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2. Sterben

 

 

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Man sagt, kein Mensch sei fähig, die Möglichkeit seines oder ihres eigenen Todes ernst zu nehmen, aber das drückt die Sache nicht ganz richtig aus. (Nimmt jeder, nimmt jede die Möglichkeit seines oder ihres eigenen Lebens ernst?)

Der eigene Tod eines Menschen wird für ihn nach dem Tode beider Eltern wirklich. Bis dahin gab es einen anderen, von dem »zu erwarten war«, daß er vor ihm sterben würde; jetzt, da niemand zwischen ihm und dem Tode steht, ist er »an der Reihe«. (Nimmt man an, daß sich der Tod an eine Reihenfolge hält?)

Die Einzelheiten können jedoch verschwommen sein. Als Einzelkind weiß ich nicht, ob man annimmt, daß ältere Geschwister als erste gehen. Admet ging so weit, seine Eltern darum zu bitten, sie möchten an seiner Stelle sterben — aber er bat dann auch seine Gattin Alkeste darum. 

Mein zweiundachtzigjähriger Vater ist jetzt kränklich, meine Mutter lebt seit über zehn Jahren nicht mehr. Mit der Sorge um meinen Vater mischt sich der Gedanke, daß er mir einen Weg bahnt; ich glaube jetzt fast, daß ich auch in die Achtziger kommen und — weniger erfreulich — vielleicht ähnliche Nöte erfahren werde.  [Der Autor ist 2002 mit 63 Jahren an Krebs gestorben. Zum Zeitpunkt der Niederschrift war er 50 Jahre alt.]

Menschen, die sich das Leben nehmen, markieren für ihre Kinder ebenfalls einen Weg, indem sie ihnen die Erlaubnis eines Vaters oder einer Mutter geben, ihrem Leben ein Ende zu machen. Die Identifikation beschließt dann, was Gene möglicherweise beginnen.

Wie ungern jemand stirbt, sollte — glaube ich — davon abhängen, was er ungetan gelassen hat, und auch von seiner verbleibenden Kapazität, Dinge zu tun. Je mehr von dem, was er als wichtig betrachtete, getan ist, und je geringer die Kapazität ist, die ihm bleibt, desto bereitwilliger sollte er sein, dem Tod ins Auge zu sehen. Man nennt einen Tod »vorzeitig«, wenn er ein Leben beendet, in dem noch vieles möglich war, das nun unerfüllt geblieben ist.

Wenn man aber nicht mehr die Fähigkeit hat zu tun, was ungetan ist, oder wenn man alles getan hat, was man als wichtig ansah, dann sollte man — das will ich sagen — nicht so große Abneigung gegen das Sterben haben. (Doch wenn nichts Wichtiges möglich ist oder übrig bleibt, könnte es dann nicht selbst unter diesen Umständen eine der wichtigen Seinsweisen sein, jemand zu sein, der fortbesteht? Und wenn man alles getan hat, was man als wichtig ansah, könnte man sich dann nicht ein neues Ziel setzen?)

Im Prinzip sollte das Bedauern eines Menschen beim Nahen des Todes von allen wichtigen Handlungen beeinflußt werden, die unausgeführt blieben. Einige besonders herausragende Hoffnungen oder Leistungen könnten jedoch als Ersatz für den Rest stehen; »ich habe es nie geschafft, das zu tun«, könnte jemand denken oder »da es das in meinem Leben gegeben hat, kann ich beruhigt sterben«.

Könnten Formeln mehr Präzision in diese Dinge bringen? 

Wir können das Bedauern eines Menschen über die Weise, in der er gelebt hat, auf das Verhältnis zurückführen, das zwischen den wichtigen Dingen, die er ungetan gelassen hat (die er einst hätte tun können), und den wichtigen Dingen, die er getan hat, besteht. (Aus dieser Formel folgt, daß sein Bedauern um so größer ist, je mehr er ungetan gelassen hat oder je weniger er getan hat.)

