrierte sich in den Händen einer dünnen Oberschicht, die ihre Beute oft genug rasch außer Landes brachte. Im Einzelnen ist die Entwicklung ‐ auch innerhalb der nur grob skizzierten Gruppen ‐ natürlich unterschiedlich verlaufen. Doch zwei schlimme Folgenkomplexe, in denen das politische Versagen und die Unfähigkeit zu zukunftssicherndem Handeln besonders deutlich werden, sind ihnen allen gemeinsam: der extensive Ressourcenverbrauch und die Umweltschädigung.

Die Endlichkeit der Rohstoffe, auf denen unsere ganze technische Zivilisation aufbaut, ist zum ersten Mal durch den Bericht des Club of Rome über die »Grenzen des Wachstums« 1972 ins allgemeine Bewußtsein gehoben worden. So vielfach der Bericht in seinen Berechnungen durch spätere Arbeiten inzwischen überholt ist ‐ seine Grundaussage gilt uneingeschränkt: Dem wirtschaftlichen Wachstum sind unüberschreitbare Grenzen gesetzt, und diese Grenzen liegen nicht irgendwo in einer sagenhaft fernen Zukunft, sondern in Armeslänge vor uns.

Die Rohstoffreserven, einschließlich der fossilen Brennstoffe, mögen größer sein als zunächst erwartet. Die Wirkung sparsamerer Produktionsmethoden, Substitution und Recycling mögen die Dauer ihrer Verfügbarkeit verlängern und sogar vorübergehend zu einem Überangebot führen. An der ständigen und unumkehrbaren Minderung der Gesamtreserven und den damit verbundenen Umstellungs­notwendigkeiten ändert das nichts.

Was wir unter dem Begriff Umweltzerstörung zusammenfassen - die Vergiftung von Erde, Wasser und Luft, die Verbauung der Erdoberfläche, die Gefährdung der Biosphäre als Folge einer ausbeuterischen Industrieproduktion und eines exzessiven Konsums -, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem zentralen Überlebens­problem der Menschen ‐ und nebenbei auch vieler anderer Lebensformen auf diesem Planeten ‐ geworden.

Hier soll jetzt nicht ein weiteres Mal das ganze ökologische Mißbrauchs‐ und Bedrohungspanorama nachgezeichnet werden. Das geschieht mittlerweile oft genug und von kompetenterer Seite. Einsicht verbreitet sich. Freilich sind die praktischen Auswirkungen solchen Darlegens und Warnens einstweilen noch marginal.

Zwar hat die Politik sich des Themas inzwischen lauthals angenommen. Und gewiß haben Filter und Katalysatoren, biologische Klärwerke, striktere Deponie­regeln und wasserrechtliche Auflagen inzwischen ein paar der skandalösesten Verschmutzungspraktiken zurückgedrängt. Aber es wird doch in erster Linie an den Symptomen kuriert. Der Verbrauch der letzten landschaftlichen Reserven schreitet ebenso fort wie das Aussterben der Tier‐ und Pflanzenarten. Der Verbleib der ständig wachsenden Gifthalden ist ebenso wenig geklärt wie jener der verstrahlten Abfälle und Rückstände aus der Atomindustrie. Es gibt bis heute auf der ganzen Erde keine einzige Endlagerstätte für atomare Abfälle. Nicht einmal für unsere vergleichsweise harmlosen Hausmüllberge findet sich noch Raum. Die Klimaveränderungen, die wir vermutlich in Gang gesetzt haben und im wahrsten Sinn des Wortes ständig kräftig weiter anheizen, sind in ihren Folgen noch gar nicht abzuschätzen.

