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10   Der Menschheit ein Ende setzen

Neuffer-1992

 

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Seine persönliche Entscheidung zwischen Ja und Nein zum Leben muß jeder für sich selbst treffen. Unser Überblick über die Widersprüche und Mängel des menschlichen Existenzschicksals möge nicht im Sinne einer Werbung für das Nein zum Leben verstanden werden. Wohl allerdings soll geworben werden für einen vorurteilsfreien Prozeß des individuellen Abwägens und für den gleichen Respekt, das heißt auch die gleiche gesellschaftliche Respektierung für jede der möglichen Entscheidungen.

An meiner eigenen persönlichen Position soll kein Zweifel bleiben. Ich halte die Bedingungen menschlichen Lebens für schlechthin unzumutbar:

‐ das sind Konditionen, die auch durch eine gehörige Zugabe spontaner Lebensfreude nicht annehmbar werden. Dies fordert ein Nein zum Leben geradezu heraus. Hätten meine Eltern mich fragen können und gefragt ‐ ich hätte meiner Existenz nicht zugestimmt und billige sie auch heute nicht.

Meine Eltern waren überaus liebe und liebenswerte, auch sehr rücksichtsvolle Menschen. Sie sind einfach nicht auf die Idee gekommen, daß ich vielleicht nicht leben wollen möchte. Ich war dann ja auch sehr glücklich bei ihnen. Aber im Rückblick auf fast sieben Lebensjahrzehnte komme ich nun zu dem Schluß, daß sie mich lieber nicht hätten zeugen oder wenn es denn schon geschehen war ‐ daß sie mich besser hätten abtreiben sollen. Dies geht auch nicht etwa darauf zurück, daß mir ein besonders schweres Lebensschicksal beschieden gewesen wäre ‐ ganz im Gegenteil. Mein Leben ist vergleichsweise überaus günstig und glücklich verlaufen. Nur auch in dieser privilegierten Verlaufsform empfinde ich es letzten Endes nicht als zustimmungsfähig.

Sich dazu zu bekennen fällt nicht ganz leicht. Die Identifikation mit der Menschheitsveranstaltung und der Schönheit der Welt, also mit dem Leben, reicht tief in den Grund des Seins. Das Bekenntnis zum Nein hat eine als sakrilegisch empfundene Komponente. Das Paradigma von der Heiligkeit des Lebens verlangt sein Recht.

Hier muß nun noch einmal aufgepaßt und Mißverständnissen vorgebeugt werden.

Heiligkeit des Lebens im Sinne der Unantastbarkeit des Lebens anderer Menschen ist in der Tat ein unbedingtes Gebot. Seine Respektierung muß sogar von den Kirchen, die den Begriff gern strapazieren, konsequenter eingefordert werden, als es ihrer eigenen Auslegung entspricht, zum Beispiel in Sachen Todesstrafe und Krieg. Es gibt nur wenige und exzeptionelle Rechtfertigungsgründe für die Tötung eines anderen Menschen ‐ nicht einer transzendenten »Heiligkeit« des Lebens wegen, sondern einfach, weil jeder das gleiche Grundrecht zu existieren hat wie jeder andere. - Das ist es dann freilich auch.

Die Schöpfung, die Evolution, die Natur - das macht hier nun keinen Unterschied - zeigt keinerlei besondere Wertschätzung für die von ihr hervorgebrachten Lebewesen. Sie produziert sie in allen Erscheinungsformen als massenhaften Wegwerfartikel, zwar immer an der Fortexistenz des Kollektivs interessiert, aber gegenüber dem Lebensschicksal des Einzelwesens völlig gleichgültig. Irgendwelche Anhaltspunkte für eine systemimmanente Wertigkeit des individuellen Lebens lassen sich in der totalen Freßwelt auf Gegenseitigkeit, der wir angehören, nicht entdecken. So bleibe ich denn bei einem Nein zum Leben, das zwar nicht viele, aber doch einige Mitmenschen teilen werden: Es wäre besser, es gäbe die Menschen nicht. Da es sie aber gibt und sie auch nicht um ihr Leben gebracht werden sollen, fragt sich, ob dieser Nein‐zum‐Leben‐Entscheidung mehr als nur intellektuelle Bedeutung zukommt.

