Neuffer-1992
103-118
Jedes Mal, wenn ein Mensch sich selbst tötet, geschieht etwas Schreckliches ‐ noch über die Schmerzlichkeit jedes anderen Sterbens hinaus. Schrecklich ist die Entscheidung des Ich gegen seine weitere Existenz, der Akt der Verwerfung des eigenen Lebens aus der Mitte des Selbst heraus. Von dort, wo man immer eine ungefragt‐totale Loyalität zu sich selbst wußte, im Innersten des Ich, kommt jetzt die vernichtende Tat. Das Ausgelöschtwerden von eigener Hand ist ein Stück Selbst‐Verrat ‐ denn auf sich selbst war »ein Leben lang« Verlaß gewesen.
Es stimmt schon, wenn wir diesen Tötungsakt einen »Selbstmord« nennen. Die Kreatur in uns bäumt sich dagegen auf. Es ist wahrlich schrecklich, Hand an sich zu legen. Zugleich ist der Akt die äußerste Form der Selbstbehauptung, eine letzte Manifestation eigener, autonomer »Lebens«gestaltung. Wo die möglichen Bedingungen eines Weiterlebens, aus welchen Gründen auch immer, als unerträglich erscheinen, ist die Entscheidung für den selbst gegebenen Tod ein letzter Akt der Freiheit.
Sein Leben wird der Mensch ohnehin verlieren. Die Wahl steht nicht zwischen Tod und Leben, sondern zwischen Tod und Tod bei unterschiedlichen Modalitäten. Es ist eben doch kein Selbstverrat des Täters; der Verrat kommt von außen. Dem Menschen wird im Gegenteil mit dem eigen gewählten Ende noch eine Kostprobe von Sieg zuteil. Der Freitod, so formuliert Jean Amery, ist ein Privileg des Humanen.
Die psychologischen Hürden vor jedem Akt der Selbsttötung sind hoch. Der kreatürliche Lebenstrieb, tief eingepflanzt, muß schon ernsthaft getroffen sein, um den äußersten Schritt zu tun. Eine einfache Mißbilligung der Welt und ihrer Spielregeln mag aus guten Gründen zum Nein zum Leben führen, zur Einschätzung, daß es besser keine Menschen gäbe, zur Verweigerung der nachträglichen Einwilligung zur eigenen Zeugung und Geburt, zur Ablehnung sogar der eigenen Fortpflanzung ‐ aber sie führt nicht schon gleich dazu, daß man sich selbst ums Leben bringt.
Anlässe und Beweggründe für Selbsttötungen sind so unterschiedlich, wie Menschen und Lebensumstände vielfältig sind. Ein ganzer Wissenschaftszweig, die Suizidologie, widmet sich der Beobachtung, Beschreibung, Analyse und Kategorisierung der Selbsttötung und der Behandlung potentieller oder gescheiterter Täter. wikipedia Suizidologie
Allen Fällen eignet als Gemeinsames die Tat selbst, der Absprung aus dem Leben. Ansonsten müssen die vielfältig verschiedenen Umstände des Geschehens auch zu Unterschieden bei der sozialen Einordnung und Reaktion auf verschieden gelagerte Fallgruppen führen. Die gesellschaftliche Handhabung des Selbsttötungsproblems ist in mehr als einer Hinsicht unzulänglich.
Zunächst jedoch einige allgemeine Bemerkungen zur Einordnung des Selbstmords. Er ist erlaubt - aber er wird unterschwellig noch weithin abgelehnt. Er gilt eher als die Handlung eines Kranken, Verwirrten denn als die eines verantwortungsvoll Handelnden. Man muß die Tat zu verhindern suchen, darf sie keinesfalls erleichtern oder fördern. So etwa könnte man den gegenwärtigen Zustand vielleicht kennzeichnen. Dabei läßt sich wohl eine Entwicklungstendenz erkennen, die von striktester Mißbilligung und Ächtung der Tat zu nach und nach verständnisvollerer Tolerierung führt.