Allerdings, so gewaltig die Schäden offenbar schon sind, die wir unserem Biotop Erde bislang zugefügt haben, so sind doch nur wenige Wissenschaftler bereit, sie schon für irreparabel tödlich zu halten, etwa Dennis Meadows, wenn er formuliert: Es hat keinen Sinn mehr, mit einem Selbstmörder zu argumentieren, wenn er bereits aus dem Fenster gesprungen ist. Vorläufig dominiert noch die Annahme, daß längst nicht alle Korrekturmöglichkeiten der Industrie­produktion ausgeschöpft sind. Entsprechendes gilt für unser zurzeit noch unsinnig aufwendiges Verbrauchsverhalten.

Wir hoffen, daß sich doch Lebensformen und Produktionsmethoden entwickeln, welche die Erdatmosphäre nicht zerstören, in denen eine gewisse Artenvielfalt von Pflanzen und Tieren überleben kann, die auf Gifte verzichten und die Abfälle schadlos verwerten. Eine solche Umstellung würde, verglichen mit den heutigen Hochverbrauchsgebieten in den Industrieländern, sicher einschneidende Verzichte des Lebensstandards konventioneller Prägung erfordern. Aber der für ein gutes Leben nach vorindustriellen Maßstäben erforderliche Komfort sollte sich bei intelligentem Verhalten eigentlich erwirtschaften lassen.

Der als Menschheitsaufgabe erkannte Umbau der Weltzivilisation zu einem lebensfähigen ökologischen System könnte freilich an zwei Umständen scheitern: der mangelnden politischen Gestaltungskraft und dem schon zu weit fortgeschrittenen Wachstum der Weltbevölkerung. Je demokratischer eine Gesellschaft verfaßt ist, umso abhängiger ist ihre politische Führungsschicht von der permanenten Zustimmung der Regierten.

Und wie dicht das Knollengeflecht von zähen Gruppen‐ und Individualinteressen, von gut‐ und böswilliger Uneinsichtigkeit und blinder Angst vor Änderungen jeder Art ist, das sich jedem Versuch eines ökologisch radikalen gesellschaftlichen Umbaus entgegenstellt, davon liefern uns die Zeitungen und der Bildschirm jeden Tag neue Beispiele. Die einen müssen mit 12‐Zylinder‐Wagen 250 km/h schnell über die Autobahnen rasen. Die anderen schlachten die letzten Singvögel und Wale ab. Alle kippen ihren Dreck ins Meer. Alle planen und bauen neue Kraftwerke und Flughäfen und Chemiefabriken.

Wenn irgendwo, dann ist für den Schutz der Umwelt der Ruf nach starker politischer Führung gerechtfertigt. Aber unsere Regierungen sind in der Regel schwach, sowohl was die Entschiedenheit des Handelns als auch schlicht Einsicht und Phantasie angeht; sie sind in ihren Reaktionen einfach kurzzeitorientiert, leider meist ziemlich dumm und zu bequem oder korrupt, um wirksam zu handeln.

Hoffnung kann man vielleicht noch eher auf die technokratisch orientierten internationalen Organisationen setzen, die den Erdball allmählich mit einem dichter werdenden Netz von Verhandlungs‐ und Regulierungskanälen überziehen.

Hoffnung kann man vor allem auf Initiativen von unten setzen. Die akute Angst der Menschen davor, daß sie ihren eigenen, kleinen und einzigen Lebensort im Weltall unbewohnbar machen könnten, diese Angst wächst. Internationale Bürgerbewegungen wie Greenpeace und WWF sind aufklärerische Antriebskräfte geworden, die über die elektronischen Kommunikationswege überaus wirksam zur allgemeinen Bewusstseinsbildung beitragen. Auf keinem anderen Problemfeld der Menschheit sind so starke Gegenkräfte gegen Fehlentwicklungen so rasch und so universell aktiv geworden. Trotzdem bleiben große Zweifel, ob die nötige Umorientierung radikal und rasch genug gelingen kann.

Begrenzte Katastrophen wie die von Tschernobyl können in plötzlichen Schüben Veränderungspotentiale freisetzen, mit denen sonst nicht zu rechnen wäre. Und so weit wir uns auch in die Sackgasse der technischen Schadproduktion hinein verrannt haben, so läßt sich auf die menschliche Findigkeit in Notlagen immer ein gewisses Maß an Hoffnung gründen.