Der Grad seiner Zufriedenheit mit seinem Leben ließe sich genau durch das entgegengesetzte Verhältnis bestimmen, so daß seine Zufriedenheit um so größer ist, je mehr er getan hat oder je weniger er ungetan gelassen hat. Und sein Bedauern über das Sterben zu eben diesem Zeitpunkt — das etwas anderes ist als sein Bedauern über die Weise, in der er gelebt hat — ließe sich auf das Ausmaß zurückführen, in dem der Tod sein Tätigsein abschneidet — das heißt, auf den Prozentsatz wichtiger Dinge, die er noch nicht getan hat und zu denen er noch fähig ist. Auch wenn wir solche Messungen nicht exakt ausführen können, ist es aufschlußreich zu sehen, zu was für einer Struktur diese Relationen führen.

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Durch die Verminderung der Fähigkeit, Dinge zu tun, reduzieren die Alterungsprozesse das Ausmaß des Bedauerns darüber, gerade jetzt zu sterben. Die entscheidenden Fähigkeiten sind hier die, von denen jemand meint, daß er sie besitzt, und ein allmählicher Alterungsprozeß verändert seine Auffassung hiervon. Es wäre jedoch keine gute Strategie im Leben, wollte man versuchen, das Bedauern über das Sterben dadurch zu reduzieren, daß man die eigenen Fähigkeiten die ganze Zeit über so weit wie möglich vermindert. Das würde den Umfang dessen, was man im Leben tut, reduzieren und dadurch das Bedauern über die Weise, in der man gelebt hat, verstärken.

Es nützt auch nichts, einfach den Wunsch nach Erledigung wichtiger Dinge einzuschränken; das könnte zwar das subjektive Ausmaß des Bedauerns beeinflussen, aber es würde nicht die Frage berühren, wie bedauernswert ein solches Leben ist, wenn sich das nach dem Verhältnis zwischen Getanem und Ungetanem im Leben bemißt. Die allgemeine Moral ist einigermaßen klar und nicht überraschend: Wir sollten das tun, was zu tun wichtig ist, wir sollten so sein, wie zu sein wichtig ist.

Ein wesentliches Ziel dieser Meditationen ist die Untersuchung der Frage, was die wichtigen Dinge sind — nicht als Vorbereitung zum Sterben, sondern zur Förderung des Lebens. Es ist unbestreitbar wichtig, den schlimmsten Schicksalen zu entgehen — nicht gelähmt zu sein und für den größten Teil seines Lebens im Koma zu liegen, nicht dazu gezwungen zu sein, daß man mitansehen muß, wie die, die man liebt, gefoltert werden, und so fort —, aber ich will hier auf Dinge, Aktivitäten und Seinsweisen zu sprechen kommen, die positiv und gut sind.

Was die typischen Dinge angeht, die von Psychologen als Merkmale »positiver geistiger Gesundheit« aufgelistet werden — etwa daß man gesund und zuversichtlich ist, Selbstachtung besitzt, anpassungsfähig und fürsorglich ist —, so könnten wir unser Thema spezifizieren, indem wir annehmen, daß solche Züge bereits gegeben sind.

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Die Frage wird dann lauten: Wie sollte jemand leben, der das breite Sprungbrett erreicht hat, das diese Eigenschaften bieten? (Diese Annahme, daß die Eigenschaften gegeben sind, wird einfach als intellektueller Kunstgriff eingeführt, um unsere Aufmerksamkeit auf andere Fragen zu lenken; wir können die Dinge, die wichtig sind, anstreben und erlangen, ohne zuvor alle diese Züge in vollem Umfang zu besitzen.)

Manche Menschen stehen vor dem Sterben viele Qualen aus: sie sind schwach, können nicht laufen oder sich im Bett ohne Hilfe umdrehen, haben ständig Schmerzen, fürchten sich und sind demoralisiert. Nachdem wir alles getan haben, was wir können, um zu helfen, können wir mit ihnen die Tatsache ihres Leidens teilen. Sie brauchen nicht allein zu leiden; ob dies das Leiden weniger schmerzhaft macht oder nicht, es macht es erträglicher. Wir können auch die Tatsache von jemandes Sterben teilen und zeitweilig die Art und Weise reduzieren, in der der Tod die Verbindung zu anderen abschneidet.

Wenn wir jemandes Sterben teilen, erkennen wir, daß wir möglicherweise eines Tages die Tatsache unseres Sterbens mit anderen teilen — eines Tages werden unsere Kinder uns trösten —, und die, mit denen unser Sterben geteilt wird, werden ihrerseits dann das ihre teilen. Wenn wir die gegenwärtige und die künftige Situation übereinanderlegen, können wir uns auf jeder Seite der Beziehung stehen sehen, zugleich als Geber und als Empfänger von Trost. Kommt es darauf an, daß wir die Tatsache eines Todes teilen, und nicht auf die besondere Position, die wir diesmal einnehmen?