In der europäischen Geistesgeschichte hat die Ablehnung der Selbsttötung eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Die freundlichen Stoiker billigten sie zwar uneingeschränkt. Aber schon die gestrengeren Platon und Aristoteles standen ihr kritisch gegenüber. Im frühen Christentum befand Augustinus, und setzte sich mit dieser Lehre durch, daß das Tötungsverbot des Dekalogs sich auch auf die Selbsttötung beziehe. Thomas von Aquin schließlich vollendete das Lehrgebäude mit der These, das Leben sei ein Geschenk Gottes, über das der Mensch nicht verfügen dürfe. Das ist zwar nicht recht schlüssig. Denn mit Geschenken kann der Empfänger eigentlich machen, was er will, einschließlich der Rückgabe - zumal wenn er gar nicht gefragt worden ist, ob er beschenkt werden wollte. Aber an dieser Lehre hält die katholische Kirche bis heute im Grundsatz fest.
Die Position des Protestantismus scheint etwas offener zu sein. In der gemeinsamen Erklärung von 1989 heißt es zunächst:
»Im Glauben daran, daß Gott das Leben jedes Menschen will, ist jeder mit seinem Leben, wie immer es beschaffen ist, unentbehrlich.«
Immerhin wird die Selbsttötung nicht mehr als Sünde gestempelt und verfolgt. Es heißt in der Erklärung dann weiter: Der Christ »kann diese Tat im letzten nicht verstehen und nicht billigen - und kann dem, der so handelt, seinen Respekt doch nicht versagen«.
Die bei uns über viele Jahrhunderte gewachsenen und gefestigten gesellschaftlichen Wertungen ändern sich aber eben doch nur allmählich. So ist das strafrechtliche Verbot der Selbsttötung zwar schon im vorigen Jahrhundert gefallen. Aber die gesetzliche Reglementierung einiger mit der Selbsttötung eng zusammenhängender Probleme ‐ Sterbehilfe, Interventionsverpflichtung u. a. ‐ ist noch geprägt von der historischen Mißbilligung der Selbsttötung. Hier sind Änderungen zu fordern, für die eine vorbehaltlose soziale Akzeptanz der Tat selbst erst einmal als Voraussetzung zu erreichen ist.
Deren Schwierigkeiten werden schon beim sprachlichen Umgang mit dem Thema deutlich. Ich habe im bisherigen Text für die Bezeichnung der Tat in der Regel das etwas umständliche, aber relativ wertneutrale Wort Selbsttötung verwendet. Jean Amery hat sich in seinem streitbaren Diskurs »Hand an sich legen« von 1976 aus ähnlichen Gründen durchgehend für »Suizid« (Suizidant, Suizidär) entschieden. Aber dieses keimfreie Medizinerlatein schiebt sich allzu technisch verharmlosend vor die brutale Wirklichkeit.
»Freitod« klingt mir etwas zu bekennerhaft‐programmatisch.
»Selbstmord« ‐ das ist es!
Darin finden wir die ganze Erbschaft von Sünde und Verworfenheit sowie von gesellschaftlicher Ächtung noch inbegriffen ‐ weshalb die Vorkämpfer für eine Respektierung der Selbsttötung den Begriff denn auch entschieden ablehnen. Damit haben sie umgangssprachlich sicher recht. Vom eigentlichen Sprachsinn freilich scheint mit die Schrecklichkeit und Gewaltsamkeit dessen, was da geschieht, durch den Begriff »Mord« schon angemessen gekennzeichnet zu sein.
Wichtiger als die sprachliche Behandlung ist natürlich die vorbehaltlose, explizite Anerkennung des jedermann zustehenden Rechts auf Selbsttötung. Die Kirchen mögen an ihrer Ablehnung festhalten und die Selbsttötung als unrechten, gegen den Willen Gottes gerichteten Akt bezeichnen. Niemand wird ihre Mitglieder daran hindern, die Selbsttötung für sich persönlich als verbotenen Weg zu betrachten. Aber anders als in der Abtreibungsfrage streben die Kirchen wenigstens nicht danach, daß wieder staatliche Verbote und Sanktionen gegen die Selbsttötung eingeführt werden.
Neben den religiösen sind allerdings auch sittliche Einwendungen gegen die Selbsttötung vorgebracht worden, die ernst genommen werden müssen.
Gibt es eine Pflicht zum Leben, die aus sozialen Bindungen abzuleiten ist?
