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   4  Raffles und Miss Blandish 

 goog  Raffles+Amateur+Einbrecher    https://portal.dnb.de/opac/simpleSearch?query=hornung+raffles  

https://de.wikipedia.org/wiki/A._J._Raffles       https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest_William_Hornung   1866-1921

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Fast ein halbes Jahrhundert nach seinem ersten Auftritt ist Raffles, der <Amateur-Einbrecher>, noch immer einer der bekanntesten Charaktere der englischen Romanliteratur. Man braucht wenigen Leuten zu erzählen, daß Raffles Kricket für England spielte, eine Junggesellenwohnung im Albany hatte und in Mayfair-Häuser einbrach, die er auch als Gast betrat. 

Eben deshalb sind er und seine Abenteuer der passende Hintergrund, um eine modernere Kriminalgeschichte wie etwa <No Orcbids for Miss Blandish> zu beurteilen. Jede solche Auswahl ist natürlich willkürlich - ich hätte ebensogut Arsene Lupin zum Beispiel nehmen können -, aber jedenfalls gehören No Orchids und die Raffleserzählungen zu jener Gruppe von Kriminalgeschichten, die den Verbrecher und nicht den Detektiv ins Rampenlicht rücken. Sie sind aus soziologischen Gründen, im Motiv des verherrlichten Verbrechens, miteinander vergleichbar. No Orcbids liefert die Version von 1939, Raffles jene von 1900, und mir geht es hier um die ungeheuer verschiedene moralische Atmosphäre der beiden Bücher und um den Wandel der allgemeinen Haltung, der sich möglicherweise darin verrät.

Für uns heute liegt der Charme von Raffles zum einen in der Atmosphäre der damaligen Epoche, und zum andern in der technischen Qualität der Geschichten. Hornung war ein sehr gewissenhafter und in seinem Fach sehr begabter Schriftsteller. Wem es auf pure Leistung ankommt, muß dieses Werk bewundern. 

Das eigentlich dramatische an Raffles aber, was ihn bis heute fast sprichwörtlich gemacht hat (noch vor einigen Wochen nannte ein Richter einen Einbrecher »einen leibhaftigen Raffles«), ist die Tatsache, daß er ein Gentleman ist.

Mit Raffles wird uns - und das geht aus zahllosen Dialogfetzen und gelegentlichen Bemerkungen hervor - nicht der anständige Mensch, der auf die schiefe Bahn gekommen ist, vorgestellt, sondern der Lehrer einer höheren Schule, der auf die schiefe Bahn gekommen ist. 

Er bereut, wenn überhaupt, fast immer die sozialen Folgen; er hat die >alte Schule< entwürdigt, er hat kein Recht mehr auf die <gute Gesellschaft> er hat seinen Amateurstatus verwirkt und ist ein ordinärer Lump geworden. Raffles und Bunny scheinen beide kein besonderes Gefühl dafür zu haben, daß Stehlen an sich schon sträflich ist, obgleich sich Raffles einmal mit der Bemerkung rechtfertigt, daß »die Verteilung des Eigentums ohnehin falsch sei«. Sie halten sich nicht für Sünder, sondern für Abtrünnige oder einfach für Außenseiter. Und das, was die meisten von uns für Moral halten, gilt so sehr auch noch für Raffles, daß wir seine Situation besonders ironisch finden. 

Ein West-End-Klubmitglied als richtiger Einbrecher! Das ist doch fast eine Geschichte für sich, oder nicht? Aber was, wenn ein Dachdecker oder ein Gemüsehändler ein richtiger Einbrecher wäre? Wäre das allein schon aufregend? Nein - obwohl es dasselbe Motiv wäre, ein Doppelleben, in dem das bürgerliche Ansehen den Verbrecher deckt. Selbst Charles Peace in seinem Predigertalar wirkt weniger heuchlerisch als Raffles in seinem I-Zingari-Blazer.

Natürlich glänzt Raffles in jedem Spiel, aber es paßt besonders gut, daß er am liebsten Kricket spielt. Das läßt nicht nur endlose Vergleiche zwischen seinem Geschick als Werfer und seinem Geschick als Einbrecher zu, sondern hilft auch, die Art seiner Verbrechen genau zu definieren. Kricket ist in Wirklichkeit kein sehr populäres Spiel in England -nicht annähernd so populär wie etwa Fußball -, aber es drückt eine hervorstechende englische Charaktereigenschaft aus: die Neigung nämlich, >Form< oder >Stil< höher zu bewerten als den Erfolg. 

Jeder wahre Kricketfan kann eine Verteidigung mit zehn Läufen >besser< (d.h. eleganter)

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finden als eine Verteidigung mit hundert Läufen; und außerdem ist Kricket eines der wenigen Spiele, in dem der Amateur den Profi übertreffen kann. Es ist ein Spiel voll verlorener Hoffnungen und plötzlicher, dramatischer Wendungen, und seine Regeln sind so wenig definiert, daß ihre Interpretation zum Teil in die Moral gehört. ..

