3 - Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit - Einige Bemerkungen über Salvador Dali
<Horizon>, Oktober 1944
wikipedia Salvador_Dali 1904-1989
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Autobiographien sind nur glaubwürdig, wenn sie etwas Unschönes zugeben. Jemand, der über sein Leben nur Gutes zu sagen weiß, lügt in den meisten Fällen, weil jedes Leben von innen her gesehen nichts weiter als eine Kette von Niederlagen ist.
Andererseits kann selbst das offenkundig unehrlichste Buch (wie zum Beispiel Frank Harris' autobiographische Schriften) unbeabsichtigt ein wahres Bild des Verfassers vermitteln. Zu diesen Büchern gehört das <Leben von Salvador Dali>, kürzlich von <Life> veröffentlicht.
Eine ganze Reihe der darin geschilderten Vorgänge sind schlicht erfunden, andere sind abgeändert oder romantisch verbrämt, und wieder andere, und zwar nicht nur die erniedrigenden, werden mit Stillschweigen übergangen, wie überhaupt das ganze <ordinäre> Alltagsleben.
Dali ist nach seinem eigenen Eingeständnis ein Narziß, und so ist seine Autobiographie im Grunde ein Striptease in rosa Beleuchtung. Aber in bezug auf Phantasie und Perversion des Instinkts, ermöglicht durch unser Maschinenzeitalter, hat das Buch einen großen Wert.
Beginnen wir also mit einigen Episoden aus Dalis frühester Kindheit. Was davon wirklich wahr und was erfunden ist, spielt kaum eine Rolle. Entscheidend ist, daß es Dinge sind, die Dali gern getan hätte. Als er sechs Jahre alt war, herrschte allgemeine Aufregung über das Wiedererscheinen des Halleyschen Kometen:
»Plötzlich erschien einer der Angestellten aus dem Büro meines Vaters im Flur zum Wohnzimmer und meldete, daß man den Kometen von der Terrasse aus sehen könne ... Beim Durchqueren der Eingangshalle sah ich, wie meine kleine dreijährige Schwester heimlich den Flur entlangkroch. Ich blieb stehen, zögerte einen Augenblick und versetzte ihr dann mit voller Wucht einen Tritt gegen den Kopf wie einem Fußball und lief davon, erfüllt von einer <irrsinnigen Freude> über meinen barbarischen Akt. Aber mein Vater, der hinter mir ging, packte mich, brachte mich in sein Büro, und dort mußte ich zur Strafe bis zum Dinner bleiben.«
Ein Jahr zuvor hatte Dali plötzlich, »wie meine meisten Einfälle kommen«, einen kleinen Jungen von einer Hängebrücke hinuntergestoßen.
Noch von mehreren derartigen Ereignissen wird berichtet, darunter (damals war er neunundzwanzig) ein Zwischenfall, bei dem er ein kleines Mädchen niederschlug und auf ihr herumtrampelte, »bis man sie blutüberströmt vor mir in Sicherheit bringen mußte«.
Mit fünf Jahren etwa kommt ihm eine verwundete Fledermaus zwischen die Finger; er steckt sie in einen Zinneimer. Am nächsten Morgen findet er sie so gut wie tot und von Ameisen übersät, die sie auffressen. Er steckt sie sich in den Mund, samt den Ameisen, und beißt sie halb durch.
Als er halb erwachsen ist, verliebt sich ein Mädchen leidenschaftlich in ihn. Er küßt und liebkost sie, bis sie in äußerster Erregung ist, weigert sich aber, weiterzugehen. Er beschließt, dieses Spiel fünf Jahre fortzusetzen (er nennt es seinen <Fünfjahresplan>), genießt ihre Demütigung und das Machtgefühl, das er sich auf diese Weise verschafft. Verschiedentlich erklärt er ihr, daß er sie am Ende des fünften Jahres verlassen werde, als es soweit ist, tut er es auch wirklich.
Noch lange behält er als Erwachsener die Gewohnheit bei, zu onanieren, wobei er offenbar ein besonderes Vergnügen empfindet, es vor einem Spiegel zu tun. Wie es scheint, ist er impotent bei Frauen bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr. Als er seine spätere Frau Gala zum ersten Mal trifft, kann er kaum der Versuchung widerstehen, sie in einen Abgrund zu stoßen. Er ist sich darüber klar, daß sie etwas von ihm erwartet.
