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  Lachen  

 

82-116

Ich selber habe nichts gegen alte Witze, ich verehre sie sogar. Wenn Seekrankheit und Ehebruch einmal nicht mehr lustig sein werden, hat die abend­länd­ische Kultur ausgedient. Aber beim Plot einer Geschichte verhält es sich anders; dort dürfen wir mit Recht etwas Neues erwarten. 

1936 (CE I. 161)


Wir wissen so ungefähr, was Lachen verursacht. Lustig ist etwas, wenn es — ohne gleich widerwärtig oder entsetzlich zu sein — die bestehende Ordnung umwirft. Wenn man Humor kurz illustrieren müßte, dann vielleicht als Würde, die sich auf einen Reißnagel setzt. Was immer die Würde unterminiert und die Mächtigen von ihren Sitzen holt, vorzugsweise mit einem Plumps, ist lustig. Und je größer der Fall, desto größer der Spaß. Es macht mehr Spaß, einem Bischof eine Sahnetorte ins Gesicht zu werfen als einem Pastor. 

1944 (CE. III. 284)


Seiner Natur nach braucht der Humor nicht unmoralisch oder antisozial zu sein. Ein Witz ist höchstens eine augenblickliche Rebellion gegen die Tugend, und seine Absicht ist nicht, den Menschen zu entwürdigen, sondern ihn daran zu erinnern, daß er bereits entwürdigt ist. Bereitschaft zu äußerst obszönen Witzen kann sich mit strengen ethischen Maßstäben vertragen, wie im Fall von Shakespeare. Ein paar komische Schriftsteller, wie Dickens, haben eine unmittelbar politische Absicht, andere, wie Chaucer oder Rabelais, nehmen die Verderbtheit der Gesellschaft als unvermeidbar hin; aber kein komischer Schriftsteller von Rang hat je vorgebracht, daß die Gesellschaft gut sein könnte. 

1944 (CE III. 286)

83


Macht

 

Die Wiederholung des Offensichtlichen ist zur ersten Pflicht der Intelligenten geworden. Nicht allein, daß zur Zeit die nackte Gewalt fast überall herrscht. Was unser Zeitalter von den unmittelbar vorangehenden abhebt, ist das Fehlen einer liberalen Intelligenz. Kraftprotzverehrung ist, in mannigfaltiger Verkleidung, zur allgemeinen Religion geworden, und Binsenweisheiten — wie etwa, daß ein Maschinengewehr auch dann noch ein Maschinengewehr bleibt, wenn ein »guter« Mann abdrückt — sind zu Ketzereien geworden, die nur noch unter Gefahr geäußert werden können.

Es ist durchaus denkbar, daß wir in ein Zeitalter hinabsteigen, wo zwei und zwei fünf ergeben, wenn unsere Führer es so sagen. Bertrand Russell weist nach, daß das Riesensystem organisierter Lüge, auf das sich Diktatoren stützen, ihre Anhänger von den Fakten abschneidet und sie gegenüber denen benachteiligt, die diese Fakten kennen. Das ist soweit ganz richtig, nur bedeutet es nicht, daß die Sklavengesellschaft, auf die Diktaturen hintreiben, deswegen unbeständig sein muß.

84/85

Man kann sich leicht einen Staat vorstellen, wo die regierende Kaste die Untertanen, nicht aber sich selbst, täuscht. Kann jemand behaupten, daß etwas Derartiges nicht bereits schon im Entstehen ist? Man braucht nur an die unheimlichen Möglichkeiten von Rundfunk, staatlich verwalteter Erziehung und so weiter zu denken, um den Spruch »Die Wahrheit wird sich durchsetzen« als frommen Wunsch zu erkennen — und nicht als Axiom. 

1939 (L 175)


Es bestehen kaum Zweifel, daß der moderne Kult der Machtanbetung eng mit dem Gefühl des modernen Menschen verknüpft ist, daß das Leben hier und jetzt das einzige Leben ist, das es gibt. Wenn der Tod allem ein Ende setzt, wird es viel schwieriger zu glauben, daß man auch dann im Recht sein kann, wenn man besiegt worden ist. Staatsmänner, Nationen, Theorien, Aktionen werden fast zwangsläufig nach ihrem materiellen Erfolg beurteilt.