Weil Kricket lange dauert und ein ziemlich teures Spiel ist, wird es vorwiegend von der Oberschicht gespielt; aber die ganze Nation assoziiert damit Begriffe wie formvollendet und >kein Spielverderber sein<; Begriffe, die aus dem allgemeinen Bewußtsein verschwunden sind, so wie die alte Regel >wer am Boden liegt, den tritt man nicht< aus dem allgemeinen Bewußtsein verschwunden ist. Es ist kein Spiel des 20. Jahrhunderts, und fast alle modernen Leute verabscheuen es. Die Nazis zum Beispiel gaben sich alle Mühe, das Spiel in Deutschland zu desavouieren, wo es vor und nach dem letzten Krieg (dem Ersten Weltkrieg) eine gewisse Beliebtheit gewonnen hatte. Indem Hornung seinen Raffles als Kricketspieler und Einbrecher auftreten ließ, band er ihm nicht nur eine gute Maske vor; er zeichnete auch den schärfsten für ihn denkbaren moralischen Kontrast.

Raffles ist die Geschichte eines Hochstaplers nicht weniger als die <Great Expectations> und <Le Rouge et Le Noir>;* und viel verdankt sie der Unbestimmtheit von Raffles' sozialer Position. Ein schlechterer Autor hätte den Gentleman-Einbrecher als Lord oder mindestens als Baron auftreten lassen. Raffles aber stammt aus der oberen Mittelschicht und kommt in aristokratische Kreise nur wegen seines persönlichen Charmes. »Wir besuchen die Gesellschaft, aber wir gehören nicht dazu«, sagt er gegen Ende des Buches zu Bunny; und: »Sie haben mich wegen meinem Kricket eingeladen«.

* Große Erwartungen von Charles Dickens, erschienen 1860/61.;  Rot und Schwarz von Stendhal, erschienen 1830.

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Bunny und er akzeptieren die Werte der Gesellschaft widerspruchslos, und sie würden sich sofort in ihr ansiedeln, wenn sie nur endlich einträgliche Beute machten. Der Ruin, der sie ständig bedroht, ist eben deshalb so schlimm, weil sie nicht sicher >dazu< gehören. Ein Herzog, der im Gefängnis gesessen hat, ist und bleibt ein Herzog, während ein einfacher Bürger, einmal entehrt, für immer aufhört, >Bürger< zu sein. Die Schlußkapitel des Buches, als Raffles nach seiner Entdeckung unter falschem Namen lebt, klingen nach >Götterdämmerung<, einer geistigen Atmosphäre, die Kiplings >Gentlemen Rankers< ziemlich ähnelt:

Yes a trooper of the forces
Who has run his own six horses! 
etc.

Von jetzt an gehört Raffles unwiderruflich zum »Geschlecht der Verdammten<. Er kann zwar immer noch erfolgreich einbrechen, aber es führt kein Weg zurück ins Paradies, und das heißt zum Piccadilly und in den Marylebone Cricket Club. Der traditionelle Ehrenkodex kennt nur einen Weg zur Rehabilitierung, und das ist der Tod auf dem Schlachtfeld. Raffles stirbt im Kampf gegen die Buren (ein erfahrener Leser wird das von Anfang an kommen sehen), und in den Augen seines Schöpfers wie in Bunnys Augen hat er so seine Sünden gebüßt.

Natürlich sind Raffles und Bunny nicht im religiösen Sinne gläubig. Beide haben keine eigentlich sittlichen Maßstäbe,, höchstens ein paar Verhaltensregeln, nach denen sie sich halb instinktiv richten. Aber gerade hier bricht der tiefe Graben zwischen der Moral von Raffles und No Orchids auf. Raffles und Bunny sind Gentlemen, trotz allem, und die wenigen Regeln, die sie haben, dürfen auch nicht verletzt werden. Gewisse Dinge >tut man nicht<, und auf die Idee, sie doch zu tun, kommt man kaum. Zum Beispiel wird Raffles keine Gastfreundschaft mißbrauchen.

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Zwar wird er in dem Haus, wo er eingeladen ist, etwas stehlen, aber bestohlen werden darf nur ein anderer Gast, nicht der Gastgeber. Er will auch nicht zum Mörder werden; er vermeidet Gewalt, wo immer möglich, und verübt seine Einbrüche mit Vorliebe unbewaffnet. Freundschaft hält er heilig, und zu Frauen ist er, wenn auch nicht anständig, so doch höflich. Er nimmt zusätzliche Gefahren in Kauf, wenn es der <Sportgeist> verlangt, ja manchmal sogar aus ästhetischen Gründen. 

Vor allem aber ist er ungeheuer patriotisch. Er feiert das Diamantenjubiläum (»Sechzig Jahre lang, Bunny, hat uns die absolut beste Königin regiert, die die Welt je gesehen hat«), indem er der Königin per Post einen antiken Goldbecher schickt, den er aus dem Britischen Museum gestohlen hat. Aus teils politischen Motiven stiehlt er die Perle, die der deutsche Kaiser einem britischen Feind schenken will, und als es im Burenkrieg schlecht steht, ist sein einziger Gedanke, an die Front zu kommen. Hier entlarvt er unter Preisgabe seiner Identität einen Spion, und schließlich stirbt er ruhmreich an einer Burenkugel. In dieser Kombination von Verbrechen und Patriotismus ähnelt er fast dem zeitgenössischen Arsene Lupin, der auch mit dem deutschen Kaiser abrechnet und seine sehr schmutzige Vergangenheit in der Fremdenlegion abstreift.