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Nach dem ersten Kuß gesteht er es:
»Ich packte Gala an ihren schwarzen Haaren, riß ihren Kopf nach hinten und befahl bebend vor hysterischer Erregung:
>Jetzt erzähl mir, was ich mit dir machen soll. Aber erzähl es mir langsam, sieh mir dabei in die Augen und benutze die unanständigsten und gemeinsten erotischen Ausdrücke, bei denen wir uns am meisten schämen !<. . .
Als Gala antwortete, verwandelte sich auch der letzte Schimmer von Lust in den eiskalten Glanz ihrer eigenen Tyrannei:
>Ich will, daß du mich tötest.<«
Er ist etwas enttäuscht über diese Antwort, denn sie besagte mehr oder weniger das, was er selber gern getan hätte. Er überlegt, ob er sie nicht von dem Glockenturm der Kathedrale von Toledo hinabwerfen soll, nimmt aber davon Abstand.
Im Spanischen Bürgerkrieg vermeidet er peinlich jede Stellungnahme und unternimmt eine Reise nach Italien. Immer mehr fühlt er sich zur Aristokratie hingezogen. Er verkehrt in mondänen Salons, versteht es, reiche Gönner zu finden und wird zusammen mit dem plumpen Viconte de Noailles photographiert, den er als seinen »Maecenas« bezeichnet.
Als der Europäische Krieg immer näher rückt, beschäftigt ihn ausschließlich die Sorge, einen Ort zu finden, wo man eine gute Küche führt und von dem aus man rasch fortkommen kann, sollte es gefährlich werden. Er geht nach Bordeaux, und während der Schlacht um Frankreich flieht er natürlich nach Spanien. Dort bleibt er lange genug, um ein paar anti-revolutionäre Greuelgeschichten aufzuschnappen, dann verschwindet er nach Amerika. Die Geschichte endet in einer Gloriole von Ehrbarkeit.
Mit siebenunddreißig Jahren ist Dali ein treuer Ehemann, von seinen Abartigkeiten, zumindest einigen, geheilt, und völlig mit der katholischen Kirche ausgesöhnt. Außerdem verdient er, wie man erfährt, eine ganze Menge Geld.
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Trotzdem ist er immer noch auf die Bilder seiner surrealistischen Periode außerordentlich stolz, Bilder mit Bezeichnungen wie Der große Onanist, Sodomie eines Totenschädels mit einem Konzertflügel usw. Sie sind überall im Buch reproduziert.
Viele von Dalis Zeichnungen sind rein repräsentativ und haben eine gemeinsame Eigenschaft, von der noch die Rede sein wird. Aber an seinen surrealistischen Bildern und Photographien sticht vor allem zweierlei hervor: perverse Sexualität und krankhafte Nekrophilie. Sexuelle Objekte und Symbole - manche davon wie die Stöckelschuhe wohlbekannt, andere, wie die Krücke und die Tasse mit heißer Milch, von Dali erfunden - kehren immer wieder, nicht zu vergessen das unverkennbare Fäkalmotiv. Von seinem Bild >Le Jeu Lugubre< sagt er selber, die mit Exkrementen besudelten Unterhosen seien mit soviel Naturtreue, Liebe und Realistik gemalt, daß sich die ganze kleine Surrealistengruppe angstvoll gefragt habe, ob er etwa Kopro-phage sei. Dali erklärt dazu mit Bestimmtheit, daß er es nicht sei, und daß er es für eine »widerliche« Verirrung halte. Aber damit scheint auch erst die Grenze erreicht, an der sein Interesse für menschliche Exkremente aufhört. Selbst bei der Schilderung eines Erlebnisses, bei dem er eine Frau beobachtete, die im Stehen urinierte, vergaß er nicht das Detail, daß es ihr nicht ganz glückte, und sie ihre Schuhe benäßte. Es ist nicht jedermann gegeben, alle Laster zu besitzen, und so rühmt sich auch Dali, daß er nicht homosexuell sei. Dabei scheint er über ein so reiches Arsenal von Perversitäten zu verfügen, wie man es sich nur wünschen kann. Sein bemerkenswertester Charakterzug bleibt jedenfalls seine Nekrophilie. Er gibt das selbst offen zu, behauptet jedoch, er sei davon geheilt. Reichlich oft tauchen in seinen Bildern Gesichter von Toten, Totenschädel und Kadaver
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von Tieren auf, und die Ameisen, die die sterbende Fledermaus auffraßen, kehren unzählige Male wieder. Ein Photo zeigt eine schon stark in Verwesung übergegangene exhumierte Leiche, ein anderes einen verwesten Esel auf Konzert-Flügeln, Teil des surrealistischen Films Le Cbien An-dalou. Auf diese Esel sieht Dali noch immer mit großer Begeisterung zurück.
