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1  Einleitung

 

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Ich möchte über das Leben nachdenken und über das, was im Leben wichtig ist, ich möchte Klarheit in meinem Denken schaffen — und auch in meinem Leben. Meistens neigen wir dazu — ich tue das auch —, mit Automatiksteuerung zu leben: wir folgen den Selbsteinschätzungen und den Zielen, die wir früh erworben haben, und nehmen an ihnen nur geringfügige Änderungen vor.

Zweifellos bringt es gewisse Vorteile — einen Zuwachs an Zielstrebigkeit oder Effizienz —, wenn man etwas gedankenlos frühe Ziele in relativ unveränderter Form verfolgt, aber es gibt auch einen Verlust, wenn wir von dem noch nicht ausgereiften Weltbild, das wir uns als Jugendliche oder junge Erwachsene geformt haben, durchs Leben geleitet werden. 

Freud beschrieb eindrucksvoll die starken und nachhaltigen Wirkungen eines noch früheren Lebensabschnittes: wie die leidenschaftlichen Begierden, das unzulängliche Verständnis, das beschränkte emotionale Milieu, die eingeschränkten Möglichkeiten und die begrenzten Bewältigungsverfahren, über die das Kind verfügt, sich in seinem Gefühlsleben und seinen Reaktionen als Erwachsener festsetzen und ihn weiterhin beeinflussen. 

Diese Situation ist, gelinde gesagt, unschön — würden Sie eine intelligente Spezies entwerfen, die so dauerhaft von ihrer Kindheit geprägt ist, eine, deren Emotionen keine Halbwertzeit besitzen und bei der man sich nur mit großer Mühe auf Verjährung berufen könnte? Eine ähnliche Überlegung gilt für das frühe Erwachsenenalter. Es bedeutet keine Herabsetzung junger Erwachsener, wenn man findet, daß sie zu diesem Zeitpunkt nicht genug wissen konnten, um die Richtung eines ganzen Lebens festzulegen oder zu verstehen. Es wäre traurig, wenn unterwegs nichts Wichtiges über das Leben gelernt würde.

Das Leben oder die Tätigkeit des Lebens stellen nicht den Typ von Thema dar, dessen Untersuchung Philosophen besonders lohnend finden. Gebt uns spezifische Probleme zum Lösen oder Paradoxa zum Auflösen, scharfsinnige Fragen mit genügend Ecken und Kanten, ein kunstvolles intellektuelles Gebäude, in dem wir uns bewegen oder das wir abwandeln können, und dann sind wir in der Lage, präzise eine Theorie auszuarbeiten, intuitive Prinzipien in überraschende Konsequenzen zu verfolgen und intellektuelle Pirouetten zu vollführen, wobei wir ständig klaren Erfolgsmaßstäben entsprechen. Ein Nachdenken über das Leben ist jedoch mehr wie ein Nachsinnen, und das vollständigere Verständnis, zu dem es führt, fühlt sich nicht wie das Überschreiten einer Ziellinie an, bei dem es einem immer noch gelingt, den Stab festzuhalten; es fühlt sich an, als werde man erwachsener.

 

Philosophische Meditationen über das Leben präsentieren ein Porträt, keine Theorie. Dieses Porträt mag aus theoretischen Stücken bestehen — aus Fragen, Unterscheidungen, Erklärungen. Warum ist Glück nicht das einzige, worauf es ankommt? Wie wäre die Unsterblichkeit beschaffen, und was wäre ihr Kern? Sollte ererbter Reichtum über viele Generationen hinweg weitergegeben werden? Sind östliche Erlösungslehren begründet? Was ist Kreativität, und warum verschieben Menschen die Inangriffnahme verheißungsvoller Vorhaben? Was wäre verloren, wenn wir niemals Emotionen empfänden und doch lustvolle Gefühle haben könnten? Wie hat der Holocaust die Menschheit verändert? Was ist schief, wenn einem Menschen hauptsächlich an persönlichem Reichtum und Macht liegt? 