Angenommen, man könnte die beiden Phänomene trennen, so würde ich sagen, daß der Verfall des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit ebenso wichtig gewesen ist wie der Aufstieg der Maschinen-Zivilisation. 

1944 (L 198)


Es ist wichtig zu sehen, daß der Kult um die Macht mit einer Liebe zu Grausamkeit und Bosheit um ihrer selbst willen verquickt zu sein pflegt. Ein Tyrann wird um so mehr bewundert, wenn er zufällig auch noch ein blutbeschmierter Verbrecher ist, und aus »der Zweck heiligt die Mittel« wird oft genug in Wahrheit ein »die Mittel rechtfertigen sich selbst, vorausgesetzt, sie sind schmutzig genug«. Diese Idee gehört ins Blickfeld all derer, die mit dem Totalitarismus sympathisieren. 

1944 (R 67)

87-88


  Materialismus 

 

Was bestimmte Leute über den »Materialismus« der Arbeiterklasse faseln, verrät ganz einfach den Willen, sich das Geld oder die Privilegien zu erhalten. Dasselbe gilt, auch wenn es ein Körnchen Wahrheit enthält, für das Gerede über die Wertlosigkeit eines »sozialen gesellschaftlichen Wiederaufbaus« ohne eine »innere Wandlung«.

Die Frommen, vom Papst bis zu den kalifornischen Yogis, legen größten Wert auf die »innere Wandlung«, weil sie von ihrem Standpunkt aus mit weniger Risiko verbunden ist als eine Wandlung des Wirtschaftssystems. Welche verdammte Unverschämtheit der Politiker, Geistlichen, Literaten und was sonst noch für Leuten, die einen Sozialisten der Arbeiterklasse wegen »seines Materialismus« abkanzeln. Alles, was der Werktätige verlangt, ist das, was diese Herrschaften als das »unbedingt erforderliche Lebensminimum« bezeichnen, ohne welches das Dasein des Menschen überhaupt nicht denkbar ist. 

89/90

Genug zu essen, Befreiung von der drückenden Angst vor der Arbeitslosigkeit, die Gewißheit, daß deine Kinder eines Tages eine anständige Chance im Leben haben, ein tägliches Bad, genug saubere Wäsche, ein Dach, durch das es nicht durchregnet, und eine Verkürzung der Arbeitszeit, die dir nach Feierabend noch ein bißchen Energie läßt. Keiner von denen, die gegen den »Materialismus« wettern, würde ein Leben ohne diese Dinge für lebenswert halten. 

Und wie leicht ließe sich dieses Minimum schaffen, wenn wir auch nur zwanzig Jahre lang unsere Aufmerksamkeit darauf richten würden. Den Lebensstandard der gesamten Welt auf das Niveau des englischen zu bringen wäre kein größeres Unternehmen als der Krieg, den wir gegenwärtig führen. Ich behaupte nicht, und mir ist nicht bekannt, daß sonst jemand es tut, daß damit alles an sich bereits gelöst wäre. Es geht mir nur darum, daß Entbehrung und Knochenarbeit abgeschafft sein müssen, ehe man an die eigentlich menschlichen Probleme herangehen kann. Das größte unter ihnen ist heutzutage der Verfall des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit. Damit kann man sich nicht auseinandersetzen, solange menschliche Wesen sich wie Ochsen abschinden oder vor einer Geheimpolizei zittern müssen. Wie recht hat die Arbeiterklasse mit ihrem »Materialismus«! Wie richtig ist ihre Überzeugung, daß erst der Bauch und dann die Seele kommt, nicht hinsichtlich ihres Stellenwertes, aber in zeitlicher Abfolge.

