3. Eltern und Kinder
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Es gibt in meinen Augen keine stärkere Bindung, als Vater oder Mutter zu sein. Kinder zu haben und sie aufzuziehen verleiht dem eigenen Leben Substanz. Wenn man das getan hat, hat man wenigstens dies getan.
Die Kinder selbst bilden einen Teil der eigenen Substanz. Ohne untergeordnet zu bleiben oder den eigenen Zielen zu dienen, sind sie doch Organe von einem. Eltern wohnen im Unbewußten ihrer Kinder, Kinder im Körper ihrer Eltern. (Ein romantischer Partner wohnt in der Seele.) Die Verbindung zu einem Kind beinhaltet sicher die tiefste Liebe, manchmal Ärger oder Zorn oder Verletzung, aber sie existiert nicht allein auf der Ebene der Emotion. Es ist nicht zutreffend oder erhellend, wenn man sagt, ich liebe meine... Hand.
Wenn ich den Wert und den Sinn von Dingen beschreibe, die ich kenne — ich schreibe jetzt von Kindern im eigenen Leben, später von Sexualität und heterosexueller Liebe —, dann gebe ich zu, daß Wert und Sinn auch auf anderen Wegen gefunden werden können. Andere werden, so hoffe ich, den besonderen (und allgemeinen) Wert und Sinn von Dingen darstellen und untersuchen, die sie in besonderem Maße kennen.
Kinder bilden einen Teil jener breitgefächerten Identität, über die jeder Mensch verfügt. Es ist unangemessen, wenn man sie mit der Aufgabe belastet, die eigenen Ambitionen zu erfüllen, oder wenn sie sich durch eine derartige Aufgabe belastet fühlen. Aber man kann doch das Gefühl haben, daß ihre Eigenschaften irgendwie auch die eigenen sind und daß sie in der Arbeitsteilung der breitgefächerten eigenen Identität einige Aufgaben übernehmen.
Die Leistungen von Eltern können vielleicht eine Belastung für ihre Kinder darstellen, aber in einem asymmetrischen Verhältnis, das ungerecht erscheint, kommen die der Kinder auch ihren Eltern zu.
Vater oder Mutter zu sein läßt einen ein besseres, ein häufiger verzeihendes erwachsenes Kind der eigenen Eltern werden, denen man jetzt Vater oder Mutter sein muß. Der eine Teil des Übergangs in diese Position ist offensichtlich: man sorgt für die eigenen Eltern, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Situation allein zu bewältigen.
Ein weiterer Teil besteht darin, Verantwortung für den Zustand der Beziehung zu übernehmen. Wenn Kinder klein sind, ist es die Aufgabe der Eltern, die Beziehung zu handhaben, sie zu verfolgen und einigermaßen ausgeglichen zu halten. Für eine kurze Zeitspanne vielleicht wird die Beziehung gleichberechtigter, und dann, bevor man Zeit gehabt hat, es zu merken, wird es die Aufgabe des nunmehr erwachsenen Kindes, die Beziehung aufrechtzuerhalten, bisweilen die Eltern zu verwöhnen, ihnen ihren Willen zu lassen, Themen zu meiden, die sie aufregen, und den überlebenden Elternteil zu trösten.
Wenn die Jugendzeit manchmal durch ein Rebellieren gegen die Eltern gekennzeichnet ist und das Erwachsenenalter dadurch, daß man von ihnen unabhängig wird, so ist die Reife dadurch gekennzeichnet, daß man ihnen Vater oder Mutter wird.
Im Verlauf von König Lear gelangt Cordelia zur Reife. Am Anfang ist sie das Muster absolutester und reinster Aufrichtigkeit, und sie gibt sich keine Mühe, Lears Gefühle zu schonen oder ihn vor Bloßstellung in der Öffentlichkeit zu schützen; sie weigert sich, ihre Liebe zu übertreiben, und bietet sie »wie's meiner Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder«. Der Ausdruck der Liebe sollte grenzenlos sein, aber Cordelia fragt sich, warum ihre Schwestern heiraten, wenn sie Lear ganz lieben, und sie verkündet, daß sie ihn halb lieben wird. Vor allem sollte Cordelia, die bei Lear lebt, wissen, wie sie ihn behandelt und mit Geduld erträgt, wie sie die Beziehung handhaben und in Gang halten muß. Sie lernt unter Schmerzen. Als Lear später sagt, daß sie Grund habe, ihn zu hassen, entgegnet sie: »Kein Grund! Kein Grund!« Doch Lear hatte recht, als er sagte, ihr sei mehr Veranlassung dazu gegeben worden als ihren Schwestern.