Kann ein religiöser Mensch erklären, warum Gott die Existenz des Bösen zuläßt? Was ist besonders wertvoll an der Art und Weise, in der romantische Liebe einen Menschen verändert? Was ist Weisheit und warum lieben Philosophen sie so? Was sollen wir von der Kluft zwischen Idealen und den tatsächlichen Verhältnissen halten? Sind manche existierenden Dinge wirklicher als andere, und können wir selbst auch wirklicher werden? Doch die Verkettung dieser Theoriebrocken stellt nichtsdestoweniger ein Porträt dar.

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Stellen Sie sich vor, welchen Eindruck Sie haben, wenn Sie vor einem gemalten Porträt stehen — einem Bild von Raffael oder Rembrandt oder Holbein beispielsweise — und es dann auf sich wirken lassen. Denken Sie auch daran, wie sich dies von der Lektüre einer klinischen Beschreibung eines bestimmten Menschen oder einer allgemeinen psychologischen Theorie unter­scheidet.

Das Verständnis, das man bei der Prüfung eines Lebens gewinnt, durchdringt nun dieses Leben und bestimmt seine Richtung. Ein geprüftes Leben zu leben bedeutet, ein Selbstporträt herzustellen. Wenn uns Rembrandt aus seinen späteren Selbstporträts anblickt, dann ist er nicht einfach jemand, der so aussieht, sondern jemand, der sich als solchen sieht und kennt, mit dem Mut, den das erfordert. Wir sehen ihn als einen, der sich kennt. Und er blickt unerschrocken auch auf uns, die wir sehen, wie er so unerschrocken auf sich selbst blickt, und eben dieser Blick zeigt ihn uns nicht nur als einen, der dies weiß, er wartet vielmehr geduldig darauf, daß auch wir mit gleicher Aufrichtigkeit Menschen werden, die sich selbst kennen.

Wie kommt es, daß kein Foto eines Menschen die Tiefe hat, die ein gemaltes Porträt besitzen kann? 

Beide umschließen verschiedene Zeitquanten. Ein Foto ist ein »Schnappschuß«, ob gestellt oder nicht; es zeigt einen bestimmten Augenblick und läßt erkennen, wie der Mensch gerade zu diesem Zeitpunkt aussah, was seine Oberfläche zeigte. Während der langen Stunden dagegen, in denen man für ein Porträt Modell sitzt, legt man ein Spektrum von Zügen, Emotionen und Gedanken an den Tag, die alle in wechselndem Licht zutage treten. Indem der Maler verschiedene Eindrücke von dem Menschen verbindet und hier einen Aspekt, dort eine Muskelanspannung, einen Lichtschimmer oder eine vertiefte Linie auswählt, verwebt er diese verschiedenen Flächenteile, die nie zuvor gleichzeitig an den Tag gelegt wurden, und bringt so ein vollständigeres Porträt hervor, und ein tieferes.

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Der Porträtmaler kann einen winzigen Aspekt von allem, was sich in einem Augenblick zeigte, auswählen, um ihn in das endgültige Bild einzuarbeiten. Ein Fotograf könnte versuchen, das nachzubilden, indem er Aspekte vieler Aufnahmen des Gesichts zu verschiedenen Zeiten isoliert und übereinanderlegt und miteinander verbindet. Könnten diese zahlreichen sorgfältigen Auswahlvorgänge dann zu einem Abzug des Fotos führen, der die volle Tiefe eines Gemäldes erreichte? 

(Das Experiment würde sich lohnen, und sei es nur, um das herauszuarbeiten, was das Besondere an der Malerei selbst gegenüber einem hochgradig künstlich beeinflußten fotografischen Prozeß ist, was für einen Beitrag beispielsweise die besonderen Tonwerte von Ölfarbe und das taktile Mitschwingen verschiedener Verfahren leisten, mit denen die Farbschichten aufgetragen und aufgebaut werden.) 