Wer auch immer seine Selbsttötung erwägt, ist ja keine von allen Mitmenschen isolierte Einzelperson, sondern steht in einem vielfachen Geflecht engerer oder lockerer Beziehungen zu anderen. Seine Tat wird die meisten davon nicht ernsthaft betreffen. Die meisten Menschen bedeuten einander nicht viel über die Gewohnheit hinaus. Sie nehmen das Verschwinden eines der ihren mit großer Gelassenheit hin. Aber da, wo eine Lebensgemeinsamkeit, eine bedeutungsvolle Liebes‐ oder Partnerschafts‐ oder Verwandtschaftsbeziehung besteht, kann auch für den anderen ungeheuer viel, bis hin zur eigenen Existenz, auf dem Spiel stehen.
Im Übrigen sind auch banalere materielle Erwägungen anzustellen. Die Selbsttötung kann für andere einen tiefen Einschnitt in die äußeren Lebensbedingungen bedeuten, z.B. zum Verlust des Familieneinkommens führen und zahllose andere Einzelprobleme aufwerfen.
Solche Auswirkungen mögen in der Tat dazu führen, daß jemand sich so stark an Lebensverpflichtungen gegenüber anderen gebunden sieht, daß er sich außerstande fühlt, von seinem Recht auf Selbsttötung Gebrauch zu machen. Aber weder berauben sie ihn seines Rechtes an sich, noch ist aus solchen Fällen gar eine allgemeine Lebenspflicht aus sozialer Verantwortung abzuleiten. Grausamkeiten an Menschen, die uns lieben oder brauchen, begehen wir auch als Lebende in reichem Maße, ohne daß dies unser Recht auf Leben beeinträchtigen könnte. Rücksichtnahmen, freiwillige Verzichte mögen auf der Grundlage des Liebesgebots noch so dringlich sein, die Entscheidung über das eigene Leben bleibt im Kern immer offen und eines jeden von ihm selbst zu verantwortende eigene Sache.
Juristisch gesehen, ist das Recht auf den eigen bestimmten Tod eine Ausprägung des Verfassungsrechts auf Achtung der Menschenwürde. Es gehört zum grundrechtlich geschützten Kernbereich der individuellen Entfaltungsfreiheit. Dies, sollte man meinen, sei selbstverständlich. Tatsächlich ist das Recht auf Selbsttötung in der Bundesrepublik juristisch nach wie vor umstritten. Es wird von der herrschenden Lehre verneint und in der medizinischen Praxis weithin mißachtet. Das Leben als Basis und Ausdruck menschlicher Existenz sei jeder Verfügung entzogen - auch der des individuellen Rechtsträgers selbst. Zwar wird eine Pflicht zum Leben verneint, die Selbsttötung als vom Grundgesetz »erlaubt« eingestuft. Aber dem nur folgerichtigen Schritt vom gesellschaftlich Erlaubten zum individuellen Recht stehen offenbar noch zu starke christlich‐traditionalistische Tabuisierungen im Weg. So wird man um die ausdrückliche grundrechtliche Anerkennung des Sterberechts kämpfen müssen. Sie empfiehlt sich auch als orientierende Vorgabe für nötige gesetzliche Einzelregelungen der damit zusammenhängenden Einzelthemen.
Um die ungehinderte Ausübung des Individualrechts auf Selbsttötung zu sichern, müssen einige im Streit befangene Grenzprobleme neu geordnet werden. Es soll nun nicht versucht werden, dazu einen vollständigen rechtspolitischen Forderungskatalog vorzulegen. Es kann nur auf einige besonders wichtige Gesichtspunkte hingewiesen werden, die bei einer solchen Ausarbeitung berücksichtigt werden sollten. Die Grundorientierung muß immer an Hand zweier Leitpostulate erfolgen:
möglichst jeden Selbstmord zu vermeiden, weil er immer etwas Schreckliches ist;
diesen Erfolg aber nicht durch irgendwelche freiheitsbeschränkenden Eingriffe in die Entscheidungsautonomie der zurechnungsfähigen Person zu erreichen.
Diese beiden Forderungen können miteinander im Konflikt liegen. Dann muß es das zweite Postulat sein, das sich durchsetzt. Es darf z. B. niemand eingesperrt werden, weil er sich töten will. Das muß grundsätzlich auch dann gelten, wenn die Lebenserfahrung dafür spricht, daß der Betroffene später über die Verhinderung seiner Absicht glücklich sein könnte.