Vor allem aber darf man nicht übersehen, daß Raffles' Verbrechen für moderne Maßstäbe unbedeutend sind. Juwelen im Wert von vierhundert Pfund zu erbeuten, hält er für einen großen Coup. Und obwohl die Geschichten überzeugend gegenständlich und detailliert sind, sind sie sehr wenig sensationell; wenig Leichen, kaum Blut, keine Sexualverbrechen, kein Sadismus, keine Perversionen irgendwelcher Art. Tatsächlich scheint es, als seien die Kriminalgeschichten, jedenfalls die anspruchsvolleren der letzten zwanzig Jahre, entschieden blutrünstiger geworden. Ein paar frühe Detektivgeschichten kommen sogar noch ohne Mord aus. 

Die Sherlock Holmes Erzählungen sind beispielsweise nicht nur

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Mordgeschichten; in manchen geht es noch nicht einmal um strafbare Handlungen. So auch bei John Thorndike, während bei Max Carrado Mordgeschichten in der Minderzahl sind. Seit 1918 aber sind Kriminalgeschichten ohne Mord ausgesprochen selten geworden, während die abstoßendsten Details von Zerstückelung und Leichenfledderei offen ausgemalt werden. Einige Geschichten von Peter Whimsey zum Beispiel verraten ein extrem krankhaftes Interesse an Leichen. Die Erzählungen um Raffles sind, wenn auch aus der Sicht des Verbrechers geschrieben, so doch viel weniger asozial als viele moderne Geschichten, in denen der Detektiv die Hauptrolle spielt. Sie wirken vor allem jungenhaft. Sie gehören zu einer Zeit, als es noch eine verbindliche Moral gab, wenn es auch eine verrückte Moral war. Ihr Schlüsselwort ist: >Das tut man nicht.< Die Linie, die sie zwischen gut und böse ziehen, ist so sinnlos wie ein polynesisches Tabu, wird aber wenigstens wie dieses von allen akzeptiert, und das ist ihr Vorteil.

Soviel von Raffles. Und jetzt ein Kopfsprung in die Kloake. No Orchids for Miss Blandish von James Hadley Chase erschien 1939, scheint aber am populärsten im Jahre 1940 gewesen zu sein, während des englisch-deutschen Krieges. Die Hauptlinien der Geschichte sind folgende:

Miss Blandish, die Tochter eines Millionärs, wird von ein paar Gangstern entführt, die fast unmittelbar darauf von einer größeren und besser organisierten Bande überrascht und umgebracht werden. Sie erpressen mit ihr ein Lösegeld und ziehen ihrem Vater eine halbe Million Dollar aus der Tasche. Ursprünglich war geplant, sie sofort nach Erhalt des Lösegelds umzubringen, aber durch einen Zufall bleibt sie am Leben. Unter den Gangstern ist ein junger Mann namens Slim, dessen einziges Lebensglück darin besteht, anderen Leuten ein Messer in den Bauch zu jagen. Als Junge hat er seine Gesellenprüfung gemacht, indem er lebende Tiere mit einer rostigen Schere aufschnitt. 

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Slim ist impotent, hat aber einen Narren an Miss Blandish gefressen. Slims Mutter, der eigentliche Kopf der Bande, sieht hier eine Chance, Slims Impotenz zu kurieren, und sie beschließt, Miss Blandish solange in ihre Obhut zu nehmen, bis Slim sie endlich erfolgreich vergewaltigt hat. Nach viel Anstrengungen und viel Überredung, wobei Miss Blandish auch noch mit dem Gartenschlauch ausgepeitscht wird, kommt die Vergewaltigung zustande. Inzwischen hat der Vater von Miss Blandish einen Privatdetektiv angeheuert, und mit Bestechung und Folterung gelingt es dem Detektiv und der Polizei, die ganze Bande einzukreisen und umzulegen. Slim entkommt zusammen mit Miss Blandish, wird nach einer letzten Vergewaltigung getötet, und der Detektiv bereitet alles vor, um Miss Blandish wieder ihrer Familie zuzuführen. Zu diesem Zeitpunkt hat sie aber bereits soviel Sinn für Slims Zärtlichkeiten entwickelt1, daß sie sich unfähig fühlt, ohne ihn zu leben und aus dem Fenster eines Wolkenkratzers springt.

Verschiedene andere Punkte müssen beachtet werden, bevor sich die Implikationen dieses Buches voll erfassen lassen. Zunächst einmal hat die Kerngeschichte eine sehr auffällige Ähnlichkeit mit William Faulkners Roman Sanctuary2. Zweitens ist sie nicht, wie man vermuten könnte, das Werk eines ungebildeten Vielschreibers, sondern ein brillantes Stück Schriftstellern, mit kaum einem überflüssigen Wort oder einem unpassenden Ton an irgendeiner Stelle. Drittens ist das ganze Buch, Bericht wie Dialoge, in amerikanischer Sprache geschrieben: der Autor, ein Engländer, der (wie ich glaube) nie in den Vereinigten Staaten war, scheint sich geistig vollständig in die amerikanische Unterwelt versetzt zu haben. Viertens wurden von dem Buch nach Auskunft des Verlegers nicht weniger als eine halbe Million Exemplare verkauft.