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Die Cordelia der ersten Szene hätte erklärt, daß sie allerdings in einem so und so hohen Maße Grund habe, weil sie gerade so und so viel gelitten habe, und sie hätte darauf beharrt, die genaue Wahrheit auszusprechen, wie sie sie im Detail sah. Doch nach allem, was sie und Lear an Leid durchgemacht haben, ist Cordelia in der Lage, ihre Liebe auszudrücken; sie spricht davon, daß er mit ihr lebt, ohne zu erklären, daß sie ihn halb liebe. Sie hat sagen — und empfinden — gelernt, daß sie »keinen Grund, keinen Grund« hat, ihren Vater zu hassen.
Erwachsen zu sein ist eine Existenzweise, in der man kein Kind mehr ist, und daher eine Art und Weise, sich zu seinen Eltern zu verhalten, bei der man nicht nur ihnen Vater oder Mutter wird, sondern es auch nicht mehr nötig hat oder erwartet, daß sie als die eigenen Eltern auftreten; und dazu gehört, daß man auch nicht mehr erwartet, die Welt möge ein symbolischer Vertreter der Eltern sein. Wenn man jetzt versucht, etwas von der Welt zu erhalten, das symbolisch die angemessene Liebe unserer Eltern darstellt, so ist das eine unerfüllbare Aufgabe. Möglich ist, einen Ersatz für diese Liebe zu finden, etwas anderes, das für uns, die wir jetzt erwachsen sind, einige derselben oder analoge Funktionen erfüllt.
Der Unterschied zwischen einem Ersatz für etwas und dem, was es symbolisch sein muß, ist verworren und kompliziert. Doch das Erwachsenwerden und die Erlangung der Reife hängen davon ab, daß man diesen Unterschied beherrscht und sich, wie wehmütig auch immer, einem Ersatz zuwendet, der einem Erwachsenen gemäß ist. Man entdeckt dann vielleicht, wie sehr liebevoll die Eltern doch gewesen waren.
Anderen etwas zu hinterlassen ist ein Ausdruck dafür, daß man sie gern hat, und es verstärkt diese Bindungen. Es charakterisiert und schafft vielleicht manchmal auch eine erweiterte Identität. Die Empfänger — Kinder, Enkel, Freunde oder wer auch immer — brauchen nicht verdient zu haben, was sie empfangen. Auch wenn sie vielleicht bis zu einem gewissen Grade die fortgesetzte Zuneigung des Erblassers verdient haben, ist es der Schenker, der das Recht verdient hat, seine verwandtschaftlichen Beziehungen durch ein Vermächtnis zum Ausdruck zu bringen und zu fördern.
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Doch Hinterlassenschaften, die empfangen werden, werden dann manchmal über Generationen hinweg an Menschen weitergegeben, die derjenige, der sie ursprünglich erworben und verschenkt hat, nicht kennt, was zu fortgesetzten Ungleichheiten an Reichtum und Stellung führt. Wenn sie etwas erhalten, so ist das kein Ausdruck oder Ergebnis der intimen Bindungen des ursprünglichen Besitzers. Wenn es angemessen erscheint, daß er das, was er erworben hat, an diejenigen weitergibt, die er schätzt und auswählt, so sind wir weit weniger sicher, daß es angemessen ist, wenn diese anderen dasselbe tun. Die daraus resultierenden Ungleichheiten erscheinen ungerecht.