Daß ein zur Selbsttötung entschlossener Mensch, dem der Versuch mißlingt, sich später wieder seines Lebens freut, ist nie auszuschließen. Wenn diese Möglichkeit allein genügte, um einem zum Selbstmord Entschlossenen mit staatlichen Zwangsmitteln in den Arm zu fallen, so wäre das ein Freibrief für jede denkbare Intervention.
Ausnahmen von dieser Regel sind eng zu begrenzen. Zwar wäre es nicht vertretbar, auch offensichtlich ihrer Natur nach vorübergehenden Selbstmordmotiven wie Liebeskummer oder Scham über Examensversagen den gleichen Realisierungsvorrang einzuräumen wie dem wohlbedachten Entschluß eines unheilbar Kranken. Man kann aber auch nicht alle potentiellen Affekt‐Selbstmörder vorsorglich einsperren. Daher reduziert sich dieses Problem praktisch darauf, in solchen Fällen eine kurzfristige Intervention ‐ von wem auch immer ‐ in den Selbsttötungsprozeß für zulässig zu erklären, wie sie generell als unzulässiger Eingriff in die persönliche Rechtsausübung ausgeschlossen sein müßte.
Das Hauptziel einer maximalen Senkung der Selbsttötungen kann nur über eine Politik und letzten Endes eine Kultur erreicht werden, durch die alle gesellschaftlich bedingten Tatmotivationen so weitgehend ausgeräumt werden, wie es nur möglich ist. Wer in der Zuversicht lebt, daß es für seine Lebensprobleme in allen Wechselfällen des Lebens eine autonome Entscheidungsbasis und frei verfügbare Handlungsmöglichkeiten gibt, wer ohne die Sorge einer Einengung seiner praktischen Wahlmöglichkeiten und Realisierungsspielräume kritischen Situationen entgegensehen kann, ist sicher weniger gefährdet, unnötige oder unnötig frühe Konsequenzen zu ziehen.
Das gilt wohl in erster Linie für jene wichtige Gruppe von Selbsttötungs-Fällen, die durch Angst vor qualvollen, würdelosen und lieblosen Umständen des Lebensrestes und des Sterbens motiviert und durch einen überlegten Selbsttötungsplan charakterisiert sind. Der Anteil dieser Gruppe an den 15.000 Selbsttötungen im Jahr, die in Deutschland ausgewiesen werden, ist vermutlich beträchtlich. Die Zahl wird bei gleichbleibenden Perspektiven schon aufgrund der Altersstruktur weiter ansteigen. Die Dunkelziffer der nicht als Selbsttötungen erkannten oder gemeldeten Todesfälle kommt hinzu. Die Zahl der kranken oder älteren Menschen, die sich konkret mit diesem Thema auseinandersetzen, muß ein Vielfaches derer betragen, welche die Tat ausführen.
Die Gründe für diese Entwicklung sind oft genannt worden. Die Angst, die hinter allen Freitodüberlegungen und den ausgeführten Selbsttötungen steht, hat konkrete Anlässe: Verlust der Selbständigkeit durch körperlichen und geistigen Verfall, Verlust der eigenen Wohnung, demütigende und trostlose Anstaltspflege, Vorenthalten schmerzfreier Behandlungsmethoden, Auslieferung an eine inhumane, sterbensverlängernde Apparate‐Medizin, Tod in der Intensivstation. Es gibt für den alternden Menschen, dessen Lebenszeit sich neigt, aber auch für den jüngeren, zum Tode hin kranken wahrlich genug reale Befürchtungen.
Mit steigenden Bevölkerungsanteilen alter Menschen, mit zunehmender Lebenserwartung und Morbidität und ‐ paradoxerweise ‐ mit zunehmenden therapeutischen Möglichkeiten werden die Gründe für solche Angst noch zunehmen. Um sie abzubauen, bedarf es weniger, aber, gemessen an den rückständigen deutschen Praktiken, radikaler Änderungen.
Die beiden wohl wichtigsten Forderungen zur Verhinderung von Selbsttötungen aus Angst vor der Sterbephase sind die Möglichkeit, zu Hause zu sterben, und die Sicherheit einer Schmerzfreiheit garantierenden Medikation. Als Beispiel für ersteres sei auf den Ausbau der privaten Hospiz‐Dienste hingewiesen, welche die Angehörigen pflegerisch entlasten und ergänzen und für eine Restgruppe von Fällen auch besondere Sterbeeinrichtungen unterhalten. In den angelsächsischen und skandinavischen Ländern ist diese Entwicklung offenbar schon sehr viel weiter fortgeschritten als bei uns. Die Verschreibung ausreichender Schmerzmittel hat zur Voraussetzung, daß endlich die deutsche Heldenarzt‐Mentalität überwunden wird, wonach der ordentliche Patient auch ordentlich leidet, damit er nicht noch in seinen letzten Lebenswochen morphiumsüchtig wird.