Eine praktische Konsequenz wäre die Folgeentscheidung gegen die eigene Fortpflanzung. Hier fließen die Überlegungen nun mit einer anderen Gedankenkette zusammen. Wenn ein Nein zum Leben möglich und zulässig ist ‐ was schon im ersten Abschnitt postuliert und in diesem für die eigene Person bestätigt wurde ‐, dann muß man bei jedem Menschen, der neu geboren wird, mit der Möglichkeit rechnen, daß er später zum gleichen Urteil gelangt: Es wäre ihm lieber, er wäre nicht gezeugt und geboren worden.

Damit stellte sich ganz allgemein die Frage, ob Menschen überhaupt berechtigt sind, neue Menschen ins Leben zu bringen und damit zu lebenslänglichem Leben und anschließendem Tod zu verurteilen, ohne deren Einwilligung einholen zu können. Hier wird eingewandt werden: Aber es geht doch gar nicht anders.

Verneint man das Recht auf »unangefragte« Fortpflanzung, so bedeutet dies bei konsequenter Befolgung einen völligen Verzicht auf Kinder. Die Menschheit stürbe in wenigen Jahrzehnten aus.

Nun, wenn sie in wenigen Jahrzehnten ausgestorben sein sollte, so wird das, wie wir alle wissen, andere Gründe haben.

Die Gefahr eines menschlichen Fortpflanzungsboykotts aus ethischen Gründen ist praktisch natürlich null. Trotzdem möchte ich auf der Frage nach dem Fortpflanzungsrecht beharren ‐ auch wenn den meisten Lesern diese angesichts der Beschaffenheit der Natur als eine völlig törichte und überflüssige Frage erscheinen wird.

Ist es »erlaubt«, Kinder zu zeugen und zu gebären?

In allen menschlichen Kulturkreisen ist diese Frage nicht nur selbstverständlich bejaht worden. Viel mehr: Die mit ungeheurer Triebstärke ausgestattete Fortpflanzung wurde und wird weithin als Aufgabe, fast schon als Ziel menschlichen Lebens betrachtet. Der Gedanke des persönlichen »Weiterlebens in den Kindern« spielt dabei ebenso eine Rolle wie die Sorge um die dauerhafte Existenz des sozialen Verbandes und seine Stärke im Überlebenskampf. Kinder bedeuteten Sicherheit und Zukunft für Familie und Sippe ebenso wie für Stamm und Volk. Das kulturgeprägte Verhalten des Menschen bleibt in dieser Frage dem unreflektiert naturhaften der Säugetierherde überaus nahe.

Religiöse Glaubenselemente und Verhaltensangebote wirkten bestätigend und verstärkend in die gleiche Richtung. »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde«, heißt es in der Bibel. So ist das ganze Fortpflanzungs­problem eingebettet in ein affirmatives System natürlicher Triebhaftigkeit, überkommener kultureller Verhaltens­modelle, religiöser Überzeugungen und sozialer und wirtschaft­licher Sicherungs­bemühungen.

In einem anderen Zusammenhang als dem ganz neuen der Katastrophenabwehr angesichts der Bevölkerungsexplosion ist das Recht auf (fast schon die Pflicht zu) Nachkommenschaft in der menschlichen Geschichte bisher nie in Frage gestellt worden.

