Sozialismus
117-133
Ein Sozialist ist heutzutage in der gleichen Lage wie ein Arzt, der einen beinahe hoffnungslosen Fall behandelt. Als Arzt ist es seine Pflicht, den Patienten am Leben zu erhalten und daher davon auszugehen, daß der Patient mindestens eine Aussicht auf Genesung hat. Als Wissenschaftler ist es seine Pflicht, sich mit den Tatsachen abzufinden und daher zuzugeben, daß der Patient wahrscheinlich sterben wird. Unsere Tätigkeiten als Sozialisten haben nur einen Sinn, wenn wir annehmen, daß der Sozialismus errichtet werden kann, doch wenn wir innehalten, um zu überlegen, was wahrscheinlich passieren wird, dann müssen wir meiner Ansicht nach zugeben, daß die Umstände gegen uns sind. Wenn ich ein Buchmacher wäre, der bloß die Wahrscheinlichkeit berechnet und seine eigenen Wünsche außer Betracht läßt, würde ich darauf setzen, daß die Zivilisation innerhalb der nächsten paar hundert Jahre zugrunde geht.
1947, L 178
detopia-2019: Schön wärs gewesen ---- wenn es noch so lange gedauert hätte. Dann nämlich wären wir noch zur Erkenntnis gekommen: zur Offenbarung.
Sämtliche Linksparteien in den hochentwickelten Industrieländern beruhen im Grunde auf einem Schwindel, weil ihre Tätigkeit darin besteht, gegen etwas zu kämpfen, das sie in Wahrheit gar nicht zerstören wollen. Ihre Ziele sind international, und gleichzeitig treten sie für die Aufrechterhaltung eines Lebensstandards ein, der mit diesen Zielen unvereinbar ist. Wir alle leben von der Ausplünderung asiatischer Kulis, wobei diejenigen, die »aufgeklärt« sind, die Befreiung aller Kulis fordern. Unser Lebensstandard jedoch und damit auch unsere »Aufgeklärtheit« hängen von einer fortgesetzten Ausplünderung ab. Human Gesinnte sind immer Heuchler.
1942, W 149
Linke Regierungen sind für ihre Anhänger fast immer enttäuschend, weil selbst wenn der versprochene Wohlstand verwirklicht werden kann, immer noch eine unerfreuliche Übergangszeit überwunden werden muß, von der vorher nie oder kaum die Rede war.
1948, R 176
Vielleicht ist das Ziel des Sozialismus nicht eine vollkommene Welt, sondern eine bessere. Alle Revolutionen sind fehlgeschlagen, aber nicht alle im selben Ausmaß.
1944, CE III, 244
118
Sport
121
Ich bin immer wieder verblüfft, wenn ich Leute sagen höre, daß der Sport Wohlwollen zwischen den Nationen schaffe und daß das einfache Volk der verschiedenen Länder, wenn es sich nur beim Fußball oder Kricket treffen könnte, keine Neigung hätte, sich auf dem Schlachtfeld zu begegnen.
Selbst wenn man nicht von konkreten Beispielen (wie der Olympischen Spiele 1936) wüßte, daß internationale Sportwettkämpfe zu Haßorgien führen, könnte man es aus allgemeinen Prinzipien ableiten.
Fast jeder Sport, der heutzutage betrieben wird, beruht auf Wettbewerb. Man spielt, um zu gewinnen, und das Spiel hat wenig Bedeutung, sofern man nicht sein Äußerstes tut, um zu gewinnen, aber sobald die Frage des Prestiges auftaucht, sobald man das Gefühl hat, daß bei einer Niederlage man selbst und irgendeine größere Einheit in Ungnade fällt, werden die wildesten Kampfinstinkte geweckt.
Auf internationaler Ebene ist der Sport, offen gesagt, ein Kriegsspiel.
Aber das Wesentliche ist nicht das Verhalten der Spieler, sondern die Haltung der Zuschauer; und, hinter den Zuschauern, der Nationen, die sich wegen dieser absurden Wettkämpfe in Wutanfälle hineinsteigern und im Ernst glauben — zumindest für kurze Zeitabschnitte —, daß Wettlaufen, Springen und Balltreten Kriterien der nationalen Tugend sind.
Es sind die äußerst kampflustigen Sportarten, der Fußball und das Boxen, die sich am weitesten verbreitet haben. Es können kaum Zweifel bestehen, daß die ganze Sache eng mit dem Auftauchen des Nationalismus verknüpft ist — das heißt, mit der irren modernen Gewohnheit, sich mit großen Machteinheiten zu identifizieren und alles in Form von wetteiferndem Prestige zu sehen. Auch gedeihen organisierte Spiele eher in Stadtgemeinden, wo der Durchschnittsmensch eine sitzende oder zumindest eingeschränkte Lebensweise hat und nicht viel Gelegenheit zu kreativer Arbeit erhält.