Ein Maler kann jedoch während der Stunden, die er mit seinem Modell verbringt, Dinge kennenlernen, die die sichtbare Oberfläche nicht zeigte — was der Mensch sagte, wie er sich anderen gegenüber verhielt —, und er kann daher Einzelheiten hinzufügen oder hervorheben, um das an die Oberfläche zu bringen, was in tieferen Schichten angesiedelt ist.

Der Maler konzentriert einen Menschen über eine längere Zeitspanne hinweg auf eine Erscheinung in einem Augenblick, die jedoch nicht vollständig in einem Augenblick aufgenommen werden kann. Weil in einem Gemälde so viel mehr Zeit konzentriert ist als in einem Foto, möchten und müssen wir mehr Zeit davor verbringen, in der sich der Mensch entfalten kann. 

Auch in unserer eigenen Erinnerung sind uns vielleicht Menschen in einer Weise gegenwärtig, die mehr Gemälden als Schnappschüssen ähnelt, indem wir zusammengesetzte Bilder schaffen, die Einzelheiten enthalten, die wir im Verlauf vieler Stunden des Sehens ausgesucht haben; ein Maler täte dann mit größerem Geschick und in kontrollierterer Weise, was unsere Erinnerung spontan tut.

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Konzentriertheit liegt auch dem Reichtum, der Tiefe und der Scharfeinstellung zugrunde, die ein Roman im Vergleich zu einem Film erreichen kann. Ein hervorstechender Aspekt des Verhaltens läßt sich mit Worten so beschreiben, daß man andere dabei ausschließt — das bildliche Auge nimmt alle Züge auf, die gleichzeitig sind —, und der Schriftsteller, kann diese ausgewählten hervortretenden Aspekte zu einem prächtigen Gewebe verknüpfen. Es gibt nicht nur eine Konzentration des Details, das Denken selbst wird konzentriert, während der Romancier in Entwurf auf Entwurf seine Sätze zu einem Werk umformt, das stärker durchgearbeitet und kontrolliert ist. Das Schneiden von Filmen dagegen setzt verschiedene bereits aufgenommene Stücke zusammen — doch auch der Film kann Konzentration erreichen, wie vielfach betont worden ist, indem man Nahaufnahmen und Aufnahmen, die zu verschiedenen Zeitpunkten aus verschiedenen Perspektiven gemacht worden sind, zusammenfügt.

Es ist allerdings wahrscheinlich, daß mehr Jahre des Denkens darauf verwandt werden, den Inhalt eines Romans zu gestalten und sein Gefüge — man denke hier an die großen Romane des 19. Jahrhunderts — dichter werden zu lassen als das eines Films. Auch Denken und mühevolle Anstrengung lassen sich darauf verwenden, Sprache zurechtzuschneiden — wie bei Beckett —, und gerade diese Knappheit dient einer unvergleichlichen Intensität der Scharfeinstellung. Ich will damit keine Werttheorie intellektueller Arbeit aufstellen, die sich auf »Zeit durchdachter Produktion« konzentriert und dabei Unterschiede in Talent und Inspiration ignoriert. 

Ich will auch nicht die Existenz von konzentrierten Filmen leugnen, deren Regisseure jahrelang über sie nachgedacht haben; Kurosawas Ran und Bergmans Fanny und Alexander sind zwei neuere Beispiele. Doch unter sonst gleichen Voraussetzungen wird etwas um so mehr gestaltet, bereichert und mit Bedeutung geladen, je konzentrierteres Denken in seine Hervorbringung eingeht. So ist es auch mit dem Führen eines Lebens.