»Ich erzielte die Verwesung der Esel mit ganzen Töpfen voller klebriger Masse, die ich über sie ausgoß. Ich schnitt ihnen mit einer Schere die Augen heraus und erweiterte die Höhlen. Auf die gleiche Weise riß ich ihnen wild die Mäu-ler auf, damit die Reihen der entblößten Zähne besser zur Geltung kamen. Ich wollte, obwohl die Esel bereits in Fäulnis übergegangen waren, den Eindruck hervorrufen, als ob sie noch etwas von ihrem eigenen Sterben aus sich herauskotzten, und zwar über die andere Reihe von Zähnen, die aus den Tasten der Flügel bestanden.«
Und schließlich noch das Bild - offenbar eine gestellte Photographie - von dem Mannequin, in einem Taxi verwesend. Über das bereits gedunsene Gesicht und die Brüste eines anscheinend toten Mädchens kriechen riesige Schnecken. In der Unterschrift bemerkt Dali, daß es sich um Burgunderschnecken handelt - das heißt die eßbare Sorte.
Natürlich enthüllt das umfangreiche Buch von 400 Seiten im Quartformat mehr, als ich hier habe erwähnen können, aber ich glaube nicht, daß mein Überblick unfair in bezug auf die moralische Atmosphäre und den geistigen Standort ist. Es ist ein Buch, das stinkt. Wenn es möglich wäre, den Seiten eines Buches einen wahrnehmbaren Gestank entströmen zu lassen, dann würde dieses Buch es tun - ein Gedanke übrigens, der Dali gefallen würde, der sich, bevor er das erste Mal um seine zukünftige Frau warb, von oben bis unten mit einer Mischung von in Fischsud aufgebrühtem Ziegenkot einrieb.
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Aber dem allen muß man die Tatsache entgegenhalten, daß er ein Künstler von außergewöhnlicher Begabung ist, der hart arbeitet. Er nimmt, was man nicht vergessen sollte, seine Arbeit ernst, was die peinliche Sorgfalt und Ausführung seiner Werke beweist. Er ist ein Exhibitionist und ein Karrieremacher, aber kein Scharlatan. Er hat fünfzigmal mehr Talent als alle Leute, die sich über seine Moral entrüsten und über seine Bilder lachen. Diese beiden Dinge werfen eine Frage auf, die aus Mangel an einer gemeinsamen Basis selten zu einer wirklichen Diskussion führt.
Tatsächlich handelt es sich hier um einen direkten, offenkundigen Angriff auf alles, was gesund und sittlich ist, und schließlich - da einige von Dalis Bildern zu einer Vergiftung der Phantasie führen wie pornographische Postkarten - auf das Leben selbst. Über das, was Dali getan oder sich nur eingebildet hat, kann man diskutieren, aber in seinen Anschauungen, seinem Charakter fehlt alles, worauf menschlicher Anstand begründet ist. Er ist asozial wie ein Floh. Selbstverständlich sind solche Menschen unerwünscht, und an einer Gesellschaft, in der sie florieren können, ist etwas faul.
Nun, wenn man dieses Buch mit seinen Illustrationen einem Lord Elton, einem Alfred Noyes, den Leitartiklern der Times vorlegen würde, die über den >Niedergang der Intellektuellem frohlocken - kurz, irgendeinem empfindlichem kunstfeindlichen Engländer -, bedarf es keiner großen Anstrengung, sich vorzustellen, wie die Reaktion ausfallen würde. Sie würden rundweg ablehnen, in Dalis Werk auch nur den geringsten Wert zu erblicken. Diese Art von Leuten sind außerstande, zu erkennen, daß etwas, was moralisch korrupt ist, künstlerisch wertvoll sein kann, denn sie verlangen von jedem Künstler, daß er ihnen auf die Schulter klopft und ihnen versichert, daß sie sich jedes Nachdenken sparen können. In einer Zeit wie der jetzigen, wo das Informations-Ministerium und der British Council besondere Machtbefugnisse in ihre Hand gelegt haben, können sie so-
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gar gefährlich werden. Ihr Bestreben geht nämlich nicht nur dahin, jedes neuauftauchende Talent zu zermalmen, sondern auch, die Vergangenheit zu kastrieren. Beweis: die neue Hetze gegen die Intellektuellen, die gegenwärtig bei uns wie in Amerika im Gange ist, und nicht nur gegen Joyce, Proust und Lawrence, sondern sogar gegen T. S. Eliot gerichtet ist.