1) Es ist auch eine andere Lesart möglich. Es kann einfach heißen, daß Miss Blandish schwanger ist. Aber meine Interpretation paßt besser zu der allgemeinen Brutalität des Buches (Orwell, 1945). 
2 Die Freistatt,
erschienen 1931.

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Ich habe die Kerngeschichte bereits skizziert, aber das Thema ist sehr viel abstoßender und brutaler als diese Skizze vermuten läßt. Das Buch enthält acht komplette Morde, eine nicht zu schätzende Zahl beiläufiger Todesfälle und Verwundungen, eine Exhumierung (mit einer ausführlichen Erinnerung an den Leichengestank), das Auspeitschen von Miss Blandish, die Folterung einer anderen Frau mit rotglühenden Zigarettenspitzen, einen Strip-tease-Akt, eine drittklassige Szene unerhörter Grausamkeit und vieles andere mehr. Es setzt sexuell sehr aufgeklärte Leser voraus (in einer Szene zum Beispiel hat ein vermutlich masochistisch veranlagter Gangster einen Orgasmus in dem Augenblick, wo er erstochen wird), und es hält die totale Korruption und Selbstsucht für die selbstverständliche Norm menschlichen Verhaltens. 

Der Detektiv zum Beispiel ist ein fast ebenso großer Schurke wie die Gangster, und von fast denselben Motiven angetrieben. Wie sie, so ist auch er hinter den fünfhundert Mille< her. Es ist für das Funktionieren der Geschichte notwendig, daß Mr. Blandish alles für die Rückkehr seiner Tochter tut, aber abgesehen davon finden Dinge wie Zuneigung, Menschlichkeit, Freundschaft oder selbst nur gewöhnliche Höflichkeit hier einfach keinen Eingang. Ausgeschlossen bleibt auch im weitesten Ausmaß normale Sexualität. Letztlich herrscht in der gesamten Geschichte nur ein Motiv: die Jagd nach Macht.

Wohlgemerkt, das ist kein gewöhnliches pornographisches Buch. Anders als die meisten Bücher über sexuellen Sadismus betont dieses die Grausamkeit, nicht das Vergnügen. Slim, der Miss Blandish vergewaltigt, hat >nasse, sabbernde Lippen<: das ist abstoßend, und soll es auch sein. Demgegenüber sind die Szenen, die Grausamkeiten an Frauen schildern, vergleichsweise oberflächlich. 

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Die wahren Höhepunkte des Buches sind Grausamkeiten, die von Männern an Männern begangen werden; allem voran das Folterverhör eines Gangsters, Eddie Schultz, der in einen Stuhl gepeitscht und mit Gummiknüppeln auf die Kehle geschlagen wird, und dem mit erneuten Schlägen die Arme gebrochen werden, als er versucht, sich loszureißen. In einem anderen Buch von Mr. Chase, He Won't Need It Now wird der Held, der ein sympathischer und sogar edler Charakter sein soll, dabei beschrieben, wie er einem Menschen mit dem Fuß ins Gesicht stampft und, nachdem er ihm den Mund eingetreten hat, noch und noch den Absatz darin herumdreht. 

Selbst wenn derartige physische Ereignisse ausbleiben - die geistige Atmosphäre dieser Bücher ist immer dieselbe. Ihr einziges Thema ist der Kampf um Macht und der Triumph des Stärkeren über den Schwächeren. Die großen Gangster wischen die kleinen so gnadenlos beiseite, wie der Hecht im Teich die kleinen Fische verschlingt; die Polizei tötet die Verbrecher so grausam wie der Angler den Hecht. Wenn man es zum Schluß mit der Polizei hält, so nur, weil sie besser organisiert und mächtiger ist, weil in Wahrheit das Gesetz mehr hermacht als das Verbrechen. Macht ist Recht: vae victis.

Wie bereits erwähnt, fand No Orchids die meisten Abnehmer im Jahre 1940, obwohl es als Stück noch etwas länger erfolgreich war. Es gehörte tatsächlich zu den Dingen, womit sich die Leute über die Langeweile des Bombardements hinwegtrösteten. Zu Anfang des Krieges war im New Yorker ein Bild von einem kleinen Mann, der auf einen Zeitungskiosk zukommt und an den ausgehängten Zeitungen lauter Schlagzeilen liest wie >Große Tankerschlacht in Nordfrankreich<, >Große Seeschlacht in der Nordsee<, >Schwere Luftkämpfe über dem Kanal< etc. etc. Der kleine Mann sagt: »Bitte, geben Sie mir Abenteuergeschichten.« Der kleine Mann stand für die betäubten Millionen, für die die Welt der Gangster und Boxkämpfe >wirklicher<, >här-ter< ist als so etwas wie Krieg, Revolution, Erdbeben, Hungersnot und Seuchen. 