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Die Aktivitäten eines Lebens werden von Prüfungen durchzogen, nicht nur von ihnen beeinflußt, und der Charakter dieser Aktivitäten ist anders, wenn sie von den Ergebnissen konzentrierter Reflexion durchdrungen werden. Ebenso wie die Alternativen, auf die man verzichtet hat, werden sie im Rahmen der Hierarchie von Gründen und Zielen, die sich aus der Prüfung ergeben haben, anders interpretiert.

Und da wir die Komponenten unseres Lebens einschließlich seiner Aktivitäten und Bestrebungen als Elemente sehen können, die sich in einem Muster zusammenfügen, ergibt sich, wenn eine weitere charakter­istische Komponente wie Reflexion hinzugefügt wird, ein neues Gesamtmuster — ebenso wie bei der Hinzufügung weiterer naturwissenschaftlicher Daten, die in eine Kurve gebracht werden sollen. Auch die alten Komponenten werden dann anders gesehen und verstanden, ebenso wie frühere naturwissenschaftliche Datenpunkte jetzt als Bestandteile einer neuen Kurve oder Gleichung gesehen werden. Prüfung und Reflexion handeln daher nicht lediglich von den anderen Komponenten des Lebens; sie werden innerhalb eines Lebens hinzugefügt, zusammen mit dem Rest, und durch ihre Gegenwart verlangen sie nach einem neuen Gesamtmuster, das die Art und Weise verändert, in der jeder Teil des Lebens verstanden wird.

Es gibt sehr wenige Bücher, die das behandeln, was ein reifer Mensch glauben kann — jemand, der vollständig erwachsen ist, meine ich. Aristoteles' Ethik, Mark Aurels Meditationen, Montaignes Essais und die Essays von Samuel Johnson fallen einem ein. Selbst bei diesen Schriften akzeptieren wir nicht einfach alles, was gesagt wird. 

Die Stimme des Autors ist niemals genau unsere eigene; das Leben des Autors ist niemals das unsere. Es wäre sowieso beunruhigend, wenn wir feststellten, daß ein anderer Mensch genau unsere Ansichten hat, mit unserer besonderen Sensibilität reagiert und genau dieselben Dinge für wichtig hält. 

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Dennoch können wir etwas von diesen Büchern gewinnen, indem wir uns in ihrem Licht abwägen und betrachten. Diese Bücher — und auch einige, die nicht so offenkundig erwachsen sind, Thoreaus Walden und die Schriften Nietzsches beispielsweise — fordern uns auf oder drängen uns, gemeinsam mit ihnen zu denken und dabei unsere eigenen Richtungen einzuschlagen. Wir sind mit den Büchern, die wir lesen, nicht identisch, aber wir wären auch nicht dieselben ohne sie.

Nietzsche läßt seinen Zarathustra sagen: »Das — ist nun mein Weg, — wo ist der eure? Den Weg nämlich — den gibt es nicht.«

Ich behaupte nicht mit Nietzsche; daß der Weg nicht existiert — ich weiß es einfach nicht —, auch wenn ich mich frage, warum wir so danach verlangen. Doch alles, was dieses Buch zu bieten versucht, ist meine Version unseres Lebens — so offen und ehrlich und durchdacht, wie ich kann. Ich frage aber auch, nicht nur hier, sondern ständig, welches ist Ihr Weg? Vielleicht klingt diese Frage aggressiv, wie die Herausforderung, eine adäquatere Auffassung als meine vorzulegen, wenn Sie anderer Meinung sind; was auf die Rücknahme meines Anspruchs hinausliefe, nur einen Weg zu präsentieren. Aber ich stelle sie als Mitmensch, beschränkt in dem, was ich weiß und schätze, in dem, was ich an Sinn erkennen und beschreiben kann, als einer, der vom anderen lernen will. Meine Gedanken zielen nicht auf Ihre Zustimmung — stellen Sie sie einfach eine Zeitlang neben Ihre eigenen Reflexionen.