Spricht man aber mit Leuten, die imstande wären, Dalis Werk richtig einzuschätzen, so ist die Einstellung in der Regel nicht viel besser. Auf die Bemerkung, daß man Dali zwar für einen brillanten Maler, aber sonst für einen kleinen dreckigen Schwindler halte, sehen die Leute einen an, als ob man aus dem Urwald käme. Sagt man, daß man keine besondere Vorliebe für verwesende Leichen hat, und daß Leute, die so etwas mögen, geistig gestört sein müssen, wird man verdächtigt, kein ästhetisches Gefühl zu besitzen. Weil das >in einem Taxi verwesende Mannequin< kompositorisch gut ist (und das ist es zweifellos), kann das Bild nicht ekelhaft und abstoßend sein.
Wogegen Noyes, Elton etc. erklären, daß auch die Komposition nicht gut sein kann, eben weil das Bild ekelerregend ist.
Zwischen diesen beiden Fehlentscheidungen gibt es keinen Mittelweg; oder doch, es gibt einen Mittelweg, nur hören wir selten etwas davon. Auf der einen Seite >Kultur-bolschewismus<; auf der anderen Seite (obwohl der Ausdruck aus der Mode gekommen ist) >l'art pour l'art<. Obszönität ist ein Thema, über das sich nur sehr schwer diskutieren läßt. Die einen befürchten, man könnte meinen, sie seien schockiert, und die andern, sie seien nicht schok-kiert und nicht imstande, die Beziehungen zwischen Kunst und Moral zu definieren.
Was die Verteidiger Dalis vorbringen, ist eigentlich eine Art von Vorrecht des Klerus. Der Künstler solle der moralischen Gesetze enthoben sein, die für gewöhnliche Menschen bindend sind.
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Es genügt, das magische Wort >Kunst< auszusprechen, und alles ist o. k.: kleinen Mädchen einen Tritt gegen den Kopf zu versetzen ist o. k. Verwesende Leichen, über die Schnecken kriechen, sind o. k. Selbst ein Film wie L'Age d'Or ist o. k.1) Nicht weniger o. k. ist, daß Dali es sich jahrelang in Frankreich gutgehen läßt, und in dem Augenblick, als Frankreich in Gefahr ist, wie eine Ratte flieht. Solange du so gut malen kannst, daß du anerkannt wirst, wird dir alles andere verziehen.
Sobald man solche Ansichten auf gewöhnliche Verbrechen anwendet, wird man sehen, wie falsch sie sind. In einer Zeit wie der unseren, in der der Künstler sowieso eine außergewöhnliche Erscheinung ist, muß man ihm ein gewisses Maß von Verantwortungslosigkeit zubilligen, wie man es einer Schwangeren gegenüber tut. Trotzdem wird niemand behaupten wollen, daß eine Schwangere ungestraft einen Mord begehen dürfte, sowenig wie ein Künstler, er mag noch so begabt sein. Wenn Shakespeare morgen auf die Erde zurückkehren und sich herausstellen würde, daß sein Hauptvergnügen darin bestände, kleine Mädchen in der Eisenbahn zu überfallen, würden wir auch nicht sagen, er solle sich ja nicht stören lassen, weil er unter Umständen einen zweiten König Lear schreiben könnte. Und schließlich, die schlimmsten Verbrechen sind nicht immer die strafwürdigen. Jemand, der nekrophilen Phantasien Beifall zollt, richtet vermutlich ebensoviel Unheil an wie ein Taschendieb auf dem Rennplatz. Man sollte imstande sein, gleichzeitig zwei Dinge im Auge zu behalten - daß Dali als Maler gut und als Mensch widerlich ist. Das eine schließt das andere nicht aus oder berührt es nur in gewissem Sinne. Das erste, was wir von einer Mauer verlangen, ist, daß sie aufrecht
1 Dali erwähnt den Film L'Age d'Or und bemerkt, daß die erste öffentliche Aufführung durch Rowdies gesprengt wurde, aber er sagt nicht genau, warum. Henry Miller berichtete, daß der Film Szenen enthielt, die mit großer Deutlichkeit eine Frau während der Verrichtung ihres Stuhlgangs zeigen (Anm. d. Autors).