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In den Augen eines Lesers von Abenteuergeschichten ist die Beschreibung des Bombenangriffs auf London oder der Kämpfe europäischer Untergrundparteien >fades Zeug<. Auf der andern Seite würde ihm irgendeine kleine Revolverschlacht in Chicago mit vielleicht einem halben Dutzend Toten wirklich >hart< vorkommen. Diese geistige Einstellung ist heutzutage außerordentlich weit verbreitet. Ein Soldat räkelt sich in seinem feuchten Graben und vertreibt seine unerträgliche Langeweile - während ein oder zwei Fuß über seinem Kopf die Maschinengewehrschüsse krachen - mit einer amerikanischen Gangstergeschichte. Und warum ist die Geschichte so aufregend? Genau deshalb, weil die Leute sich gegenseitig mit Maschinenpistolen umbringen! Weder der Soldat noch sonst jemand findet das irgendwie merkwürdig. Es gilt als selbstverständlich, daß eine imaginäre Kugel aufregender als eine wirkliche ist.

Die offensichtliche Erklärung ist, daß man im wirklichen Leben gewöhnlich ein passives Opfer ist, während man sich bei der Abenteuergeschichte im Zentrum der Ereignisse vorstellen kann. Aber es hängt mehr daran. Es ist nötig, noch einmal auf die merkwürdige Tatsache hinzuweisen, daß No Orchids in der amerikanischen Sprache geschrieben wurde -mit technischen Fehlern vielleicht, aber mit beachtlichem Geschick.

In Amerika gibt es eine enorme Literatur mehr oder weniger ähnlichen Schlages wie No Orchids. Ganz abgesehen von den Büchern gibt es noch ein riesiges Angebot an >Schundliteratur<, zugeschnitten auf die verschiedensten Arten von Phantasie, aber fast alle mit ganz derselben geistigen Atmosphäre. Einige können schon als reine Pornographie gelten, aber die große Mehrheit ist ganz einfach für Sadisten und Masochisten gedacht. 

Für drei Pennys wurden diese Dinger in England unter dem Titel <Yank Mags>* verkauft, und sie erfreuten sich einer beträchtlichen Popularität, aber als wegen des Krieges der Nachschub ausblieb, kam kein befriedigender Ersatz heraus.

* Angeblich sind sie als Ballast hierher importiert worden, daher der niedrige Preis und das verkrumpelte Aussehen. Seit dem Krieg führen die Schiffe nützlicheren Ballast, wahrscheinlich Kies. (Orwell).

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Inzwischen gibt es englische Imitationen der <Schundliteratur>, aber das sind nur Schatten des Originals. Ebensowenig haben englische Gangsterfilme jemals die Brutalität der amerikanischen erreicht. Und dennoch zeigt der Fall von Mr. Chase, wie weit der amerikanische Einfluß bereits reicht. Nicht nur lebt er selbst ein dauerndes Phantasieleben in der Chicagoer Unterwelt, er kann mit hunderttausenden von Lesern rechnen, die nicht kopfrechnen müssen, wenn von »fünfzig Mille« die Rede ist, und Sätze wie »Johnny war ein Säufer und nur zwei Schritt von der Drehscheibe« auf den ersten Blick verstehen.

Offensichtlich gibt es eine Menge Engländer, deren Sprache, und man sollte hinzufügen: moralische Einstellung, teilweise amerikanisiert sind. Denn es gab keinen öffentlichen Protest gegen No Orchids. Schließlich wurde das Buch aus dem Verkehr gezogen, aber erst nachträglich, als die Behörden durch ein späteres Werk (Miss Callagban Comes to Grief) auf Mr. Chases Bücher aufmerksam wurden. Nach gelegentlichen Unterhaltungen von damals geurteilt, waren die Obszönitäten von No Orchids ein sanfter Nervenkitzel für den gewöhnlichen Leser, der in dem Buch nichts Unerwünschtes sah. Nebenher hatten viele Leute den Eindruck, es handele sich um ein amerikanisches, in England neu aufgelegtes Buch.

Was der gewöhnliche Leser an dem Buch hätte kritisieren müssen - und ein paar Jahrzehnte zuvor fast sicher auch kritisiert hätte -, ist die ambivalente Einstellung zum Verbrechen. Aus dem gesamten Buch spricht die Auffassung, daß ein Dasein als Verbrecher nur insofern abstoßend sei, als es sich nicht lohne. Polizist zu sein lohnt mehr, aber es gibt keine moralische Differenz, da die Polizei im Grunde kriminelle Methoden anwendet. In einem Buch wie <He Won't Need it Now> ist der Unterschied zwischen Verbrechen und Verbrechensverhütung praktisch verschwunden.

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Das ist ein neuer Ausgangspunkt für die englische Sensationsliteratur, in der es bis vor kurzem stets eine scharfe Trennung zwischen Recht und Unrecht, und ein allgemeines Einverständnis darüber gegeben hat, daß im letzten Kapitel die Tugend siegen müsse. Es gibt sehr wenige englische Bücher, die das Verbrechen (das moderne Verbrechen, das heißt: Piraten und Straßenräuber sind etwas Verschiedenes) verherrlichen.