Ich sage nicht mit Sokrates, daß das ungeprüfte Leben nicht wert ist gelebt zu werden — das ist unnötig schroff. Doch wenn wir unser Leben von unseren eigenen erwogenen Gedanken leiten lassen, dann ist es unser Leben, das wir führen, und nicht das eines anderen. In diesem Sinne wird das ungeprüfte Leben nicht so voll gelebt.

Eine Prüfung des Lebens macht sich alles zunutze, was man anwenden kann, und formt einen völlig. Es ist für uns schwierig zu begreifen, worauf die Schlußfolgerungen eines anderen über das Leben genau hinauslaufen, wenn wir nicht sehen, wie dieser Mensch aussieht, der zu diesen Schlußfolgerungen paßt und der zu ihnen gelangt.

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Wir müssen daher dem Menschen begegnen — der Gestalt des Sokrates in den Frühdialogen Platons, der Gestalt Jesu in den Evangelien, Montaigne in seiner eigenen Stimme, Thoreau in einer autobiographischen Form, Buddha in seinen Handlungen und Reden. Um das einzuschätzen und abzuwägen, was sie uns sagen, müssen wir einschätzen und abwägen, was sie sind.

Die philosophische Tradition seit Platon ist bestrebt gewesen, die Ethik zu begründen, indem sie zeigte, daß unser eigenes Wohlbefinden durch ethisches Verhalten unterstützt oder gesteigert wird. Um dies glaubhaft zu machen, müßte man zunächst verstehen, was im Leben wichtig ist, und die Rolle und die Wichtigkeit ethischen Verhaltens dann von daher beschreiben. Meine Meditationen beginnen auch in einigem Abstand von ethischen Erwägungen; durch Abstrahieren von der Ethik wird es leichter, über die Heilungsfunktion hinweg auf das zu sehen, womit unser Leben in einer Zeit befaßt wäre, in der die Menschen nicht mehr verzweifelt Hilfe brauchten. 

Wenn jedoch die Ethik erst nachträglich ins Spiel kommt, dann nimmt sie einen unverhältnismäßig kleinen Raum ein, und die Diskussion bis dahin wird durch ihre Abwesenheit beeinflußt. Es wäre vielleicht angemessener, wenn ein Buch über das Leben einem perspektivischen Gemälde ähnelte, auf dem die wichtigen Gegenstände einen großen Raum im Vordergrund einnehmen und jedes Ding eine Größe oder Augenfälligkeit hat, die seiner Wichtigkeit proportional ist.

Der Leser, der das Ende dieses Buches erreicht, wird seine Gedanken zurück auf das richten müssen, was vorher kam, und es von neuem im Lichte der Ethik sehen müssen, die danach kommt, so als sei er durch ein Gemälde in den Hintergrund gewandert und habe sich jetzt umgewendet, um das, was er früher gesehen hatte, aus dieser neuen und sehr ausgeprägten Perspektive zu betrachten.

Während ich jetzt über das reflektiere, was im Leben wichtig ist, habe ich nichts als mein gegenwärtiges Verständnis, das zum Teil auf dem beruht, was mir die Dinge sagen, die andere verstanden haben, und dieses Verständnis wird sich zweifellos wandeln.

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Bevor man dem, was andere geschrieben haben, etwas hinzufügt, sollte man da nicht mit Anstand auf sein reifstes Denken warten oder gar eine Veröffent­lichung nur postum vorsehen? Solche Gedanken könnten jedoch in anderer Hinsicht etwas verlieren — an Energie oder Lebhaftigkeit beispielsweise. Wir können von vorläufigen Ausdrucksweisen eines anderen, von Gedanken, die noch im Fluß sind, zum Denken bewogen werden.