90/91

Die Frage ist sehr einfach. Sollen Menschen ein anständiges, volles menschliches Leben führen dürfen, was heute technisch möglich ist, oder nicht? Soll der einfache Mann in den Dreck zurückgestoßen werden, oder nicht? Ich selbst glaube, vielleicht ohne ausreichenden Grund, daß der einfache Mann früher oder später seinen Kampf gewinnen wird, aber ich will, daß das früher geschieht und nicht später — sagen wir, innerhalb der nächsten hundert Jahre und nicht innerhalb der nächsten zehntausend Jahre. 

1942 (L 171-2)

91


Marxisten

Das Grundübel der orthodoxen Marxisten ist, daß sie über ein System verfügen, das alles zu erklären scheint, und sie sich nicht darum kümmern müssen, was in den Köpfen anderer Leute vorgeht. Darum haben sie im Verlauf der letzten zwölf Jahre in allen westlichen Ländern ihren Gegnern in die Hände gespielt. 

1936 (CE I, 258)

92


  Mensch sein 

 

Das Wesentliche des Menschseins liegt darin, nicht Vollkommenheit anzustreben, sondern bereit zu sein, um der Treue zu einem Menschen willen auch eine Sünde zu begehen, das Asketentum nicht so weit zu treiben, daß jede freundschaftliche Verbundenheit unmöglich wird, und sich darauf gefaßt zu machen, am Ende besiegt und mit leeren Händen dazustehen, der unvermeidliche Preis dafür. seine Liebe auf andere menschliche Einzelwesen fixiert zu haben. 

1949 (R 165)


Wenn einem in diesem Leben etwas gutgeschrieben wird, dann meistens für etwas, was man nicht einmal getan hat. 

1935 (TB)


Wir finden, daß auch der verkehrteste Mensch noch interessanter ist als die orthodoxeste Grammophonplatte. 

1945 (CE III, 313)


Mit 50 hat jeder das Gesicht, das er verdient. 

1949 (L 43)

93


Opposition

Kipling identifizierte sich mit der herrschenden Macht und nicht mit der Opposition. Bei einem begabten Schriftsteller erscheint uns das seltsam und sogar widerwärtig, es hatte aber für Kipling den Vorteil, daß er etwas Wirklichkeit in den Griff bekam. Die herrschende Macht sieht sich fortgesetzt vor der Frage »Was ist unter den gegebenen Umständen zu tun?«, während die Opposition keine Verantwortung hat und sich nicht wirklich entscheiden muß. 

Wo es sich um eine permanente und pensionierte Opposition handelt, wie in England, nimmt die Qualität ihres Gedankenguts entsprechend ab. Zudem wird jeder, der schon mit einer pessimistischen, reaktionären Weltanschauung ins Leben tritt, dazu neigen, sich durch die Ereignisse gerechtfertigt zu sehen, denn Utopia kommt nie, und »die Götter der Schönschreibheft-Sentenzen«, wie Kipling selbst sich ausdrückt, die kommen immer wieder.

1942 (W 163)

94


Rache

Die Vorstellung von Vergeltung und Bestrafung ist eine kindische Traumvorstellung. Strenggenommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.

1945 (K 74)

97


Religion

Als ich Mr. Malcolm Muggeridges brillantes und deprimierendes Buch The Thirties (Die dreißiger Jahre) las, erinnerte ich mich an einen grausamen Scherz, den ich einst mit einer Wespe getrieben hatte. Sie leckte Marmelade von meinem Teller, und ich schnitt sie entzwei. Sie achtete gar nicht darauf, sondern fuhr einfach fort mit ihrem Mahl, während ein spärlicher Strom Marmelade aus ihrer abgetrennten Speiseröhre rann. Erst als sie dann zu fliegen versuchte, merkte sie, was mit ihr Schreckliches geschehen war. Genau so ergeht es dem modernen Menschen. Was weggeschnitten worden ist, ist seine Seele, und es gab eine Zeitspanne, von ungefähr zwanzig Jahren, da hat er es gar nicht gemerkt.

Es war unbedingt nötig, die Seele wegzuschneiden. Religiöser Glaube in der damals bekannten Form mußte abgelegt werden. Im neunzehnten Jahrhundert war er im wesentlichen schon zur Lüge geworden, einem halbbewußten Verfahren, die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen.