Selbst ein Buch wie Raffles wird, wie ich betont habe, noch von mächtigen Tabus regiert, und es wird kein Zweifel daran gelassen, daß Raffles' Verbrechen früher oder später gesühnt werden müssen. In Amerika gibt es eine viel spürbarere Neigung, das Verbrechen in der Literatur wie im Leben zu tolerieren und sogar zu bewundern, solange der Verbrecher erfolgreich ist. Natürlich ist es letztlich eben diese Einstellung, die dem Verbrechen eine derartige Ausweitung erlaubt hat. Über AI Capone sind Bücher geschrieben worden, die sich im Ton kaum von den Büchern unterscheiden, die über Henry Ford, Stalin, Lord Northcliffe und den ganzen Rest der Truppe von >der Blockhütte bis zum Weißen Haus< geschrieben worden sind. Und geht man achtzig Jahre zurück, so sieht man bei Mark Twain eine sehr ähnliche Einstellung zu dem abstoßenden Banditen Slade, dem Helden von achtundzwanzig Morden, und zu westlichen Desperados ganz allgemein. Sie waren erfolgreich, sie >machten ihre Sache gut<, deshalb bewunderte er sie.

In einem Buch wie No Orchitis flieht man nicht einfach wie in den altmodischen Kriminalgeschichten aus einer langweiligen Wirklichkeit in eine imaginäre Welt des Abenteuers. Im Grunde ist daraus eine Flucht ins Verbrechen und in die sexuelle Perversion geworden. Anders als Raffles und Sher-lock Holmes' Geschichten spricht No Orchids den Machtinstinkt an. Andererseits ist die englische Einstellung zum Verbrechen nicht ganz so erhaben über die amerikanische, wie ich den Anschein erweckt haben mag.

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Sie hat, und hat es besonders seit den letzten zwanzig Jahren, zu viel mit Machtvergötterung zu tun. Ein Autor, der sich daraufhin zu untersuchen lohnt, ist Edgar Wallace, speziell so typische Bücher wie The Orator und die Mr. J. G. Reeder-Geschichten. 

Wallace war einer der ersten Kriminalautoren, die von der traditionellen Figur des Privatdetektivs abrückten und einen Beamten von Scotland Yard zur Hauptfigur machten. Sherlock Holmes ist ein Amateur, der seine Probleme ohne Hilfe - und in den frühen Geschichten sogar gegen den Widerstand - der Polizei löst. Außerdem ist er, wie Lupin, im Grunde ein Intellektueller, sogar ein Wissenschaftler. Er schließt logisch aus beobachteten Tatsachen, und seine Intel-lektualität wird ständig mit dem Routineverfahren der Polizei kontrastiert. Wallace wandte sich heftig gegen diese, von ihm als solche verstandene Kritik an Scotland Yard, und in mehreren Zeitungsartikeln konnte er sich nicht enthalten, Holmes namentlich zu denunzieren.

Sein eigenes Ideal war der Polizeiinspektor, der die Verbrecher fängt, nicht weil er ein brillanter Kopf ist, sondern weil er zu einer allmächtigen Organisation gehört. Daher die merkwürdige Tatsache, daß in den Geschichten, die für Wallace am charakteristischsten sind, der >Schlüssel< und >die Folgerung< keine Rolle spielen. Stets wird der Verbrecher entweder durch einen unglaublichen Zufall überwältigt, oder weil die Polizei aus unerklärlichen Gründen von dem ganzen Verbrechen bereits vorher weiß. Der Ton der Geschichten macht ganz deutlich, daß die Bewunderung, die Wallace für die Polizei hegt, bloße Bullenvergötzung ist. 

Ein Scotland-Yard-Detektiv ist das mächtigste Wesen, das er sich vorstellen kann, während er sich den Verbrecher als einen Vogelfreien denkt, demgegenüber alles erlaubt ist, wie bei verurteilten Sklaven im römischen Zirkus. 

Seine Polizisten benehmen sich viel brutaler als britische Polizisten in Wirklichkeit - sie schlagen grundlos auf die Leute ein,

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feuern hinter ihren Köpfen Revolver ab, um sie zu erschrecken, und so weiter - und ein paar Geschichten stellen einen erschreckenden intellektuellen Sadismus zur Schau. (Zum Beispiel arrangiert Wallace die Geschichte gern so, daß der Verbrecher am selben Tag gehängt wird, an dem die Heldin heiratet.)

Aber es ist Sadismus auf englische Art: das heißt, er ist unbewußt, nach außen ohne Sex, und innerhalb der Gesetzesgrenzen. Die britische Öffentlichkeit duldet eine strenge Kriminalgesetzgebung und hat ein Vergnügen an monströs ungerechten Mordprozessen: aber das ist jedenfalls immer noch besser, als das Verbrechen zu dulden oder zu bewundern. Wenn man schon einen Bullen vergöt-zen muß, dann besser einen Polizisten als einen Verbrecher. Bis zu einem gewissen Grad wird Wallace noch von dem >das tut man nicht< regiert. In No Orchids wird alles >ge-tan<, solange es einen an die Macht bringt. Alle Barrieren sind umgestürzt, alle Motive offensichtlich. Chase ist ein schlimmeres Symptom als Wallace, so etwa wie Catch schlimmer als Boxen ist, oder Faschismus schlimmer als kapitalistische Demokratie.