Vielleicht typisch für die Haltung, die auch unter der kleinen Minderheit derer vorherrscht, welche die Problematik des zustimmungslosen Ins‐Leben‐Setzens wenigstens erkennen, ist die nachfolgende Äußerung von Hans Jonas:

»Was eigentlich berechtigt uns, einem Wesen, indem wir es in die Welt setzen, das Dasein zuzumuten ‐ einem Wesen das sich an der Wahl nicht hat beteiligen können? Es gibt im Zeugen und Hervorbringen eines Kindes eine Art Unschuld. Denn nicht nur schenken wir dem Kinde das Dasein, wir erlegen es ihm auch auf ‐ ungefragt. In der Voraussetzung, daß dieses sein eigenes Leben wollen wird, daß wir also ein Leben in die Welt setzen, das sich selber bejaht. Das ist in einem gewissen Sinn eine ungeheure Präsumtion. Jeder muß darauf gefaßt sein, auf diesen Schrei, der aus dem Munde des Propheten Jeremias gekommen ist: >Mutter, warum hast Du mich geboren?< Die Antwort darauf kann nur sein: Weil es die Ordnung der Dinge in der Natur so will, daß es nur unter dieser Bedingung Menschen geben kann: allein mit dem Wagnis, daß man sie eben zum Menschsein nicht nur befähigt, sondern auch verurteilt.«

wikipedia  Präsumtion  Eine Präsumtion bezeichnet allgemein die Voraussetzung, die bei der Beurteilung einzelner Fälle aus Wahrscheinlichkeitsgründen als Regel zugrunde gelegt wird.

Jonas sieht die ganze Tragweite des Problems, ohne eine Konsequenz daraus zu ziehen. Daß es Menschen geben soll - auch wenn es sie nur unter dem »Wagnis« der Lebensverurteilung geben kann - ist für ihn unabdingbar. Er würde die Zustimmungsfrage an die Ungezeugten sogar dann nicht stellen, wenn sie möglich wäre.

Man lese den obigen Text einmal so, daß man im zweiten Satz das Wort Unschuld durch das gewiß nicht weniger naheliegende Urschuld ersetzt, und man streiche im folgenden die Worte »in einem gewissen Sinn« ‐ dann wird deutlich, auf wie dünnem Eis sich solches Argumentieren vollzieht. Die Alternative, dann eben künftig auf Menschen zu verzichten, wird nicht in Erwägung gezogen.

Allerdings, was die »Ordnung der Dinge in der Natur« angeht, auf die Jonas sich beruft, so ermöglicht sie es jedermann mühelos, solcher Bedenken wegen auf Nachkommen ganz zu verzichten. Viele Menschen praktizieren einen derartigen Verzicht aus wesentlich trivialeren Gründen. Wäre es also auf der Grundlage der Menschenrechte nicht endlich an der Zeit zu proklamieren: Keiner darf zum Leben gezwungen werden. Wer das Recht hat, nicht getötet zu werden, darf nicht geboren werden, da er durch die Geburt zum Sterben bestimmt wird.

Dies scheint mir eine Überlegung zu sein, die durch ihre Inpraktikabilität nicht einfach hinfällig wird.

Auch hier gibt es nur die höchstpersönliche Antwort und Entscheidung jedes einzelnen. Für mich lautet sie eindeutig, daß ich mich heute nicht mehr für berechtigt hielte, ein Kind zu zeugen.

Wer nun einmal zu dem Ergebnis gekommen ist, es wäre besser, daß es die Menschen nicht gäbe, als daß es sie gibt, insbesondere wer erkannt hat, daß er ‐ gefragt ‐ seine Zustimmung zur eigenen Existenz verweigert hätte, der kann dieser Forderung kaum ausweichen.

Die Verantwortung dafür, neue »unschuldige« Menschenwesen ins Leben zu setzen, sie ihrerseits schuldig werden zu lassen, sie neben unsicheren Freuden vielen sicheren Leiden und dem Todesschicksal auszuliefern, ist zu gewaltig, als daß man sie wohlbedacht übernehmen könnte. Allerdings, was folgt daraus? Gilt der elementare Wunsch nach Elternschaft, also nach eigenen Kindern, nichts dagegen? Und was heißt »unerlaubt«? Zwangs­sterilisierung? Strafbarkeit von Geburten?