In einer Großstadt muß man zu Gruppenaktivitäten greifen, wenn man ein Ventil für seine Körperkraft oder seine sadistischen Impulse haben will. Kampfspiele werden in London und New York ernst genommen, und sie wurden in Rom und Byzanz ernst genommen: im Mittelalter wurden sie gespielt, wahrscheinlich mit viel körperlicher Brutalität, doch waren sie weder in die Politik verwickelt noch eine Ursache für Gruppenhaß.
Wenn man die ungeheure Fülle an Feindseligkeit, die es gegenwärtig auf der Welt gibt, erweitern wollte, könnte man dies kaum besser tun als durch eine Reihe von Fußballspielen zwischen Juden und Arabern, Deutschen und Tschechen, Indern und Briten, Russen und Polen, Italienern und Jugoslawen, wobei jedes Spiel von einem gemischten Publikum von 100.000 Zuschauern verfolgt werden sollte.
Natürlich will ich damit nicht sagen, daß Sport einer der Hauptgründe für den internationalen Wettstreit ist; der Massensport ist meiner Ansicht nach selbst bloß eine weitere Folge der Ursachen, die den Nationalismus erzeugt haben.
Und dennoch macht man die Dinge schlimmer, wenn man eine Mannschaft von elf Leuten, die als Landesmeister bezeichnet werden, aussendet, um gegen irgendein rivalisierendes Team zu kämpfen, und allgemein das Gefühl zuläßt, daß die Nation, die besiegt wird, ihr »Gesicht verliert«.
1945, L 252-5
122-123
Tiere
124
Bei meiner Rückkehr von Spanien dachte ich daran, den sowjetischen Mythos in einer Geschichte zu entlarven, die von beinahe jedermann leicht verstanden und leicht in andere Sprachen übersetzt werden könnte. Die eigentlichen Details der Geschichte jedoch wollten mir ziemlich lange nicht in den Sinn kommen, bis ich eines Tages (damals lebte ich in einem kleinen Dorf) einen kleinen Jungen sah, vielleicht zehn Jahre alt, der ein riesiges Zugpferd einen schmalen Pfad entlang lenkte und es, jedesmal wenn es sich abzuwenden versuchte, peitschte.
Es kam mir zum Bewußtsein, daß, wenn solche Tiere sich ihrer Kraft nur bewußt würden, wir keine Macht über sie hätten und daß die Menschen die Tiere in ziemlich derselben Weise ausbeuten wie die Reichen das Proletariat.
1947, L 13-4
Alle Tiere sind gleich, aber einige Tiere sind gleicher als andere.
1945, FdT 137
Totalitarismus
125
Vom Totalitarismus kann man weniger ein Zeitalter des Glaubens als ein Zeitalter der Schizophrenie erwarten. Eine Gesellschaft wird immer dann totalitär, wenn ihre Struktur offenkundig künstlich wird, das heißt, wenn die herrschende Klasse ihre eigentliche Funktion verliert und sich nur noch durch Gewalt oder Betrug an die Macht klammert.
Eine solche Gesellschaft, gleichgültig, wie lange sie besteht, kann sich nicht leisten, tolerant oder geistig stabil zu sein. Sie kann weder die wahrheitsgemäße Aufzeichnung von Tatsachen zulassen noch die Aufrichtigkeit der Gefühle, welche eine Voraussetzung der Literatur ist. Um vom Totalitarismus korrumpiert zu werden, braucht man nicht in einem totalitären Lande zu leben. Die bloße Vorherrschaft bestimmter Ideen verbreitet eine Art von Gifthauch.
Totalitarismus benötigt eine unausgesetzte Abänderung der Vergangenheit und führt auf die Dauer zur Skepsis an einer objektiven Wahrheit.
Freunde des Totalitarismus in diesem Lande benutzen gern das Argument, daß absolute Wahrheit doch unerreichbar und eine große Lüge daher nicht ärger sei als eine kleine.
Weiter heißt es, daß alle Geschichtsschreibung unklar und ungenau sei, und die moderne Physik habe bewiesen, daß, was uns als reale Welt erscheine, eine Illusion und also das Vertrauen auf unsere sinnlichen Wahrnehmungen nichts als gewöhnliches Philistertum sei.
Eine totalitäre Gesellschaft, die sich lange Zeit behaupten könnte, würde vermutlich in geistiger Schizophrenie enden, bei der die Gesetze des gesunden Menschenverstandes im praktischen Leben und in bestimmten exakten Wissenschaften ihre Gültigkeit behalten, vom Politiker, Historiker, Soziologen aber mißachtet werden dürften. Heute schon gibt es viele Leute, die die Verfälschung eines wissenschaftlichen Werkes für einen Skandal halten würden, in der Verfälschung einer historischen Tatsache dagegen nichts Böses sehen.
1946, R 84-9
126
Unsterblichkeit
129
Ich stoße sehr selten auf jemand, der — gleichgültig von welchem Hintergrund —, einen Glauben an seine persönliche Unsterblichkeit bekennt. Dennoch halte ich es für durchaus wahrscheinlich, daß mancher die Möglichkeit eingestehen würde, daß nach dem Tod noch »irgend etwas« sein könnte. Was übersehen wird, ist, wie wenig nachhaltig dieser Glaube heute ist, verglichen mit dem unserer Vorväter.