Ich finde, mir widerstrebt der Gedanke, daß ich viel mehr als die Hälfte des Weges bis zum Ende der Hauptsache, mit der ich beschäftigt bin, zurückgelegt habe. Es gibt jedoch einen Spielraum für die Entscheidung darüber, was diese Hauptsache ist, und so verschiebe ich die Grenzen entsprechend, um neue Halbierungspunkte zu schaffen.

»Noch nicht durch die Hälfte des Lebens« das ging, bis ich Ende dreißig war oder vierzig; »durch die Hälfte des Arbeitslebens nach dem College« brachte mich bis zum Alter von fünfundvierzig, »die Hälfte der Zeit nach dem College bis ganz zum Schluß« führt mich ungefähr bis zum jetzigen Zeitpunkt.

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Als nächstes muß ich einen weiteren Halbierungspunkt finden, den ich nicht weit überschritten habe, und ich gedenke, diese Berichtigungen weiterhin jedenfalls bis zum Alter vorzunehmen, von dem ich auch eine Zeitlang nicht mehr als die Hälfte zurückgelegt haben werde. All dies ist so, daß ich in der Lage sein werde zu denken, daß ebensoviel vor mir liegt wie hinter mir, ebensoviel Gutes. Die seltsame Tatsache ist, daß ich zwar darüber lächle, wie ich die Grenzen verschiebe, um einen neuen augenfälligen Halbierungspunkt und eine andere zweite Hälfte zu schaffen, daß es aber funktioniert!

Nicht immer markiert der Tod die Grenze des Lebens eines Menschen als ein Ende, das außerhalb davon steht; manchmal ist er ein Teil dieses Lebens, der seine Geschichte in einer bedeutsamen Weise fortsetzt. Sokrates, Abraham Lincoln, Johanna von Orleans, Jesus und Julius Caesar hatten alle einen Tod, der eine weitere Episode ihres Lebens war, nicht einfach ein Abschluß, und wir können ihr Leben als eine Entwicklung sehen, die auf diesen unsterblichen Tod zusteuert. Nicht jeder Tod eines außerordentlichen Menschen, den er um seines Glaubens oder seiner Lebensweise willen erlitt, wird zu einem ausgeprägten Teil des Lebens dieser Person — bei Gandhis Tod beispielsweise war das nicht der Fall. Wenn der Tod wirklich die Vollendung eines Lebens darstellt, wäre er dadurch irgendwie willkommener?

Wir zögern zu glauben, daß alles, was wir sind, im Tode ausgelöscht wird; wir reichen, so scheint es uns, tiefer als bis zu dem Punkt, der das bloße Aufhören von Leben markiert. Doch das, was über ein »Fortleben« geschrieben wird und was man dafür an Beweisen anbietet, wirkt kindisch. Vielleicht ist das, was möglicherweise weiterbesteht, nicht in der Lage, mit uns in Verbindung zu treten, oder es hat Wichtigeres zu tun, oder es denkt, wir werden es sowieso früh genug herausfinden — wieviel Energie verwenden wir denn darauf, Embryos zu signalisieren, daß da noch ein Bereich kommt?

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Wenn der Tod keine Auslöschung wäre — wenn —, wie wäre er dann beschaffen? (Selbst wenn wir denken, daß Nichtauslöschung äußerst unwahrscheinlich ist, können wir darüber spekulieren, was dann käme, vorausgesetzt oder angenommen, diese Unwahrscheinlichkeit träte ein.) Meine Vermutung — nicht besser als die jedes anderen — ist, daß er in seinem Charakter eher meditativen Zuständen in der hinduistischen oder buddhistischen Tradition ähneln würde, verbunden mit bewußten Zuständen, vielleicht unter Einbeziehung von Bildeindrücken (aber nicht von physischen Wahrnehmungen), ein Zustand, der etwas Ähnliches wie samadhi, Nirvana oder Erleuchtung ist.