Was den Kinderwunsch angeht ‐ er ist sicher einer der dominanten Triebe, der im Heranwachsen eines Kindes vom hilflosen Säugling über das niedliche Kleinkind zum verständigen, lebenseifrigen jungen Menschen viele Chancen der Elternbefriedigung bietet.

Nicht selten geht das freilich auch gründlich schief. Auf lange Sicht gibt es die Möglichkeit lebenslänglicher vertrauter Freundschaft zwischen Eltern und Kindern ebenso wie das Risiko dauerhafter Entfremdung oder gar Feindschaft.

Es ist also durchaus offen, ob der erfüllte Wunsch nach Kindern hält, was die Eltern sich von ihm versprechen. Vor allem: Ein Wunsch nach Kindern ist eine Sache, ein Recht auf Kinder eine andere. Letzteres wäre ja wohl nur als Bestandteil des Selbst­entfaltungs­anspruchs denkbar.

Aber ist das nun zulässig: Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung durch Ins-Leben-Setzen eines anderen Menschen, dem dies eigentlich nicht zugemutet werden sollte? Offensichtlich nicht, wenn der Satz gilt, daß niemand ungefragt zum Leben gebracht werden darf. Die Befriedigung des elterlichen Aufzuchttriebes, eines das ganze tierische Leben beherrschenden Meisterinstruments der Evolution, ist da doch ein deutlich nachrangiges Anliegen. Kinder sind schließlich nicht dazu da, Bedürfnisse ihrer Eltern zu befriedigen.

Und wie steht es mit gesellschaftlichen Maßnahmen zur Geburtenverhinderung?

Wer Fortpflanzung für »unerlaubt« hält, müßte ja wohl für Gegenmaßnahmen plädieren. Wenn ich um des Kindesschicksals willen mich selbst als nicht dazu berechtigt befinde, Nachkommen zu haben, dann kann ich ein solches Recht ‐ wiederum um der Kinder willen ‐ anderen nicht zugestehen.

Doch ein solcher Schluß ließe unberücksichtigt, daß die behauptete Unerlaubtheit der Fortpflanzung auf einem Werturteil, dem Nein zum Leben, beruht, das nicht Bestandteil der gesellschaftlich sanktionierten humanistischen Sittlichkeit ist.

Die für die Gültigkeit aller ethischen Postulate unerläßliche kulturelle Akzeptanz der zugrunde liegenden Wertorientierungen ist in unserem Fall nicht gegeben. Es erscheint auch als höchst unwahrscheinlich, daß sich ein Prinzip moralische Geltung erwerben kann, das darauf abzielt, die Subjekte des moralischen Systems insgesamt abzuschaffen.

Ein Nein zum Leben bleibt für den, der es ausspricht, selten ohne persönliche Folgen. Natürlich braucht er sich nicht gleich selbst zu töten und wird es in aller Regel auch nicht tun. Er unterliegt dem kreatürlichen Lebens­trieb nicht weniger als jeder andere. Aber er könnte sich vielleicht wirklich dazu entschließen, keine Kinder ins Leben zu setzen. Schon ein solcher Entschluß kann zu gesellschaftlichen Konflikten führen. Empfängnis­verhütung und Abtreibung werden keineswegs allgemein toleriert.

Das gleiche gilt für den Vollzug eines wohlüberlegten Entschlusses zur Selbsttötung. Hier werden moralische und praktische Hürden ausgebaut, die jeder grundrechtlich garantierten Entscheidungsautonomie Hohn sprechen.

Zu diesen mit der Grundentscheidung zum Leben eng verbundenen Fragen sollen in den folgenden Abschnitten einige Überlegungen und Forderungen vorgetragen werden.

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Martin Neuffer - Nein zum Leben - Ein Essay - 1992