98

Die Armen sollten mit ihrer Armut zufrieden sein, denn alles würde ja wettgemacht werden in der Welt jenseits des Grabs — in der bildlichen Darstellung gewöhnlich ein Zwischending zwischen Kew Gardens und einem Juweliergeschäft. Zehntausend Pfund im Jahr für mich, zwei Pfund in der Woche für dich, aber wir alle sind Kinder Gottes. Und in das Gewebe der kapitalistischen Gesellschaft war eine ähnliche Lüge gewirkt, die es unbedingt herauszureißen galt.

Folgerichtig ergab sich eine lange Periode, in der jeder Denkende irgendwie Rebell war, und gewöhnlich ein recht verantwortungsloser. Die Literatur war zur Hauptsache die Literatur der Revolte und der Desintegration. Gibbon, Voltaire, Rousseau, Shelley, Byron, Dickens, Stendhal, Samuel Butler, Ibsen, Zola, Flaubert, Shaw, Joyce — auf die eine oder andere Weise waren sie alle Zerstörer, Demolierer, Saboteure. Zweihundert Jahre lang sägten wir munter am Ast herum, auf dem wir saßen. Und schließlich, viel plötzlicher, als es jemand hätte voraussagen können, wurden unsere Anstrengungen belohnt, und wir purzelten hinunter. Nur war da leider ein Fehler gemacht worden. Das Ding dort unten war gar kein Beet von Rosen, sondern eine Jauchegrube mit Stacheldraht.

99

So war's, als wären wir im Verlauf von zehn Jahren ins Steinzeitalter zurückgeschliddert. Spielarten der Menschheit, die jahrhundertelang ausgestorben gewesen waren, kehrten auf einmal zurück — der tanzende Derwisch, der Räuberhauptmann, der Großinquisitor —, nicht als Insassen des Irrenhauses, sondern als Beherrscher dieser Welt. Mechanisierung und kollektive Wirtschaft genügen offensichtlich doch nicht ganz. Sich selbst überlassen, führen sie bloß in den Alptraum, den wir jetzt erleiden: endloser Krieg und endlose Unterernährung zugunsten des Kriegs. Somit ist die Amputation der Seele doch nicht, wie die Entfernung des Blinddarms, eine rein chirurgische Angelegenheit. Die Wunde hat Neigung zu schwären.

Was Mr. Muggeridge vorträgt, läuft hinaus auf zwei Kernsprüche des Predigers Salomo: »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel«, und »Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das gilt für alle Menschen.« Diese Ansicht hat in jüngster Zeit auch bei Leuten wieder viel aufgeholt, die vor ein paar Jahren noch darüber gelacht hätten. Wir leben in einem Alptraum, gerade weil wir uns ein irdisches Paradies einrichten wollten. Wir haben an den »Fortschritt« geglaubt, an menschliche Führung, wir haben dem Kaiser gegeben, was Gottes ist — so ungefähr verlaufen die Gedankengänge.

100


Der Glaube an Gott ist am Verschwinden, und wenn man voraussetzt, daß keine Sanktionen je so wirkungsvoll sein könnten wie die überirdischen, dann ist die Folgerung klar. Es gibt keine Weisheit, außer in der Furcht Gottes; aber niemand mehr fürchtet Gott; so ist denn auch keine Weisheit. Die Menschheitsgeschichte beschränkt sich auf den Aufstieg und Untergang materieller Zivilisationen, ein Turm zu Babel löst den ändern ab. In dem Fall wissen wir auch, was uns bevorsteht: Kriege und noch mehr Kriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen, Hitlers und Super-Hitlers — und so hinunter bis in die Abgründe, die nur mit Entsetzen zu betrachten sind.