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steht. Steht sie aufrecht, ist es eine gute Mauer. Die Frage, wozu sie dient, ist davon gänzlich unabhängig. Und doch müßte selbst die beste Mauer niedergerissen werden, wenn sie ein Konzentrationslager umschließt. Genauso müßte man sagen können: >Das ist ein gutes Buch oder ein gutes Bild und sollte öffentlich verbrannt werden.< Es sei denn, daß man sich, wenigstens theoretisch, um die Frage herumdrückt, ob der Künstler auch ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft und ein menschliches Wesen ist.
Das soll anderseits nicht heißen, daß man Dalis Autobiographie oder seine Bilder verbieten müßte. Abgesehen von den obszönen Postkarten, die in Hafenstädten am Mittelmeer feilgeboten werden, ist es immer eine fragwürdige Methode, irgend etwas zu verbieten, und Dalis Schweinereien werfen zum mindesten ein Licht auf den Verfall der kapitalistischen Zivilisation. Was in seinem Fall jedoch dringend erforderlich ist, ist eine Analyse. Es geht nicht so sehr darum, was er ist, sondern warum er so ist. Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß er bei aller Intelligenz geistig nicht normal ist und daß seine mutmaßliche Bekehrung ihn nicht geändert hat. Ehrlich reuige Sünder oder Leute, die von ihren Verirrungen geheilt sind, pflegen mit ihren früheren Lastern nicht in dieser selbstgefälligen Weise zu prahlen. Dali ist symptomatisch für eine krank gewordene Welt. Entscheidend ist nicht, ob man ihn auspeitschen oder als Genie feiern sollte, sondern festzustellen, warum er sich dieser besonderen Form der Abartigkeit verschrieben hat.
Die Antwort darauf geben vermutlich seine Bilder, und ich bin nicht kompetent, sie zu beurteilen. Aber ich kann auf etwas hinweisen, das vielleicht einen Teil der Frage erklärt. Wenn er nicht surrealistisch malt, verfällt er in den altmodischen, überladenen Stil kurz vor der Jahrhundertwende. Manche seiner Zeichnungen erinnern an Dürer, eine zeigt unverkennbar den Einfluß von Beardsley, und eine andere ist eine deutliche Anlehnung an Blake.
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Aber der durchgehende Zug ist edwardianisch. Als ich das Buch das erste Mal aufschlug und einen Blick auf die zahllosen Vignetten warf, war ich betroffen von der Ähnlichkeit, die ich mir nicht sofort erklären konnte. Ich sah mir den ornamentalen Leuchter im ersten Teil genauer an. Woran erinnerte er mich? Schließlich kam ich dahinter. Er erinnerte mich an eine große, populäre Ausgabe von Anatole France, ausgiebig illustriert, in englischer Übersetzung, die etwa um 1914 erschienen ist. Jedes Kapitel begann und endete mit einer ornamentalen Zeichnung in diesem Stil. Bei Dalis Leuchter besteht der Fuß aus einer fischähnlichen Kreatur, die einem eigentümlich vertraut vorkommt (anscheinend nach dem Muster eines Delphins), während am andern Ende eine Kerze brennt. Diese Kerze, die in soundso vielen Bildern wiederkehrt, ist ein guter alter Bekannter. Man trifft sie mit denselben malerischen Wachstropfen an der Seite als elektrische Lampen, besonders in Landgasthäusern, die angeblich im Tudor-Stil eingerichtet sind. Diese Leuchter wirken sofort ungemein sentimental. Wie um diesen Eindruck zu verwischen, hat Dali die ganze Seite der Zeichnung mit Tinte bespritzt, allerdings umsonst. Das gleiche wiederholt sich Seite für Seite. Die Zeichnung am Ende von Seite 62 zum Beispiel rückt schon fast in die Nähe von Peter Pan. Die Figur auf Seite 224 ist, trotz des wurstförmig ausgezogenen Schädels, die Hexe aus dem Märchenbuch. Das Pferd auf Seite 234 und das Einhorn auf Seite 218 könnten Illustrationen für James Branch Cabell sein. Die Darstellungen femininer Knaben auf den Seiten 97, 100 u. a. vermitteln den gleichen Eindruck. Nimmt man die Schädel, die Ameisen, die Krebse, die Telephone und anderes Beiwerk fort, so ist man unversehens immer wieder in der Welt der Barrie, Rackham, Dunsany und Wbere the Rainbow Ends.