Wir wollen uns nicht auf ein bestimmtes Verständnis festlegen oder uns darin verschließen. Diese Gefahr ist für Menschen, die schreiben, groß; im Bewußtsein der Öffentlichkeit oder in ihrem eigenen kann es leicht dahin kommen, daß sie mit einer bestimmten »Position« identifiziert werden. Da ich selbst früher ein Buch aus dem Bereich der politischen Philosophie geschrieben habe, das eine spezifische Sicht markierte, ein Buch, das mir heute in erheblichem Maße unzulänglich erscheint — ich werde dazu noch einige Worte sagen —, bin ich mir in besonderem Maße der Schwierigkeit bewußt, eine intellektuelle Vergangenheit zu überwinden oder ihr zu entkommen. 

Andere Menschen stellen an mich im Gespräch oft das Ansinnen, ich solle diese »libertäre« Position eines jungen Mannes weiterhin vertreten, und das, obwohl sie selbst sie ablehnen und es wahrscheinlich lieber sähen, wenn sie nie jemand vertreten hätte. Zum Teil ist das vielleicht auf die psychische Ökonomie der Leute zurückzuführen — ich spreche hier auch von meiner eigenen. 

Wenn wir Menschen einmal eingeordnet haben und uns über das im klaren sind, was sie sagen, begrüßen wir keine neuen Informationen, die uns dazu nötigen würden, sie abermals zu verstehen und zu klassifizieren, und wir nehmen es ihnen übel, daß sie uns dazu zwingen, hierauf erneut Energie zu verwenden, wenn wir in ihrer Richtung schon mehr als genug davon aufgebracht haben! Ich täte gut daran, etwas reuig einzugestehen, daß auch diese Meditationen ihre eigene verzögernde Schwerkraft ausüben können.

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Doch es sind nicht direkt Positionen, die ich hier vortragen möchte. Als ich jünger war, hielt ich es für wichtig, so ziemlich zu jedem Thema eine Meinung zu haben: Euthanasie, Gesetzgebung über Mindest­löhne, wer der nächste Sieger in der amerikanischen Baseballiga sein würde, ob Sacco und/oder Vanzetti schuldig waren, ob es synthetische notwendige Wahrheiten gibt — die Liste läßt sich fortsetzen. 

Wenn mir jemand begegnete, der eine Meinung über ein Thema hatte, von dem ich noch nicht einmal gehört hatte, empfand ich das Bedürfnis, mir auch eine zu bilden. Heute wird es mir sehr leicht zu sagen, ich habe keine Meinung zu etwas und brauche auch keine, selbst wenn das Thema in der Öffentlichkeit heftig umstritten ist, und so bin ich etwas verwirrt über meine frühere Haltung. 

Es ist nicht direkt so, daß ich dogmatisch war; ich war für Gründe zur Abänderung einer Meinung durchaus offen, und ich versuchte nicht, meine Meinung anderen aufzudrängen. Ich mußte einfach irgendeine Meinung haben — ich war »meinungsbedacht«. Vielleicht sind Meinungen besonders nützlich für die jungen Menschen. Auch die Philosophie ist ein Gegenstand, der anscheinend Meinungen herausfordert, »Positionen« zum freien Willen, zur Natur des Wissens, zum Status der Logik usw. In diesen Meditationen genügt es jedoch, ja, es wäre vielleicht sogar besser, Themen einfach zu durchdenken.

Das, worum es mir hier beim Schreiben geht, ist das Ganze unseres Seins; ich möchte zu Ihrem ganzen Sein sprechen und von dem meinen aus schreiben. Was kann dies bedeuten; was sind die Teile unseres Seins; was ist das Ganze? Platon unterschied drei Teile der Seele: den verstandesmäßigen Teil, den tapferen Teil und die Begierden oder Leidenschaften. Er ordnete diese Teile in dieser Reihenfolge und war der Meinung, daß das harmonische Leben, auch das beste Leben, eines sei, in dem der verstandesmäßige Teil über die beiden anderen Teile herrschte. (Wir könnten Beziehungen anstreben, die noch harmonischer wären als solche, in denen der eine Teil die anderen beherrscht.) 