Eine kollektivistische Gesellschaft läßt sich fraglos nicht mehr abwehren. Es fragt sich einzig, ob sie auf freiwilliger Zusammenarbeit gründen soll oder auf Maschinengewehren. Das Himmelreich alten Stils hat eindeutig versagt, aber der »Marxistische Realismus« auf der andern Seite ebenfalls, was immer er materiell geleistet haben mag. So scheint keine Alternative übrigzubleiben außer der, wovor uns Mr. Muggeridge und seinesgleichen so eindrücklich warnen — das vielgeschmähte »irdische Reich«: die Vorstellung einer Gesellschaft, in der die Menschen ihre Sterblichkeit einsehen und gleichwohl gewillt sind, sich wie Brüder zu vertragen.

101


Bruderschaft schließt einen gemeinsamen Vater ein. Deshalb wird oft vorgebracht, daß sich ohne einen Glauben an Gott kein Gemeinschaftsgeist entwickeln lasse. Die Antwort darauf ist, daß die meisten Menschen halb bewußt bereits so etwas entwickelt haben. Der Mensch ist kein Individuum, sondern nur eine Zelle in einem fortbestehenden Körper, und davon ahnt er etwas. Es gibt sonst keine Erklärung für die Bereitschaft, auf dem Schlachtfeld umzukommen. Es ist Unsinn zu sagen, das geschähe nur aus Zwang. Wenn ganze Armeen gewaltsam in den Dienst gepreßt werden müßten, könnten Kriege nicht geführt werden. Männer sterben in Schlachten — nicht fröhlich, versteht sich, aber doch freiwillig — auf Grund von Abstraktionen wie »Ehre«, »Pflicht«, »Patriotismus«, und so weiter.

Dies bedeutet lediglich, daß die Menschen etwas spüren von einem Organismus, der größer ist als sie selbst und sich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt und innerhalb dessen sie sich unsterblich vorkommen. 

102


Menschen opfern sich zugunsten von fragmentarischen Gemeinschaften — Nation, Rasse, Religion, Klasse — und merken erst, wenn sie den Kugeln ausgesetzt werden, daß sie nicht bloße Individuen sind. Noch ein bißchen mehr Bewußtsein davon — und der Sinn für Loyalität könnte auf die Menschheit selber übertragen werden, was keine bloße Abstraktion ist.

 

Aldous Huxleys Schöne neue Welt war eine gute Karikatur einer hedonistischen Utopie, die denkbar war oder unmittelbar bevorzustehen schien, bevor Hitler auftauchte; aber sie hatte keinen Bezug auf die tatsächliche Zukunft. Worauf wir uns in diesem Augenblick zubewegen, ist eher etwas wie die spanische Inquisition und vermutlich, dank Rundfunk und Geheimpolizei, noch viel schlimmer. Es besteht sehr wenig Aussicht, ihr zu entkommen, es sei denn, wir könnten den Glauben an eine menschliche Gemeinschaft wieder einsetzen ohne Absicherung durch eine »nächste Welt«. 

Dies verleitet unschuldige Leute wie den Dekan von Canterbury zur Ansicht, man habe das wahre Christentum in Sowjetrußland wiederentdeckt. Sie erliegen zweifellos der Propaganda, doch was sie für Täuschung so anfällig macht, ist ihr Wissen, daß das Himmelreich irgendwie auf die Erdoberfläche gebracht werden muß. Wir müssen Kinder Gottes werden, obwohl der Liebe Gott des Gebetsbuchs nicht mehr da ist.

103


Gerade die Leute, die unsere Zivilisation gesprengt haben, ahnten etwas von alledem. Der berühmte Ausspruch von Marx von der Religion als Opium des Volks wird gewöhnlich aus dem Zusammenhang gezerrt und mit einer leicht andern Bedeutung versehen, als Marx ihm gegeben hat. Marx hat nicht gesagt — wenigstens nicht an jener Stelle —, daß Religion nur eine Droge ist, die von oben verteilt wird; er sagte, daß sie etwas ist, was die Menschen selbst schaffen für ein Bedürfnis, das er als wirklich erkannte. »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«

Was sagt er da anders, als daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, daß Haß allein nicht genügt, daß eine lebenswerte Welt nicht auf »Realismus« und Maschinengewehre gründen kann? Wenn er vorausgesehen hätte, wie groß sein Einfluß intellektuell einmal sein würde, hätte er es vielleicht öfter und noch etwas vernehmlicher sagen sollen.