Oder vielleicht befindet sich jeder Mensch im Tode fortwährend in dem höchsten und wirklichsten Zustand, den er während seines Lebens ohne Hilfe von Chemikalien oder ähnlichen Dingen verbürgterweise erreicht hat. Ist die Erkenntnis hiervon der Grund, weshalb Meditationsmeister (angeblich) dem Tod mit Gelassenheit und Gleichmut begegnen? Oder vielleicht ist das Fortleben keine dauernde Unsterblichkeit, sondern mehr wie ein zeitweiliges Echo des Lebens, auf das es folgt, etwas, das verklingt, sofern dann nicht weitere Schritte unternommen werden, um es zu organisieren und zu entwickeln.

Nichtauslöschung ist aus dieser Sicht nicht ungetrübt erfreulich; ein Mensch kann sterben, bevor er das höchste Bewußtsein erreicht, zu dem er fähig ist, oder er kann sich durch seine eigenen Entscheidungen auf Dauer zu einem niederen Zustand verdammen. Ständig im höchsten Zustand zu verweilen, den man gesichert erreichen konnte, ist jedoch eine erfreulichere Aussicht, als dauernd im niedrigsten oder in einem durchschnittlichen Zustand zu verharren. In jedem Fall würden wir es zweifellos begrüßen, wenn es noch eine zusätzliche Chance gäbe — es wäre eine Ironie, wenn wir eine bekämen, aber, da uns nicht klar wäre, daß es eine zweite Chance ist, sie genau wie die erste vorübergehen ließen.

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Es könnte schön sein, einer solchen Theorie zu glauben, aber ist die Wirklichkeit nicht sachlicher? Dieses Leben ist die einzige Existenz, die es gibt; danach gibt es nichts. Selbst wenn ich über den Tod nachdenke, finde ich es angenehmer, über eine heitere Alternative zu spekulieren, und ich neige dazu, zu einem Viertel zu glauben, daß die Dinge so sind oder daß wir jedenfalls auf dieser Basis leben sollten. Selbst bei der sachlicheren Sicht zögere ich, es einfach finis zu nennen; ich möchte zumindest sagen, daß es immer der Fall sein wird, daß wir waren, was wir waren, und das Leben führten, das wir führten; und daß unser Leben eine permanente Möglichkeit werden kann, auf die sich andere beziehen können.

Ich frage mich manchmal, ob es nicht ein Zeichen von Oberflächlichkeit ist, wenn man keinen Sinn für eine dunkle oder tragische Sicht hat. Doch können nicht sehr verschiedene Temperamente gleichberechtigt sein? Von den großen Komponisten hat jeder einen einzigartigen Wert; wir haben nicht den Wunsch, daß einer von ihnen im Stil eines anderen komponiert hätte. Es gibt einen legitimen Spielraum auch für uns andere.

Nichtfortleben ist düster, aber auch Unsterblichkeit kann sich mit dunkleren Visionen verbinden. Hier ist eine, die gegenwärtig wie Science Fiction klingt. Eines Tages werden Computerprogramme in der Lage sein, die intellektuelle Seinsweise, das Persönlichkeitsmuster und die Charakterstruktur eines Menschen zu erfassen, so daß spätere Generationen wieder darauf zurückgreifen können. Auf diese Weise wäre eine der beiden Seiten der Unsterblichkeit verwirklicht: daß man als kohärentes Muster einer individuellen Persönlichkeit, das ein anderer wahrnehmen kann, fortexistiert. Und die andere Seite, daß man weiter Dinge erfährt und handelt, ließe sich teilweise gewinnen, wenn das Programm, das eine Person zusammenfaßt, dazu veranlaßt würde, einen Computer zu lenken, der in der Welt agiert. Solche Unsterblichkeit brauchte jedoch nicht völlig ein Segen zu sein.

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Genau wie die Ideen eines Menschen mißbraucht oder vulgarisiert werden können, könnten auch spätere Kulturen die individuelle Persönlichkeit eines Menschen ausbeuten oder mißbrauchen und sie dazu mobilisieren, Vorhaben und Zielen zu dienen, zu denen sich der Mensch nie hergegeben hätte, als er in Fleisch und Blut lebendig war. Und es kann sein, daß es nicht einfach um die »individuelle Persönlichkeit« geht. Wenn »Ihre« Programme einem Organismus eingepflanzt und dann Erfahrungen in ihm erzeugt würden, wären Sie es dann nicht, der diese Erfahrungen hätte? Künftige Kulturen könnten dann am Ende die Schöpfer von Himmel und Hölle sein, indem sie einfach Wüsten parzellierten.