Was sich Chase von William Faulkners Sanctuary ausborgte, war nur die Handlung; die geistige Atmosphäre der beiden Bücher ist nicht zu vergleichen. In Wahrheit bedient sich Chase anderer Quellen, diese kleine Anleihe ist nur symbolisch. Symbolisiert wird damit die Vulgarisierung von Ideen, wie sie sich ständig, und wahrscheinlich im Zeitalter des gedruckten Wortes noch schneller, ereignet. Chase ist ein >Faulkner fürs Volk< genannt worden; aber genauer müßte man ihn einen >Carlyle fürs Volk< nennen. Er ist ein populärer Autor - es gibt viele solche Autoren in Amerika, aber in England sind sie immer noch eine Seltenheit -, der das erreicht hat, was die heutige Mode >Realis-mus< nennt, womit die >Macht-ist-Recht<-Doktrin gemeint ist. Das Aufkommen des >Realismus< ist das charakteristische Merkmal unseres eigenen intellektuellen Zeitalters gewesen.

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Warum es dazu kommen mußte, ist eine verzwickte Frage. Die Querverbindungen zwischen Sadismus, Masochismus, Erfolgsvergötterung, Machtvergötterung, Nationalismus und Totalitarismus sind ein gewaltiger Themenkomplex, der bisher kaum am Rande berührt worden ist und dessen Erwähnung sogar für geschmacklos gehalten wird. 

Um nur das erste Beispiel zu nennen, das mir in den Sinn kommt: ich glaube, niemand hat jemals auf das sadistische Element in Bernard Shaws Werk hingewiesen, oder gar vermutet, daß dies wahrscheinlich etwas mit Shaws Bewunderung von Diktatoren zu tun hat. Faschismus wird oft leichthin mit Sadismus gleichgesetzt, aber fast immer von Leuten, die an der sklavischsten Verehrung von Stalin nichts auszusetzen finden. Die Wahrheit ist natürlich, daß die zahllosen englischen Intellektuellen, die Stalin in den Arsch kriechen, sich weder von der Minorität unterscheiden, die es mit Hitler oder Mussolini hält, noch von den Effektivitäts-Spezialisten, die in den zwanziger Jahren >Ellbogen<, >Schwung<, >Persönlichkeit< und >lerne ein Tiger zu sein< predigten, noch von der älteren Intellektuellengeneration, Carlyle, Creasy und dem Rest, der sich vor dem deutschen Militarismus verneigt hat. Sie alle vergöttern Macht und erfolgreiche Grausamkeit. 

Es ist wichtig zu sehen, daß der Kult um die Macht mit einer Liebe zu Grausamkeit und Bosheit um ihrer selbst willen verquickt zu sein pflegt. Ein Tyrann wird um so mehr bewundert, wenn er zufällig auch noch ein blutbeschmierter Verbrecher ist, und aus <der Zweck heiligt die Mittel> wird oft genug in Wahrheit ein >die Mittel rechtfertigen sich selbst, vorausgesetzt, sie sind schmutzig genug<. Diese Idee gehört ins Blickfeld all derer, die mit dem Totalitarismus sympathisieren; sie schlägt zum Beispiel auch für die erfreute Reaktion zu Buche, mit der viele englische Intellektuelle den Nazi-Sowjet-Pakt begrüßten. Es war ein Schritt, der für die UdSSR nur von zweifelhaftem Nutzen sein konnte, aber er war gänzlich unmoralisch, und aus diesem Grund bewundernswert; Erklärungen dafür, und es gab zahlreiche und selbst widersprüchliche, konnten später kommen.

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Bis vor kurzem waren die charakteristischen Abenteuergeschichten der englisch sprechenden Welt solche, in denen der Held gegen Überlegene ankämpft. Das stimmt durchgängig von Robin Hood bis zu Popeye dem Matrosen. >Jack der Riesen-Mörder< ist vielleicht der fundamentale Mythos der westlichen Welt, aber um auf dem neuesten Stand zu sein, müßte man ihn auf den Namen >Jack der Zwergen-Mörder< umtaufen, und hier gibt es schon eine beträchtliche Literatur, die einem ausdrücklich oder unausdrücklich beibringt, daß man es mit den Großen gegen die Kleinen halten solle. 

Das meiste von dem, was heutzutage über Außenpolitik geschrieben wird, ist nur eine Variation über dieses Thema, und seit einigen Jahrzehnten haben Sätze wie »kein Spielverderber sein«, »Wer am Boden liegt, den tritt man nicht«, und »Das ist unfair« garantiert jedem sogenannten Intellektuellen ein Lächeln abgenötigt. Verhältnismäßig neu ist die Beobachtung, daß die akzeptierten Maßstäbe, nämlich (a) Recht bleibt Recht und Unrecht Unrecht, egal wer gewinnt, und (b) auf Schwäche muß Rücksicht genommen werden, daß diese Maßstäbe auch aus der gewöhnlichen Literatur verschwinden. 