Was das Problem trotzdem als extrem kritisch erscheinen läßt, ist die Dimension des Bevölkerungswachstums.

Dieser Prozeß ist in der bisherigen Weltdiskussion mit erstaunlicher Beiläufigkeit eher als Randthema abgehandelt worden. Als man in den 70er Jahren zu dem Ergebnis gekommen war, daß dank der grünen Revolution denkbarerweise auch genug Nahrungsmittel für acht oder zehn Milliarden Menschen auf der Erde erzeugt werden könnten, hielt man das Problem schon für fast gelöst. Was sich im Gefolge der Bevölkerungsexplosion an krisenhaften Entwicklungen in allen Lebensbereichen anbahnt, wird bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Dabei haben wir es hier mit der vermutlich folgenschwersten Fehlentwicklung der Geschichte zu tun.

Über Jahrtausende lebten Menschen als Gruppe unter vielen anderen Gruppen von Lebewesen, aufgrund ihrer Intelligenz zwar dominant, aber insgesamt doch verträglich.

Für den Beginn unserer Zeitrechung, auf dem Höhepunkt des Römischen Imperiums, wird die Erdbevölkerung auf 300 Millionen Menschen geschätzt. Die alten Hochkulturen der vorchristlichen Jahrtausende hatten sich auf der Grundlage noch weit geringerer Menschenzahlen entfaltet. Flurschaden gab es freilich auch damals bereits: Die Abholzung der Mittelmeerwälder, unter der wir heute noch leiden, ließ sich auch ohne Motorsägen schon höchst wirksam bewerkstelligen. Heute wird die Erde von 5,4 Milliarden Menschen bewohnt, die unter Einsatz aller inzwischen verfügbaren technischen Möglichkeiten versuchen, ihre vielfältigen und zum Teil höchst fragwürdigen Bedürfnisse zu befriedigen. Mehr als eine Milliarde von ihnen leben am Rande des Existenzminimums, das heißt, sie kämpfen um ihr nacktes Überleben. Der jährliche Gesamtzuwachs beträgt zurzeit knapp 100 Millionen Menschen und steigt aufgrund des großen Anteils der jungen Jahrgänge weiter an. Zur Jahrtausendwende werden wir, einen katastrophenfreien Verlauf der Geschichte unterstellt, mehr als sechs Milliarden sein, im Jahr 2025 (das ja durchaus in der Lebensspanne der meisten heute Lebenden liegt) 8,5 Milliarden.

Wo das enden wird, kann niemand verläßlich prognostizieren.

Die Weltbank wagt in ihren jährlichen Weltentwicklungsberichten immerhin eine anhaltsweise Schätzung über den hypothetischen Umfang der stationären Bevölkerung, also die Zahl, bei der das Wachstum zum Stillstand kommt. 1980 addierten sich die Länderzahlen noch zu insgesamt knapp 9,8 Milliarden. Seitdem wurden sie Jahr für Jahr vorsichtig nach oben korrigiert und liegen 1990 in der Summe bei 12,3 Milliarden.

Daß es überhaupt Hoffnung auf eine stationäre Zahl, also auf einen Wachstumsstillstand gibt, liegt daran, daß wenigstens die jährliche Zuwachsrate der Weltbevölkerung deutlich rückläufig ist. Sie liegt aber immer noch bei 1,7 Prozent. Das ist eine nur scheinbar geringe Größe. Umgesetzt in absolute Zuwachsraten, zeigt sie ihr erschreckendes Gewicht. »Alle zehn Jahre ein neues China«, formulierte ein um Veranschaulichung bemühter Journalist.

Der Schwerpunkt der Zuwächse liegt tatsächlich in Indien, China und den übrigen asiatischen, afrikanischen und südamerikanischen Ländern mit niedrigem Einkommen. Mehr als die Hälfte der Einwohner in den Ländern der Dritten Welt sind jünger als 20 Jahre und stehen erst am Beginn ihrer Fruchtbarkeits­periode.