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Freud präsentierte bekanntlich zwei Unterteilungen, die zueinander in unbestimmtem Verhältnis stehen: Sie eine des Selbst in Ich, Es und Überich; die andere von Erscheinungsweisen des Bewußtseins in bewußte und unbewußte (und auch vorbewußte) — alternative Kategorieneinteilungen sind von neueren Psychologen vorgelegt worden. Einige Autoren haben die Ansicht vertreten, daß es einen imaginativen Teil des Selbst gibt, der sich nicht leicht mit dem rationalen Teil in eine lineare Rangfolge bringen läßt. Ostliche Anschauungen sprechen von geschichteten Energiezentren und Bewußtseinsebenen. Auch das Selbst könnte sich als nur eine besondere Struktur erweisen, als ein Teil oder Aspekt unseres gesamten Seins. Einige haben behauptet, es gebe einen spirituellen Teil, der höher angesiedelt sei als alle übrigen.

Das, was in der Philosophie geschieht, ist nun, daß ein und derselbe Teil spricht und zuhört, das verstandes­mäßige Bewußtsein spricht zum verstandes­mäßigen Bewußtsein. Es ist nicht darauf beschränkt, nur von sich selbst zu reden; behandelt werden können auch andere Teile unseres Seins, andere Teile des Kosmos. Dennoch fungiert als Sprecher ebenso wie als Hörer der rationale Teil des Geistes.

Die Geschichte der Philosophie läßt jedoch ein vielgestaltigeres Muster erkennen. Platon argumentierte und entwickelte abstrakte Theorien, aber er sprach auch sinnreiche Mythen aus, die im Gedächtnis haften bleiben — über Menschen in einer Höhle, über getrennte Seelenhälften. Descartes verankerte seine wirkungsmächtigste Schrift in dem, was damals katholische Meditationspraxis war; Kant sprach seine Ehrfurcht vor zwei Dingen aus: dem gestirnten Himmel über ihm und dem moralischen Gesetz in ihm. Nietzsche und Kierkegaard, Pascal und Plotin: die Liste ließe sich fortsetzen. Doch die vorherrschende zeitgenössische Betrachtungsweise im Bereich der Philosophie ist »gesäubert« worden und beläßt eine Tradition, in der der rationale Geist (nur) zum rationalen Geist spricht.

Diese gereinigte Aktivität hat einen Wert, der wirklich und bleibend ist — ich erwarte, daß mein nächstes Werk auf kargere Tugend zielen wird. Doch es gibt keinen überwältigenden Grund, alle Philosophie darauf zu beschränken. Wir kommen ursprünglich zur Philosophie als Menschen, die über Dinge nachdenken wollen, und die Philosophie ist nur ein Weg, das zu tun; sie braucht die Methoden von Essayisten, Lyrikern, Romanciers oder Schöpfern anderer symbolischer Strukturen nicht auszuschließen — Verfahren, die auf verschiedene Weise nach Wahrheit trachten und zusätzlich noch nach anderen Dingen.1)

Doch die verschiedenen Teile unseres Seins sind selbst nicht in ähnlicherweise voneinander getrennt. Etwas muß zu ihnen in ihrer Gesamtheit sprechen, um ein Modell dafür zu liefern, wie sie miteinander vereinigt werden sollen. Selbst ein Versuch, der letztlich scheitert, kann unser latentes Bedürfnis wecken und ihm dabei dienen.

Einstmals versprach die Philosophie mehr als bloße Gedankeninhalte. »Bürger von Athen«, fragte Sokrates, »du schämst dich nicht, dich um möglichst viel Geld, Ruhm und Ehre zu sorgen, aber um Einsicht, Wahrheit und darum, daß die Seele so gut wie möglich werde, sorgst und kümmerst du dich nicht?« Er sprach vom Zustand unserer Seelen, und er zeigte uns den Zustand seiner eigenen.

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