Für den Fall des Klinikaufenthalts muß die Durchsetzung des Patientenwillens in viel nachdrücklicherer Weise garantiert werden, als das jetzt in der Regel der Fall ist. Das gilt z. B. auch für die Beachtung der sogenannten Patiententestamente mit Verfügungen gegen bestimmte Therapiemaßnahmen. Unbestritten ist es, daß der Kranke seine Zustimmung zu heilenden Eingriffen, etwa einer Operation, versagen kann, auch wenn er damit seinen eigenen Tod bewirkt. Ebenso eindeutig muss sichergestellt sein, daß er lebensverlängernde ‐ ebenso wie alle anderen ‐ Behandlungsmethoden ablehnen kann. Wenn er in der akuten Entscheidungssituation, etwa wegen Bewußtlosigkeit, an der Äußerung seines Willens gehindert ist, muß auf frühere, für solche Situationen überlegt abgegebene Willenserklärungen zurückgegriffen werden.
Hiergegen wird heute noch eingewandt, daß der Patient in der akuten Krankheitssituation möglicherweise doch ganz anders entscheiden würde, als er das in früheren, gesunden Tagen geäußert hat. Dies ist ein schlimmer Fall jener paternalistischen Anmaßung, der man gerade im Zusammenhang mit den Todesproblemen immer wieder begegnet.
Unfähig, nein schlicht unwillig, dem dokumentierten Willen des Patienten zu folgen, wenn er das Sterbenlassen zum Inhalt hat, wird dem nun Handlungsunfähigen schlicht eine Willensänderung untergeschoben bzw. eine hypothetisch denkbare Willensänderung ihrer Potentialität wegen als maßgeblich deklariert, weil sie dem etablierten Behandlungskanon besser entspricht. Was der Patient in seinen gesunden Tagen und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte wohlerwogen für seine letzte Lebensphase verfügt hat, gilt für nichts und wird beiseite geschoben. An seine Stelle tritt die so anmaßende wie willkürliche Fremdentscheidung des Arztes. Es erscheint als dringlich, daß der Gesetzgeber sich dieses und einiger anderer Streitthemen in Sterbefragen endlich einmal annimmt und einer liberalen und humanen Lösung zuführt. Die Unsicherheit darüber, was einen Patienten erwartet, der erst einmal »eingeliefert« worden ist, läßt manchen wahrscheinlich schon vorher den letzten Schritt tun, vielleicht ganz unnötig früh.
Wo die Strategie der Vermeidung von Selbsttötungen an ihre Grenzen stößt, wo der Wille zum Sterben trotz allem die Oberhand gewinnt, da ist er zu respektieren. Dazu genügt es nicht schon, auf den Einsatz von staatlichem Zwang zur Verhinderung von Selbstmorden zu verzichten. Es müssen auch die praktischen Voraussetzungen zur Tatausführung verfügbar sein. Das bedeutet vor allem, daß grundsätzlich jeder Erwachsene für den eigenen Bedarf Zugang zu rasch und schmerzfrei zum Tode führenden Mitteln erhält.
Ich höre freilich schon den Chor unserer fürsorglichen Lebenswächter: wie leicht da etwas in falsche Hände geraten könnte, wie mancher so definitiv gar nicht gemeinte Selbsttötungsversuch plötzlich zum Ernstfall würde und dergleichen mehr.
Angesichts der allemal zur Verfügung stehenden qualvollen und besonders brutalen Formen der Selbsttötung, auf welche die Täter dann zurückgreifen müssen, Formen übrigens, die auch mit Gefährdungen anderer verbunden sind, erscheinen mir die Befürchtungen und Warnungen als wenig überzeugend. Wenn das Recht auf Selbsttötung Grundrechtscharakter hat, wie wir postulieren, dann muß nicht nur die Tötungsentscheidung respektiert, sondern auch die Tötungshandlung in angemessener Weise ausführbar gestaltet werden.