Als ich D. H. Lawrences Romane zum erstenmal las, im Alter von etwa zwanzig Jahren, verwirrte mich die Tatsache, daß es keinerlei Klassifizierung der Charaktere in <gut> und <böse> zu geben schien - Lawrence schien mit allen gleichermaßen zu sympathisieren, und das schien mir so ungewöhnlich, daß ich das Gefühl hatte, meine anerzogene Haltung zu verlieren. Heutzutage käme niemand auf die Idee, in einem ernsten Roman nach Helden und Schurken zu suchen, aber in der Trivialliteratur rechnet man immer noch mit einem scharfen Unterschied zwischen Recht und Unrecht, Legalität und Illegalität. 

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Im großen und ganzen leben die kleinen Leute immer noch in der Welt des absolut Guten und Bösen, aus der die Intellektuellen längst ausgebrochen sind. Aber die Popularität von No Orchids und den amerikanischen Büchern und Zeitschriften, mit denen es verwandt ist, zeigt, wie schnell die >Realismus<-Doktrin an Boden gewinnt.

Verschiedene Leute haben mir nach der Lektüre von <No Orchids> gesagt: »Das ist reiner Faschismus.« Das ist eine richtige Beschreibung, obschon das Buch nicht das geringste mit Politik und sehr wenig mit sozialen oder ökonomischen Problemen zu tun hat. Es hat bloß eben die Beziehung zum Faschismus, die etwa Trollopes Romane zum Kapitalismus des 19. Jahrhunderts haben. 

Es ist ein dem totalitären Zeitalter angemessener Tagtraum. Mit seiner imaginären Gangsterwelt stellt Chase sozusagen einen Extrakt der modernen politischen Szene dar, in der Dinge wie die Massenbombardierung von Zivilisten, Geiselnahme, Geständniserpressung durch Folterung, Geheimgefängnisse, Exekution ohne Prozeß, Auspeitschen mit Gummiknüppeln, Ertränken in Abwassergruben, systematische Fälschung von Unterlagen und Statistiken, Verrat, Bestechung und Volksverräterei an der Tagesordnung und moralisch neutral, ja sogar bewundernswert sind, wenn sie nur im großen Maßstab und kühn genug ausgeführt werden. 

Der Durchschnittsmensch ist nicht unmittelbar an Politik interessiert, und wenn er liest, möchte er das, was an Kämpfen in der Welt vorgeht, in eine einfache Geschichte über Individuen übersetzt haben. Er kann sich für Slim und Fenner in einer Weise interessieren, wie es ihm bei der GPU und der Gestapo nicht möglich wäre. Die Leute vergöttern die Macht in der Form, in der sie sie verstehen können. Ein zwölfjähriger Junge vergöttert Jack Dempsey. Ein Halbstarker in einem Glasgower Slum betet AI Capone an. Ein ehrgeiziger Schüler einer Wirtschaftsschule betet Lord Nuffield an. Ein Leser des New Statesman vergöttert Stalin. 

Die intellektuelle Reife hat ihre Grade, nicht aber die moralische Einstellung. Dreißig Jahre früher hatten die Helden der Trivialliteratur mit den Gangstern und Detektiven von Chase nichts gemein, und die Idole der englischen liberalen Intelligenz waren ebenfalls vergleichsweise sympathische Gestalten. Zwischen Holmes und Fenner auf der einen Seite und Abraham Lincoln und Stalin auf der anderen klafft der gleiche Abgrund.

Man sollte aus dem Erfolg von Chases Buch nicht zuviel schließen. Möglicherweise ist es ein isoliertes Phänomen, hervorgebracht von der mit Brutalität gemischten Langeweile des Krieges. Aber wenn solche Bücher tatsächlich in England heimisch werden sollten, statt bloß ein halbverstandener Import aus Amerika zu bleiben, hätte man guten Grund zum Ekel. 

Mit Raffles als einer Folie für No Orchids habe ich absichtlich ein Buch ausgesucht, das nach den Maßstäben seiner Epoche moralisch zweideutig war. Raffles hat, wie ich hervorgehoben habe, nicht eigentlich einen Sittenkodex, nicht eigentlich Religion und sicher kein soziales Bewußtsein. Alles was er hat, ist ein Bündel Reflexe - sozusagen das Nervensystem eines Gentlemans. Versetzt man ihm einen empfindlichen Schlag auf diesen oder jenen Nerv (sie heißen >Sport<, >Kamerad<, »König und Heimat<, und so weiter) so erhält man einen vorhersehbaren Reflex. In Chases Buch gibt es keine Gentlemen und keine Tabus. Es ist die totale Emanzipation, Freud und Machiavelli haben die äußeren Vororte erreicht. 

Vergleicht man die Schuljungenatmosphäre des einen Buches mit der Grausamkeit und Korruption des anderen, so kann man das Gefühl nicht unterdrücken, daß Arroganz wie Heuchelei ein Scheck auf ein Verhalten ist, dessen Wert von einem sozialen Standpunkt aus unterschätzt worden ist.

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