Alle diese Menschen brauchen Nahrung und Behausung. Sie wollen produzieren und verbrauchen. Sie werden hineingeboren in eine Welt, deren mögliche Reichtümer sie sehen, ohne daß diese für sie selbst je erreichbar würden. Viele von ihnen werden hungern. Schon jetzt verhungern täglich 40.000 Kinder auf der Erde. Und viele, sehr viele aus dem Heer der Elenden werden sich auf den Weg machen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben anderswo.

Allein der Wachstumsdynamik wegen stehen wir vor globalen Völkerwanderungen von erschreckendem Ausmaß.

Die Boatpeople in Vietnam, die Maghrebiner in Süditalien und Frankreich, die Tamilen in Deutschland, die Mexikaner in den USA sind Vorhuten der Millionenmassen, die verzweifelt zu uns aufbrechen werden.

Sie mit akzeptablen Mitteln an unseren Grenzen aufzuhalten, wird kaum möglich sein. So ist es an sich schon eine richtige Politik, nicht auf Abschreckung zu setzen und die gesetzlichen Zugangsmöglichkeiten einzu­schränken, sondern die Wanderungsursachen in den Heimatländern der Zuwanderer zu bekämpfen. Nur, wie will man denn für alle Notleidenden in den Ländern Afrikas und Asiens in ihrer Heimat Nahrung und Obdach, Arbeit und soziale Sicherheit, Ausbildung und Fürsorge organisieren, garantieren, finanzieren? Wir schaffen es bis heute ja nicht einmal, die UNO‐Norm von 0,7 Prozent des Sozial­produkts für Zwecke der Entwicklungs­hilfe zu transferieren.

Wenn das Problem sich mit Geld wirklich lösen ließe, gäbe es ja auch noch eher Grund für eine gewisse Zuversicht. Die Handlungsspielräume sind insoweit sicher noch nicht ausgeschöpft.

Aber was den rapide wachsenden Völkern der Dritten Welt vor allem fehlt, läßt sich eben nicht einfach irgendwo kaufen: umfassende Ausbildungs­einrichtungen, Produktionsstätten, stabile Familien, funktionierende soziale Dienste, effiziente und ehrliche Verwaltungen, kompetente Manager. Die Schaffung ausreichender Lebensbedingungen im eigenen Lande wäre sicher das Idealprogramm gegen die drohenden Völkerwanderungen. Aber die Chance, damit ausreichende praktische Erfolge zu erzielen, ist gewiß nicht hoch zu veranschlagen.

Diese Situation könnte sich dramatisch weiter verschärfen, wenn die vorausgesagten Veränderungen des Weltklimas mit ihren Folgeerscheinungen eines Anstiegs der Meeresspiegel und der Nordverschiebung der Wüsten‐ und Fruchtbarkeitsgürtel wirklich einträten.

Schließlich zeichnet sich die Gefahr eines weiteren Wanderungsstroms aus dem Osten ab. Sollte es wirklich dazu kommen, daß die zerrütteten Sozial­ordnungen in den Ländern des ehemaligen Sowjetimperiums zusammenbrechen, so stünden wir auch da vor schier unlösbaren Problemen.

Es ist fraglich, ob das gewachsene Netz der Sozialsysteme in den Aufnahmeländern einer solchen Entwicklung angepaßt werden kann. Es ist - um es überaus vorsichtig zu formulieren - schwer vorstellbar, daß sich gewaltsame Konflikte und mindestens partielle Zusammenbrüche der staatlichen Ordungssysteme vermeiden lassen.