(L 331-5)

104


Eine Veranlagung zu Herrschaft und Egoismus wird man nicht automatisch durch religiöse Bekehrung los, im Gegenteil, es Hegt auf der Hand, daß infolge der Illusion, eine Wiedergeburt erlebt zu haben, angeborene Untugenden unter Umständen nur noch üppiger gedeihen, wenn auch vielleicht in verfeinerter Form.

1947 (R 147)


Es ist zweifelhaft, ob sich das Wesen der Tragödie überhaupt mit dem Glauben an Gott verträgt. Auf jeden Fall widerspricht es dem Glauben an menschliche Würde'und der Forderung, daß das Gute zu triumphieren hat. Eine tragische Situation tritt immer dann ein, wenn das Gute nicht triumphiert, aber doch der Eindruck entsteht, daß der Mensch edler ist als die Mächte, die ihn vernichten.

1947 (R 145)


Kürzlich las ich irgendwo von einem italienischen Raritätenhändler, der ein Kruzifix des 17. Jahrhunderts an J.P. Morgan zu verkaufen versuchte. Es war auf den ersten Blick kein besonders interessantes Kunstwerk. Aber es stellte sich heraus, daß es darum ging, daß das Kruzifix auseinandergenommen werden konnte & drinnen ein Stilett versteckt war. Welch ein vollendetes Symbol der christlichen Religion.

1949 (L 36-7)

105


Revolutionär

In neun von zehn Fällen ist ein Revolutionär bloß ein Aufsteiger mit einer Bombe in der Tasche.

1939 (CE I, 400)

106


Schriftstellerei

Alle Schriftsteller sind eitel, egozentrisch und faul, und der tiefste Grund ihres Schaffens liegt in geheimnisvollem Dunkel. Ein Buch zu schreiben ist ein grausamer, aufreibender Kampf, wie eine lange schmerzhafte Krankheit. Man würde es auch niemals tun, wenn man nicht von einem Dämon getrieben würde, der stärker ist als man selbst und einem unverständlich bleibt. Man weiß nur, daß dieser Dämon identisch ist mit dem Instinkt eines Babys, das durch Schreien die Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Aber ebenso wahr ist, daß man nichts Lesbares schreiben kann, wenn man nicht fortgesetzt gegen seine eigene Persönlichkeit kämpft. Gute Prosa ist wie eine Fensterscheibe. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, welcher meiner Gründe am stärksten ist, dagegen weiß ich genau, welchem zu folgen sich lohnt. Bei einem Rückblick auf mein Werk stelle ich fest, daß meine Bücher immer dann leblos geworden sind, wenn ihnen eine politische Absicht fehlte und ich mich in gedrechselte Passagen, nichtssagende Sentenzen, schmückende Beiworte und ganz allgemein in Geschwafel verlor.

1946 (W 16-17)

109


Wenn es so einfach wäre, mit unanständigen Wörtern Geld zu verdienen, so würden es mehr Schriftsteller tun.

1940 (W 94)


Abgesehen von der Notwendigkeit, Geld zu verdienen, glaube ich, daß es vier Hauptmotive dafür gibt, daß man schreibt, zumindest Prosa. Sie finden sich graduell verschieden bei jedem Schriftsteller, und verschieden stark je nach der Atmosphäre, in der er lebt. 

Es sind:

1. Reiner Egoismus. Der Wunsch, überlegen zu erscheinen, jemand zu sein, über den man spricht und den man auch nach seinem Tod nicht vergißt; den Erwachsenen die Nichtachtung heimzuzahlen, die sie einen als Kind haben fühlen lassen etc. etc. Schriftsteller teilen diesen Charakterzug mit Wissenschaftlern, Künstlern, Politikern, Rechtsanwälten, Soldaten, erfolgreichen Geschäftsleuten, kurz, mit der gesamten Obergarnitur der Menschheit. Die große Masse menschlicher Wesen ist nicht so ausgesprochen ichbezogen. Dagegen steht eine Minderheit von begabten, selbstbewußten Menschen, die entschlossen sind, ihr eigenes Leben bis zum Ende zu leben, und zu ihnen gehören die Schriftsteller. Ernstzunehmende Schriftsteller sind meiner Meinung nach im allgemeinen eitler und egozentrischer als Journalisten, dafür weniger an Geld interessiert.