Sonderbarerweise sind einige Ungehörigkeiten aus Dalis Autobiographie mit dieser Epoche verknüpft. Als ich zum Beispiel die Stelle las, die ich zu Beginn zitierte (der Fuß-
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tritt gegen den Kopf der kleinen Schwester), wurde mir die gespenstische Ähnlichkeit mit etwas anderem bewußt. Was war das? Natürlich! Ruthless Rhymes for Heartless Ho-mes1 von Harry Graham. Diese Verse waren um etwa 1912 sehr beliebt, und einer davon lautet folgendermaßen:
Poor little Willy is crying so sore,
A sad little boy is he,
For he's broken his little sister's neck
And hell have no jam for tea.(Der arme kleine Willy weint so jämmerlich, er ist ein trauriger kleiner Junge, denn er hat seiner kleinen Schwester das Genick gebrochen, und wird keine Marmelade zum Tee bekommen.)
Das könnte beinahe auf die Dali-Episode hin geschrieben sein. Natürlich kennt Dali seine Schwäche für die edwardianische Zeit, und er schlägt in einer Art >pastiche< Kapital daraus. Er gesteht seine Vorliebe für das Jahr 1900 und erklärt, daß jedes ornamentale Motiv von damals geheimnisvoll, poetisch, erotisch, verrückt, pervers etc. gewesen sei. Tatsächlich impliziert der Begriff >pastiche< normalerweise eine echte Vorliebe für den parodierten Stil. Die intellektuellen Neigungen scheinen, wenn nicht regelmäßig, so doch auffallend häufig von nicht-rationalen, ja kindischen Bedürfnissen gleicher Provenienz begleitet zu werden. Ein Bildhauer ist zum Beispiel an Rundungen und Flächen interessiert, aber gleichzeitig ein Mensch, dem es eine physische Freude bereitet, in Ton oder Stein herumzuwühlen. Ein Ingenieur ist ein Mensch, der Freude am Umgang mit Handwerkszeug, am Geräusch von Dynamos und am Geruch von öl hat. Ein Psychiater tendiert meistens selbst zu sexuellen Abweichungen. Darwin ist zum Teil deshalb Biologe gewor-
1) Herzlose Reime für herzlose Heime, deutsch von H. C. Artmann, Zürich 1968.
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den, weil er zum Landadel gehörte und Tiere gern hatte. Es kann sein, daß Dalis scheinbar perverser Kult um Gegenstände aus der edwardianischen Epoche (zum Beispiel seine >Entdeckung< der U-Bahn-Eingänge um 1900) einfach das Symptom einer sehr viel tieferen und weniger bewußten Zuneigung ist. So sind die unzähligen Vignetten und sorgfältig nachgeahmten Buchillustrationen, die überall an den Seitenrändern erscheinen, und mit so feierlichen Unterschriften wie Le Rossignol, Le montre etc. betitelt sind, vielleicht nur zum Teil witzig gemeint. Der kleine Junge in Kniehosen, der >Diabolo< spielt, auf Seite 103, ist ein genaues zeitgenössisches Produkt. Vielleicht hat Dali alle diese Dinge geschaffen, weil er gar nicht anders konnte, weil sie zu der Zeit und dem Stil gehören, zu dem er im Grunde auch gehört.
Wenn das der Fall ist, so sind seine Verirrungen teilweise erklärt. Vielleicht waren sie für ihn die einzige Möglichkeit, sich zu versichern, daß er kein Durchschnitt ist. Die beiden Eigenschaften, die Dali zweifellos besitzt, sind seine malerische Begabung und ein hemmungsloses Geltungsbedürfnis. »Mit sieben Jahren«, berichtet er im ersten Kapitel seines Buches, »wollte ich wie Napoleon werden, und seitdem ist mein Ehrgeiz ständig größer geworden.« Das sagt er natürlich, um zu verblüffen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sachlich stimmt. Solche Gefühle kennt man zur Genüge.