Vor allem ist zu besorgen, daß unter dem aktuellen Druck akuter Not‐ und Krisensituationen die überlebenswichtige Umstellung auf ökologisch verträgliche Produktions‐ und Verkehrssysteme in den Hintergrund gedrängt wird. Kurzfristig bringen die traditionellen Ausbeutungsverfahren raschere Ergebnisse. Die Verlockung, nach jeder sich bietenden Hilfe zu greifen, auch wenn das heißt, den letzten Baum abzuhacken, kann übermächtig werden.

Macht es unter diesen Umständen überhaupt noch Sinn, eine auf Geburtenbeschränkung gerichtete Bevölkerungspolitik zu verfolgen? Sind die Fristen, in denen sie wirksam werden könnte, nicht viel zu lang?

Die Frage ist müßig. Wir haben keine Alternative. Die zentrale Rolle, die der Bevölkerungsentwicklung für alle anderen kritischen Bereiche (Klima, Ökologie, Ernährung, soziale Stabilität, Frieden) spielt, ist mit Händen zu greifen. Alle Überlebensstrategien sind zum Scheitern verurteilt, wenn es nicht gelingt, die Bevölkerungszahl so bald wie möglich zu stabilisieren. So bald wie möglich ‐ das bedeutet längere Zeit, als wir sie vielleicht haben.

Alle brauchbaren Strategien zur Begrenzung der Geburtenzahl setzen kontinuierliche, langfristige Bemühungen um Aufklärung, soziale Sicherung, Emanzipation der Frauen voraus. Sie sind abhängig vom ungehinderten Zugang und der ungehinderten Verwendung empfängnisverhütender Mittel sowie von der allgemeinen Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs im Frühstadium. Auch die Finanzierung muß langfristig gesichert sein.

Die Aufmerksamkeit, welche die Staaten und die internationalen Organisationen diesem Schlüsselproblem schenken, steht in einem grotesken Mißverhältnis zu seiner Schicksalhaftigkeit. Die für Familienplanung bestimmten Anteile an der Entwicklungshilfe liegen in Größenordnungen von ganzen ein bis vier Prozent. Eine in sich schlüssige internationale Bevölkerungspolitik existiert nicht.

In der deutschen politischen Diskussion spielt das Thema überhaupt keine Rolle ‐ außer in der ängstlichen Vorsorge gegen »Wirtschaftsflüchtlinge«. Unsere Politiker reden zwar dauernd von historischen Stunden, Tagen und Jahren. Aber die eigentlichen historischen Themen haben sie nie in den Blick bekommen.

Blind gegen diese Realität ist im Übrigen auch die Katholische Kirche in ihrem Kreuzzug gegen Empfängnisverhütung und Abtreibung. Dazu wird weiter unten noch etwas zu sagen sein.

Die Bilanz der erfolglosen Erfolgreichen sieht entmutigend aus. Die Perspektive auf eine heillos übervölkerte Welt mit geplünderten Rohstoffvorräten, abgeholzten Wäldern, ausgelaugten Äckern und gewaltigen Abfallhalden ist bedrückend. Die Menschen haben sich und ihre Mitgeschöpfe in eine vielleicht schon ausweglose Lage gebracht.

Die Evolution pflegt ein Überwachstum bestimmter Arten durch Populations­zusammenbrüche zu kompensieren. Wir sind offenbar auf dem Wege, uns als ihr Werkzeug zu diesem Ende zu betätigen. Das soll kein Verdikt, nicht das letzte Wort in dieser Sache sein. Niemand vermag alle hier zusammenwirkenden Ursachen in ihren Verknüpfungen und Wechselwirkungen so zu überblicken, daß er ein bestimmtes Ergebnis als unausweichlich bezeichnen kann.

Gewiß ist aber, daß wir ‐ durchaus vermeidbarerweise ‐ tief in eine extrem kritische Lage hineingeraten sind. Es wird jedenfalls radikaler Veränderungen unseres Verhaltens bedürfen, wenn die Menschheit zu einem Gleichgewichtszustand mit dauerhafter Existenz­perspektive zurückfinden soll.

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Martin Neuffer - 1992