110

2. Ästhetischer Enthusiasmus. Sinn für die Schönheit der Umwelt oder für Worte und ihre richtige Anordnung. Freude an der Wechselwirkung von Klängen, an der Geschlossenheit guter Prosa oder dem Rhythmus einer guten Erzählung. Der Wunsch, mit andern ein Erlebnis zu teilen, das man als wertvoll empfindet und nicht in Vergessenheit geraten lassen möchte. Das ästhetische Motiv ist bei vielen Schriftstellern nur in geringem Maße vorhanden, aber selbst ein Pamphletist oder ein Verfasser von Lehrbüchern wird eine Liebe zu bestimmten Wörtern und Ausdrücken haben, die nicht zweckhaft bestimmt ist, oder ein Gefühl für die Typographie, die Breite des Buchrandes etc. etc. Von Kursbüchern abgesehen, ist kein Buch ganz frei von ästhetischen Erwägungen.

3. Sinn für Geschichte. Der Wunsch, die Dinge zu sehen, wie sie sind, den Wahrheitsgehalt von Ereignissen herauszufinden und sie für die Nachwelt aufzuzeichnen.

111

4. Politisches Engagement — wobei ich das Wort »politisch« im weitesten Sinne benutze. Der Wunsch, der Welt eine bestimmte Richtung zu geben, die Anschauungen anderer über ein gesellschaftliches Ideal zu verändern. Jedenfalls ist kein Buch wirklich frei von politischen Elementen. Wenn man behauptet, Kunst sollte nichts mit Politik zu tun haben, so ist das selbst schon eine politische Haltung.

1946 (W 10-1)


So etwas wie eine rein unpolitische Literatur gibt es nicht, und am wenigsten in einer Epoche wie der unsern, wo Furcht, Haß und politische Bindungen bei jedem dicht unter der Bewußtseinsgrenze liegen. Schon ein einziges Tabu kann eine frustrierende Wirkung auf den Geist ausüben, weil immer die Gefahr besteht, daß ein frei zu Ende gedachter Gedanke zu dem tabuisierten führen könnte.

1946 (R 86-7)


Politisches Schrifttum in unserer Zeit besteht fast gänzlich aus vorfabrizierten Phrasen, die nur zusammengesetzt zu werden brauchen wie die Teile eines mechanischen Kinderspielzeugs. Das ist das unvermeidliche Ergebnis einer Eigen-Zensur. Um in einer klaren, kraftvollen Sprache zu schreiben, muß man furchtlos denken können, und um furchtlos zu denken, kann man kein Konformist sein.

112

In einer »Epoche des Glaubens« mag es anders sein, wo die herrschende Lehre bereits so lange besteht, daß sie nicht mehr allzu ernst genommen wird. Unter solchen Umständen kann es möglich sein, daß große Teile des eigenen Denkens unberührt von dem bleiben, was man vorschriftsmäßig zu glauben hatte. 

1946 (R 89)


Ein moderner literarischer Intellektueller lebt und arbeitet in einem Zustand ständiger Angst, nicht so sehr im Hinblick auf die öffentliche Meinung im weiteren Sinne als auf die herrschende Meinung innerhalb seiner eigenen Gruppe. Zum Glück gibt es immer mehr als nur eine Gruppe, aber außerdem gibt es jederzeit eine herrschende Doktrin, die zu verletzen man nicht nur ein dickes Fell haben muß; es kann auch eine Halbierung des Einkommens auf Jahre hinaus bedeuten. 

1948 (R 173)


Was die Politiker anscheinend nicht verstehen können, ist, daß man nicht eine kraftvolle Literatur hervorbringen kann, indem man jedermann durch Terror zur Anpassung zwingt. Die schöpferischen Fähigkeiten werden nicht spielen, wenn der Schriftsteller nicht annähernd sagen darf, was er fühlt.