Eine mögliche Lösung wäre, daß man eine Einsetzung von Erbschaft so umstrukturiert, daß Steuern von dem Besitz, den Leute hinterlassen können, den Wert dessen abziehen, was sie selbst durch Erbschaft erlangt haben. Menschen könnten dann anderen nur den Betrag hinterlassen, den sie selbst ihrem eigenen Erbe hinzugefügt haben. Man könnte jedem beliebigen Menschen etwas hinterlassen — dem Partner, Kindern, Enkeln, Freunden usw. (Wir könnten die zusätzliche Beschränkung einführen, daß dies alles lebende — oder jedenfalls bereits gezeugte — Menschen sein müssen, zu denen es wirkliche Bindungen und Beziehungen geben kann.) Den Empfängern wird es jedoch nicht in ähnlicher Weise gestattet, dies weiterzugeben, auch wenn sie das, was sie selbst erworben und hinzugefügt haben, an beliebige Empfänger vererben können. Ein Erbe könnte sich nicht wie ein Wasserfall über Generationen hinweg ergießen.
Die einfache Subtraktionsregel löst nicht völlig heraus, was die nächste Generation an eigenem Beitrag zu leisten vermocht hat — wenn man Reichtum erbt, wird es dadurch vielleicht leichter, noch mehr anzuhäufen —, aber sie ist eine brauchbare Faustregel.1)
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Wenn man einem Menschen gestattet, viele Vermächtnisse zu machen, diese aber auf einen einzigen Übergangsvorgang beschränkt, der danach nicht wiederholt werden kann, so respektiert man die Wichtigkeit und Wirklichkeit von Bindungen der Fürsorge, Zuneigung und Identifizierung, ohne sie auf eine Generation zu beschränken — Enkel kann man direkt bedenken —, bezieht aber nicht die Schale fortgesetzter Erbvorgänge ohne die persönliche Substanz mit ein.
Man kann fragen: wenn es um die Wirklichkeit und den Wert persönlicher Bindungen geht, warum sollte es dann einem Erben nicht gestattet werden, auch sein Erbe weiterzugeben, ohne daß zuvor sein Vermögen um das verringert wird, was er geerbt hatte? Schließlich kann ein Mensch, der geerbt hat, durchaus Bindungen an seine eigenen Kinder, seine Freunde und seine Partnerin haben, die ebenso stark sind wie die, die der Mensch hatte, der ihm den Reichtum hinterließ.
Viele Philosophen — Hegel beispielsweise — haben jedoch zu der Art und Weise Stellung genommen, in der ein erworbenes oder geschaffenes Eigentum ein Ausdruck des Ich und ein Bestandteil davon ist, so daß die eigene Identität oder Persönlichkeit in einer derartigen Schöpfung erfüllt oder erweitert werden kann. Wenn der ursprüngliche Schöpfer oder Erwerber etwas weitergibt, nimmt ein beträchtlicher Teil seines Ich an diesem Akt teil und bestimmt ihn, weit mehr, als wenn ein Nichterwerber etwas weitergibt, das er empfangen, aber nicht geschaffen hat. Wenn Eigentum ein Bündel von Rechten auf etwas ist (darauf, es zu verbrauchen, zu verändern, zu übertragen, auszugeben und zu vererben), dann werden im Zuge des Vererbens nicht alle diese Rechte übertragen, und insbesondere das Recht des Vererbens wird es nicht — dieses haftet an dem ursprünglichen Erwerber oder Schöpfer.
Um ein überaus reiches Individuum daran zu hindern, seine gesamte direkte Nachkommenschaft zu bereichern, können wir als weitere Spezifizierung des Vererbungsrechts die Bestimmung einführen, daß ein in Aussicht genommener individueller Empfänger bereits existieren muß.
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Diese zusätzliche Einschränkung könnte auf Einwände stoßen, selbst wenn die erste es nicht tut. Man betrachte den folgenden Einwand, auf den mich David Nozick hinwies. Könnte ein kinderloser Mann, der im Sterben liegt, nicht Samen an eine Samenbank spenden und den legitimen Wunsch haben, einem etwaigen künftigen Kind oder künftigen Kindern, die daraus hervorgehen, ein Erbe zu hinterlassen? Und wenn wir diesen Fall zulassen, hätten wir dann nicht den Wunsch, einem Menschen, der Geld direkt existierenden Enkeln hinterläßt, auch die Entscheidung zu ermöglichen, es etwaigen Enkeln zu hinterlassen, die erst Jahre nach seinem Tode geboren werden?