In den letzten Tagen und Monaten bin ich nie jemand begegnet, von dem ich den Eindruck hatte, er glaube an eine nächste Welt etwa so wie an das Vorhandensein von Australien. Glaube an ein Jenseits hat kaum noch Einfluß auf das Verhalten, wie es doch eigentlich sein müßte, wenn der Glaube echt wäre.
Angesichts eines unendlichen Weiterlebens nach dem Tod müßte sich unser irdisches Leben doch sehr unwichtig ausnehmen. Die meisten Christen geben einen Glauben an die Hölle vor. Aber haben Sie schon einmal einen Christen getroffen, dem die Hölle soviel Angst macht wie der Krebs?
1944, CE III, 2
Eine Folge des Niedergangs religiösen Glaubens ist die schludrige Idealisierung des Körperlichen. In gewissem Sinn ist dies ja natürlich. Denn wenn es kein Leben gibt jenseits des Grabs, dann wird man auch schwerer damit fertig, daß Vorgänge wie Geburt, Kopulation usw. in gewisser Hinsicht unappetitlich sind. In den christlichen Jahrhunderten wurde eine pessimistische Anschauung vorausgesetzt. »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Elend«, sagt das Gebetbuch im Ton einer Selbstverständlichkeit. Aber es ist etwas ganz anderes, dieses Elend einzugestehen, wenn man annimmt, daß mit dem Grab wirklich alles zu Ende ist. Da ist es leichter, sich mit einer optimistischen Lüge zu trösten.
1935, CE I, 155
Wenn man mit einem nachdenklichen Christen spricht, ob katholisch oder anglikanisch, sieht man sich oft ausgelacht, weil man so naiv ist, anzunehmen, daß irgend jemand die Doktrinen der Kirche tatsächlich einmal wörtlich aufgefaßt hat. Diese Doktrinen, so wird einem gesagt, haben eine ganz andere Bedeutung, die zu verstehen man zu simpel ist. Unsterblichkeit der Seele »bedeutet« nicht, daß du, John Smith, bewußt bleibst, wenn du tot bist.
130
Auferstehung des Leibes bedeutet nicht, daß John Smiths Leib tatsächlich wieder zum Leben erweckt wird — und so weiter und so fort.
Somit ist der katholische Intellektuelle imstande, für umstrittene Zwecke eine Art Knobelspiel zu spielen und die Artikel des Glaubensbekenntnisses in genau denselben Worten wie seine Vorfahren zu wiederholen, während er sich gleichzeitig gegen den Vorwurf des Aberglaubens mit der Erklärung verteidigt, daß er in Gleichnissen spricht.
Im wesentlichen besteht seine Behauptung darin, daß, obwohl er selbst nicht in irgendeiner sehr bestimmten Weise an das Leben nach dem Tod glaubt, kein Wandel im christlichen Glauben stattgefunden hat, da unsere Vorfahren im Grunde auch nicht daran geglaubt haben.
Ich will nicht, daß der Glaube an das Leben nach dem Tod wiederkehrt, und auf jeden Fall ist das auch nicht sehr wahrscheinlich. Was ich jedoch klarmachen möchte, ist, daß sein Verschwinden ein großes Loch hinterlassen hat und daß wir dies zur Kenntnis nehmen sollten.
Tausende von Jahren mit der Vorstellung erzogen, daß der Einzelne weiterlebt, muß der Mensch eine erhebliche psychische Anstrengung unternehmen, um sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß der Einzelne zugrunde geht.
Er wird die Zivilisation kaum retten können, wenn er nicht ein System von Gut und Böse entwickeln kann, das von Himmel und Hölle unabhängig ist.
Der Marxismus liefert tatsächlich ein solches System, doch ist es nie richtig popularisiert worden. Die meisten Sozialisten begnügen sich mit dem Hinweis, daß wir, sobald der Sozialismus errichtet worden ist, materiell glücklicher sein werden, in der Annahme, daß alle Probleme verschwinden, wenn man einen vollen Bauch hat.
Aber genau das Gegenteil trifft zu: wenn man einen leeren Bauch hat, ist das einzige Problem der leere Bauch. Erst wenn wir uns von Plackerei und Ausbeutung losgemacht haben, fangen wir wirklich an, uns über das Schicksal des Menschen und den Grund seiner Existenz Gedanken zu machen.
Man kann nicht ein lohnendes Bild von der Zukunft haben, solange man nicht einsieht, wieviel wir durch den Verfall des Christentums verloren haben. Wenige Sozialisten scheinen sich dessen bewußt zu sein.
Und die katholischen Intellektuellen, die sich starr an den Buchstaben der Glaubensbekenntnisse halten und gleichzeitig Bedeutungen in sie hineinlesen, die ihnen nie zugedacht worden waren, und die über jeden kichern, der naiv genug ist anzunehmen, daß die Kirchenväter meinten, was sie sagten, wenden einfach Verschleierungstaktiken an, um ihren eigenen Unglauben vor sich selbst zu verbergen.
1944, L 196-9
133
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