Dazu gehört nicht zuletzt eine Revision der Vorschriften über die Strafbarkeit unterlassener Hilfeleistung. Die jetzige Rechtslage führt zu höchst unbefriedigenden Ergebnissen, weil sie praktisch die Respektierung eines gewollten fremden Sterbens unter Strafe stellt. Einerseits ist die Beihilfe zur Selbsttötung, etwa durch Medikamentenbeschaffung, straffrei. Andererseits erwächst dem anwesenden Helfer mit einsetzender Bewußtlosigkeit des Täters die Verpflichtung, die Ambulanz zu rufen. Das Problem stellt sich besonders akut da, wo in intakten Familien und Lebensgemeinschaften einer sich zum Sterben entschlossen hat und die anderen in schreckliche Widersprüche geraten.
Und was den eigentlichen Zweck des Hilfeleistungsparagraphen in diesem Zusammenhang angeht: Es mag ja sein, daß der eine oder andere Selbstmörder, der auf diese Weise ins Leben zurückgerissen wurde, darüber später ganz zufrieden war. Allerdings mußten dafür andere, denen es mit ihrer Absicht dauerhaft ernst war, doppelt und dreifach sterben, die Schrecklichkeit des Absprungs ein weiteres Mal bestehen. Das scheint mir schlimmer zu sein. Wer den entscheidenden Schritt getan hat, der sollte für unsere wohlmeinenden, aber selten wohltätigen Interventionen unerreichbar sein. Die oben schon angesprochenen Fälle von offensichtlich transitorischer Selbsttötungsmotivation seien wiederum ausgenommen. Hier könnte ‐ in engen Grenzen ‐ nicht nur das Interventionsverbot gelockert, sondern sogar eine Hilfeleistungspflicht statuiert werden. wikipedia Transitorisch
Noch dringender erscheint das Handeln des Gesetzgebers bei einem der schwierigsten Themen unseres Problemkreises: dem selbstbestimmten Sterben der »Insassen«, der Krankenhauspatienten und Heimbewohner. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Gruppe von Menschen mit überdurchschnittlicher Motivation für eine solche Entscheidung. Aber ausgerechnet dieser Personenkreis findet sich in Institutionen eingebunden, in denen die traditionelle Ächtung des Freitods ungemindert fortbesteht und in denen jede praktische Möglichkeit zu einem solchen Schritt rigide unterbunden wird.
Diese Praxis bedeutet einen ebenso unmenschlichen wie durch nichts zu rechtfertigenden Entmündigungsakt ‐ als zusätzliche Strafe zum Verlust der äußerlichen Selbständigkeit. Hier finden tagtäglich Grundrechtsverletzungen in einem Umfang statt, der seinesgleichen sucht ‐ ohne daß dies von der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der den Patienten in Kliniken und Heimen zur Selbsttötung geeignete Medikamente vorenthalten werden, stellt eine weitere unerträgliche Anmaßung paternalistischer Überwölbung dar, wie sie im medizinischen Bereich skandalöserweise gang und gäbe ist. Die Verweigerung, die den Patienten im Kern seines Selbstbestimmungsrechts verletzt, ist in ihrer Art nicht weniger verwerflich, als es das Vorenthalten therapeutischer Hilfe zur Gesundung wäre.
Es kommt hinzu, daß die derzeit übliche Verweigerungspraxis geeignet ist, verstärkt »vorzeitige« Selbsttötungshandlungen zu motivieren. Wer vor der Frage steht, ob er sich stationär behandeln lassen soll, weiß heute, daß er sich damit seines Rechts auf den für sich selbst entschiedenen Tod praktisch be‐ gibt. Bei hinreichend unsicherer Verlaufsprognose und ent‐ sprechender psychischer Disposition liegt darin ein starker Anreiz, die noch vorhandene Handlungsfreiheit zu nützen und den Absprung vorher zu tun.
Einer dringenden Revision bedarf schließlich auch die Vorschrift, die Tötung auf Verlangen unter Strafe stellt. In Fällen, in denen die Selbsttötung an der physischen Handlungsunfähigkeit scheitert, muß eigenes Tun durch fremdes Handeln ersetzt werden können. Wo der ernsthafte Wille zur Selbsttötung außer Frage steht, müssen Angehörige und Pflegepersonal zu ersatzweisem Tun befugt sein. Oft sind dies ja die humanitär dringendsten und persönlich tragischsten Fälle, in denen der Entzug des Rechtes auf Selbsttötung schon in aktive Grausamkeit umschlagen kann. Für die Hilfe, die in solchen Fällen geleistet wird, muß in Deutschland mit einer Freiheitsstrafe gebüßt werden. Die Kriminalisierung der aktiven Sterbehilfe auf Verlangen gehört ebenfalls zu den dunklen Flecken unserer angeblich so freiheitlichen Rechtsordnung.