Gibt es einen auf Prinzipien beruhenden Weg, diese Fälle zuzulassen, aber die weitergehenden Bemühungen um die Fortdauer von Reichtum und Macht der eigenen Familie durch viele Generationen hindurch, die Schöpfer von Reichtum entwickeln könnten, abzublocken? (Ich glaube nicht, daß dieses letztgenannte Interesse eine tatsächliche verwandtschaftliche Bindung von einem Gewicht darstellt, für das gesorgt werden müßte.) Vielleicht reicht die folgende schwächere Einschränkung: Eine Person darf nicht an zwei ungeborene Personen vererben, die im Verhältnis zu einem letzten bereits existierenden Knoten eines Stammbaums in verschiedenen Generationen stehen. Die erste Bedingung bleibt natürlich gültig: subtrahiert von dem Vermögen, das jemand hinterlassen kann, wird der Betrag, den dieser Mensch selbst geerbt hat.
Man beachte, daß die Macht, etwas zu vererben, auch zu einer Macht führen kann, über andere zu herrschen, und zwar durch die explizite oder implizite Drohung, den potentiellen Empfängern nichts zu vererben, wenn sie sich nicht zur Zufriedenheit des Erblassers benehmen. Wir könnten vermuten, daß diese Macht und fortgesetzte Kontrolle das sind, woran vielen reichen Menschen liegt, und nicht so sehr die Fähigkeit, die Bindungen persönlicher Beziehungen zu festigen und zum Ausdruck zu bringen, und daß ihre willfährigen Kinder oder Gefährten ohne jedes Erbrecht besser daran gewesen wären.
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Reiche Menschen verwenden ihre Zeit darauf, Geld anzuhäufen und es auszugeben; sie sind in der Lage, dieses Geld an ihre Kinder weiterzugeben. Wie können wir anderen das hinterlassen, womit wir zu tun hatten?
Ich habe Zeit damit verbracht, über Dinge nachzudenken, zu lesen, mit Menschen zu reden und ihnen zuzuhören, einige Dinge zu lernen, zu reisen, mich umzusehen. Ich würde meinen Kindern auch gerne hinterlassen, was ich angehäuft habe — einiges Wissen und Verstehen.
Es ist angenehm, sich eine Pille vorzustellen, die das Wissen eines Menschen enthielte und die man seinen Kindern geben könnte. Würde es den Reichen dann aber nicht gelingen, auch diese für ihre eigenen Nachkommen zu erwerben?
Vielleicht könnten Menschen mit wissenschaftlichen Kenntnissen und Forschergeschick ein Verfahren zur Übertragung des Wissens von Erwachsenen entwickeln, das davon abhängig wäre, daß sich die Neuronen des Empfängers genetisch mit denen des Spenders überschneiden; nur wer mit dem Spender die Hälfte seiner Gene teilt, könnte die Position des Empfängers einnehmen. (Unglücklicherweise hätten Adoptivkinder hiervon nichts.)
Kinder würden dadurch nicht zu Klonen ihrer Eltern werden — sie würden dieses Wissen auf ihre eigene Weise aufnehmen und benutzen und darauf aufbauen, genau wie sie es mit Büchern tun. Wie sich eine Gesellschaft über Generationen hinweg transformieren ließe, wenn das möglich wäre, ist ein Thema für Science Fiction.
Dieses Projekt ist natürlich nicht wünschenswert. Bei den wirklich lohnenden Dingen fangen wir alle unter etwa gleichen Voraussetzungen an — an anderer Stelle habe ich geschrieben, daß wir in der Welt des Denkens alle Einwanderer sind. Es wäre bedrückend, wenn sich Ungleichheiten von Verständnis und Wissen über Generationen hinweg auftürmen sollten.
Und angesichts der Art und Weise, in der das eine Wissen auf dem anderen aufbaut und von ihm abhängig ist, ist es nicht sinnvoll, ein System ins Auge zu fassen, das demjenigen analog wäre, welches wir für materiellen Reichtum vorschlugen, wonach jemand das von ihm selbst erworbene Wissen weitergeben würde, abzüglich des Wissens, das an ihn weitergegeben wurde.
Bei wahrhaft lohnenden Dingen wie Wissen und Verstehen — und Neugier und Energie, Freundlichkeit, Liebe und Begeisterung — haben wir ohnehin nicht den Wunsch, all das nur für uns oder unsere eigenen Kinder zu horten. Was wir aber direkt weitergeben können, ist eine Wertschätzung für das, was lohnend ist und vorbildlich.
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