»Daß ich ein Genie bin«, hat einmal jemand zu mir gesagt, »wußte ich schon längst, bevor ich wußte, in welchem Fach.« Angenommen, jemand besäße nichts anderes als seinen ungeheuren Egoismus und eine Begabung, die nicht höher als bis zu den Ellenbogen reicht; angenommen, daß seine eigentliche Stärke in einem präzisen, akademischen, repräsentativen Stil liegt und es sein eigentliches Metier wäre, wissenschaftliche Bücher zu illustrieren. Wie soll er dann ein Napoleon werden? Einen Ausweg gibt es immer:
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die Bösartigkeit. Man braucht die Leute nur zu schockieren und zu verletzen. Wirf als Fünfjähriger einen kleinen Jungen von einer Brücke, versetze einem alten Doktor einen Schlag mit der Peitsche ins Gesicht oder zerbrich ihm die Brille - oder träume wenigstens davon, so etwas zu machen. Schneide zwanzig Jahre später mit einer Schere toten Eseln die Augen aus. Auf diese Weise kannst du dir immer wie ein Original vorkommen.
Und es lohnt sich! Es ist viel weniger gefährlich als wirkliche Verbrechen zu begehen. Bei allen denkbaren Auslassungen in Dalis Biographie - sicher ist, daß er im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten für seine Exzentrik straflos ausging. Er ist in der korrupten Welt der zwanziger Jahre aufgewachsen, als intellektuelle Überzüchtung en vogue und jede europäische Hauptstadt voll von reichen Nichtstuern und Aristokraten war, die den Sport und die Politik aufgegeben hatten, um sich als Kunstmäzene zu betätigen.
Wenn man ihnen tote Esel an den Kopf warf, so warfen sie dafür mit Geld zurück. Angst vor Heuschrecken, die noch ein paar Jahrzehnte zuvor nichts weiter als Achselzucken hervorgerufen hätten, wurde plötzlich zu einem interessanten >Komplex<, einer Phobie, die sich glänzend ausbeuten ließ.
Und als diese besondere Welt vor den deutschen Armeen zusammenbrach, stand Dali bereits auf dem Sprung nach Amerika. Man konnte dem Ganzen sogar durch seine religiöse Bekehrung die Krone aufsetzen und ohne eine Spur von Reue, mit einem Satz aus den modischen Pariser Salons in Abrahams Schoß landen.
Das dürfte im wesentlichen die ganze Geschichte Dalis sein. Aber warum seine Abirrungen gerade diese besonderen Formen annahmen und warum sich solcher Horror wie verwesende Leichen so leicht an ein versnobtes Publikum verkaufen ließ, das sind Fragen, die ins Reich der Psychologie und der Soziologie gehören.
Marxisten machen es sich mit solchen Erscheinungen wie dem Surrealismus leicht. Für sie gehören sie zur >bourgeoisen Dekadenz< (wobei viel Aufhebens von Phrasen wie >Leichengift< und >Verfall der Klasse von rentierst gemacht wird).
Soweit, so gut. Aber obwohl dies zweifellos Tatsache ist, stellt es keine Verbindung her. Man fragt sich immer wieder, warum Dalis Neigungen ihn zur Nekrophilie hinzogen (und zum Beispiel nicht zur Homosexualität), und warum reiche Snobs und Aristokraten gerade seine Bilder kauften, statt auf die Jagd zu gehen und Affären zu haben, wie ihre Großväter. Bloße moralische Entrüstung bringt einen nicht weiter. Ebensowenig kann man sich hinter angeblicher >Objektivität< verschanzen und behaupten, Bilder wie das In einer Taxe verwesende Mannequin seien moralisch neutral. Sie sind krankhaft und ekelerregend, und jede Untersuchung hat von dieser Tatsache auszugehen.
Geschrieben 1944.
<Zu Nutz und Frommen der Geistlichkeit> erschien sozusagen als Gespenst im Saturday Book von 1944. Das Buch war im Druck, als die Herausgeber, die Herren Hutchinson, beschlossen, den Essay wegen seiner Obszönität nicht zu veröffentlichen. Infolgedessen wurde er aus jedem Exemplar wieder herausgeschnitten, während der Titel aus technischen Gründen im Inhaltsverzeichnis stehenbleiben mußte.
Orwell
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