Auch hier höre ich schon wieder die Stimmen der wohlmeinenden Warner: Wer da nicht alles unter Ausnutzung der eigenen Hilflosigkeit in den Tod gedrängt oder unter der Tarnung erbetener Sterbehilfe schlicht umgebracht würde. - Dies kann man nun nicht einfach abtun. Es ist wohl eine realistische Gefahr, daß alten Menschen, die ihren Verwandten, Pflegern oder in anderer Weise interessierten Personen zu lange leben, eine Art Verpflichtung zur Selbsttötung suggeriert wird.
Das Selbstwertgefühl Älterer, Behinderter, chronisch Kranker ist häufig beeinträchtigt, ihr Lebenswille herabgesetzt. Da läßt sich schon vorstellen, wie ein Opfer nach und nach zur Selbstaufgabe gedrängt wird und es schließlich als eigene Pflicht empfindet, sich selbst zu töten oder die Tötung zu verlangen. Diese Besorgnis kommt sehr eindringlich in dem folgenden Zitat von Spaemann (FAZ v. 31.8.90) zum Ausdruck:
»Im Übrigen gibt es ja auch in der Tat eine fließende Grenze von der Tötung um der Gesellschaft willen und der Tötung um des Wohlbefindens des Kranken willen. Wenn einmal die Tötung auf Verlangen freigegeben ist, dann ist es vorauszusehen, daß sie endlich den Wunsch äußern, getötet zu werden. Wenn ein chronisch leidender Mensch sieht, wie er seinen Mitmenschen zur Last fällt, und wenn er weiß, daß er sie von dieser Last befreien kann durch einen Tötungswunsch, und wenn er weiter weiß, daß jedermann es für akzeptabel hält, einen solchen Wunsch zu äußern, dann wird in der Tat für ihn persönlich das Weiterleben unerträglich, und er wird schließlich wirklich den Wunsch äußern, um sich von einem unerträglichen Leiden zu befreien. Aber das Leiden ist dadurch verursacht, daß es nun als seine persönliche Schuld erscheint, wenn andere Lebenszeit, Kraft und Geld aufwenden müssen, um ihn zu pflegen. Schuldlos ist er nur, wenn die Äußerung eines solchen Wunsches oder gar seine Erfüllung völlig außer Diskussion steht.«
Nur, ist es wirklich so, daß, bei einer konditionierten Freigabe der Tötung auf Verlangen »man von den alten und kranken Menschen erwarten wird, daß sie endlich den Wunsch äußern, getötet zu werden«?
Ich bezweifle sehr, daß unsere zugegebenermaßen oft recht robusten Egoismen sich zu solchen radikal unsolidarischen Verhaltensformen normieren ließen. Schließlich wissen auch die angeblich so Drängenden, daß aus ihnen morgen Gedrängte werden würden. Und was das schlechte Gewissen der Kranken wegen der Inanspruchnahme von Geld, Kraft und Lebenszeit anderer angeht, so sind diese ja ihrerseits künftige Empfänger ähnlicher Dienste. So viel vom Generationenvertrag dürfte uns inzwischen allgemein bewußt geworden sein. Die hier denkbare Spannung wäre freilich dadurch zu mindern, daß der pflegebedürftige alte oder kranke Mensch über ausreichend eigene Mittel und Rechtsansprüche verfügte, daß er sich nicht als Almosenempfänger empfinden muß. In der materiellen Grundsicherung der menschlichen Existenz über alle Wechselfälle hinweg sind die nötigen Mindestausgleiche zwischen Arm und Reich in der Tat noch längst nicht vollzogen.