Stammt der Wunsch, irgendwie den körperlichen Tod zu überleben, aus dem Wunsch, ein größeres Ziel zu haben, als wir es für uns auf der Erde finden können, eine neue Aufgabe, die wir in einem anderen Bereich ausführen sollen? Wir könnten meinen, wir hätten jeder hier die Aufgabe, uns eine Seele zu machen — Seelen brauchten nicht etwas zu sein, womit wir geboren werden —, und diese Aufgabe würde dadurch erschwert, daß wir nicht genau wüßten, wozu diese Seele da wäre.

Vielleicht sollen wir mehr als unsere eigenen individuellen Seelen machen, sogar mehr als ein Mosaik von Seelen miteinander. Wenn wir auf die volle Wirklichkeit der Welt, ihre Prozesse in ihren komplexen Wechselbeziehungen, ihre Schönheit und ihre tiefsten Gesetze eingehen, wenn wir den Ort unseres vollen Seins auf all seinen Ebenen darin erkennen, werden wir anscheinend dazu gebracht, die Wirklichkeit als eine tiefe und wunderbare Schöpfung zu sehen. Ob sie tatsächlich durch eine kreative Aktivität hervorgebracht wurde oder nicht, wir werden dazu veranlaßt, diejenigen Aspekte zu beschreiben und zu fühlen, die von einer solchen Schöpfung zeugen, und die Suche nach ihnen wird reich belohnt. Es wäre anregend (und ernüchternd) zu denken, daß irgendwann und irgendwo, allein oder gemeinsam, auch wir unsere Chance zu einer Schöpfung haben werden, und daß wir hier einen Weg entdecken, auf dem sie stattfinden kann.

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Unsere Aufgabe wäre es dann, so viel wie möglich von der Wirklichkeit zu erfahren und so fähig wie möglich zu werden, ein gefälliges Schöpfungswerk zu vollbringen, wenn wir an der Reihe sind — vielleicht eines, das selbst unseren Schöpfer erfreuen und überraschen würde. (Ist unsere Stellung die eines Lehrlings?)

In einer ganz neuen spekulativen kosmologischen Theorie wird behauptet, daß schwarze Löcher möglicher­weise neugeschaffene Universen sind, die auch die Technik hervorbringen könnte. Vielleicht wäre es mit der Zeit auch möglich, den besonderen Charakter eines derartigen geschaffenen Universums planvoll zu gestalten. Eine noch extremere Spekulation besagt, daß im Tode die organisierte Energie eines Menschen — einige könnten sagen, sein Geist — zur Leitstruktur eines neuen Universums wird, das aus dem Ereignis seines Todes auf der Stelle völlig unabhängig aufsteigt.

Die Natur des neugeschaffenen Universums wird dann von dem Niveau von Wirklichkeit, Stabilität, Heiterkeit usw. bestimmt, das er in seinem Leben erreicht hat. Und vielleicht besteht er dann ewig fort als eine entsprechende Art Gott dieses Universums. Anders als die Unsterblichkeit, die man gewöhnlich beschreibt, wäre diese wenigstens nicht langweilig. Da auf diesem Wege jedoch viele ziemlich schreckliche Universen geschaffen würden, sollten wir hoffen, daß beim Tode nur manche Arten organisierter Energie sich zur Ausbildung eines neuen Universums entfalten können. (Sollten wir demnach unserem Gott dankbar sein, daß er eine Natur besitzt, die zu einem Universum mit unveränderlichen Naturgesetzen und körperlicher Schönheit in großem Umfang geführt hat?) Die höchste Maxime menschlichen Lebens wäre dann, so zu leben, als würde ein Universum nach dem eigenen Bilde erschaffen. (Sind das anregende Spekulationen oder betrübliche Indizien dafür, wie hart am Rande des Größenwahns man heute steuern muß, um die Hoffnung zu retten?)

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Als ich zuerst spekulierte, daß die Unsterblichkeit den höchsten Bewußtseins- und Seinszustand beinhaltet, den wir verbürgterweise zu erreichen vermögen, war ich zweifellos gewillt, dies auf die Unsterblichkeit zu projizieren, weil mir sehr an unserem gegenwärtigen Sein und Bewußtsein liegt. Wir könnten die Projektion aber auch in die andere Richtung laufen lassen. Erst sollte man sehen, welcher Begriff von Unsterblichkeit der beste wäre — Unsterblichkeit dauert sehr lange —, und dann (soweit das möglich ist) hier und jetzt auf diese Weise leben. Ob es noch eine Unsterblichkeit gibt oder nicht, man soll jetzt so leben, als würde die Unsterblichkeit einen Aspekt der eigenen Person und des eigenen Lebens fortsetzen und wiederholen und nicht nur davon abhängen.