Man kann Spontaneität zerstören und eine Literatur schaffen, die zwar orthodox, aber schwach ist, oder man kann die Leute sagen lassen, was sie wollen, und riskieren, daß einige von ihnen Häresien äußern. Es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma, solange Bücher von Individuen geschrieben werden müssen.

Darum tun mir die Verfolger in gewisser Weise mehr leid als die Opfer. Es ist wahrscheinlich, daß die Literatursäuberer zumindest die Genugtuung haben, zu verstehen, was ihnen widerfährt: die Politiker, die sie quälen, versuchen lediglich das Unmögliche. Es wäre vernünftig zu sagen: »Die Sowjetunion kann ohne Literatur auskommen.« Aber das ist genau das, was sie nicht sagen können.

Sie wissen nicht, was Literatur ist, aber sie wissen, daß sie wichtig ist, daß sie Prestige-Wert hat und daß sie aus Gründen der Propaganda notwendig ist, und sie würden sich gern für sie einsetzen, wenn sie nur wüßten, wie. So fahren sie denn mit ihren Säuberungsaktionen und Direktiven fort, wie ein Fisch, der immer wieder mit seiner Nase gegen die Wand eines Aquariums schlägt, zu dämlich, um einzusehen, daß Glas und Wasser nicht dasselbe sind.

1947 (L 194)

113-114


Sklaverei (1942)

115

Wer hätte sich vor zwanzig Jahren träumen lassen, daß in Europa die Sklaverei wieder eingeführt werden könnte? Dabei ist sie vor unseren Augen wiedererstanden.

Die Zwangsarbeitslager in ganz Europa und Nordafrika, wo Polen, Russen, Juden und politische Gefangene aller Rassen im Schweiß ihres Angesichts Straßen bauen oder Sümpfe trocken legen müssen für ihre tägliche Ration, sind nichts als Sklavenpferche. Man kann höchstens konstatieren, daß der Kauf und Verkauf von Sklaven durch Einzelpersonen noch nicht erlaubt ist. Andererseits — zum Beispiel das Auseinanderreißen von Familien — sind die Verhältnisse wahrscheinlich schlimmer als seinerzeit auf den amerikanischen Baum­wollplantagen.

Es besteht kein Grund zur Annahme, daß sich diese Dinge ändern werden, solange es totalitäre Staaten gibt. Wir sind nicht imstande, diese Zustände in ihrer ganzen Bedeutung zu erfassen, weil wir immer noch in dem mystischen Glauben befangen sind, daß ein auf Sklaverei begründetes Staatswesen zusammenbrechen muß.

Es lohnt sich, die Dauer der auf Sklaverei beruhenden Imperien der Antike mit der eines modernen Staates zu vergleichen. Auf Sklaverei beruhende Zivilisationen haben Zeiträume von viertausend Jahren überdauert.

Was mich am meisten bedrückt, wenn ich an die Antike denke, ist der Umstand, daß diese Hunderte von Millionen Sklaven, auf deren Rücken ganze Zivilisationen generationenlang beruhten, nichts über sich hinterlassen haben. Wir kennen nicht einmal ihre Namen. 

Wie viele Namen von Sklaven sind einem aus der gesamten griechischen und römischen Geschichte bekannt? Ich weiß nur von zwei oder drei. Der eine ist Spartakus und der andere Epiktet

In dem Saal des Britischen Museums für römische Geschichte befindet sich ferner ein Glaskrug mit der Namensinschrift des Herstellers im Boden: Felix fecit. Ich kann mir den armen Felix gut vorstellen (einen Gallier mit roten Haaren und einer Kette aus Metall um den Hals), aber vielleicht war er gar kein Sklave. 

Also bleiben nur zwei Namen von Sklaven übrig, die mir mit Sicherheit bekannt sind; es dürfte nur wenige Menschen geben, die sich an mehr erinnern.

Alle andern sind im Schweigen der Vergessenheit versunken.

116

1942 (L 162-3)


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