Die geäußerten Sorgen sind also verständlich. Aber um ihnen entgegenzutreten, muß man nach anderen Methoden suchen, als es die sind, hilflosen Menschen wegen ihrer Hilflosigkeit das essentielle Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben zu entziehen. Weil es sein könnte, daß in diesem oder jenem Fall andere das Tötungsverlangen mißbräuchlich provoziert haben, wird für eine ganze Bevölkerungsgruppe das Recht zur Selbsttötung insgesamt schlicht kassiert. Ja, nach Spaemann soll sogar der bloße Wunsch nach dem eigenen Tod »völlig außer Diskussion« stehen.
wikipedia Robert_Spaemann *1927 in Berlin bis 2018
Sogar das Denken und Wünschen werden verboten. Armes Grundgesetz.
Dabei soll nicht bestritten werden, daß zur Erfüllung der hier vorgetragenen Forderungen auch eine Reihe psychologischer Schwierigkeiten überwunden werden muß. Viele Ärzte, Schwestern, Pfleger lehnen es ab, in irgendeiner denkbaren Form an einer Todesverursachung beteiligt zu sein. Sogar die passive Sterbehilfe, also ein Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen ohne Heilungschance ‐ ganz gleich, ob der Patient sie wünscht oder nicht ‐, ist nicht überall selbstverständlich. Eine rationale Begründung für eine solche Haltung gibt es nicht. Ein bedeutsamer Faktor ist vermutlich die auch in den medizinischen Berufsfeldern verbreitete Abneigung dagegen, sich den Todesproblemen zu stellen und sie sich zu Eigen zu machen. Auch scheut man in Deutschland verständlicherweise möglichst alle Berührungspunkte mit dem benachbarten Themenkreis Euthanasie. Die Mordpraxis des NS‐Staates wirft da noch ihre langen Schatten.
Aber nichts dergleichen soll ja irgendjemandem zugemutet werden. Die Sicht der Dinge verändert sich auch, wenn man den Gedanken des Dienstes am Nächsten als eines zur Selbstbestimmung Geborenen ‐ statt eines Pflegeobjekts ‐ in den Mittelpunkt rückt. Solches Dienen und Helfen kann sich dann nur im Respekt vor der Autonomie des Patienten vollziehen und darf dessen negative Lebensentscheidung nicht ausschließen ‐ auch wenn man sie selbst mißbilligen sollte. Allerdings sind die herkömmlichen Machtpositionen gerade zwischen Arzt und Patient so extrem ungleichgewichtig, daß viele Mediziner schon gar nicht mehr bemerken, ja wohl auch nie bemerkt haben, mit welch anmaßender Bevormundung sie im Leben anderer herumfuhrwerken. (Ihr anderen, die es zum großen Glück ja auch gibt, verzeiht mir ‐ aber Ihr seid so selten!)
Im übrigen wird man mit einiger Sicherheit annehmen dürfen, daß bei klarer rechtlicher Regelung genügend viele Ärzte und Pfleger sich einem ernsthaften und nachvollziehbaren Wunsch auf ersatzweise Tätigwerden für die physisch unmögliche Selbsttötung nicht entziehen würden. Für den Kreis derer, die jetzt schon aus Solidarität so handeln, seien es Ärzte, Pfleger oder vor allem Angehörige, entfiele die durch nichts zu rechtfertigende Kriminalisierung eines aus Mitmenschlichkeit erwachsenen, schwer zu vollbringenden Tuns.
Den Angehörigen, den ganz Nahestehenden dessen, der sein Sterben will, wird freilich in fast jedem Fall schier Unerträgliches zugemutet. Die Rolle des Lebenspartners ist in diesem Falle auch dann schrecklich, wenn ihm nicht einmal aktive Hilfe, sondern nur ruhiges Geschehenlassen angesonnen wird. Wie soll da einer gefaßt zusehen, wenn der wichtigste, vertrauteste, vielleicht seit Jahrzehnten ins eigene Ich eingewachsene andere sich auf seinen verzweifelten Absprungspunkt hinbewegt. Und wie auf den Aufschlag warten. Allerdings, wäre der heimlich davongefahren und hätte die Sache im fremden Hotelzimmer diskret erledigt, so wäre es Verrat gewesen und auch ohne Trost.
Wir haben diesen Abschnitt über den Selbstmord mit einem Satz begonnen, der hier im Blick auf die Zurückbleibenden noch einmal wiederholt werden soll: Jedes Mal, wenn ein Mensch sich selbst tötet, geschieht etwas Schreckliches - noch über die Schmerzlichkeit jedes anderen Sterbens hinaus.
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Martin Neuffer Nein zum Leben Ein Essay 1992