Manche besonderen Dinge sind jedoch nur in kleinen begrenzten Dosen wünschenswert; wenn es keine zukünftige Unsterblichkeit geben sollte, wäre es nicht vielleicht am besten, etwas derartiges Beschränktes anzustreben — es gäbe dann keine Besorgnis darüber, daß es schließlich eintönig oder unbefriedigend werden wird — und nicht etwas, das (aber) nur unter der Voraussetzung das beste wäre, daß es sich ebenso wie alle Alternativen dazu endlos fortsetzen würde? Wir sollen leben, will ich sagen, als sei ein Aspekt unseres Lebens und Seins ewig. Dies zu tun ist um so wichtiger, wenn wir gänzlich endlich sind — wie ich zu drei Vierteln glaube —, denn dadurch verleihen wir uns wenn nicht die Ewigkeit als Faktum, so doch deren Würde.

Ich bin jedoch nicht sicher, ob wir so am Existieren hängen sollten. Warum möchten wir hören, daß wir in der Zeit fortdauern, daß der Tod irgendwie unwirklich ist, eher eine Pause als ein Schluß ? Wollen wir wirklich immer weiter existieren? Wollen wir bis in alle Ewigkeit mit unsrer wackligen Identität unterwegs sein? Wollen wir in gewissem Sinne als ein »Ich«, ein (gewandeltes) Bewußtseinszentrum, fortbestehen oder in einem bereits existierenden größeren aufgehen, um nichts von der Vorstellung zu verpassen? Wie gierig sind wir denn? Gibt es keinen Punkt, an dem wir genug haben?

Ich verstehe den Drang, sich bis ganz zum Schluß an das Leben zu klammern, doch ich finde einen anderen Kurs anziehender. Nach einem reichen Leben könnte sich ein Mensch, der immer noch Energie, wachen Verstand und Entschlossenheit besitzt, dafür entscheiden, sein Leben ernstlich aufs Spiel zu setzen oder es für einen anderen Menschen oder für eine edle und anständige Sache hinzugeben. Nicht daß dies leichtfertig oder zu früh getan werden sollte, aber einige Zeit vor dem natürlichen Ende — bei den gegenwärtigen Gesundheitsverhältnissen ließe sich an ein Alter zwischen 70 und 75 Jahren denken — könnte ein Mensch seine Gedanken und seine Energie darauf richten, anderen auf dramatischere und riskantere Weise zu helfen, als es jüngere, vorsichtigere Leute wagen würden. 

Mit diesen Aktivitäten könnten große Gesundheitsrisiken beim Dienst an Kranken verbunden sein, es könnten Risiken körperlicher Verletzung entstehen, wenn man sich zwischen Unterdrücker und ihre Opfer stellt — ich denke an die Arten von friedlichen Aktivitäten und gewaltlosem Widerstand, für die sich Gandhi und Martin Luther King engagierten, nicht an eine Verfolgung von Missetätern durch Bürgerwehren — oder Menschen in Gegenden beisteht, die von Gewalttätigkeit heimgesucht sind.

Im Gebrauch der Handlungsfreiheit, die durch die Bereitschaft gewonnen wird, ernsthafte Risiken einzugehen, wird die Erfindungsgabe der Menschen neue Formen und Muster wirksamen Handelns entwickeln, denen andere individuell oder gemeinschaftlich nacheifern können. Ein solcher Weg wird nicht für jeden gangbar sein, aber manche Menschen könnten ernsthaft erwägen, ihre vorletzten Jahre in dem tapferen und edlen Bemühen zu verbringen, anderen Gutes zu tun, in einem Abenteuer, das die Sache der Wahrheit, Güte, Schönheit oder Heiligkeit fördert — nicht leise in diese gute Nacht zu gehen oder gegen das Verlöschen des Lichts anzukämpfen, sondern kurz vor dem Ende ihr Licht am hellsten strahlen zu lassen.

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Robert Nozick 1989